Das Jenseits bestand aus unendlichem Nichts. Nur Schwärze. Keine Farben, keine Töne, keine Düfte … einfach nichts.
Es erdrückte mich förmlich, presste meinen Brustkorb zusammen und versetzte mich in eine Starre, aus der ich unmöglich aus eigener Kraft entkommen konnte. Kalte Klauen legten sich um mein Herz, drückten zu und entzogen mir jeglichen Lebenswillen.
Ich spürte, wie ich verschwand. Wie ich verblasste. Ein kleiner, heller Punkt, der von der allumfassenden Schwärze um sich herum absorbiert wurde. Irgendwann würde ich dazugehören. Zum Nichts.
Diese Empfindung war irgendwie beruhigend. Meine Gedanken hallten in Echos um mich herum, doch ich verstand sie nicht länger. Einzelne Worte drangen zu mir vor, doch der große Zusammenhang blieb mir verborgen.
Was soll ich bloß tun?
Ich nahm meinen eigenen Körper kaum noch wahr. Er war wie eine Hülle, ein lästiges Kleidungsstück, das ich jeden Moment abstreifen konnte, wenn ich wollte. Denn er hielt mich fest. Mein Körper war es, der mich im Nichts gefangen hielt und mich bewegungsunfähig machte. Doch was würde geschehen, wenn ich mich von seinen Fesseln löste?
Angst überkam mich, kroch wie ein Parasit in meine Gehirnwindungen und krallte sich dort fest. Ich wollte schreien, doch meine Lippen blieben fest verschlossen. Kein Laut würde ihnen entweichen. Und gerade als ich aus lauter Verzweiflung die Verbindung zu mir selbst kappen wollte, erschien sie wieder.
Ihr alabasterfarbener Körper hob sich von der Dunkelheit um uns ab, wohingegen ihre schwarzen Haare in wogenden Wellen im Nichts verschwanden. Sie schwebte vor mir, nur Zentimeter von meiner Nasenspitze entfernt, und beobachtete mich mit unverhohlener Neugier. Ihre hohen Wangenknochen und ihr spitzes Gesicht verliehen ihr eine geradezu tödliche Eleganz. Als wäre sie nicht von dieser Welt.
Und dann begegnete ich ihrem Blick. Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Augen gesehen. Sie waren hell und von einem so strahlenden Violett, dass ich verblüfft blinzeln musste. Ich wollte sie fragen, wer sie war, was sie hier tat und warum sie mir im Feuer begegnet war.
Geschaffen aus Asche und Glut und Rauch.
Sie lächelte mich sanft an und verlor kein Wort. Ihre herzförmigen Lippen bogen sich leicht nach oben und ihre Hände umfassten mein Gesicht. Dort, wo ihre Fingerspitzen mich berührten, kribbelte meine Haut. Ich begann wieder etwas zu fühlen! Ich spürte mich wieder.
Auch das fremde Mädchen schien die Veränderung zu bemerken, denn es grinste nun breit.
»Bist du bereit, zu den Lebenden zurückzukehren?«, fragte sie. Die Worte glichen Glockenschlägen. Ihre Stimme zerriss die Finsternis wie Papier und wies mir den Weg zurück in die Lebendigkeit. Es war eine Symphonie aus den schönsten Tönen, die ich jemals vernehmen durfte. Eine Melodie des Lebens.
Noch bevor ich ihre Frage beantworten konnte, hatte sie ihre Augen geschlossen und ihre Lippen auf die meinen gelegt. Die Berührung war sanft und gefühlvoll. Mein Herz sprang mir vor Überraschung beinahe aus dem Brustkorb und ein Prickeln erfasste meinen ganzen Körper. Alles kribbelte und ich verzehrte mich nach mehr.
Die Augen hatte ich automatisch geschlossen und meine Lippen öffneten sich leicht, um den Kuss zu vertiefen. Ich konnte die Verbindung zu der fremden Frau geradezu spüren. Wie ein dünnes Band verflochten sich unsere Seelen miteinander.
Und gerade als ich dachte, dass mein Herz zerbersten würde, verschwand sie. Sie löste sich in meinen Armen in Luft auf, sodass ich ins Leere griff. Die Wärme, die mich bei ihrem Anblick durchflutet hatte, wurde von der Kälte ihrer Abwesenheit vertrieben. Das Kribbeln jedoch wurde immer präsenter und schwoll so stark an, dass ich dachte, mein Körper würde entzweigerissen werden. Verzweifelt kämpfte ich gegen das eigenartige Gefühl an. Ich konzentrierte mich darauf, meine Gliedmaßen zu kontrollieren, bis mich schließlich die Kräfte verließen und ich das seltsame Empfinden zuließ.
Ein Schrei bahnte sich in meinem Hals an. Ich spürte ihn wie Säure in meinem Inneren. Er brannte darauf, nach draußen zu gelangen. Er verzehrte mich geradezu innerlich. Schließlich spaltete sich mein Mund und ein Brüllen entfuhr mir und durchdrang meinen Geist. Es klang dunkel und wild, geradezu animalisch. Ein Befreiungsschrei, den nur ich hören konnte.
Und endlich, endlich konnte ich meine Augen öffnen und sehen!
Das Nichts um mich herum hatte sich gelichtet, ich war frei. Ich war nicht länger gefangen in dieser Welt ohne alles. Ohne Gefühle, ohne Licht und ohne Leben.
Unendlich viele Sinneseindrücke strömten gleichzeitig auf mich ein. Direkt neben meinem Kopf war ein schrilles Piepen zu vernehmen, das meine Gedanken durcheinanderbrachte und mir Kopfschmerzen bereitete. Der Rhythmus des hohen Tons war unregelmäßig und disharmonisch.
Meine Augen wurden währenddessen durch ein helles Weiß geblendet, das mir von den Wänden des Zimmers entgegenstrahlte, in dem ich mich gerade befand. Ich musste mehrmals blinzeln und meine Augen zusammenkneifen, bis ich mich an das grelle Licht gewöhnt hatte. Gleichzeitig verbiss sich ein starker Geruch nach Desinfektionsmitteln in meiner Nase. Ich krallte die Finger meiner linken Hand in die weichen Bettlaken, die meinen Körper bedeckten. Der Stoff fühlte sich wunderbar auf meiner Haut an. Hier konnte mir nichts geschehen. Die Schwärze würde niemals wieder einen Weg in dieses Zimmer finden. Ich fühlte mich sicher. Ich war dem Nichts entkommen.
Doch wo bin ich überhaupt?
Mein Kopf wog unfassbar schwer. Als sei er in Metall gegossen worden.
Ich ließ meinen Blick langsam über meinen Körper gleiten und erkannte, dass mein Oberkörper, inklusive meinem rechten Arm, mit dicken Verbänden umwickelt war. Ich versuchte ihn zu bewegen, doch selbst meine schwachen Bemühungen schmerzten höllisch. Ich zischte einen leisen Fluch zwischen meinen zusammengepressten Zähnen hindurch. Das piepende Gerät neben mir beschwerte sich daraufhin ebenfalls lautstark, als würde es meine Anstrengungen missbilligen.
In meiner linken Armbeuge steckten unzählige Nadeln, die an dicke Infusionsbeutel angeschlossen waren und mich mit Flüssigkeit und Medikamenten versorgten. Ein größerer Schlauch verschwand in meinem Bauch. War das etwa eine Magensonde? Wurde ich künstlich ernährt?
Ich war mir inzwischen mehr als sicher, dass ich mich im Krankenhaus befinden musste.
Doch was ist geschehen?
Die Erinnerung an den Brand, an das nahende Feuer und den tief hängenden Rauch bahnte sich einen Weg zurück in mein Gedächtnis. Todesangst schlug ihre Krallen in mich, als ich die Flammen vor meinem inneren Auge wüten sah. Der goldene Schein, die unfassbare Hitze. Ich wäre beinahe bei lebendigem Leib verbrannt. Sofort beschleunigte sich mein Herzschlag.
Das hier war real. Ich musste keine Angst haben. Hier gab es kein Feuer. Keine Flammen. Keinen Rauch.
Ich fasste mit zitternden Fingern nach dem Notrufknopf, der direkt neben meinem Krankenbett angebracht war. Wie auf Kommando stürmte ein ganzes Team aus Ärzten und Krankenschwestern ins Zimmer. Sie alle starrten mich ungläubig an, als würden sie einen Geist sehen.
»Nicolo Fiore?«, sprach mich nun einer der Ärzte an. Sein weißer Kittel war ihm eindeutig zu groß und reichte beinahe bis auf den Boden hinab. Die grau melierten Haare standen ihm wirr vom Kopf ab und seine tiefbraunen, fast schwarzen Augen musterten mich zugleich interessiert und erstaunt.
Beim Klang meines eigenen Namens zuckte ich unwillkürlich zusammen. So nannte mich sonst niemand. Mir lag es aus Gewohnheit schon auf der Zunge zu sagen: »Nennen Sie mich einfach Nic.« Doch stattdessen nickte ich bloß.
»Können Sie mir sagen, was mit mir passiert ist?«, krächzte ich. Meine Stimme klang geschunden. Sprechen fühlte sich so an, als würde jemand von innen mit spitzen Fingernägeln meinen Hals zerkratzen. Ich schluckte schwer und eine Krankenschwester hielt mir augenblicklich ein Glas Wasser entgegen.
Ich nahm es dankbar an und trank es in wenigen Schlucken aus. Gierig nahm ich die Flüssigkeit auf, die sofort meinen gereizten Hals beruhigte. Als hätte ich seit Wochen nichts zu mir genommen.
»Sie waren einem Brand in Ihrem Studentenwohnheim schutzlos ausgeliefert. Als die Rettungskräfte Sie aufspürten, glich es einem Wunder, dass Sie überhaupt noch lebten.« Der Arzt fuhr sich mit der Hand durch die sowieso schon zerstörte Frisur. »Sie waren nicht mehr bei Bewusstsein und erlitten eine schwere Rauchvergiftung. Zudem wurde Ihre rechte Körperhälfte massiven Verbrennungen ausgesetzt. Wir haben getan, was wir konnten und die Wunden in der Notaufnahme versorgt. Um den Heilungsprozess besser kontrollieren zu können, wurden Sie in ein künstliches Koma versetzt. Doch bis heute war nicht klar, wann Sie wieder erwachen.«
Ich hielt bei seinen Worten inne und beobachtete die versammelte Mannschaft aus Ärzten und Pflegern genauer. Doch sie alle hatten steinerne Masken aufgesetzt, die ich unmöglich durchschauen konnte. »Wie lange war ich bewusstlos?«, fragte ich vorsichtig nach. Ich brachte es kaum zustande, meinen Kopf vom Kissen zu heben, so mitgenommen fühlte ich mich.
»Zwölf Tage.« Die Antwort des Arztes ließ mich zusammenzucken.
Zwölf Tage? Das waren fast zwei Wochen!
Ich habe mich zwei Wochen lang in diesem Zustand des völligen Nichts befunden.
Und ich bin nur dank der Frau entkommen.
Moment mal! Die Frau! Ich muss wissen, wie es ihr geht! Sie ist schließlich ebenfalls im Zimmer gewesen.
»Kurz bevor ich das Bewusstsein verloren habe, ist eine Frau in meinem Zimmer aufgetaucht. Wurde sie auch hier ins Krankenhaus eingeliefert? Hat sie überlebt?«, fragte ich nach. Das piepende Gerät neben meinem Kopf zeichnete natürlich sofort auf, wie sich mein Herzschlag beschleunigte.
Der Arzt sah mich verständnislos an. Doch ich konnte erkennen, wie er sich um eine logische Erklärung bemühte. »Es wurde keine Frau hier oder in ein umliegendes Krankenhaus eingeliefert. Bei Ihrem Wohnheim handelte es sich schließlich um ein reines Männerhaus. Es wurden allerdings noch sechs weitere Kommilitonen von Ihnen in die Notaufnahme gebracht.«
Ich versuchte, meine Gedanken zu sortieren und die Bilder in meinem Inneren zu ordnen.
Habe ich mir die Frau bloß eingebildet?
Ist sie etwa ein Trugbild?
Ein Streich meines geschädigten Gehirns?
Als hätte ich sie mit meinen Gedanken heraufbeschworen, erschien plötzlich am Fußende meines Bettes eine kleine Rauchsäule, die beständig zu einer größeren Wolke anwuchs. Die Ärzte schienen nichts zu bemerken und wuselten eifrig um mich herum, während ich meinen Blick nicht von den Schwaden lösen konnte.
Die Pfleger prüften meine Vitalfunktionen, leuchteten mir in die Augen, fragten mich banale Dinge über mich selbst, während ich meinen Blick fest auf den sich langsam auflösenden Dunst am Ende meines Bettes gerichtet hielt.
Innerhalb weniger Sekundenbruchteile lichtete sich der Rauch und die junge Frau stand mir gegenüber. Eine Gestalt aus Nebel und Geheimnissen. Niemand sonst schien sie zu bemerken und ihr neugieriger Blick haftete ausschließlich auf mir.
Mein Herz raste bei ihrem Anblick. Die schwarz gelockten Haare, die strahlend weiße Haut und die violetten Augen. So etwas konnte ich mir unmöglich einbilden.
Die Ärzte warfen sich einen vielsagenden Blick zu, als sie meine erhöhte Herzfrequenz bemerkten. Einer von ihnen verließ eilig das Zimmer. Ich nahm kaum Notiz davon.
Gerade als ich den Mund öffnen und die seltsame Frau ansprechen wollte, legte sie sich einen Zeigefinger auf die Lippen und zwinkerte mir zu.
In diesem Augenblick kehrte der Arzt zurück. In seiner Hand hielt er eine kleine Flasche, die er an meinen Infusionsschlauch anschloss.
Ich wurde jäh aus meinen Gedanken gerissen und wagte es zum ersten Mal, meinen Blick von der Frau zu lösen. »Was ist das?«, fragte ich, während die leicht gelbliche Flüssigkeit in meinem Arm verschwand. Nach wenigen Sekunden spürte ich bereits, wie meine Augenlider schwer wurden und ich nur noch lallen konnte.
»Ein leichtes Beruhigungsmittel. Keine Sorge, in wenigen Stunden werden Sie aufwachen und vollkommen ausgeruht sein. Das Koma bekommt manchen Patienten einfach nicht gut. Schlafen Sie ein wenig, wir informieren währenddessen Ihre Angehörigen darüber, dass Sie aufgewacht sind.« Die raue Stimme des Arztes begleitete meine abschweifenden Gedanken an einen Ort, den ich vor Müdigkeit nicht mehr erreichte.
Das Letzte, was ich vor dem Schließen meiner Augen sah, war das sanfte, ermutigende Lächeln des fremden Mädchens am Fußende meines Bettes.
Ich hätte das nicht tun sollen.
Ich hätte ihn einfach sterben lassen sollen.
Dann wäre alles im Gleichgewicht geblieben.
Ich seufzte innerlich auf, als ich seinen schwachen Körper dort in dem riesigen Krankenbett liegen sah. Er wirkte verloren. Sein Gesicht war eingefallen, sodass die warmen braunen Augen unnatürlich groß wirkten.
Nicolo.
Mein Mundwinkel hob sich leicht an. Das war der Name meiner Seele. Der Name des Lebens, das ich um jeden Preis beschützen und wenn nötig sogar bis in den Tod begleiten würde. Er klang gut. Allerdings wagte ich es noch nicht, ihn laut auszusprechen.
Wann würde der junge Mann sich wohl an meinen Namen erinnern?
Lynn. Ich heiße Lynn.
Ich starrte stumm vor mich hin und betrachtete die Ärzte und Krankenschwestern, die in hektischen, jedoch genau koordinierten Bewegungen um meinen Schützling herumwuselten. Ganz richtig: Ich war Nicolos Schutzgeist. Sein Seelenschatten, der ihn von der Geburt bis zum Tod begleitete. Jeder Mensch hatte einen an seiner Seite. Immer.
Selbst wenn sich die Sterblichen allein und einsam fühlten, waren wir da. Wir wichen keine Sekunde von ihrer Seite. Niemals.
Wir wuchsen zusammen mit ihnen auf und wurden durch die Loyalität des Schutzgeistes aneinandergebunden. Ich kannte Nic, so wollte er schließlich immer genannt werden, schon mein ganzes Leben lang. Als Kinder haben wir sogar eine Zeit lang immer miteinander gespielt. Er hatte alles mit mir geteilt. Nicht nur seine Spielzeuge, sondern auch seine Geheimnisse. Damals konnte er mich noch sehen, obwohl die Blicke jedes anderen über mich hinwegglitten. Seine Mutter hatte mich in seinem Beisein sogar einmal als ›imaginäre Freundin‹ betitelt. Jenen Tag würde ich nie vergessen. Es war der Tag, an dem Nic begann, mich zu ignorieren. Ich war wütend geworden und hatte ihn gefragt, warum er das tat. Seine Antwort versetzte mir selbst durch die Erinnerung einen schmerzhaften Stich ins Herz. »Du bist nicht echt. Ich bilde mir dich nur ein.«
Ich wollte es nicht begreifen. Konnte es nicht verstehen.
»Aber Nic … ich bin echt. Wirklich!«
Danach war er aufgestanden und hatte mir mit seiner geballten Faust in den Magen geschlagen. Ich hätte Schmerz empfinden sollen, doch seine Hand traf keinen Widerstand. Ich war aus Luft geschaffen. Ein Schutzgeist. Aber das bedeutete doch nicht, dass ich nicht existierte? Oder?
»Du bist nicht echt! Du bist ein Geist!« Das hatte er geschrien. Immer und immer wieder, bis seine Mutter ins Zimmer gerannt kam, um ihren kleinen, weinenden Engel zu beruhigen.
Nic hielt meinen Blick über die Schulter seiner Mutter hinweg gefangen. Seine tränenüberfluteten Augen fokussierten mich starr, während seine Pupillen zitterten. Die Hände hatte er in die Strickjacke seiner Mutter gekrallt. Erst da begriff ich es. Nic hatte Angst. Vor mir.
Das durfte nicht sein. Ich wollte ihn doch beschützen. Ich würde ihm niemals etwas antun.
In diesem Moment beschloss ich, Nic weiterhin zu beschützen. Allerdings auf eine andere Art als bisher. Nicht länger als Gefährtin und Freundin, sondern als Seelenschatten. Diesen Namen hatte ich mir nach diesem Ereignis selbst gegeben. Und bis heute dachte ich, dass er perfekt passte. Also löste ich mich vor seinen Augen in Luft auf und kehrte nie wieder in meiner menschlichen Form zu ihm zurück.
Dennoch war ich immer an seiner Seite, bewahrte ihn vor Unfällen oder lenkte ihn sanft von gefährlichen Situationen fort, indem ich leise Warnungen in sein Ohr sprach, die sich ihren Weg durch sein Unterbewusstsein bahnten. Manche Menschen nannten diese Eingebungen Intuition. Ich nannte sie Schicksal.
Eine Regel gibt es jedoch für die Schutzgeister eines Menschen: Sie durften nie, niemals in seinen Tod eingreifen. Sie durften ihn warnen und unterschwellige Drohungen aussprechen, doch sie sollten unter keinen Umständen direkt in eine Situation eingreifen.
Und natürlich hatte ich die einzige Regel, die es gab, gebrochen.
Nic wäre in dem Feuer gestorben. Diese Erkenntnis hatte mich zusammen mit ihm ereilt. Und ich konnte es nicht zulassen. In ihm steckte so viel mehr. Er hatte noch so viele Jahre vor sich. Er war mir ein guter Freund gewesen und hatte es nicht verdient zu sterben. Wenn es so weit war, dann würde ich an seiner Seite sein und mit ihm zusammen gehen. Doch ich wollte den frühen Zeitpunkt nicht akzeptieren. Ich hatte Nic vor den Flammen geschützt und mich ihm gegenüber offenbart.
Selbst als er im Koma lag und mir immer mehr entglitt, konnte ich ihn nicht loslassen. Ich musste ihm einfach einen Weg durch die Dunkelheit weisen. Ihm einen Ausweg zeigen, obwohl es keinen mehr gab.
Der Kuss zwischen uns war so anders als alles, was ich bisher gespürt hatte. Ich hatte das Seelenband gesehen, das uns beide untrennbar miteinander verknüpfte. Ich besaß zwar kein Herz, das schneller schlagen konnte, aber, obwohl ich nicht das Gefühl einer Berührung genießen konnte, bildete ich mir ein, in diesem Augenblick etwas gespürt zu haben. Eine winzige Regung. Sie glich einem Windhauch, der durch mich hindurchwehte und mir für einen Moment Wärme schenkte. Und so schnell wie das Gefühl aufgetaucht war, so schnell war es auch wieder verebbt. Nun blieb mir nur noch die Erinnerung. Vielleicht hatte ich mir das alles aber auch bloß eingebildet.
Ich betrachtete seinen zerbrechlichen Körper. Die Ärzte hatten sein Krankenzimmer inzwischen wieder verlassen. Sie waren einfach durch mich hindurchgerauscht, als würde ich nicht existieren.
Ich erinnerte mich an die Worte, die Nic vor vielen Jahren an mich gerichtet hatte. Vielleicht war ich wirklich nicht real. Doch die Existenz des Seelenbands war nicht zu leugnen. Ich hatte ein Stückchen von mir selbst weitergegeben, als ich Nic zurück ins Leben geführt hatte. Der Kuss hatte mir ein Stück meiner selbst entrissen und ihm geschenkt.
Ich wusste nicht, was das für Nic oder mich bedeutete, doch ich war mir einer Sache sicher: Es würde alles verändern, denn von nun an konnte er mich sehen. Jemand wusste, dass ich da war. Und auch wenn der Rest der Welt mich vergessen hatte, so erinnerte sich der wichtigste Mensch meines Universums vielleicht irgendwann wieder an mich.