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Die großen Western
– Jubiläumsbox 1 –

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Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-805-6

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Der Fremde mit dem falschen Stern

… auf seinem letzten Trail

Roman von H. C. Nagel

Marshal Ord Henderson späht unter dem Vordach seines Office hervor und beobachtet gespannt einen Reiter, der die Mainstreet von Nogales heraufkommt.

Der Marshal schiebt sich bis an die Gehsteigkante vor.

»Hallo, Mister!« sagt er.

Ohne Zutun des Reiters bleibt das Pferd stehen.

»Hallo, Marshal«, gibt der Mann im Sattel gemächlich zurück. »Ausgesprochen ruhige Gegend, wie? Oder ist die Stadt tatsächlich ausgestorben?«

Wütend preßt Ord Henderson die Lippen aufeinander.

»Hören Sie«, zischt er dann böse. »Was mit dieser Stadt los ist, geht Sie einen Dreck an. Aber mich interessiert es, was für einen Vogel ich hier vor mir habe. Wo kommen Sie her, wo wollen Sie hin, und was wollen Sie überhaupt in Nogales?«

Der Reiter zeigt ein blitzendes Grinsen und stemmt die Hände auf das Sattelhorn.

»So viele Fragen auf einmal? Welche wollen Sie zuerst beantwortet haben?«

Ord Henderson fühlt sich auf den Arm genommen.

»Sie wollen wohl Zeit zum Überlegen gewinnen, wie?« faucht er böse. »Wir schätzen hier keine Satteltramps und dunkle Existenzen, bei denen man nicht weiß, woran man ist. Wollen Sie mir also Antwort geben oder…«

Ord Henderson braucht den Satz nicht zu vollenden, um dem Fremden zu zeigen, daß er auch ungemütlich werden kann. Er richtet sich auf – steif wie ein Ladestock – und blitzt den Reiter an.

»Aber, aber«, murmelt dieser vorwurfsvoll, zuckt die Achseln und grinst. Dann deutet er mit dem Daumen über die Schulter zurück und sagt:

»Da komme ich her, Marshal. Die letzte Wegmarke, an die ich mich erinnern kann, war so ein verrückter Kaktus. Ich bin immer am Fluß entlanggeritten. Vor Wochen bin ich auch einmal in Phoenix gewesen, in Prescott und Flagstaff, wenn Sie damit etwas anfangen können.«

»In ganz Arizona haben Sie sich also herumgetrieben«, stellt der Marshal grimmig fest. »Da wird nicht ganz einfach festzustellen sein, wo Sie diesen Gaul gestohlen haben.«

»Das ist auch schon verjährt, Marshal«, sagte der Fremde grinsend. »William war bei einem Zirkus in Missouri. Er war so anhänglich, und ich habe so ein weiches Herz.«

Ord Hendersons Augen quellen hervor.

»Wenn Sie mich auf den Arm nehmen wollen, Mister…«, keucht er.

»Aber wieso denn? Aah, Sie stoßen sich an dem Namen? Nun, ich nenne ihn ja auch nur Bill! – He, Bill, sag dem Marshal, daß es stimmt!«

Mit gefletschtem Gebiß wendet der Palomino den Kopf, schnaubt, daß der Marshal erschrocken zurückweicht, und scharrt mit dem rechten Vorderhuf. Dabei ruckt sein Kopf heftig auf und ab.

Sekundenlang ist Ord Henderson sprachlos. Doch dann sagt er wütend:

»Weil Sie einen dressierten Zirkusgaul reiten, haben Sie noch lange nicht das Recht, die Stadtgesetze zu mißachten, Mister. Sie haben das Schild an der Stadtgrenze gesehen, wonach das Tragen von Waffen in Nogales verboten ist. Trotzdem haben Sie Ihr Schießeisen umgeschnallt. Ich werde Sie drei Tage einsperren und Ihnen anschließend Stadtverbot erteilen, Freundchen. Los, steigen Sie ab!«

Noch während des Sprechens hat der Marshal seine Jacke zurückgeschoben, so daß der Revolver sichtbar wird, den er in einem abgewandelten Schulterhalfter schräg an der linken Brustseite trägt. Henderson hängt seine Hände jetzt an die Aufschläge seiner Jacke. Die Rechte ist ganz in der Nähe des Revolverkolbens.

Trotz dieser offensichtlichen Drohung macht der Reiter keinerlei Anstalten, dem Befehl nachzukommen.

»Eine Waffe? Was ist das, Marshal?« fragt er mit blödem Grinsen.

»Eine Waffe, aus der man schießen kann«, knurrt Henderson ungeduldig. »Versuchen Sie nur keine Tricks mit mir, Freund!«

»Und wenn man nicht damit schießen kann, dann ist es folglich auch keine Schußwaffe, nicht wahr?« sagt der scharfgesichtige Fremde ungerührt. »Passen Sie auf, Marshal!«

Ord Henderson wird überrascht.

Der Fremde zuckt nur mit dem Ellenbogen. Diese Bewegung muß er schon häufig geübt haben, denn auf beinahe unerklärliche Weise fliegt seine Jacke zurück, der Kolben eines Colts liegt frei, und im nächsten Augenblick hält der Bursche die blau schimmernde Waffe auch schon in der Hand.

Peinlich berührt starrt Ord Henderson in die Mündung des Revolvers. Als der lederhäutige Mann dann noch knackend den Hahn zurücklegt, muß der Marshal schlucken. Gibt es nicht hier in der Nähe der Grenze genügend rüde Pilger und Desperados, bei denen ein schiefer Blick genügt, um sie zur Waffe greifen zu lassen?

»Spielen Sie nur nicht verrückt, Mann«, krächzt Ord Henderson, und seine Stimme klingt plötzlich heiser und blechern. »Es wäre eine Narrheit, wenn Sie sich wegen einer dummen Bemerkung schlimmen Verdruß auf den Hals holen wollten.«

Um jedes Mißverständnis zu vermeiden, hat der Marshal bei seinen Worten die Hände schlaff herabsinken lassen. Jetzt werden seine Augen groß, als er sieht, wie dieser Bursche die gespannte Waffe auch noch um seinen Zeigefinger rotieren läßt.

»Verdammt, so passen Sie doch auf!« keucht Henderson schreckensbleich. »Sie brauchen den Abzug nur anzutippen, dann kracht es…«

Mit einem erstickten Laut bricht er ab, denn das Unheil ist schon geschehen. Doch es klickt nur, als der Hahn auf die leere Kammer schlägt.

»Sie verdammter…«, setzt Ord Henderson mit überschnappender Stimme an, doch der Fremde schneidet ihm das Wort ab.

»Richtig, wir waren vom Thema abgekommen, Marshal. Wir sprachen von Schußwaffen, die keine sind, weil man nicht daraus schießen kann. Ist es nicht so? Den Beweis habe ich gerade geliefert. Als ich nämlich an Ihrem prächtigen Schild vorüberkam, habe ich als gesetzesfürchtiger Bürger die Patronen aus meinem Revolver genommen. Was hätte ich sonst schon tun können, nicht wahr? Wenn ich meinen Gurt über das Schild gehängt hätte, wäre ich zwar völlig unbewaffnet gewesen, aber dann wäre er mir vielleicht gestohlen worden. Ich hoffe, Sie geben zu, daß ich mich einwandfrei verhalten habe, Mister.«

Marshal Ord Henderson weiß den letzten Worten nichts entgegenzusetzen. Er weiß genau, daß er einen Mann nicht deshalb einsperren kann, weil ihm hartgesichtige Fremde in Nogales unerwünscht sind. Was ihn jetzt beschäftigt, ist nur der Wunsch nach einem würdevollen Rückzug.

»Nun ja«, knurrt er widerwillig und räuspert sich, »aber Sie sehen so aus, als ob Sie schon als Kind gern Katzen am Schwanz gezogen hätten und das jetzt mit ausgewachsenen Tigern wiederholen wollten. Lassen Sie die Finger davon, Freund! Übermütige Burschen haben bei uns selten viel Freude erlebt. Einmal haben Sie mich bluffen können, aber ein zweites Mal wird Ihnen das nicht gelingen, so wahr ich Ord Henderson heiße.«

»Sie fassen das falsch auf, Marshal«, versichert der Reiter. »Ich habe Achtung vor den Leuten mit dem Stern, das können Sie mir glauben. Ich schätze, ich habe es nur etwas ungeschickt angefangen.«

Mißtrauisch blinzelt der Marshal zu ihm hinauf. Er scheint zu überlegen, welchen Grund dieser grinsende Pilger für seine besondere Achtung einem Sheriff oder Marshal gegenüber haben könnte, und er kommt zu dem Schluß, daß dieser schon unangenehme Erfahrungen mit solchen Männern gesammelt haben könnte.

»Sie wollen also ein paar Tage in Nogales bleiben?« sagt der Marshal ein bißchen freundlicher.

»Nein.«

Ord Henderson ist erleichtert, und er sagt: »Well, also nur für eine Nacht! Da haben Sie die Wahl zwischen Jordan McReadys Hotel, Violet Benedicts Boardinghouse und dem Stroh in Percy Blairs Mietstall. Als Marshal bin ich völlig neutral, aber an Ihrer Stelle würde ich nicht einmal für eine Nacht in Violet Benedicts Pension wohnen und erst recht ihrem Saloon fernbleiben.«

»Wieso?« Das Gesicht des Fremden ist an Harmlosigkeit kaum zu übertreffen.

Henderson blickt sich erst um, als ob er sich vergewissern wollte, daß kein Lauscher in der Nähe ist, und unwillkürlich senkt er die Stimme, als er sagt:

»Diese Frau hat einen schlechten Ruf, verstehen Sie? Früher hat sie in den Minencamps in der Gegend von Tombstone gesungen. Und die Gäste, die jetzt hier in ihrem Saloon verkehren, gehören zu der Sorte, die ein Marshal lieber gehen als kommen sieht. Bei manchen von ihnen weiß man nicht, womit sie ihren Lebensunterhalt verdienen. Die Grenze ist nicht weit, und in letzter Zeit mehren sich hier die Klagen über Viehdiebstähle. Deshalb machen Sie lieber einen Bogen um den verdammten Saloon. Für eine Nacht sind Sie bei Jordan McReady im Hotel bestens aufgehoben.«

Schon zweimal hat der Reiter versucht, etwas einzuwenden, aber erst jetzt kommt er zu Wort. Er knurrt:

»Wieso reden Sie nur immer von einer Nacht, Henderson? Habe ich etwas davon gesagt?«

In die Augen des Marshals kehrt schon wieder der Ausdruck von Wut und Mißtrauen zurück, als er entgegnet:

»Sie haben gesagt, daß Sie nicht ein paar Tage bleiben würden.«

»Eben!« sagt der Mann plötzlich bissig. »Wahrscheinlich bleibe ich ein paar Wochen in dieser Gegend. Ist das so schwer zu verstehen?«

Sekundenlang hat es den Anschein, als ob Ord Henderson vor Grimm ersticken würde, doch dann rafft er sich auf und faucht:

»Können Sie mir auch erklären, was Sie hier treiben wollen?«

»Yeah!« versichert der andere und tätschelt dabei seinem Pferd den Hals. »Mein Bruder hat in dieser Gegend eine Ranch.«

Der Marshal ist erstarrt. Sein Gesicht wirkt ungläubig und verdutzt. Seine Stimme klingt heiser und blechern, als er schließlich fragt:

»Wie heißen Sie, Mister? Verdammt, sagen Sie Ihren Namen!«

»Chataway«, murmelt der Reiter, während er bereits die Zügel aufnimmt. »Vernon Chataway! Ist dagegen etwas einzuwenden, Marshal?«

Es dauert eine ganze Weile, ehe die Antwort kommt:

»Nein – natürlich nicht. Es ist gut, Mister.«

Da nickt Vernon Chataway, zeigt ein Grinsen und treibt seinen Hengst mit einem leichten Zungenschnalzen an.

Marshal Ord Henderson aber steht noch lange reglos am selben Fleck und blickt ihm nach, ehe er sich schließlich mit steifen Schritten seinem Office zuwendet und vor sich hin murmelt:

»Verdammt, er weiß es noch gar nicht. Und ich habe keine Lust, es ihm zu sagen. Wer hätte auch ahnen können, daß Matt Chataway einen Bruder hat.«

*

Vernon Chataway lenkt sein Pferd zum Eingang des Mietstalles, duckt sich unter dem rissigen Querbalken hindurch und taucht in den kühlen Schatten des Stalles ein. Hohl und metallisch klappern die Hufe über den gepflasterten Gang.

Vernon Chataway sattelt ab, schnallt die Steigbügel hoch und versetzt dem Hengst einen Klaps auf die Hinterhand.

»So, Mister, jetzt hast du die Wahl zwischen dem Corral und dem Stall«, sagt er zu dem Pferd. »Wie ich dich kenne, wirst du dir unter Garantie die kühlste Box aussuchen. Aah, lauf schon!«

Als ob Bill diese Worte genau verstanden hätte, trottet er an der Reihe der Boxen vorbei und biegt schließlich in eine ein. Vernon Chataway streift ihm das leichte Jutehalfter über den Kopf, das an der Futterkrippe befestigt ist.

Er bemerkt nicht, daß ihn durch eine Ritze der Boxenwand zwei glitzernde Augen beobachten. Erst als er seine Deckenrolle ebenfalls auf den Sattel gelegt hat und sich nach einem Wassereimer umsieht, bemerkt er die Bewegung in der Box und verschafft sich mit einem langen Schritt freies Blickfeld.

An den Bewegungen des alten Mannes, der offenbar im Heu seine Siesta gehalten hat, ist zu erkennen, daß sein rechtes Bein steif ist. Ein struppiger Urwald grauer Haare bedeckt seinen Schädel. Aus einem verwitterten, faltigen Gesicht blicken zwei verschmitzte, listige Augen. Er klopft sich das Heu von der abgetragenen Kleidung und tappt mit einem verlegenen Grinsen heran.

»Gegen Selbstbedienung habe ich nichts einzuwenden, Mister«, krächzt er, »aber einem Hengst nur dieses lausige Stallhalfter überzustreifen, ist ein verdammter Leichtsinn. Ihr Gaul wird sich bei der ersten Gelegenheit losreißen und mir den ganzen Stall durcheinanderbringen.«

Vernon Chataway schüttelt den Kopf.

»Das ist ein Tuckpferd, und Bill ist lammfromm, wenn ihn niemand ärgert«, sagt er dann.

»Schon gut«, sagt der Stallmann und winkt ab. »Ich glaube es!«

Die ständigen Blicke des Stallmannes machen Vernon unsicher. Unwillkürlich fährt er sich mit der Hand über das Gesicht, und als er auch auf diese Weise nichts Ungewöhnliches entdecken kann, murmelt er:

»Wenn etwas Komisches an mir sein sollte, dann lassen Sie es mich wissen, Blair. – Sie sind doch Percy Blair, nicht wahr?«

Der Stallmann geht über diese Frage mit einem kaum merklichen Nicken hinweg. Er streicht sich über das mit grauen Bartstoppeln bedeckte Kinn.

»Ich kenne Sie nicht, Mister«, krächzt er, »und doch möchte ich fast schwören, daß ich Sie schon einmal gesehen habe. Merkwürdig, was? Sind Sie schon mal in Nogales gewesen?«

»Vielleicht täuscht Sie eine Familienähnlichkeit«, sagt Vernon gelassen. »Mein Bruder hat eine Ranch zwanzig Meilen westlich von Nogales.«

»Familienähnlichkeit, he?« murmelt der Stallmann versonnen, aber dann fährt er plötzlich hoch und starrt sein Gegenüber an. »Verdammt, ja!« keucht er. »Im Verhältnis zu Matt Chataway sind Sie zwar nur ein Leichtgewicht, aber in den Gesichtszügen gleichen Sie ihm ganz verblüffend. Ja, das ist es.«

Er verstummt und mustert seinen Gesprächspartner vorsichtig und abschätzend, ehe er zögernd fortfährt:

»Sie – Sie wollen wohl Ihren Bruder besuchen, wie?«

»So ungefähr«, bestätigt Vernon. »Aber da Bill für heute bei der Hitze genug geleistet hat, will ich erst morgen früh weiterreiten.«

Percy Blair muß plötzlich schlucken und blickt zur Seite.

»Wieso kennen Sie meinen Namen?« murmelt er, offensichtlich in dem Bestreben, das Thema zu wechseln.

»Der Marshal meinte, ein Mann mit schmalem Geldbeutel könnte bei Ihnen im Stroh übernachten. Aber das sagte er erst, nachdem er mir gründlich auf den Zahn gefühlt hatte.«

»Aah, und Ord Henderson wußte, wer Sie sind?«

»Er hat es mir aus der Nase gezogen. Mein Name ist Vernon Chataway. Ihr prächtiger Marshal scheint sich für einen mächtig scharfen Tiger zu halten!«

Percy Blairs Gedanken scheinen aus weiter Ferne zurückzukehren.

»In gewissem Sinne ist er es auch. Jedenfalls gibt es nur wenige Leute, die ihn mit dem Colt schlagen können.«

»Und außerdem ist er in Nogales der Hüter von Moral und Sitte, obgleich das gar nicht zu seinem Aufgabengebiet gehört?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Nun, er warnte mich ziemlich deutlich vor einem zweifelhaften Lokal, das einer gewissen Violet Benedict gehört.«

Der Stallmann macht eine wegwerfende Handbewegung.

»Aah, diese verdammten Klatsch­mäuler«, knurrt er verachtungsvoll. »Warum können sie diese Frau nicht endlich in Ruhe lassen? Wahrscheinlich hat es ihr niemals Vergnügen bereitet, in verqualmten Buden vor unrasierten Minenarbeitern zu singen, aber irgendwie mußte sie ja schließlich leben, oder nicht? Und daß sie dann hier eine Pension eröffnete, kann ihr wohl kein Mensch zum Vorwurf machen. Aber dieses ehrenwerte Pack hat es doch getan, und unser prächtiger Marshal hat auf seine Art dafür gesorgt, daß Fremde jetzt einen Bogen um Nogales machen. Und dabei ist Ord Henderson uns allen immer ein Fremder geblieben.

Mit ihrer Zimmervermietung hätte Violet Benedict verhungern können, und da hat sie eben noch einen Saloon aufgemacht. Es gibt eine Menge Burschen, die abends dort zu finden sind, aber wenn sie Violet tagsüber auf der Straße begegnen, dann wenden sie den Kopf weg, und die tugendsamen Ladys rümpfen die Nasen. Ich sage Ihnen, Chataway, diese ganze ehrenwerte Bande kann einem Menschen schon das Leben schwermachen. Ich bewundere Violet Benedict, daß sie bei alledem noch nicht aufgegeben hat.

Wenn Sie mich fragen: Ich halte sie für eine patente Person. Daß sich unter ihren Gästen auch manchmal Desperados und Satteltramps befinden, dafür kann man sie nicht verantwortlich machen. Schließlich frage ich auch nicht jeden, der bei mir seinen Gaul unterstellt, auf welche Weise er sein Geld verdient. Wir befinden uns hier dicht an der Grenze, und jeder will leben, nicht wahr?«

»Jeder will leben«, wiederholt Vernon Chataway gedankenvoll. »Ja, das ist wohl so. – Ich glaube, ich werde den Marshal ein bißchen ärgern und doch zu Violet Benedict gehen. Saloons haben auf mich schon immer eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausgeübt. – Was mache ich mit meinem Gepäck?«

»Das schicke ich Ihnen hinüber.«

»Und wenn ich mich noch anders entscheide und in Jordan McReadys Hotel gehe?«

Percy Blair kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Keine Sorge«, versetzt er. »Man merkt, daß Sie Nogales noch nicht kennen, Chataway. Wohin Sie auch immer gehen, innerhalb einer Viertelstunde wird es die ganze Stadt wissen. Für Gesprächsstoff ist man hier immer dankbar.«

Vernon Chataway greift leicht an die Hutkrempe.

»Gönnen wir es dieser – wie sagten Sie noch, Blair? – ehrenwerten Bande. Versorgen Sie Bill gut. Sie können ihm ruhig einen Eimer mit Wasser hinstellen. Solange er erhitzt ist, säuft er von selbst nur ganz vorsichtig.«

*

Vernon Chataway schlendert die Hauptstraße entlang, sieht von fern die Holzbrücke, die über den Santa Cruz River führt, und steht wenig später vor einem zweigeschossigen Haus. An der umlaufenden, schattigen Veranda verkündet ein Schild, daß es sich um Violet Benedicts Saloon handelt, und daß hier auch Zimmer zu vermieten sind.

Vernon hat gerade die halbhohe Pendeltür erreicht, als ihm der Lärm streitender Stimmen entgegenschallt.

Über die Tür hinweg kann er eine rothaarige Frau in einem leichten Kattunkleid sehen. Sie hat die Ärmel hochgeschlagen und war offensichtlich damit beschäftigt, die Nickelbeschläge des Schanktisches zu polieren. Jetzt hat sie die Arme kampflustig auf den Tresen gestemmt, beugt sich vor und funkelt einen dunkelgekleideten hageren Mann an, der sich mit einem überheblichen Grinsen an der Bar herumlümmelt.

»Ich schätze, für mein Geld kann ich hier eine ebenso gute Bedienung verlangen wie jeder andere auch«, sagt er gerade giftig, und die Frau – Vernon schätzt sie als Violet Benedict ein – erwidert scharf:

»Geh zum Teufel, Horace Gilmore! Gib dein dreckiges Geld aus wo du willst, aber bei mir kannst du dafür nicht ein Bier kaufen. Aah, ich würde dich eigenhändig hinauswerfen, wenn meine Kräfte dazu ausreichten, aber dabei würde ich ja wahrscheinlich bloß eine Tracht Prügel einhandeln, wie es schon früher der Fall war. Merke dir, Race, wir beide sind quitt miteinander – für immer! Dies ist mein Haus, und wen ich hier als Gast dulde, ist einzig und allein meine Sache.«

Unhörbar hat Vernon die beiden Flügel der Pendeltür auseinandergeschoben und ist eingetreten. Jetzt wird er Zeuge, wie der Mann blitzschnell zugreift und die Frau beim Handgelenk packt. Trotz ihres Sträubens zieht er sie weit zu sich herüber. Sein schmales blasses Gesicht ist dabei haßvoll verzerrt.

»Du wirst in Zukunft andere Töne anschlagen müssen, mein Täubchen«, keucht er, »wenn du nicht willst, daß du bald aus dieser Stadt gejagt wirst. Wirklich, du solltest dich nicht mit mir anlegen, weil ich dich sonst in den Dreck treten werde…«

»Höchstens in den Dreck ziehen wirst du mich«, sagt die Frau. »In den Dreck nämlich, in dem du selbst dein Leben lang gesteckt hast. Laß mich los, sag ich dir, wenn du nicht willst, daß ich die nächstbeste Flasche auf deinen Schädel schlage!«

Tatsächlich reckt sie die freie Hand nach dem Regal hinter sich, aber der Bursche zerrt sie so weit herüber, daß sie keine der Flaschen erreichen kann.

»Das wirst du noch bereuen«, zischt er haßvoll. »Es dauert nicht mehr lange, bis dich der Teufel holt, und dann…«

Vernon Chataway macht sich durch ein Räuspern bemerkbar und sagt höflich, aber gefährlich sanft:

»Ich bitte um Entschuldigung für die Störung, aber ich glaube, ich sollte etwas richtigstellen. Der Teufel wird nämlich Sie verdammt rasch holen, Mister, wenn Sie die Lady nicht sofort loslassen!«

Der Mann erstarrt beim Klang der sanften und doch eiskalten Stimme und zieht den Kopf ein. Dann läßt er los und wirbelt herum. In seinen blassen, verschleierten Augen glimmt ein düsteres Feuer.

»Hölle, was geht Sie das an, Mister, was ich mit meiner…«

Vernon beachtet seine Worte gar nicht, blickt auf die Frau und greift zum Hut.

»Haben Sie einen bestimmten Wunsch, Madam?« fragt er kühl.

Violet Benedict reibt sich das Handgelenk.

»Ja«, erwidert sie rauh. »Werfen Sie dieses Stück Mist auf die Straße, Mister! Ich kann in seiner Gegenwart nicht frei atmen.«

Jetzt erst wendet sich Vernon seinem Gegner zu und blickt ihn hart an.

»Noch eine Frage?« knurrt er grimmig. »Nicht? Dann wäre es wohl besser, Sie würden sich schleunigst in Bewegung setzen, Freund. Für Ihre Art von Humor habe ich kein Verständnis.«

Horace Gilmore hatte die Frau den Burschen genannt, und Vernon hat sich den Namen gemerkt. Jetzt sieht er, wie der Mann sich duckt, anscheinend bereit, ihn im nächsten Augenblick anzuspringen. Sofort nimmt er die Fäuste vor die Brust und murmelt:

»Kommen Sie nur, Mister! Ich mache mir gern vor dem Essen etwas Bewegung, und es ist für mich immer ein prächtiges Gefühl, wenn ich einen erbärmlichen Bastard zurechtstutzen kann.«

Wahrscheinlich ist es der stählerne Glanz in Vernons Augen, der Horace Gilmore zaudern läßt. An Körpergewicht ist er dem anderen zweifellos überlegen, aber das lederhäutige, beherrschte Gesicht, und die geschmeidige Gestalt seines Gegners geben ihm zu denken. Trotzdem erreicht sein Haß einen Punkt, wo er unbedingt ein Ventil braucht, um nicht daran zu ersticken.

Blitzschnell fährt seine Hand unter die Jacke und kommt mit einem kurzläufigen Revolver wieder zum Vorschein.

»Vorsicht!« ruft Violet Benedict schrill, aber da springt Vernon bereits vorwärts und packt das Handgelenk, noch ehe der heimtückische Bursche den Lauf der Waffe freibekommen hat. Er reißt den Arm in die Höhe, eine blitzschnelle Wendung und ein kraftvoller Schulterzug, dann fliegt Horace Gilmore durch die Luft und fällt mit dem Rücken auf die Dielen, daß der Boden bebt.

Sofort will er wieder auf die Beine schnellen und wirft sich herum, doch ehe er die Waffe in Anschlag bringen kann, ist Vernon Chataway mit einem Schritt heran und tritt ihm den Revolver aus der Hand.

Vernon läßt ihm jetzt keine Chance mehr.

Beim Hosenboden und Kragen packt er ihn und hebt ihn empor. Die Beine des Burschen zappeln ein paarmal hilflos durch die Luft.

»Auf die Straße sagten Sie, nicht wahr, Madam?« fragt Vernon keuchend. Aber er wartet Violet Benedicts Antwort gar nicht erst ab, sondern wirft den Kerl durch die Pendeltür auf die Mainstreet hinaus.

Während Horace Gilmore auf Gesicht und Ellenbogen fällt und viel Staub schluckt, bückt sich Vernon nach der Waffe, klappt die Trommel auf und schüttelt die Patronen heraus. Dann wirft er den Revolver ohne hinzublicken nach draußen, und ein heiserer Fluch verrät ihm, daß er unabsichtlich noch einen weiteren Treffer erzielt hat.

»Ich hätte es Ihnen nicht sagen sollen«, sagt in diesem Augenblick hinter ihm Violet Benedict. »Es lohnt sich nicht, für eine Frau wie mich den Ritter zu spielen. Jetzt haben Sie einen Giftpilz zum Feind, der nicht eher ruhen wird, bis er sich gerächt hat. Notfalls wird er Ihnen auch eine Kugel in den Rücken schießen. Mister…«

Das riesige Taschentuch, mit dem Vernon sich den Schweiß von der Stirn wischt, lockt ein Lächeln auf ihr Gesicht. Er hebt seinen Hut vom Boden auf, klopft ihn ab und sagt ruhig:

»Ich heiße Vernon Chataway, Madam. Es war mir ein Vergnügen, im richtigen Augenblick gekommen zu sein. Darf ich fragen, in welchen Beziehungen dieser unverschämte Kerl zu Ihnen steht.«

Sekundenlang weiten sich ihre Augen, und sie scheint fassungslos.

»Vernon Chataway?« wiederholt sie staunend, doch dann hat sie sich wieder in der Gewalt. »Natürlich«, sagt sie, »Sie haben ein Recht darauf, das zu erfahren. Horace Gilmore ist mein Mann – das heißt, er war es bis vor ein paar Jahren. Da wurde unsere Ehe nämlich geschieden. – Aber Sie haben sich jetzt sicher Appetit gemacht, nicht wahr? Ich werde Essen heranschaffen. Wir können uns später noch unterhalten. Wenn Sie etwas trinken wollen, dann bedienen Sie sich. Dort steht genug Whisky.«

Sie deutet auf das Regal und wendet sich schon einer Tür im Hintergrund zu. Als Vernon einwendet:

»Kühles Bier wäre mir bei dieser Hitze lieber.«

»Unter der Theke«, erwidert sie mit einer Handbewegung und geht so hastig davon, daß es fast wie eine Flucht aussieht. Verwundert blickt Vernon ihr nach.

Das ist jetzt schon das dritte Mal, daß die Nennung seines Namens eine recht eigenartige Reaktion auslöst, und er hat den Grund dafür noch nicht herausgefunden. Ihn beschleicht ein eigenartiges Gefühl, das er sich nicht erklären kann.

Vorerst versorgt er sich mit Bier, geht zu einem Tisch in der Nähe des Fensters und hängt Jacke und Hut auf. Weit hinten auf der Straße kann er eine dunkelgekleidete Gestalt mit unsicheren Schritten dahintappen sehen.

Dieser Anblick bringt ihn auf andere Gedanken. Mit grimmig aufeinandergepreßten Lippen zieht er seinen Colt aus dem Halfter und lädt ihn aus den Gürtelschlaufen auf. Nur die Kammer unter dem Hahn läßt er leer.

Vernon erscheint die Zeit erstaunlich kurz, als sie schließlich mit einem Tablett erscheint und Schüsseln voller verlockender Dinge vor ihm aufbaut. Er läßt sich unter diesen Umständen auch nicht lange nötigen.

Violet Benedict mustert ihn, während sie ihm beim Essen Gesellschaft leistet.

Als er seine Mahlzeit in Ruhe beendet hat, sagt er bedächtig:

»Jetzt hätte ich zunächst eine Frage. Die Fronten zwischen Ihnen und diesem Horace Gilmore scheinen doch klar zu sein. Was wollte er also bei Ihnen?«

Zornesröte schießt der Frau in das Gesicht.

»Anscheinend glaubt er, ich hätte es hier endgültig satt und wäre mit meiner Nervenkraft am Ende«, sagt sie dann heftig. »Er hatte die Unverschämtheit, mich mit einem Kaufangebot für meinen Saloon zu überfallen. Fünfhundert Dollar hat er geboten, aber ich habe ihn gar nicht erst ausreden lassen. Als Sie kamen, versuchte er gerade, auf sein Gastrecht zu pochen.«

»Yeah, das habe ich bemerkt. Ich habe zwar noch nie einen Saloon gekauft, aber ich nehme an, daß der Preis völlig undiskutabel ist. Stimmt das?«

Verächtlich winkt Violet Benedict ab.

»Ich selbst habe zweitausend Dollar bezahlt und dabei noch einige Zimmer neu eingerichtet. Da können Sie sich ausrechnen, wie dieser Schuft das Pferd aufzäumen wollte.«

»Und Sie denken, daß nur Haß und Rachsucht seine Beweggründe sind? Irgendwie muß er doch inzwischen zu Geld gekommen sein. Und wenn er schon seit ein paar Monaten in Nogales lebt, liegt die Frage nahe, womit er sein Geld verdient. Arbeitet er als Spieler in einem der anderen Lokale?«

»Er gibt sich als Viehaufkäufer aus«, erwidert die Frau achselzuckend. »Allerdings habe ich bisher noch nicht gehört, daß er auch nur eine einzige Herde übernommen hätte. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß er etwas von diesem Geschäft versteht?«

»Und trotzdem nehmen ihm die Leute das Märchen ab?«

»Oh, warum nicht? Horace Gilmore war schon immer ein guter Schauspieler. Er unternimmt auch Ritte in die Umgebung, und ich habe mir sagen lassen, daß er mit verschiedenen Ranchern wegen eines Viehkaufs gesprochen hat. Ohne Erfolg allerdings, weil sie meistens schon seit Jahren mit irgendwelchen Verladefirmen aus Tucson in Verbindung stehen.«

»Aber wovon lebt er dann?« fragt Vernon eindringlich.

»Ich weiß es nicht. Aber haben Sie je gehört, daß ein Coyote verhungert wäre?«

»Das allerdings nicht.« Vernon quittiert den grimmigen Vergleich mit einem Grinsen. »Und Ord Henderson? Wenn er mit Gilmore irgendwelche Verbindungen hat, müßte er sich doch Gedanken über dessen Einkünfte machen.«

»Vielleicht tut er es auch, aber dann verbirgt er es sehr geschickt. Dieser prächtige Marshal gehört doch auch zu den Burschen, denen nur nach außen hin eine saubere Weste wichtig erscheint. Aber gerade deswegen werden diese Burschen mich nicht so schnell los. Eines Tages werde ich ihnen vor Augen führen, wie hohl und verlogen ihre sogenannte Ehrbarkeit ist. Nein, ich tue ihnen nicht den Gefallen, jetzt schlappzumachen und aufzugeben. Was interessiert es mich schon, ob ich auf der Straße gegrüßt werde!«

Vernon spürt trotzdem, wie ihr dies alles zusetzt.

Er macht sich seine Gedanken über die Dinge, die er von ihr erfahren hat, doch eine gewisse Achtung hält ihn davon ab, das Thema noch einmal zu berühren. Statt dessen fällt ihm wieder eine Frage ein.

»Natürlich kennen Sie meinen Bruder, Violet. Ich will morgen zu ihm auf die Ranch hinausreiten. Drei Menschen in dieser Stadt haben bisher meinen Namen erfahren, und sie erschraken alle – auch Sie. Wollen Sie mir nicht sagen, was das zu bedeuten hat? Hängt es mit Matt zusammen?«

Violet preßt die Lippen aufeinander und blickt auf die Tischplatte.

Das Gefühl drohenden Unheils in Vernon wird immer stärker.

»Sagen Sie etwas, Violet!« drängt er mit rauher Stimme. »Was ist mit Matt?«

Da endlich rafft sie sich auf und sagt leise:

»Ich hätte es Ihnen nicht verschwiegen, Vernon, aber ich hätte es mir wahrscheinlich bis morgen aufgespart. Wenn Sie Ihren Bruder besuchen wollen, dann brauchen Sie nicht bis zur Ranch zu reiten. Matt Chataway ist tot. Man hat ihn auf dem Friedhof vor der Stadt begraben. Rush Evans hat ihn draußen auf seiner eigenen Weide in den Rocky Hills gefunden – mit einer Kugel in der Brust.«

*

Der glutrote Sonnenball versinkt hinter den Schroffen der Sierra Madre, als Vernon Chataway seinen Hut wieder auf den Kopf stülpt und der Grabtafel den Rücken kehrt. Langsam kommt eine Brise auf und raschelt im welken, verstaubten Laub eines Kranzes.

Mit steifen Schritten verläßt Vernon den Friedhof und wendet sich der Stadt zu.

Die Lichter sind schon spärlicher geworden.

Rein instinktiv vergewissert Vernon sich, daß die Waffe griffbereit an der richtigen Stelle sitzt. Dann geht er in die Stadt zurück.

Als seine Schritte über die Bohlen der Brücke poltern, kommen ihm zwei Reiter entgegen. Sie haben die Hüte tief in die Stirn gezogen, und ihre Unterhaltung verstummt, als sie den Entgegenkommenden bemerken. Vernon bemerkt, wie ihn zwei harte Augenpaare unter den Hutkrempen hervor mustern. Dann sind sie vorbei, und der Hufschlag verklingt.

In Violet Benedicts Saloon herrscht gedämpfte Heiterkeit. Vernon muß den Schankraum durchqueren. Dabei sieht er unrasierte Burschen in mexikanischer Charro-Tracht beim Würfeln, ein paar Männer in einer schweigsamen Pokerrunde und viele Gäste, die die Bar umlagern. Das Geklimper, das ein Klavierspieler einem altersschwachen Instrument entlockt, vermag den Lärm der Stimmen kaum zu übertönen. Trotzdem geht es verhältnismäßig zahm zu, und das ist wohl in erster Linie Violets ständiger Wachsamkeit zuzuschreiben.

Sie hat auch Vernon bei seinem Eintritt sofort erspäht und gibt ihm einen Wink. Als er an die Bar tritt, schiebt sie ihm wortlos ein Glas Whisky zu, und diesmal schlägt er es nicht ab. Doch als er ihre mitleidigen Blicke sieht, zeigt er ein gequältes Lächeln, nickt und sagt:

»Ich habe mich schon damit abgefunden. Jetzt kann ich nichts mehr ändern, aber ich glaube, für mich bleibt etwas anderes zu tun.«

»Übereilen Sie nichts, Vernon«, rät sie mit gedämpfter Stimme. »Ihr Bruder war nicht der erste Mann, der auf dieser Weide tot aufgefunden wurde, und wenn Sie nicht vorsichtig sind, wird er auch nicht der letzte gewesen sein. Ihre Ranch stößt unmittelbar an die Grenze, das dürfen Sie nicht vergessen. Wer das Gesetz zu scheuen hat, nimmt den Weg durch die Rocky Hills, den Devils-pit und die Sierra Madre.«

»Sie glauben also, daß es irgendein Bursche vom Long Trail war?«

»Dazu kann ich nichts sagen, weil ich die Verhältnisse zu wenig kenne. Aber Rush Evans ist draußen auf der Ranch, und er wird bestimmt seine Vermutungen haben. – Ihr Zimmer ist übrigens fertig, Vernon. Percy Blair hat Ihre Sachen herübergeschickt. Sie haben Nummer drei, und hier ist auch Ihr Schlüssel. Schlafen Sie erst eine Nacht, dann werden Sie Ihr inneres Gleichgewicht wiederfinden.«

»Das habe ich nicht eine Sekunde verloren«, knurrt Vernon grimmig. »Wenn ich nur das geringste Anzeichen finde, das auf den Mörder hinweist, dann werden das einige Leute zu spüren bekommen. – Gute Nacht, Violet.«

Er wendet sich ab und geht die schmale Stiege empor.

Im oberen Stockwerk ist der Lärm aus dem Saloon nur noch wie ein gedämpftes Summen zu vernehmen. Vernon sucht sein Zimmer auf, verschließt die Tür und reißt ein Streichholz an. Die Einrichtung des Raumes unterscheidet sich wohltuend von den mehr als spärlichen Ausstattungen anderer Hotelzimmer, die er im Laufe der letzten Jahre kennengelernt hat.

Vernon vertauscht seine Stiefel mit leichten Mokassins und veranstaltet dann eine halbe Stunde lang ein ausgiebiges Waschfest. Er bringt auch seine verstaubte Kleidung in Ordnung, in der Hoffnung, auf diese Weise die nötige Bettschwere zu erlangen. Doch als er endlich die Lampe löscht und sich ausstreckt, dauert es trotzdem eine geraume Weile, ehe er in einen unruhigen Schlaf fällt.

Noch im Unterbewußtsein registriert er, daß im unteren Stockwerk endlich Ruhe eintritt.

Irgendwann wacht er dann auf, ohne zu wissen, ob er wirklich ein Geräusch wahrgenommen hat. Erst bleibt er reglos liegen und lauscht. Seine Augen suchen das graue Viereck des Fensters, und er erkennt, daß die Morgendämmerung nicht mehr fern sein kann. Er wartet mit angehaltenem Atem, aber als er lange Zeit nichts wahrnimmt, läßt er sich trotz seines warnenden Instinktes wieder zurücksinken.

Sein Unterbewußtsein aber bleibt wach. Wenige Minuten später ahnt er das schabende Geräusch fast mehr, als er es hört. Und da ist er mit einem lautlosen Satz an der Tür.

Keine Sekunde zu früh!

Vom Krachen der Schüsse wird er fast betäubt, und das aufzuckende Mündungsfeuer vom Fenster her blendet ihn für einen Moment.

Vor dem Fenster heben sich die Umrisse einer Gestalt ab. Die Scheiben zerplatzen unter den Schüssen, die dieser Bursche dort draußen in rasender Folge auf das Bett abfeuert.

Mit mächtigem Schwung reißt Vernon einen schweren Stuhl hoch. Das Wurfgeschoß fliegt durch die Luft, kracht gegen das Fenster und reißt den Rahmen nach draußen. Ein heiserer Schrei ertönt, und die Gestalt vor dem Fenster verschwindet.

Blitzschnell ist Vernon am Bett und reißt den Colt aus dem Halfter. Dann schnellt er zum Fenster, spürt einen stechenden Schmerz am Fuß, als er auf eine Glasscherbe tritt und erkennt zugleich, daß er zu spät gekommen ist.

Gerade verschwindet ein Schatten unter der Kante des Verandaüberdaches, das sich rund um das Haus hinzieht.

Die Chance ist verpaßt, den heimtückischen Schützen noch zu erwischen. Es ist unmöglich, jetzt mit bloßen Füßen auf das mit Glasscherben bedeckte Vordach hinauszutappen, um vielleicht doch noch zum Schuß zu kommen.

Vernon greift nach einem zweiten Stuhl und schleudert ihn dem Burschen hinterher. Ein höllischer Fluch ertönt von unten, und dann ist das hastige, ungleiche Tappen eiliger Schritte zu hören.

Vernon fährt in seine Hose, schlüpft in die Mokassins und zwängt sich durch das geborstene Fenster auf das Vordach hinaus. Weiter hinten sieht er die obersten Sprossen einer Leiter emporragen, aber er zieht den direkten Weg vor und gleitet über die Dachkante. Mit gestreckten Armen läßt er sich ein Stück herab und federt dann auf den Boden.

Doch wie es nicht anders zu erwarten ist, findet er nur ein paar Scherben und die Trümmer der Stühle. Von dem hinterhältigen Schützen ist nichts mehr zu sehen. Das Grau der beginnenden Dämmerung hat ihn verschluckt.

Ganz mechanisch läßt Vernon seine Blicke noch einmal zu der Leiter hin­überwandern, und da entdeckt er an ihrem Fuß einen dunklen Gegenstand. Als er lautlos hinübergleitet und ihn aufhebt, erkennt er einen Stiefel. Jetzt ist ihm auch das ungleiche Tappen der Schritte klar.

Die Stadt ist durch die Schüsse aus dem Schlaf geschreckt worden. Hier und da sind erregte Stimmen zu hören, und an ein paar Stellen wird Licht gemacht. Auch hinter Vernon im Haus wird es laut. Türen schlagen, irgendwo schreit eines der Küchenmädchen schrill.

Rechtzeitig fällt Vernon ein, daß er seine Zimmertür von innen verschlossen hat und deshalb wohl oder übel wieder durch das Fenster zurück muß. Die Leiter bietet Gelegenheit dazu. Aber als er gerade das Vordach erreicht hat und vorsichtig mit seinen Stiefeln über die Dachziegel hinwegbalanciert, sind von unten eilige Schritte und das Keuchen eines Mannes zu hören. Und dann keift die giftige Stimme von Marshal Ord Henderson:

»Zum Teufel, Mann, was machen Sie da oben?«

»Aah, der wilde Marshal«, erwidert Vernon mit einem Anflug von Galgenhumor. »Ich vertrete mir nur ein bißchen die Beine.«

Bis zu Vernon hinauf ist Ord Hendersons Japsen zu hören. Anscheinend ringt er gleichzeitig nach Luft und Worten.

Vernon benutzt die Pause, um sich bis zum Fenster vorzuarbeiten. Da schreit der Marshal wütend:

»Chataway, Sie sind das doch, nicht wahr? Ich hätte es mir fast denken können. Los, kommen Sie sofort herunter – ich habe Sie vor dem Colt!«

Vernon flucht leise vor sich hin, dann ruft er hinunter:

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Henderson. Kommen Sie herauf. Aber benutzten Sie besser den normalen Weg. Es könnte sein, daß Sie von der Leiter fallen.«

Vernon ist dann sofort mit einem Sprung durch das Fenster und für den Marshal unsichtbar.

Ord Henderson zerbeißt einen Fluch zwischen den Zähnen, steckt seinen Colt in das Halfter und rennt zur Tür, wo gerade Violet Benedict auftaucht.

»Dafür werde ich Ihnen Ihre Lasterhöhle schließen«, schreit er die Frau an. »Kommen Sie nur mit! Ich werde mir diesen Burschen vornehmen. Zeigen Sie mir den Weg!«

Violet verzichtet auf eine Antwort. Nur ihre Lippen werden schmal. Sie deutet auf die Treppe.

Aus Vernons Zimmertür fällt bereits ein breiter Lichtstrahl. Er selbst lehnt in der Tür und blickt Henderson entgegen. Dieser schenkt ihm jedoch keine Beachtung, sondern schießt an ihm vorbei ins Zimmer und stürzt sich auf den Revolver, der auf dem Tisch liegt.

»Was war eigentlich los?« fragt Violet besorgt. »Ist Ihnen etwas geschehen, Vernon?«

»Mir nicht, aber Ihrer Einrichtung«, erwidert er. »Ich bin nur in eine Glasscheibe getreten, doch ich denke, für einen Mann des Sattels wird das zu ertragen sein.«

Ihre gedämpfte Unterhaltung wird durch den Marshal gestört. Er wiegt den Revolver in der Hand.

»Natürlich ungeladen, nicht wahr?« fragt er mit beißendem Spott, legt den Hahn zurück und richtet die Waffe auf das Fenster.

»Natürlich.«

Spielerisch und seiner Sache völlig sicher, drückt Henderson ab. Krachend fetzt der Schuß aus dem Lauf, und die Kugel läßt ein Stück Glas, das noch im Rahmen saß, auseinanderspritzen.

»Nicht, wollte ich sagen«, vollendet Vernon trocken den Satz. »Mir scheint, ich habe mich geirrt, und Sie haben doch Sinn für Humor, Henderson, wenn auch auf eine verdammt merkwürdige Art.«

Einen Augenblick ist der Marshal blaß, doch dann schießt ihm die Zornesröte ins Gesicht. Er umkrampft die Waffe.

»Jetzt habe ich Sie!« sagt Ord Henderson böse. »Schon dafür werde ich Sie einsperren, daß Sie Ihre Waffe aufgeladen haben, und auch den Rest werde ich schnell herausbekommen!«

»Mich wollen Sie also einsperren?« sagt Vernon mit sanfter Stimme. »Darf ich auch den Grund erfahren, Marshal?«

»Sie kennen ihn schon«, sagt Henderson mit einem verzerrten Grinsen. »Unerlaubtes Waffentragen.«

»Kein Wunder, daß Ihnen unausgeschlafen kein besserer Witz einfällt«, knurrt Vernon sarkastisch. »Muß ich Ihnen wirklich erst einen Vortrag über die Auslegung von Gesetzen halten?«

»Sie unverschämter Satteltramp wollen…«

»Yeah, ich will«, murmelt Vernon mit gefährlicher Sanftheit. »Sie können das öffentliche Tragen von Schußwaffen in der Stadt verbieten, um aber auch den Besitz einer solchen Waffe unter Strafe zu stellen, dazu reicht nicht einmal die Vollmacht eines Gouverneurs in diesem Territorium aus, und selbst der Präsident der Union braucht dazu die Genehmigung des Abgeordnetenhauses. Haben Sie das endlich verstanden, Henderson? Solange ich dieses Zimmer gemietet habe, kann ich darin ein ganzes Waffenarsenal aufbewahren, ohne daß Sie Ihre Nase hineinzustecken haben!«

Dem Marshal quellen fast die Augen aus dem Kopf.

»Sie – Sie…«

Obgleich Vernon unbewaffnet ist, macht er einen raschen Schritt auf den Marshal zu.

Seine Augen sind plötzlich hart wie Flintstein.