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Jon McGregor

Speicher 13

Roman

Aus dem Englischen übersetzt von
Anke Caroline Burger

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Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel

»Reservoir 13« bei 4th Estate, London.

© Jon McGregor 2017

© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2018

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Sieveking, München

Umschlagmotiv: David Chesire / Arcangel Images

eISBN 978-3-95438-088-6

Der Fluss fließt.
Die Amsel muss fliegen
.

WALLACE STEVENS

i. m.

Alistair McGregor

1945–2015

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

1.

Sie versammelten sich im Morgengrauen auf dem Parkplatz und warteten auf Anweisungen. Es war kalt, und es wurde nicht viel gesprochen. Es gab Fragen, aber sie wurden nicht gestellt. Das vermisste Mädchen hieß Rebecca Shaw. Als sie zum letzten Mal gesehen wurde, trug sie einen weißen Kapuzenpullover. Der Nebel hing tief über dem Moor, und der Boden war gefroren. Es gab Anweisungen, dann ging es los, die Stiefel knirschten über den harten Boden, und die Spuren verwischten sich sofort, als das Heidekraut in seine ursprüngliche Position zurückschnellte. Das Mädchen war einen Meter fünfzig groß und hatte dunkelblonde Haare. Sie war seit mehreren Stunden verschwunden. Man hielt den Blick gesenkt, sprach nicht und fragte sich, was man finden würde. Außer den Schritten und den an der Straße bellenden Hunden war nichts zu hören, über den Speicherseen in der Ferne ein Hubschrauber. Der Hubschrauber war die ganze Nacht unterwegs gewesen und hatte nichts gefunden, obwohl er die Suchscheinwerfer über das Heidekraut und die anschwellenden braunen Bäche wandern ließ. Das hatte Jacksons Schafe so verschreckt, dass sie durch ein kaputtes Gatter ausgebrochen waren, und Jackson war die ganze Zeit unterwegs gewesen, um die versprengten Tiere wieder zusammenzutreiben. Die Bergwacht und der Höhlenrettungsdienst und die Polizei hatten nichts gefunden, und um Mitternacht war das Mädchen offiziell für vermisst erklärt und ein Suchkommando zusammengestellt worden. Die Freiwilligen für den Suchtrupp zusammenzutrommeln war nicht schwierig gewesen. Das halbe Dorf war sowieso auf den Beinen und stellte Vermutungen an, was vorgefallen sein mochte. Zu dieser Jahreszeit geht man nicht in die Berge, hieß es. Die Leute kommen her und haben keinen blassen Schimmer, wie schnell hier das Wetter umschlägt. Wie früh es dunkel wird. Es gibt Leute, die wissen nicht mal, dass man dort oben oft keinen Empfang hat. Das Mädchen machte mit seiner Familie über Neujahr Urlaub im Dorf und wohnte bei den Hunters in einer der umgebauten Scheunen. Laut schreiend waren die Eltern nach Einbruch der Dunkelheit ins Dorf gerannt gekommen. Es war viel zu kalt, um in den Bergen unterwegs zu sein. Sie hat sich sicher nur versteckt, sagten die Leute. Wahrscheinlich in einen Wassergraben gefallen. Oder den Fuß verstaucht. Die will ihren Eltern nur einen Schreck einjagen. So was gab es öfter. Die Leute schwätzten einfach gern dummes Zeug. Als es hell wurde, hatte sich der Nebel gelichtet. Wenn man sich umdrehte, konnte man oben aus dem Moor hinunter aufs Dorf blicken: man sah das Buchenwäldchen und den Gemeinschaftsgarten, den Kirchturm und das Kricketfeld, den Fluss und den Steinbruch und das Zementwerk an der Straße, die in die Stadt führte. Es galt, ein riesiges Gelände abzusuchen, es gab so viele Stellen, an denen das Mädchen sein konnte. Der Suchtrupp bewegte sich weiter. Gelegentlich blitzten von der Fernstraße, die manchmal am Horizont zu sehen war, Scheinwerfer auf. Stumpf und bleigrau lagen die Speicherseen da. Schwere Regenwolken zogen heran. Der Boden taute auf, und öliges, braunes Wasser suppte um die Stiefel herum. Ein Nachrichtenhubschrauber flog niedrig über die Leute aus dem Dorf hinweg. Es kostete Mühe, nicht hochzuschauen und zu winken. Später wurde eine Pressekonferenz im Gladstone abgehalten, aber über das bereits Bekannte hinaus hatte die Polizei nichts Neues zu berichten. Das vermisste Mädchen hieß Rebecca Shaw. Sie war dreizehn Jahre alt. Als sie zum letzten Mal gesehen wurde, trug sie einen weißen Kapuzenpullover mit einer marineblauen Daunenweste darüber, schwarze Jeans und Stoffturnschuhe. Sie war einen Meter fünfzig groß und hatte glatte, dunkelblonde, schulterlange Haare. Die Öffentlichkeit wurde zur Mitarbeit aufgerufen. Falls man eine Person sah, auf welche diese Beschreibung zutraf, sollte man sich melden. Die Suche werde fortgesetzt, sobald das Wetter es ermögliche. Am Abend lagen der Schein der Fernsehgeräte und die aus den Generatoren kommenden Abgase über dem Marktplatz, und hinter dem Pub waren laute Stimmen zu hören. Erste Zweifel regten sich.

Um Mitternacht wurde das neue Jahr in der Stadt hinter den Bergen mit einem Feuerwerk begrüßt, aber es war zu weit weg, man hörte nichts, und niemand guckte es sich an. Die Tanzveranstaltung im Gemeinschaftshaus wurde abgesagt, und im Gladstone herrschte trotz der zahlreichen Gäste keine Feierlaune. Tony schloss den Ausschank eine halbe Stunde später, und alle gingen nach Hause. Nur die Polizisten waren noch draußen auf den Straßen, sie scharten sich um die Mannschaftswagen oder stapften erneut hinaus ins Moor. Das Wasser schoss aus den vollgesogenen Torfbetten durch die Gräben und die Stufen der Wanderwege hinab, die am Steilhang herunterführten. Der Fluss war braun vom Lehm der Berge und ergoss sich wie ein Fächer über das Wehr. Oben im Moor steckten Fähnchen, wo die Eltern entlanggelaufen waren. Die Fähnchen rollten sich zusammen und knatterten im Wind. Der Parkplatz am Besucherzentrum des Nationalparks war voll mit Übertragungswagen, und immer mehr Journalisten trafen ein. Im Gemeinschaftshaus wurden die Klapptische mit grünen Tassen und Untertassen gedeckt, die Heißwasserspender kamen zum Kochen und der Geruch von Speckbrötchen zog hinaus in den Regen. Auf dem Anwesen der Hunters drangen Stimmen aus der umgebauten Scheune, wo die Eltern wohnten. Es wurde so laut gesprochen, dass auch der Polizeibeamte vor der Tür es hörte. Jess Hunter trat mit einer Tasse Tee aus dem Haupthaus. Ein Hubschrauber kam von den Speicherseen herübergeflogen, drehte langsam über dem Fluss ein und knatterte dann über das Wehr und den Steinbruch und den Wald davon. Die Taucher durchkämmten noch einmal den Fluss. Eine Gruppe von Journalisten wartete hinter einer Absperrung an der alten Steinbrücke, die Fotoapparate auf einen leeren Flussabschnitt gerichtet, der Atem weiß über ihren Köpfen. Auf der unteren Weide knieten zwei der Jackson-Söhne neben einem gestürzten Schaf. Als der erste Taucher im tropfenden Neoprenanzug langsam aus dem Wasser stieg, klickten die Auslöser. Ein zweiter Taucher kam um die Biegung, dann ein dritter. Nacheinander zogen sie unter dem Bogen der alten Steinbrücke die Köpfe ein, dann waren sie nicht mehr zu sehen. Die Fernsehteams rissen ihre Kameras von den Stativen und packten zusammen. Einer der Jackson-Söhne kam mit einem Quad angerumpelt und forderte die Journalisten auf, die Wiese zu verlassen. Der Fluss war reißend und leer. Die Zementfabrik stellte die Arbeit ein, damit alles durchsucht werden konnte. In der folgenden Woche zeigten sich die ersten Schneeglöckchen am Wegrain hinter dem Kricketfeld, obwohl alles danach aussah, als sei der Winter noch lange nicht vorbei. Im Lehrerzimmer der Schule behielten die Lehrerinnen ihre Mäntel an und warteten ab. Nichts, was man sagen könnte, schien das Richtige zu sein. Die Heizungsrohre gaben ein Rasseln von sich, an das sich die meisten gewöhnt hatten, und die Stimmung im Raum besserte sich. Miss Dale fragte Miss French, ob es ihrer Mutter schon besser gehe, und Miss French schilderte eingehend, in welcherlei Hinsicht es ihr nicht besser gehe. Wieder wurde geschwiegen, die Heizung klopfte. Mrs Simpson kam herein und dankte ihnen, dass sie so früh erschienen waren. Alle versicherten ihr, dass es gern geschehen sei. Unter diesen Umständen. Mrs Simpson sagte, es sei geplant, den Unterricht wie gewohnt abzuhalten, man solle aber bereit sein, den Kindern die Situation zu erläutern, sollten sie danach fragen. Was relativ wahrscheinlich war. Es klopfte an der Tür, der Hausmeister Jones kam herein und verkündete, dass die Heizung jeden Moment anspringen werde. Mrs Simpson bat ihn, nicht zu vergessen, den Schulhof mit Rollsplitt zu streuen. Er warf ihr einen Blick zu, der vermutlich sagen sollte, dass es nicht nötig gewesen wäre, ihn daran zu erinnern. Als die Kinder in die Schule gebracht wurden, stand Mrs Simpson am Tor, um sie willkommen zu heißen. Als die Kinder hineingegangen waren und das Tor hinter ihnen abgeschlossen wurde, standen die Eltern noch ein wenig herum. Einige sahen aus, als würden sie am liebsten den ganzen Tag hier herumstehen. An der Bushaltestelle warteten die größeren Kinder auf den Bus zur weiterführenden Schule in der Stadt. Sie waren schon Teenager. Es war der erste Schultag, doch sie sagten nicht viel. Es war kalt, und sie hatten die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Sie würden den ganzen Tag nach dem verschwundenen Mädchen gefragt werden, als wüssten sie mehr darüber als das, was sie in den Nachrichten gesehen hatten. Lynsey Smith sagte, sie könne wetten, Miss Bowman würde fragen, ob Gesprächsbedarf bestehe. Sie machte mit den Fingern Anführungszeichen um das Wort »Gesprächsbedarf«. Deepak erwiderte, so könne man sich wenigstens vor Französisch drücken. Sophie wandte den Kopf ab und sah Andrew, der an der anderen Bushaltestelle mit seiner Mutter Irene wartete. Andrew war genauso alt wie sie, aber er ging auf eine Sonderschule. Ihr Bus kam, und James ermahnte Liam, keinen Scheiß über Becky Shaw zu erzählen. Es schneite, und der Schnee blieb liegen, obwohl er nass war. In der Kirche wurde ein Gottesdienst abgehalten. Die Pastorin bat die Polizei, die Journalisten fernzuhalten. Jedermann sei willkommen, sagte sie, aber sie erlaube keine Fotos, keine Tonaufnahmen, keine herumwedelnden Notizbücher. Eine trauernde Gemeinde beim Gebet dürfe kein Medienspektakel werden. Die Gemeindehelfer stellten zusätzliche Stühle bereit, aber es gab trotzdem nicht ausreichend Sitzplätze für alle. Die nicht an den Kirchgang gewöhnten Männer standen da, mit ihren zerknautschten Hüten in der Hand, und lehnten sich gegen die Stirnseite der Kirchenbänke. Manche verschränkten abwartend die Arme. Die treuen Kirchgänger reichten ihnen die auf der richtigen Seite aufgeschlagenen Gesangsbücher. Die Pastorin, Jane Hughes, sagte, sie hoffe, niemand erwarte von ihr Antworten. Sie hoffe, niemand erwarte Trost. In dieser Situation, in der wir uns heute befinden, gibt es keinen Trost, sagte sie. Für die Eltern des Mädchens gibt es keinen Trost, und auch für die Angehörigen, die ins Dorf gekommen sind, um ihnen zu helfen, gibt es keinen Trost. Es gibt keinen Trost für die Polizisten, die an der Suche beteiligt sind. Wir können nur darauf vertrauen, dass wir in schwierigen Zeiten wie diesen Gott mitten unter uns antreffen werden. Wir können nur darum bitten, dass wir uns nicht von Trauer überwältigen lassen, dass wir uns nicht der Trauer anheimgeben, sondern vom Glauben aufrichten lassen. Möge der Glaube uns helfen, der leidenden Familie beizustehen. Jane Hughes machte eine Pause und schloss die Augen. Sie erhob die Hände in einer Geste, die nach einem Gebet aussah, wie sie hoffte. Die Männer mit den verschränkten Armen hielten sie weiterhin verschränkt. Der Kirchendiener läutete die Glocke drei Mal, und das Glockenläuten klang durch den heller werdenden Morgen und das Tal bis hinaus zum alten Steinbruch. Am Ende des Monats kam die Sonne heraus und die Felder tauten auf. Während der Schneeschmelze erschütterte der Schlag abgehender Dachlawinen die Luft. Ständig wurde darüber spekuliert, was die Eltern wohl gerade machten. Sie seien untröstlich, hieß es.

Im Februar ließ die Polizei Schauspieler aus Manchester kommen, um die Ereignisse nachzustellen. Es hatte bisher keine sachdienlichen Hinweise gegeben, und die Untersuchung sollte wieder in Gang gebracht werden. Die Presse erhielt Zugang zum Anwesen der Hunters und Anweisungen, was gefilmt werden sollte. Der Tag war frostklar und kalt. Der Pressesprecher bat um Ruhe. In der umgebauten Scheune ging die Tür auf, und ein Paar Anfang vierzig trat heraus, gefolgt von einem dreizehnjährigen Mädchen. Die Frau war schlank, das blonde Haar in einer gepflegten Kurzhaarfrisur. Sie trug einen dunkelblauen Regenmantel und enge schwarze Jeans, die in halbhohen Stiefeln steckten. Der Mann war groß und kantig, mit krausem schwarzem Haar und einer Brille mit schwarzem Gestell. Er trug einen dunkelgrauen Anorak, Wanderhosen und schwarze Schuhe. Das Mädchen wirkte groß für eine Dreizehnjährige, mit dunkelblonden, bis auf die Schultern reichenden Haaren und einem gut gespielten Gesichtsausdruck permanenter Gereiztheit. Sie trug schwarze Jeans, einen weißen Kapuzenpullover, eine marineblaue Daunenweste und Stoffschuhe. Die drei stiegen in ein silbernes Auto, das vor der Scheune stand, und fuhren langsam hinunter zur Straße. Die Fotografen rannten nebenher. Dann warteten die Schauspieler am Besucherzentrum des Nationalparks auf die Fotografen und stiegen erst aus, als die sich in Stellung gebracht hatten, dann starteten sie zu ihrer Wanderung ins Moor. Das Mädchen fiel immer wieder zurück, und die Schauspieler, die seine Eltern mimten, drehten sich drei Mal um und riefen nach ihm, es solle nicht trödeln und zu ihnen aufschließen, und drei Mal reagierte das Mädchen, indem es wütend auf den Boden stampfte und noch langsamer ging. Die beiden Erwachsenendarsteller hielten sich an der Hand und gingen vor, und das Mädchen beschleunigte seinen Schritt. Später wurde bestätigt, dass dieser Ablauf der Ereignisse mit dem Polizeibericht übereinstimmte. Die beiden Erwachsenen gingen weiter, bis sie hinter der ersten Anhöhe verschwunden waren, und kurz darauf war das Mädchen ebenfalls nicht mehr zu sehen. Die Kameras filmten leere Luft. Der Pressesprecher dankte allen fürs Kommen. Die drei Schauspieler kamen wieder den Berg herunter. Das Zementwerk nahm die Arbeit wieder auf, und der Staub versilberte die Straßen. Die Güterzüge rangierten auf einem langen Bogen zwischen den Bäumen hindurch. Ein bleiches Licht wanderte langsam über das Moor, es schimmerte auf den wasserführenden Tümpeln und Gräben und leuchtete immer heller, bis die Wolkendecke sich wieder schloss. Am Flussufer in Richtung Wehr stand in der Abenddämmerung ein Graureiher und betrachtete das Wasser. Ein klebriger Nebel kroch nachts vom Moor herab. Um vier Uhr früh war Les Thompson auf den Beinen und trieb die Kühe zum Melken über den Hof. Später wurde die Pastorin im Auto auf dem Weg zum Anwesen der Hunters gesehen. Eine Stunde blieb sie bei den Eltern des vermissten Mädchens und sprach mit niemandem, als sie ging.

Die Untersuchung zog sich hin. Ende März wurde es langsam wärmer, und die Eltern wohnten immer noch bei den Hunters. Es gab nichts Neues. Eines Morgens fuhr Jane Hughes wieder zu ihnen, und als sie am Jackson-Hof vorbeikam, sah sie Jackson und seine Söhne vor dem Ablammstall. Sie machten den Eindruck von Männern, die hart arbeiteten, aber nicht gern darüber redeten, in der Hand Teetassen und Zigaretten. Aus dem Bauernhaus drang der Duft von brutzelndem Frühstücksspeck. Erst als Kinder auf dem Schulweg vorbeiliefen, fiel Will Jackson wieder ein, dass er seinen Sohn bei seiner Ex-Freundin abholen und zur Schule bringen musste. Der Transporter muckte, weshalb er schnell aufs Quad sprang. Er wusste jetzt schon, dass die Mutter des Kleinen nicht begeistert sein und ihm Vorhaltungen machen würde. Als sie endlich zur Schule kamen, war das Tor schon verschlossen, und Will musste Jones aus dem Kesselhaus herausrufen, damit er sie reinließ. Will brachte seinen Sohn ins Klassenzimmer. Miss Carter akzeptierte seine Entschuldigung, ließ den Jungen sich setzen und fragte Will, was er von einem Klassenausflug zu ihnen auf den Hof halten würde, wenn die Schafe ihre Lämmer bekämen. Er antwortete ihr, das Lammen habe bereits begonnen, und sie wirkte überrascht. Sie fragte, ob da nicht noch mehr Lämmer kämen, und er antwortete, sie müsse ein Schriftstück bei seinem Vater einreichen, wenn sie einen Schulausflug organisieren wolle. So viel hatte man ihn seit vielen Wochen nicht reden hören. Als er zum Hof zurückkam, waren seine vier Brüder im Stall versammelt. Sie hatten in seiner Abwesenheit ein Mutterschaf verloren. Der Gemeinderat trat zusammen. Brian Fletcher hatte Mühe, die Anwesenden zum Einhalten der Tagesordnung zu bringen, und musste schließlich zugeben, dass es in Zeiten wie diesen schwierig war, sich auf das Thema Parkplätze zu konzentrieren. Die Sitzung wurde vertagt. Die Polizei hielt eine Pressekonferenz im Saal des Gladstone ab, bei der bekannt gegeben wurde, dass man nach dem Fahrer eines roten Kleintransporters der Marke LDV fahndete. Die Journalisten wollten wissen, ob der Fahrer dieses Wagens verdächtigt werde, worauf der zuständige Detective antwortete, man wolle nichts ausschließen. Die Eltern des Mädchens saßen neben dem Detective und sagten kein Wort. Am Nachmittag blies ein kräftiger Wind, der die Wolken nach Westen vertrieb. Eine Amsel mit einem Schnabel voll gemähtem Gras hüpfte durch Mr Wilsons Garten. Unter den Buchen hinter der Sozialbausiedlung nährten sich Springschwänze von winzigen Stücken welken Laubs. Vom Berg aus waren nachts die Lichter der Fernstraße zu sehen, rot und weiß, die aneinander vorbeiflossen, darüber zogen die Wolken hinweg. Nach dem vermissten Mädchen war gesucht worden. Überall war nach ihr gesucht worden. Nach ihr war zwischen den Brennnesseln gesucht worden, die bei Thompson an der toten Eiche wuchsen. Pflastersteine und Spanplatten waren hochgehoben worden, bevor die Leute den Hof durchs Tor wieder verließen. Auf dem Anwesen der Hunters war nach ihr gesucht worden, hinter den umgebauten Scheunen, in den Carports und im Holzschuppen und in den Gerätehäuschen, in den Wäldern und Gewächshäusern und den ummauerten Gärten. Im Zementwerk, durch das man nur ungern gegangen war, war nach ihr gesucht worden. Obwohl die Freiwilligen nur einen schnellen Blick hinter Paletten und Gabelstapler, in den Belegschaftsraum und in die Kantine geworfen hatten, waren ihre Gesichter und Hände mit weißem Staub bedeckt, als sie danach die Straße hinuntergeisterten. Nachts träumte man davon, wo das Mädchen abgeblieben sein könnte. Man träumte, sie käme zu Fuß aus dem Moor, mit klatschnassen Kleidern, die Haut fast blau. Man träumte davon, als Erstes bei ihr zu sein, mit einer Decke, um sie sicher heimzubringen.

Im April, als die ersten Schwalben gesichtet wurden, waren auch die Wanderer wieder in den Bergen unterwegs. Wenn sie auf dem Parkplatz den Rucksack aufsetzten, hörte man, wie sie Vermutungen über das Mädchen anstellten. In welche Richtung sie gelaufen, wie weit sie gekommen sein mochte. Wäre sie nach Norden gegangen, hätte sie bei Einbruch der Dunkelheit die Fernstraße erreicht. Nach Osten wären die Speicherseen im Weg gewesen. Nach Westen wäre sie zu den steilen Abhängen gelangt, wo Heide und Grund in der Luft zerfaserten und der Sandstein vom Berg wegrollte. Das Wetter, bei dem sie damals unterwegs war. In den Schuhen! Es gab so viele Gräben, in die man stürzen konnte. Wie war es möglich, dass man sie immer noch nicht gefunden hatte, dabei waren die Tage jetzt länger und die Sonne reichte tiefer ins Tal hinein und unter den Eschen entrollten sich die ersten Fiedelköpfe der Farne aus der kalten schwarzen Erde. Am Abend kamen in den Nachrichten überall dieselben Bilder: ein Luftbild der Suchmannschaft, die in einer Reihe durchs Moor lief, die das Wasser durchkämmenden Taucher, die Eltern des Mädchens, wie sie gerade weggebracht wurden, das Foto des Mädchens. Auf dem Foto trug es dieselbe Kleidung wie in der Personenbeschreibung, das Gesicht war halb abgewandt. Als wäre sie am liebsten woanders, hieß es. Die Mutter des Mädchens wurde wieder von den Detectives aufgesucht. Manchmal tauchten neue Fragen auf. Bevor die Kinder zur Schule kamen, füllte Miss Carter Blechkannen aus der Cafeteria mit Wasser und stellte selbst geschnittene Zweige mit Weidenkätzchen hinein. Im Gemeinschaftsgarten spross der Winterbrokkoli, von dem sich die einzelnen violetten Röschen sauber abreißen ließen und direkt vom Stamm einfach zu köstlich schmeckten, als dass man eine ordentliche Ernte heimgebracht hätte. Oben in der Gegend bei den Stone Sisters wurden Landvermesser gesehen. Es gab Gerüchte, sie kämen von einem Steinbruchunternehmen. Der Frühjahrstanz wäre um ein Haar abgeblasen worden, aber als Irene vorschlug, daraus einen Wohltätigkeitsball zugunsten vermisster Kinder zu machen, hatte niemand mehr Einwände. Sally Fletcher bot an, bei der Organisation zu helfen, nachdem Irene sie lang genug angeschaut hatte. Die Taucher seilten sich wieder an und ließen sich in den Speichersee gleiten, während die Graureiher über ihnen kreisten. Die Bäume wurden endlich grün. Sanfter Regen wehte in weißen Wolken über die Felder.

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Vor dem Ersten-Mai-Wochenende gab es eine Schlange beim Metzger, aber kein Vergleich mit früher. Kein Vergleich mit der Schlange, die Martin und Ruth brauchten, um den Laden weiterführen zu können. Das behielt Martin für sich, auch wenn es allmählich offensichtlich wurde, aber keiner stellte Fragen. Irene stand vorn in der Schlange und gab zum Besten, was sie über die Lage bei den Hunters wusste. Sie putzte dort und hatte einiges zu berichten. Ihr könnt euch vorstellen, wie das für die Eltern von dem Mädchen sein muss, sagte sie. Mitansehen zu müssen, wie wir alle einfach mit unserem Leben weitermachen. Ruth meinte, man könne ja wohl kaum erwarten, dass das gesamte Dorfleben zum Stillstand käme. Austin Cooper erschien mit einem Stoß der Dorfzeitung, dem Valley Echo, und legte ihn auf die Theke. Ruth gratulierte ihm, und er schaute sie einen Augenblick verwirrt an, dann lächelte er und ging wieder hinaus. Irene sah ihm hinterher und fragte, ob Su Cooper ein Kind erwarte. Ruth sagte: Ja, endlich, und Gordon Jackson hinten aus der Schlange fragte, ob damit zu rechnen sei, dass man drankomme, bevor das Kind dann da war. Ein mit einem roten Kleintransporter beladener Abschleppwagen fuhr die schmale Straße entlang, dahinter folgte ein Polizeiauto. Der Transporter war in Plastik verpackt. Martin wischte sich die Hände an der Schürze ab und trat vor die Tür, um ihm hinterherzusehen. Gordon kam mit nach draußen und zündete sich eine Zigarette an. Martin nickte. Da sieht die Sache schon anders aus, sagte er. Das ist ein Durchbruch, aber ein richtiger, sagte Gordon. Die Schwalben kehrten in großer Anzahl zurück und flogen durch die offenen Tore von Jacksons Ablammschuppen ein und aus, genau wie im Kuhstall der Thompsons und in den Wirtschaftsgebäuden oben auf den Ländereien der Hunters. Innerhalb des Brunnenschmuck-Komitees gab es Meinungsverschiedenheiten darüber, ob die Bretter in diesem Jahr überhaupt geschmückt werden sollten. Unter diesen Umständen. Niemand konnte sich daran erinnern, dass es jemals ein Jahr ohne Brunnenschmuck gegeben hätte. Allerdings hatte es auch noch nie so ein Jahr gegeben. Am Ende einigte man sich darauf, die Bretter zu schmücken, aber kein großes Brimborium darum zu machen. Das Mädchen wurde gesehen. Als Erstes wurde sie von Irene gesehen, wie sie den Steg bei der Teestube überquerte. Sie wirkte schrecklich allein, sagte Irene, wie ein verlorenes Kind. Das Gesicht hatte sie halb abgewandt, als sie ans andere Ufer gegangen ist, und sie wollte mir nicht in die Augen sehen. War verschwunden, bevor ich zum Steg kam, keine Ahnung, wo sie hin ist. Ich weiß genau, dass sie es war. Die Polizei wurde verständigt und begab sich auf die Suche, fand aber nichts. An dem Tag hätten sich viele junge Familien in der Gegend aufgehalten, verkündete ein Polizeisprecher. Aber ich weiß genau, dass sie es war, beharrte Irene. Es regnete viel, der Fluss stand hoch, und der Weißdorn an den unteren Heuwiesen blühte schäumend weiß. Wiesenkerbel wuchs dicht an dicht neben den Wegen, und der Schatten unter den Bäumen wurde tiefer. Das Vieh wurde auf die höher gelegenen Weiden getrieben, und die Teestube am Mühlteich öffnete für die Sommersaison. In der Scheune reparierten Thompsons Männer die Ballenpresse, damit sie für die Heuernte bereit war. Das Gras stand hoch, aber das Wetter war schon seit Tagen schlecht, und man konnte nicht mähen. Der Regen prasselte laut und anhaltend aufs Scheunendach. Die Speicherseen liefen voll.

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Der Transporter war hinter den Lagerschuppen am Speicher 7 gefunden worden. Die Gegend war in den Tagen nach dem Verschwinden des Mädchens abgesucht worden, was bedeutete, dass der Transporter vermutlich zu einem späteren Zeitpunkt dort abgestellt worden war. Aber vielleicht war der Transporter auf der Straße gesehen worden. Vielleicht erinnerte sich jemand an den Fahrer des Wagens. Die Polizei suchte dringend nach dem Besitzer des Fahrzeugs und forderte alle Zeugen auf, sich zu melden. Das Nummernschild war gefälscht und die Fahrgestellnummer weggefeilt worden. Man hatte den Transporter mitgenommen und einer eingehenden kriminaltechnischen Untersuchung unterzogen. Die Pressekonferenzen waren mittlerweile erschreckende Normalität geworden. Die Stühle wurden hingestellt, die Kameras an den üblichen Stellen aufgebaut. Angesichts des immer gleichen Ablaufs gab es einen gewissen Überdruss. Das, was ungesagt blieb, nahm an Lautstärke zu. Der Saal leerte sich und die Stühle wurden wieder übereinandergestellt. Der Boden wurde gefegt, die Lichter wurden ausgeschaltet, und Tony ging zurück an die Theke. Der Ackerschwarzkümmel wuchs im Schutz des alten Steinbruchs, und als Winnie welchen pflücken wollte, fand sie unter den fiedrigen Blättern schon wieder zugeknotete Kondome. Das mit dem Zuknoten erstaunte sie. Ein Mann in einem dunkelgrauen Anorak mit der Kapuze über dem Kopf wurde dabei beobachtet, wie er lange auf der anderen Seite von Speicher 8 stand, bevor er sich abwandte und zwischen den Bäumen verschwand. Martin Fowler meldete sich bei der Polizeikommission mit dem, was er über den Fahrer des roten Transporters wusste. Dies geschah erst nach einem Gespräch mit Tony. Martin hatte erwähnt, er wisse, dass der Mann Woods hieß, und Tony fragte, warum er der Polizei noch nichts davon gesagt habe. Martin meinte, Woods sei nicht die Sorte Mann, über die man mit der Polizei rede. Tony ließ nicht locker. In der Geschichte, die Martin der Polizei über Woods erzählte, gab es Lücken. Diese Lücken hatten mit Altmetall, Wilderei und rotem Diesel zu tun. Dass Woods in diese Dinge verwickelt war, wusste man, und Martin hatte gelegentlich ebenfalls damit zu tun gehabt. Die Polizei interessierte sich nicht dafür. Sie wollte nur wissen, wo sich Woods aufhielt und warum der Transporter versteckt gewesen war und warum der Transporter zur Zeit des Verschwindens des Mädchens gesehen worden war. Martin wollte nicht recht mit der Sprache herausrücken, aber die Polizei erfuhr trotzdem, was sie wissen wollte. Später im Pub wechselte er ein paar ernste Worte mit Tony über den Rattenschwanz an Problemen, die das für ihn nach sich ziehen könne. Woods ist einer, der Verschwiegenheit schätzt, sagte Martin. Der Mann hat Verbindungen. Nur dass du weißt, in was für eine Scheiße du mich reingeritten hast. Jetzt komm, Martin. Das Mädchen war dreizehn. Schalt mal deinen Verstand ein. Du kennst Woods nicht, sagte Martin. Tu ich nicht, aber wenn ich ihn kennen würde, dann wär ich bestimmt schon viel eher zur Polizei gegangen, erwiderte Tony. Sie starrten einander an, während Martin sein Glas leerte und ging. Am Abend war ein Phantombild in den Nachrichten. Die Polizei sagte nur, man wolle den Betreffenden so schnell wie möglich als Verdächtigen ausschließen. Die Teenager saßen am Kricketpavillon und tranken. Sophie Hunter hatte eine Flasche Wein aus dem Keller ihrer Eltern geschmuggelt, bis die vermisst werde, würden Jahre vergehen, sagte sie. Sie aufzukriegen dauerte lange, am Ende drückte Liam den Korken mit einem Schraubenzieher in den Flaschenhals. Sie redeten wieder über das Mädchen. James Broad fragte, ob sie nicht doch etwas sagen sollten. Die anderen meinten, das bringe nichts. Sie hatten doch alles schon besprochen. Sie ist nicht mehr da. Daran kann man nichts mehr ändern. Wir würden nur jede Menge Ärger kriegen. Du warst ja auch nicht dabei, entgegnete James. Ist einfach blöd gelaufen, meinte Deepak. Du hast nichts Schlimmes gemacht. Sie saßen auf den Stufen des Pavillons, ließen die Weinflasche kreisen und fragten einander, ob sie schon was merkten. Keiner von ihnen wusste, wie es sich anfühlen sollte. Als die Flasche leer war, hatten sie schon länger nichts mehr gesagt. Sophie versteckte die Flasche unter der Pavillontreppe, und sie gingen nach Hause. Die Luft war plötzlich unerwartet warm und sie rempelten sich mehr als einmal an. Ihre Stimmen waren lauter, als sie ahnten.

Die Eltern des Mädchens wurden in der Nähe des Besucherzentrums gesehen, wie sie mit zwei Detectives sprachen. Aus der Ferne wirkten ihre Bewegungen steif und langsam. Sie gingen die Gegend, in der das Mädchen zum letzten Mal gesehen worden war, in einem weiten Bogen ab. Die Stelle wurde nicht mehr durch Fähnchen oder irgendetwas anderes markiert. Wenn man es nicht wusste, würde man nie draufkommen, dass das die Stelle war. Sie folgten dem alten Reitweg, der an den Black Bull Rocks vorbei zu den Speicherseen führte. Sie blieben fast den ganzen Nachmittag über weg, und als sie zurückkehrten, wurden sie auf dem Parkplatz von Fotografen erwartet. Mehr als ein halbes Jahr war vergangen, und es gab immer noch keine Spur. Keine Fußabdrücke, keine Kleidungsstücke, keine Verdächtigen, keine Bilder auf irgendeiner Überwachungskamera. Es war, als habe sich der Boden aufgetan und das Mädchen mit Haut und Haaren verschluckt. Dieser Satz wurde von den Journalisten in metaphorischer oder überspitzter Weise benutzt; die Leute im Dorf wussten, dass solche Dinge durchaus vorkamen. Es stellte sich die Frage, wie viel länger die Eltern noch bleiben würden. Die Hunters hatten alle Buchungen storniert, aber es war unklar, wie lange das so weitergehen konnte. Von den Eheleuten war nur wenig zu sehen, und falls die Hunters irgendetwas wussten, verrieten sie nichts. Dass Jane Hughes, die Pastorin, sie regelmäßig besuchte, war bekannt. Im Besucherzentrum des Nationalparks wurden immer noch Blumen und Kerzen niedergelegt, und die Frage kam auf, wie damit zu verfahren sei. Der Vater des Mädchens war zu Fuß im Gelände gesehen worden. Was er da wollte, blieb unklar. Irene gab zum Besten, der Mann leide schrecklich, und wurde gefragt, wie es ihm wohl sonst gehen solle. Woods wurde in Manchester aufgespürt, wo er als Wachmann auf einer Baustelle arbeitete. Er wurde festgenommen und eingehend verhört. Es gab keinerlei Hinweise auf eine Verbindung zu dem vermissten Mädchen, und für die fragliche Nacht hatte er ein Alibi. Wie sich herausstellte, war es nicht sein Transporter gewesen, der gesehen worden war. Als er wieder auf freiem Fuß war, wurde er aufgrund einer Reihe anderer, mit Diebstahl und Hehlerei in Zusammenhang stehenden Vorwürfen erneut verhaftet. Auf der Heuwiese südlich der Kirche liefen wilde Fasane durchs hohe Gras, die Muttertiere leiteten ihre Küken mit Bissen und Rufen, und bei dem kleinsten Geräusch stoben die Familien auseinander. Cathy Harris ging mit Mr Wilsons Hund am Rand der Wiese entlang und überquerte den Fluss. Am Wald angekommen, ließ sie den Hund von der Leine und drückte sich durch den schmalen Spalt in der aus losen Steinen bestehenden Mauer hindurch. Man wollte, dass das Mädchen wiederkam, damit sie erzählen konnte, wo sie gesteckt hatte. Es gab zu viele Möglichkeiten, wie sie hätte verschwinden können, und über alle wurde oft und viel nachgedacht. Sie hätte den Berg auf der anderen Seite herunterrennen können, ein Mann hätte sie im Auto mitnehmen können, und dann hätte er ihre Leiche im dunklen Unterholz an der Kreuzung einer Schnellstraße vergraben können, hundert Meilen weiter nördlich, wo sie jetzt immer noch in der kalten nassen Erde lag. Man träumte davon, wie sie nach Hause lief. Wie sie an der Fernstraße entlanglief, wie sie quer durchs Moor stolperte, wie sie aus einem der Seen kam, wie sie mit nassem Haar und langen grünen Schlingpflanzen an den Kleidern aus dem dunkelgrauen Wasser stieg.

In den letzten Augusttagen war die Hitze drückend, und alles, was sich bewegen musste, bewegte sich langsam. Im Gemeinschaftsgarten trugen die Beete schwer an den Bohnen und Zucchini, und die Kürbisranken wucherten über den Weg. Bienen taumelten berauscht von einer Blüte zur nächsten, die Nacktschnecken waren fetter denn je. Die ersten Lämmer konnten verkauft werden und die Jackson-Söhne waren mit der Auswahl und dem Verladen der Tiere auf den Anhänger beschäftigt. Auf dem Kricketfeld ging das alljährliche Spiel gegen Cardwell verloren. Die Mutter des Mädchens wurde hin und wieder in der Kirche gesehen. Sie traf direkt vor Beginn des Gottesdienstes ein, wurde von der Pastorin zu einem Platz an der Seite geleitet, der für sie frei gehalten worden war, und verschwand während des letzten Liedes. So war es abgesprochen. Manchmal wartete Jess Hunter draußen mit dem Wagen auf sie. Man verstand, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte. Wenn die Gemeindemitglieder sich beim Gottesdienst die Hand geben und einander Frieden wünschen sollten, machte sie es so rasch wie möglich, mit einem Lächeln, das manche als abweisend empfanden, andere als dankbar. Gegen Ende des Sommers bildeten die Teenager ihr eigenes Suchkommando. James war auf die Idee gekommen. Sie könnten hoch und durchs Moor laufen, bis zum Speicher 13, und an den Stellen nachsehen, die nur sie kannten und vielleicht von der Polizei nicht beachtet worden waren. Sollten sie etwas entdecken, würden sie in die Nachrichten kommen. Liam sagte, sie könnten ein paar Bierdosen mitnehmen und Kommando-Saufen machen. Von wegen Suchkommando, meinte er. Lynsey meinte, über so etwas mache man keine Witze. Sie zogen früh los, Liam und James und Deepak, Sophie und Lynsey. Jeder erzählte seinen Eltern etwas anderes, und sie trafen sich auf dem Parkplatz beim Gemeinschaftsgarten und nahmen die Abkürzung durch das Buchenwäldchen, solange die Morgenluft noch kühl war. Da sie Becky ein bisschen kannten, hatten sie eine vage Vorstellung davon, was mit ihr passiert sein könnte, darauf gegründet, was sie selbst in so einer Situation tun würden und was sie über die Landschaft wussten. Als die Familie vergangenen Sommer vierzehn Tage bei den Hunters Urlaub gemacht hatte, hatten sie Becky kennengelernt und mehr Zeit mit ihr verbracht, als irgendjemand zu ahnen schien. Es gab ihnen das Gefühl, wichtig zu sein. Gegen Mittag wurden die Jugendlichen in der Hitze immer langsamer, und an einer Weggabelung blieben sie dann ganz stehen. Am Fuß des Bergs stand eine zerfallende Scheune, in der Jackson Futter und Werkzeug aufbewahrte. Sie hatten Durst und teilten sich die einzigen beiden Dosen Bier, die sie hatten besorgen können. Im Heidekraut saßen Grillen, und ein Käfer kroch über Lynseys Hand. Die Schafe schoben sich auf der Suche nach Schatten in die Scheune und wieder heraus. Ist hier nicht schon alles abgesucht worden, fragte Deepak. Natürlich, antwortete Liam. Ich war selbst dabei. Ich habe mir eine Thermobildkamera besorgt, aber nichts. Deepak gab ihm den üblichen Klaps fürs Scheißelabern. Es ist doch alles abgesucht worden, sagte James, was machen wir hier überhaupt? Keiner gab eine Antwort. Lynsey und Sophie hatten die Augen schon geschlossen, und in der Mittagssonne wurde Sophies Haut knallrot. Schmetterlinge saugten am Heidekraut. Ein Flugzeug flog über ihre Köpfe hinweg. Wie viel Uhr ist es eigentlich, fragte Liam. Zwölf ungefähr, sagte James mit geschlossenen Augen. Das Heidekraut unter ihm war dicht und fest. Sie lagen alle näher beieinander, als sie es gewohnt waren. Bei einem von ihnen gurgelte der Magen und keiner erklärte sich dafür verantwortlich. In der Ferne waren Autoverkehr und Landmaschinen zu hören. Sie schliefen. Irgendwann sah James einen Mann den Weg herauf- und auf sie zukommen. Er stieß einen Wanderstock in die Heide und schien die fünf Jugendlichen im Vorübergehen nicht zu bemerken. Er trug einen dunkelgrauen Anorak. James richtete sich auf, und die beiden nickten einander zu. Er wollte sagen, dass es ihm leidtat wegen der Tochter des Mannes, aber er brachte dann nichts weiter heraus als Tut mir leid. Der Mann nickte noch einmal und ging weiter. Später fragte James sich, ob das alles wirklich passiert war. Es war ja viel zu heiß, um einen Anorak zu tragen. Am Nachmittag erklommen sie die Bergkuppe, von der aus man auf Speicher 8 hinunterblickte, und wie sich herausstellte, hatte Liam Wodka dabei. Sie fanden den Eingang zu einem Minenschacht, den sie noch nicht kannten, gingen mit Taschenlampen hinein, zogen eine Linie hinter sich durch den Schlamm und erschreckten einander. Alle gruselten sich halb zu Tode, und Lynsey fasste nach Deepaks Arm. Als sie endlich wieder herauskamen, war es draußen dunkel geworden, und sie waren verwirrt und gingen auf der falschen Seite den Berg hinunter. Als sie endlich nach Hause kamen, wartete mehr Ärger auf sie, als sie für möglich gehalten hätten. Ihre Eltern drückten sie an sich und waren fuchsteufelswild, und vor der Tür standen Polizisten, die sie zu sprechen wünschten.

Su Cooper richtete das kleine Schlafzimmer in der Wohnung über dem umgebauten Stall für die Zwillinge ein. Austin hatte ihr seine Hilfe angeboten, aber sie hatte erwidert, er habe zu viel mit dem Echo zu tun, und sie wolle es einfach nur hinter sich bringen. Er hatte gefragt, ob sie damit irgendetwas meine. Sie hängte bunte Vorhänge mit aufgedruckten Tieren an die Fenster, baute das zweite Gitterbett leichter zusammen als das erste und schraubte Haken in die Decke, an denen man Mobiles aufhängen konnte. Sie legte die winzigen weißen Kleidungsstücke zusammengefaltet in die Schubladen, stapelte Windeln auf dem Wickeltisch und stellte Spielsachen auf ein Regal. Das Zimmer war klein, aber alles, was die Kinder am Anfang brauchen würden, passte hinein. Die ganze Wohnung war klein. Früher hatten hier die Stallknechte geschlafen. Es war nie für eine ganze Familie gedacht gewesen, aber Su und Austin hatten sie von Anfang an geliebt und waren fest entschlossen, es irgendwie hinzubekommen. Su hatte Körbe gekauft, in denen man Sachen unter den Betten aufbewahren konnte. Sie wusste, dass es Unglück bringen könnte, das Kinderzimmer so früh herzurichten. Viele Leute waren in dieser Hinsicht abergläubisch. Sie wusste genau, dass ihre Mutter dagegen wäre. Aber sie wollte es hinter sich bringen. Sie wollte bereit sein. Sie kannte die Leute im Dorf nicht gut genug, um zu wissen, ob sie ihr helfen würden. Sie wusste nicht, ob ihr Mann der Herausforderung gewachsen sein würde. Wahrscheinlich eher nicht. Sie vermutete, dass er zu der Sorte Männer gehörte, die ihre Sprösslinge verliebt anschauen und nichts davon mitbekommen, dass das Baby gewickelt oder gestillt werden muss. Sie wusste, dass er für die Familie sorgen würde. Sie hatte gewartet, bis sie sich sicher war. Aber er würde keinen blassen Schimmer haben, wie man mit Kindern umgeht. Darauf war sie vorbereitet. Er war ein sentimentaler Mann und im Hinblick auf alles, was nicht mit Schreiben und Redigieren und Drucken zu tun hatte, völlig unpraktisch veranlagt. Sie zog die Mobiles auf, sah den Schnecken und Fröschen zu, die im Sonnenlicht ihre Kreise zogen, und lauschte den surrenden Klängen. Sie hatte die Tür zum Kinderzimmer hinter sich geschlossen, bevor die Musik endete. Die Dachse im Buchenwäldchen fraßen sich so viel Fett wie möglich an für den kommenden Winter. Sie stießen einander weg, schnüffelten durch das trockene Laub und fraßen Regenwürmer und heruntergefallene Beeren. Ihr Fell wurde dicker. Der Fluss wälzte sich unter der alten Steinbrücke hindurch und fand seinen Weg zum Wehr am Mühlteich.

Die Uhren wurden zurückgestellt und die Nächte waren länger als die kurzen Tage. Die Jugendlichen mussten im Dunkeln von der Bushaltestelle nach Hause laufen. Ein Mann, der aussah wie der Vater des vermissten Mädchens, wurde dabei beobachtet, wie er sich immer weiter vom Dorf entfernte und bis zur anderen Seite des Ashbrook Forest ging, am letzten der dreizehn Speicherseen vorbei. Ein Mann in einem dunkelgrauen Anorak wurde zu Fuß auf dem Standstreifen der Fernstraße gesichtet. An der Bergflanke verfärbten sich große Flecken von Farnkraut rostrot. Es gab Träume, in denen das vermisste Mädchen mit dem Gesicht nach unten in einem Tümpel aufgefunden wurde, in anderen Träumen brachte man es lebendig mit einem Auto in Sicherheit. Die Nacht vor Halloween kam und war nicht wie in vergangenen Jahren. Niemand war recht in Stimmung, mit Ausnahme des Witzbolds, der die Telefonzelle mit Luftballons gefüllt hatte. Die Jackson-Söhne führten die Herde hinunter auf die Weide am Hof und verbrachten den Tag damit, das Fell um die Schwänze zu stutzen, als Vorbereitung fürs Decken. In der Schule war schon früh Licht zu sehen, und aus dem Kesselhaus drang schwarzer Rauch. Im Lehrerzimmer ging Miss Carter mit Mrs Simpson den Lehrplan für die Woche durch. Als sie damit fertig waren, fragte Mrs Simpson Miss Carter, ob sie sich gut eingelebt habe. Miss Carter nickte schnell und sagte, ja, ja, sie finde es nur schwierig, Leute kennenzulernen. Mrs Simpson lachte und sagte, sie wisse, was Miss Carter meine. Ob sie es mit Bildchen neben dem Namen im Klassenbuch versucht habe? Miss Carter erwiderte, sie habe nicht von den Kindern gesprochen. Ich dachte, Sie meinten, wie ich mich im Dorf eingelebt habe, sagte sie. Mrs Simpson entschuldigte sich für das Missverständnis und erklärte, Miss Carter müsse wissen, dass sie nie nach dem Privatleben der Lehrerinnen frage. Was vor dem Schultor passiert, geht uns nichts an, sagte sie. Die Staumauern der Seen wurden erneut überprüft und auffällige Stellen markiert. In der Abenddämmerung kehrten die Ringeltauben an ihren Schlafplatz zurück.

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Im November kehrten Austin Cooper und seine Frau mit Zwillingen heim und brachten sie die Treppe hoch zu ihrer Wohnung über dem umgebauten Stall. Als Austin sich umdrehte, um die Tür hinter sich zu schließen, blieb er einen Augenblick auf der Schwelle stehen, als erwarte er Applaus, vielleicht hörte er ihn sogar. Verdient war er jedenfalls, fand er. Nie hätte er geglaubt, dass er so etwas wie die tiefe freundschaftliche Verbundenheit mit Su finden würde, und nun, zehn Jahre später, war die Ankunft der Zwillinge die Art Beigabe, auf die er nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Irgendwann, in einem vorigen Leben, musste er etwas richtiggemacht haben. Irene sah, wie er die Tür hinter sich schloss, sah das Licht hinter den Fenstern leuchten und dachte daran, wie sie selbst vor vierzehn Jahren mit ihrem Andrew aus dem Krankenhaus heimgekommen war. Aber als sie das Gladstone betrat und es dort erzählte, kamen keine besseren Kommentare als: Ach, du meine Güte, diese Treppe! Wie um Gottes willen soll sie einen Zwillingsbuggy diese Treppe rauf und runter kriegen? In der ersten Nacht konnte Austin nicht schlafen. Er machte heißen Tee für Su, während sie ihre Eltern und Freunde anrief und ihnen noch einmal die guten Neuigkeiten erzählte. Später ging er immer wieder ins Schlafzimmer, um seine schlafende Familie zu betrachten, schließlich legte er sich neben Su und lauschte den verschiedenen Atemgeräuschen im Raum: Sus langen, gleichmäßigen Atemzügen, den schnellen, flachen der Zwillinge, als seien sie gerade erst zum Luftholen aufgetaucht. Im Laufe der Nacht wurde geweint und gestillt und gewickelt, aber dazwischen gab es immer wieder Augenblicke, in denen außer dem Atem nichts im Raum zu hören war und Austin das Gefühl hatte, er müsse aufbleiben, um seine Familie zu bewachen. Dass dies jetzt seine Aufgabe war. Am Abend, als Su mit ihren Eltern telefoniert hatte, hatte er versucht, mitzuhören und etwas zu verstehen. Er kannte die Worte für Mutter und Vater und Kinder, aber danach war er aufgeschmissen. Er dachte, er kenne das Wort für »glücklich«, aber Su sprach so schnell, dass er nichts heraushören konnte. Er ging davon aus, dass sie glücklich war. Größtenteils wirkte sie müde. Sie hatten so lange auf diesen Augenblick gewartet; Su hatte sich schrecklich angestrengt, und jetzt löste sich ihre Anspannung. Es sah wie eine angenehme Art von Erschöpfung aus, als fühle sie sich befreit. An der Art, wie sie die Zwillinge hielt, kleine Veränderungen vornahm, wenn er sie hielt, und wie sie mit ihnen umging, sah man jetzt schon, dass sie genau wusste, was zu tun war. Und dass sie nicht erstaunt darüber war, dass sie es wusste. Diese innere Gelassenheit war etwas, was er an Su bewunderte. Als wäre ihr immer schon klar gewesen, dass sich das Leben so und nicht anders abspielen würde. Nach der ersten Nacht, die sie miteinander verbracht hatten, schien ihr Gesichtsausdruck zu sagen: Ist doch klar, dass es so kommen musste. Was hast du sonst erwartet? Am frühen Morgen brannte unten, wo Austin einen Kuhstall in die Redaktionsräume des Valley Echo umgebaut hatte, schon Licht. Das weiße Bürolicht wirkte grell im Morgengrauen, und sein Hinterkopf war durch das Fenster zu sehen, als er Hand an die letzten paar Seiten der nächsten Ausgabe legte. Er fügte etwas in den Kleinanzeigen hinzu, ohne seine Stellung als Chefredakteur auszunutzen. Und als die Ausgabe eine Woche später auf den Ladentischen ausgelegt und in die Briefkästen eingeworfen wurde, fanden die wenigen, die noch nicht Bescheid wussten, nur diese unauffällige Anzeige: Su Lin Cooper und Austin Cooper geben die Geburt ihrer Zwillingssöhne bekannt, Han Lee Lin und Lu Sam Lin. Wir danken allen für ihre guten Wünsche.

In der Schule brannte auf dem Korridor schon früh das Licht. Die Weihnachtsfeier wurde vorbereitet. Jones hatte im Wald Ilex- und Fichtenzweige geschnitten, die Mrs Simpson rund um die Weihnachtskrippe auf dem Boden verteilte. Miss Carter bat Jones, die Leiter festzuhalten, während sie hinaufstieg und Lametta aufhängte. Wie Miss French bemerkte, als sie von ihrer halb fertigen Wanddekoration mit Hirten und Watteschäfchen aufsah, trug Miss Carter einen Rock. Und Jones hielt seinen Blick nicht gesenkt. Sie wollte sich ja nicht einmischen, hielt es jedoch für angebracht, Jones zu bitten, die Stühle rauszustellen. Als Miss Carter nach unten schaute und sah, dass niemand die Leiter festhielt, stand sie bewegungslos da, sah die Wand vor sich an und versuchte nicht daran zu denken, dass Jones vor Kurzem erst den Boden gebohnert hatte. Sie merkte, wie ihr der Vater des kleinen Tom Jackson durch den Kopf ging, Will Jackson. Er würde sie sicher nicht einfach so auf der Leiter im Stich lassen. Sie hielt sich gut fest. In der Kirche wurden Lieder gesungen, und es roch nach Kerzen und Eiben- und Ilexzweigen. Olivia Hunter sang eine Strophe von »Stille Nacht« solo. Sie war acht Jahre alt und hatte ein unerschütterliches Selbstvertrauen. Bei Alles schläft, einsam wacht zitterte ihre Stimme ein wenig, aber am Ende der Strophe, als sie darauf wartete, dass die Gemeinde einfiel, strahlte sie. Im Dorfgemeinschaftshaus wurde endlich der lang eingeübte Weihnachtsschwank Hans und die Bohnenranke aufgeführt. Kostüme und Bühnenbild gab es noch vom Vorjahr, und die meisten Mitwirkenden hatten ihre Rollen behalten. Am Abend der Aufführung war der Saal voll. Lynsey Smith war im Lauf des letzten Jahres in die Höhe geschossen und sah bei Weitem nicht mehr so jungenhaft aus wie zu dem Zeitpunkt, als sie die Rolle des Hans übernommen hatte. Aber