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Für Elfi






Die hinterhältigste Lüge ist die Auslassung.

Simone de Beauvoir

1

Es splitterte und knallte, dann ein Schrei. Etwas befahl Stachelmann, sich auf den Boden zu werfen. Er schlug hart auf die Knie und zerkratzte sich die Hände auf dem Pflaster. Er hatte geschwitzt in der S-Bahn und gefroren auf dem Weg vom Dammtorbahnhof zur Universität, aber in diesem Augenblick fühlte er nichts. Jetzt verstand er, dass er selbst geschrien hatte. Er lag im Schneematsch auf dem Pflaster des Von-Melle-Parks, ein paar Dutzend Schritte nur entfernt vom Eingang des Philosophenturms. Und jemand hatte geschossen. Auf ihn. Warum, verdammt, bin ich nicht ins Gebäude gerannt, statt mich hinzuwerfen? Jetzt spürte er, wie die Nässe kalt durch seine Hose drang. Er versuchte zum Eingang des Philosophenturms zu kriechen, aber er war wie gelähmt. Arme und Beine gehorchten ihm nicht. Er suchte die Angst in sich, aber da war nichts dergleichen. Da war nur ein Staunen.

Wieder ein Schuss. Es pfiff an seinem Ohr vorbei, ganz nah, laut, kurz. Der Knall wurde hin- und hergeworfen zwischen Philosophenturm, Audimax und dem Gebäude der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Der nächste Schuss. Diesmal hörte Stachelmann ein Splittern, vor ihm staubte es hoch, Steinsplitter flogen ihm ins Gesicht. Menschen schrien durcheinander, Stachelmann hörte den Schrecken und die Angst in den Stimmen.

Dann war die Lähmung weg, und die Angst packte auch ihn. Weg hier, bloß weg. Er hatte keine Deckung, war eine Zielscheibe, wenn der Schütze von oben schoss. Stachelmann kroch zur Eingangstür des Philosophenturms. Neben ihm schlug es ein, der Knall hallte nach. Wieder trafen ihn Splitter im Gesicht, es stach und brannte, er kroch weiter, so schnell er konnte. Stachelmann meinte zu sehen, wie der Unbekannte auf ihn zielte. Jeden Augenblick konnte ihn der Schuss töten. Fast fühlte er schon, wie die Kugel heiß in seinen Rücken eindrang. Schnell, schnell. Die letzten Meter stand er auf, er rannte, schlug einen Haken. Der Schuss traf die Tür, als Stachelmann sie öffnete. Er spürte den Schlag von der Wucht des Geschosses in der Hand, sah das Loch, das die Kugel in die Tür gerissen hatte. Er warf sich ins Gebäude, fiel auf Knie und Ellbogen, stöhnte auf und begriff noch im Rollen, dass er hinter der Mauer unterhalb der Fenster sicher war. Er schmeckte Blut, wischte sich mit der Hand übers Gesicht, die Hand wurde nass und färbte sich rot. Auf der anderen Seite der Tür lagen zwei Studenten. Der eine hatte seinen Kopf unter den Armen begraben, als könnten die ihn gegen Kugeln schützen. Der andere stierte zu Stachelmann.

Stachelmann schaute zur Cafeteria. Menschen lagen auf dem Boden. Seine Augen verharrten bei einer Frau, die ihn anstarrte. So viel Angst hatte er noch nie gesehen. Dann schaute die Frau weg, wie in Zeitlupe.

Warum schoss es nicht mehr?

 

Er hörte Sirenen. Bald zuckte Blaulicht auf dem Boden und in der Cafeteria. Vor deren Fensterwand stand ein Polizeiauto. Das Licht blinkte auf den Körpern, die in der Cafeteria lagen. Zwei Polizisten öffneten die Eingangstür, sie hatten Pistolen in den Händen.

»Von wo?«, brüllte einer. Als er keine Antwort erhielt, brüllte er noch lauter: »Von wo wird geschossen?«

Stachelmann wollte antworten, öffnete den Mund, bekam aber kein Wort heraus.

»Da«, sagte der Student, der Stachelmann angeglotzt hatte. Er zeigte mit der Hand nach draußen.

Die Polizisten stockten, guckten einen Augenblick ratlos umher, dann stürmten sie wortlos in die Cafeteria. »Scheiße!«, brüllte der eine.

Bald erschien ein Mann im weißen Kittel mit einer schwarzen Tasche, er betrat die Cafeteria, kniete nieder neben der Frau, die Stachelmann angestarrt hatte, fühlte den Puls, holte aus der Tasche eine Spritze und eine Ampulle, brach diese auf, steckte die Nadel der Spritze hinein, zog den Kolben zurück, drückte etwas Flüssigkeit durch die Nadel, desinfizierte die Armbeuge und stach mit der Spritze hinein. Stachelmann folgte jeder Bewegung. Sonst schaute er weg, wenn jemandem eine Spritze gesetzt wurde, sogar im Kino.

Der Polizist, der gebrüllt hatte, zeigte nach draußen und zuckte mit den Achseln. Stachelmann fiel auf, dass niemand mehr schrie. Er kroch in Richtung Cafeteria. Währenddessen linste er hinaus. Überall Polizei, ein Sondereinsatzkommando mit Helmen, Schutzwesten, Maschinenpistolen und Gewehren. Zivilpolizisten. Dann erkannte er Taut, den Leiter der Mordkommission, der seinen mächtigen Körper schon zum Tatort geschleppt hatte. Stachelmann erhob sich, ging zurück zur Tür und trat hinaus. Er hatte Angst, aber seit er Taut gesehen hatte da draußen, konnte er wieder denken. Wenn die vielen Polizisten herumstanden ohne Deckung, dann war das Schießen vorbei. Stachelmann ging mit Gummiknien zu Taut. Der erkannte ihn sofort.

»Herr Dr. Stachelmann, sind Sie verletzt?«

Der blickte an sich hinunter, sah seine verdreckte Kleidung und schüttelte den Kopf. Taut schaute sich hektisch um, entdeckte eine Frau in einem weißen Kittel, schickte einen uniformierten Polizisten zu ihr und wies auf Stachelmann. Die Ärztin eilte zu Taut. Der Hauptkommissar sagte der Ärztin etwas und zeigte wieder auf Stachelmann. Die Ärztin nahm Stachelmann an der Hand und führte ihn zu einem großen Krankenwagen, dessen Hecktüren

geöffnet waren. Daneben weitere Krankenwagen. Sanitäter standen herum. Offenbar waren mehr Krankenwagen herangerast, als gebraucht wurden.

»Setzen Sie sich hinein«, sagte sie freundlich, aber eindringlich. Mit einer Pinzette zupfte sie ihm Steinstückchen aus der Gesichtshaut, zwei Wunden überklebte sie mit Pflaster. Dann fühlte sie den Puls und maß seinen Blutdruck. »Legen Sie sich eine Weile auf die Liege, dann geht es wieder«, sagte sie.

Er tat es und schloss die Augen. In seinem Kopf hallten die Schüsse nach. Er hörte noch einmal die Schreie. Träume ich? Es ist doch unmöglich, dass hier einer wild herumballert. Wir sind doch nicht in Amerika. Aber es war möglich. Kein Zweifel, da hatte jemand geschossen. Auf ihn. Jetzt hörte er es wieder splittern, pfeifen und knallen. Er schaute sich um, als könnte er den Schützen ausfindig machen. Was für einen Grund konnte der haben, auf Stachelmann zu schießen? Ein Amokläufer? Er hob den Kopf und sah, wie Leute ziellos umherliefen. Sie waren überfordert. Das hatten sie noch nicht erlebt. Er setzte sich auf die Liege, ihm schwindelte. Er fixierte das Rücklicht eines Polizeiwagens, bald sah er klarer. Mit den Händen stützte er sich, während er vorsichtig aufstand. Wer hatte geschossen? Und warum? Das musste er begreifen.

Taut stand vor ihm. »Was ist hier los? Wissen Sie etwas?«

»Jemand hat auf mich geschossen.«

»Auf Sie?«

»Ja«, schnauzte Stachelmann. »Auf mich.«

Taut starrte ihn an, dann schaute er sich um. »Können Sie gehen?«

»Lassen Sie ihn«, sagte der Sanitäter.

»Ja«, sagte Stachelmann. Er stand auf, ihm wurde schwindlig, er stützte sich auf die Stoßstange des Krankenwagens.

Der Sanitäter fasste ihn an der Schulter. »Sie müssen sich ausruhen.«

»Nein«, sagte Stachelmann. Der Schwindel ließ nach.

»Haken Sie sich ein«, sagte Taut. Er hielt Stachelmann seinen Arm entgegen.

»Das können Sie nicht machen!«, sagte der Sanitäter energisch.

Stachelmann hakte sich ein und spürte den massigen Körper des Kriminalpolizisten.

»Zeigen Sie mir, wo Sie waren, als die Schüsse fielen.«

Stachelmann guckte sich um, bald hatte er sich orientiert. Er führte Taut zu der Stelle, wo er auf dem Pflaster gelegen hatte. Zwei Einschläge waren mit Kreide markiert. »Hier«, sagte Stachelmann.

Sie näherten sich der Eingangstür des Philosophenturms, Stachelmann brauchte die Stütze, seine Knie waren aus Gummi. Ein paar Schritte vor der Tür wieder ein kleiner Krater, darum ein Kreidekreis. Jemand hatte Schneematsch zur Seite geschoben. Stachelmann erinnerte sich. Er war gerannt, als es neben ihm einschlug. Dann hatte er die Tür aufgerissen. »Dort«, sagte Stachelmann. Er fühlte sich schwach und elend. »Dort ist die letzte Kugel eingeschlagen.« Er zeigte zur Tür. Auch dieses Einschussloch war gekennzeichnet. Taut zog Stachelmann zur Tür. Vorne ein kleines rundes Loch, auf der Rückseite der Tür hatte die Kugel Holzsplitter herausgerissen. Sie lagen verstreut auf dem Boden.

»Das war kein Kleinkalibergewehr«, sagte Taut. Er zog Stachelmann zur Kantine. Die Frau, die auf dem Boden gelegen hatte, war weg. Sie setzten sich an den Tisch. Außer ihnen war niemand im Raum. »Der hat wohl Sie gemeint«, sagte Taut. »Nehmen Sie es mir nicht übel. Aber das hilft uns weiter.«

Stachelmann nickte. Die Schüsse hatten ihm gegolten. Aber viermal hatte der Schütze ihn verfehlt. Beim ersten Mal war Stachelmann gelaufen, bei den beiden folgenden Schüssen hatte er auf dem Boden gelegen, beim letzten, der die Tür traf, war er gerannt. »Er hat viermal vorbeigeschossen.«

»Das ist unser Glück, aber es ist seltsam. Sobald wir die Stelle gefunden haben, von wo aus geschossen wurde, wissen wir mehr. Aber dass der Schütze Sie nicht getroffen hat, ist erstaunlich. Sieht fast so aus, als hätte er absichtlich vorbeigeschossen. Immer dicht daneben. Wer könnte das tun?«

Stachelmann zuckte die Achseln. Wer tut so was?

»Haben Sie mit jemandem Streit gehabt?«

Stachelmann schüttelte den Kopf. In ihm arbeitete es. Das ist doch absurd. »Das war ein Irrer.«

Taut warf ihm einen neugierigen Blick zu. »Wie kommen Sie darauf?«

»Mir fällt kein halbwegs vernünftiger Grund ein. Und so was gibt's doch. Da lebt irgendeiner Allmachtsphantasien aus. Und ich hatte das Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.«

»Mag sein. Unsere Erfahrung spricht dagegen. Vielleicht haben Sie jemanden beleidigt, ohne es zu merken? Eine schlechte Note gegeben oder einen durchfallen lassen. Sie glauben gar nicht, wie viele Gründe es geben kann, dass jemand durchdreht. Manche Leute warten geradezu auf einen Auslöser, und der kann anderen völlig unwichtig erscheinen.«

»Ja, ja«, sagte Stachelmann. Er hatte sich wieder einigermaßen im Griff. Der Schwindel war verschwunden, und obwohl er sich noch schwach fühlte, traute er es sich wieder zu, systematisch zu denken.

Ich hatte einfach Pech. Oder es war Absicht.

Ein Polizist eilte auf Taut zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann ging er weg in Richtung WiSo-Fakultät.

»Die Kollegen haben den Ort gefunden, von dem aus geschossen wurde«, sagte Taut. »Kommen Sie mit?«

Stachelmann antwortete nicht, lief aber los. Die Knie waren fast schon wieder gummifrei. Polizisten hielten Neugierige zurück. Fotoapparate blitzten, doch Stachelmann achtete nicht darauf. Irgendjemand rief ihm etwas zu, aber er wollte es nicht hören. Taut holte ihn ein.

»Es ist oben, auf dem Dach«, sagte ein Polizist zu Taut.

Sir fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben. Eine Stahltreppe führte zu einer Stahltür, die offen stand. Taut trat als Erster hinaus aufs Dach, Stachelmann folgte ihm, dann noch ein Uniformierter. An der Kante zum Von-Melle-Park standen zwei Männer mit Anoraks, auf dem Rücken die Aufschrift Kriminaltechnik. Stachelmann blieb in Tauts Schlepptau. Der Leiter der Mordkommission näherte sich den Kriminaltechnikern, Stachelmann sah drei Kreidekreise auf dem Beton. In den Kreidekreisen lagen Patronenhülsen.

»Die vierte Hülse haben wir noch nicht gefunden, ist wohl hinuntergefallen«, sagte ein Kriminaltechniker. Er hatte rote Wangen von dem kalten Wind, der den Nieselregen übers Dach trieb. Im schwarzen Schnauzbart hatten sich Tropfen verfangen. Der andere Kriminaltechniker kniete an der Dachkante und wandte den anderen den Rücken zu. »Habt ihr sie?«, rief er hinunter.

»Kaliber 7,62«, sagte sein Kollege. »Das ist schon mal sicher. Wahrscheinlich eine automatische oder halbautomatische Waffe, das zeigen die Abdrücke des Verschlusses auf der Hülse.«

»Also ein Militärgewehr?«, fragte Taut.

»Sieht so aus.«

»Hm.«

Was bedeutete es? Ein Soldat? Unsinn! Militärgewehre gab es zu Millionen überall in der Welt, in Kriegen und Bürgerkriegen. In den Händen von Soldaten, Banden, Todesschwadronen, Guerilleros, Frauen und Kindern. Wahrscheinlich hatten allein in Deutschland Tausende von Waffennarren Militärgewehre im Schrank stehen. Weil sie sich mächtig fühlen wollten. Sie hatten Menschenleben in der Hand. Wir könnten ja, wenn wir wollten ...

»Morgen wissen wir mehr. Wir vergleichen die Hülsen mit den Mustern beim BKA.«

»Gut«, sagte Taut.

Stachelmann stellte sich an die Dachkante. Die Tiefe griff nach seinem Unterleib und zog ihn hinab. Er wehrte sich, stemmte sich gegen das Gefühl. Von hier hatte er einen guten Überblick über den Von-Melle-Park. Und der Schütze hatte ein ideales Schussfeld gehabt. Stachelmann sah sich da unten auf dem Pflaster im Schneematsch liegen. Von hier oben, so nah, würde wahrscheinlich selbst er ein Ziel von dieser Größe treffen. Bei vier Versuchen allemal.

»Kaum zu glauben, dass er vorbeigeschossen hat«, sagte Taut leise. Er hatte sich unmerklich neben Stachelmann gestellt.

»Genau das habe ich auch gedacht.«

»Der hat ganz genau gezielt«, sagte Taut. »Und ganz genau vorbeigeschossen. Der wollte Sie nicht töten.«

 

Als Stachelmann vor Annes Wohnungstür stand, war er schweißüberströmt und atemlos. Er traf das Schloss nicht mit dem Schlüssel, er versuchte es ein paarmal. Schließlich klingelte er und setzte sich auf die Treppe zum nächsthöheren Stockwerk.

Sie schlug die Hand vor den Mund, als sie ihn sah, dann nahm sie ihn an der Hand. »Komm erst mal rein.« Sie führte ihn ins Badezimmer.

Er setzte sich auf den Klodeckel und schnaufte, dann stand er auf, stellte sich vor den Spiegel und wusch sich vorsichtig Hände und Gesicht. Das Gesicht sah nicht so schlimm aus, wie er befürchtet hatte. Zwei Pflaster, eines unterm Auge, das andere am Kinn. Ein paar Kratzer, das Blut war verschorft und schmierte, als er die Stellen mit dem Waschlappen berührte. Er tupfte sie mit einem Kosmetiktuch notdürftig trocken. Dann begann er sich auszuziehen, während sie verschwand und gleich zurückkehrte mit trockener Kleidung. Sie stützte ihn, als er die Hose wechselte. Dann brachte sie ihn ins Wohnzimmer, er legte sich auf die Couch. Stachelmann hörte es glucksen, die Tür zum Kinderzimmer war angelehnt. Dann klapperte es.

Er berichtete in unvollständigen Sätzen, was geschehen war. Am Ende wiederholte er: »Der hat auf mich geschossen. Knapp vorbei.« Er dachte an die Kugel, die neben ihm im Boden eingeschlagen war, und an die Kugel, die die Tür durchbohrt hatte, als Stachelmann sie geöffnet hatte. »Der hat auf mich geschossen.«

Anne schaute ihn lange an, schüttelte ihren Kopf, sodass die halblangen schwarzen Haare über die Schultern tanzten. »Warum?«

Stachelmann dachte nach, fand aber keine Antwort. »Weiß nicht. Er hat viermal auf mich geschossen. Viermal.«

»Aber doch nicht, weil er dich kennt. Sondern weil du zufällig dort warst.«

»Viermal«, flüsterte Stachelmann.

Sie stand auf, beugte sich über ihn, strich zart über die Pflaster und küsste ihn auf die Stirn. »Das war ein Verrückter. Er hat nicht dich gemeint.«

Stachelmann schloss die Augen. Er versuchte sich vorzustellen, was geschehen war. Es war ein Mann gewesen, bestimmt. Der hatte mit einem Gewehr auf dem Dach der WiSo-Fakultät gelegen und gewartet, bis ihm ein Ziel vor das Visier lief. Stachelmann musste bald zu Taut, um zu erfahren, ob die Polizei schon mehr wusste. Vielleicht hatte sie den Schützen festgenommen. »Ich muss zur Polizei«, sagte er.

»Aber nicht jetzt. Du stehst unter Schock, dein Kreislauf ist nicht stabil. Du klappst zusammen.«

»Dann fahr mich hin.«

Anne warf einen Blick zum Kinderzimmer, dann sagte sie: »Erhol dich erst, dann bring ich dich hin, morgen.«

Er wollte widersprechen, aber dann ließ er es. Sie hatte recht. Und in ihrer Wohnung war er sicher. Wenn er jetzt mit Ossi oder Carmen telefonieren könnte. Aber das ging nicht mehr. Ossi war tot. Und Carmen, der Gedanke an sie machte ihn traurig. Er versuchte sich an ihr Gesicht zu erinnern. Aber es war verschwommen, eigentlich nicht erkennbar.

Anne ging ins Schlafzimmer, wo ihr Schreibtisch stand.

Er grübelte, was er getan haben konnte, damit einer auf ihn schoss. Er suchte in seiner Erinnerung nach etwas, das er einem anderen angetan haben konnte. Er fand nichts. Natürlich hatte er Seminararbeiten kritisiert, aber keinem Studenten einen Schein verwehrt. Nein, da war nichts.

Leise Schritte tapsten näher. Stachelmann linste, es war Felix, mit seinem Lieblingsstofftier, einem Elefanten, in der Hand. Felix stellte den Elefanten auf Stachelmanns Bauch und sagte: »Wau!«

Stachelmann überlegte, welche Geräusche Elefanten machten, und erinnerte sich des letzten Besuchs in Hagenbecks Tierpark. »Elefanten machen so.« Er trötete, Felix lachte und machte es ihm nach. Dabei legte er den Oberarm an die Nase. Dann fegte er hinweg, stolperte über ein Kissen, das er wohl selbst auf den Boden geworfen hatte, erschrak, blieb einen Augenblick liegen, stand wackelig wieder auf und rannte weiter.

Stachelmann schloss die Augen, gleich kehrten die Bilder zurück in seinen Kopf. Und das Geräusch, als die Kugeln neben ihm das Pflaster splittern ließen. Erst hatte es geklungen, als würden Steine aneinandergeschlagen, gleichzeitig pfiff es.

Er hörte die Geräusche in der Wohnung wie durch eine Wand. Als er die Hand vor die Augen hielt, sah er sie zittern. Anne kam aus der Küche und stellte ein Tablett auf den Tisch. Teeduft verbreitete sich. Sie rückte den Sessel näher ans Sofa heran, sodass sie ihm den Kopf streicheln konnte.

»Morgen wirst du wissen, dass du nicht gemeint warst. Vielleicht haben sie den Kerl schon.« Sie goss Tee ein und schob einen Becher in seine Nähe. Er hob den Oberkörper und nahm die Beine von der Couch, bis er saß, dann rückte er ans Ende des Sofas, beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Sessellehne und schaute Anne ins Gesicht. »Der meinte mich.«

»Aber er hat nicht getroffen. Der wollte dich nicht töten. Der hat irgendeinen Unsinn getrieben. Ein Halbstarker, der in der Zeitung stehen wollte, der jetzt vor seinen Kumpels angibt, was für ein mutiger Kerl er ist. Vielleicht lief da eine Wette? Der lag auf dem Dach und wartete auf einen armen Kerl, dem er Angst einjagen konnte, und der arme Kerl warst dummerweise du.«

Stachelmann überlegte, versuchte sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, was geschehen war. Wie soll ich damit leben, dass es einen gibt, der mich vielleicht doch töten will? Der vielleicht nur zu aufgeregt war, um zu treffen? Aber kann man viermal vorbeischießen? Die Entfernung war nicht groß, vielleicht hundert Meter. Und die Schüsse lagen alle haarscharf daneben. Das ist auch eine Art von Genauigkeit. Du bist ihm aufgefallen, du hast dich bewegt. Du hast auf ihn reagiert, das hat ihn womöglich herausgefordert. Oder ihm Spaß gemacht. Dieser Gedanke beruhigte ihn ein wenig. Vielleicht warst du doch nicht gemeint. Anne hatte recht. Er sprach es aus: »Vielleicht wollte er mich doch nicht umbringen. Wenn ich es mir genau überlege.«

»Siehst du«, sagte sie. »Wenn mir so etwas passieren würde, ich würde ausflippen und mich wochenlang verkriechen. Es sei denn, jemand zwänge mich, das zu verarbeiten. Das musst du sofort tun, bevor sich der Irrsinn festsetzt. Wir gehen heute Abend noch aus. Du musst verstehen, dass die Wahrscheinlichkeit mehr als gering ist, ein zweites Mal an einen schießwütigen Irren zu geraten. Es wird nie wieder jemand auf dich schießen.«

»Die Wahrscheinlichkeit ist in meinem Fall nicht geringer als bei jedem anderen Menschen. Die Statistik interessiert sich nicht für die Vergangenheit. Denk an Spieler im Casino. Beim Roulette bleibt die Kugel auf der 35 liegen. Wer würde in der folgenden Runde seine Chips auf die 35 legen? Kaum einer. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, dass die 35 getroffen wird, genauso groß wie bei jeder anderen Zahl. Die Kugel merkt sich nicht, wo sie beim letzten Mal ausgerollt ist.«

»Dass du schon wieder auf Schlaumeiereien verfällst, zeigt, dass es dir besser geht. Fast schon wieder der Alte.« Sie lachte leise. Stachelmann hörte Erleichterung heraus.

Sie tranken Tee und schwiegen eine Weile. Stachelmann mühte sich im lautlosen Dialog mit sich selbst, das Ereignis zu verstehen. Vielleicht war der Täter bereits verhaftet. Ein Verrückter, einer, der ausgeflippt war, dessen Nerven einem Stress nicht mehr standgehalten hatten. Warum hatte er sich die Universität ausgesucht? Warum nicht die Mönckebergstraße? Den Gänsemarkt? Den Hafen? War es ein ehemaliger Student? Einer, der durch eine Prüfung gefallen war? Der es nicht geschafft hatte? »Vielleicht so einer wie ich?«, sagte Stachelmann.

Anne schaute ihn fragend an.

»Na ja, einer, der nicht zu Potte kommt und sich einredet, es liege nicht an ihm, sondern an der Universität, die sein Genie verkenne, unterdrücke, du weißt, was ich meine.«

»Wie kommst du auf dich?«

»Ich gebe zu, es ist ein bisschen schief.«

»Eben. Du bist habilitiert, Herr Professor in spe! Es war zwar eine Würgerei, aber dafür am Ende mit Jauchzen und Frohlocken. Weißt du nicht mehr, wie Bohming gejubelt hat, als der Habilitationsausschuss dich beglückwünschte?«

Natürlich wusste er noch, wie sein Chef, der Lehrstuhlinhaber Professor Bohming mit dem Spitznamen »der Sagenhafte«, so getan hatte, als hätte eigentlich er die Habilitationsschrift verfasst oder als wäre sie wenigstens nie so gut geworden ohne seine Betreuung. Das war vor wenigen Wochen im Senatssitzungssaal im Hauptgebäude der Universität gewesen. Eine großartige Arbeit habe Stachelmann vorgelegt. Das sagte nicht nur Bohming, dessen Betreuung sich darin erschöpft hatte, Stachelmann immer wieder an den Abgabetermin zu erinnern. Andere munkelten von der Karriere, die Stachelmann unweigerlich bevorstehe. Nachdem der so lange habe bangen müssen um seine Vertragsverlängerung, würde es nun in Rekordzeit klappen. Keine Fragen, keine Einwände.

Am meisten bewegt hatte ihn Annes Lob. Er habe nicht nur eine gute Arbeit geschrieben, sondern gezeigt, dass auch ein Wissenschaftler nicht gleichgültig sein müsse gegenüber menschlicher Not, ohne dabei seinen Anspruch aufzugeben. Besonders die Darstellung des Falls Rohrschmidt habe sie gerührt. Das war ein Kölner Historiker, den die Gestapo im Herbst 1937 ins KZ Buchenwald verschleppte und der dort im Steinbruch zu Tode gequält wurde. Stachelmann hatte ihm eine lange Passage gewidmet, nachdem er bei Recherchen eher zufällig auf dieses Verbrechen gestoßen war. Ein Verbrechen unter Millionen und doch besonders bewegend, wohl weil es sich um einen Kollegen handelte.

So gut die Prüfung gelaufen war, nun musste er auf eine Berufung hoffen. Noch war er nicht Professor oder auch nur Privatdozent. Die Urkunde konnte er erst in ein paar Wochen abholen, die Bürokratie ließ sich Zeit. Und dann war er in Wahrheit nichts Halbes und nichts Ganzes. Seine Qualifikation für eine Professorenstelle hatte er nachgewiesen, auch wenn es eine Quälerei gewesen war. Aber ob er eine solche Position je einnehmen würde, das hing allein an der Berufung. Also an dem, worauf ein paar hundert Historiker-Privatdozenten schon seit langem vergeblich hofften. Stachelmann hatte sich nur in eine andere Warteschlange eingereiht.

»Du hast recht. Es wird nie wieder einer auf mich schießen. Ernsthaft verletzt wurde ich auch nicht, also kann ich jetzt Seminararbeiten lesen.« Er gähnte. Es gab nichts Langweiligeres als Seminararbeiten, in denen lustlose Studenten schrieben, was sie begriffen zu haben glaubten oder vortäuschten. Meistens war es irgendwo abgekupfert, aus dem Internet kopiert, oder es war ein aus Büchern zusammengeklaubtes Sammelsurium. Quellen guckte sich kaum ein Student an. Für ein späteres Dasein als Lehrer mochte es reichen. Aber Historiker würde kaum einer werden aus seinem Seminar. Da fiel es ihm schwer, Freude an seiner Lehrtätigkeit zu finden. Er stand auf und ging ins Schlafzimmer. Dort stand sein Laptop. Er schob Annes Notebook zur Seite, stellte seinen Computer auf und startete ihn, dann rief er seine Mails ab. Eine Mail fiel ihm gleich auf. In der Betreffzeile stand: Stachelmann muss weg. Er erschrak, dann glaubte er es nicht. Aber es stand da. Er öffnete die Mail. Sie enthielt nur eine Zeile: Siehe de.sci.geschichte – Stachelmann-thread. Er starrte die Zeile an. Was hieß das? Er begriff es nicht. Was heißt thread? Faden, dafür reichte sein Englisch. Der Stachelmann-Faden, was sollte das sein?

Er hatte nicht gemerkt, dass sie ins Zimmer gekommen war. Sie legte eine Hand auf seine Schulter. »Geht's vor an?« »Lies das. Was heißt das?«

Anne las und überlegte einen Augenblick. »Im Internet gibt es Diskussionsgruppen, das so genannte Usenet, die Abkürzung für user network. Die Diskussionsgruppe de.sci. geschichte kenne ich, die besuche ich oft, manchmal diskutiere ich sogar mit. Unter falschem Namen, wie ich zugeben muss. Es handelt sich um ein deutschsprachiges Forum über Geschichte. Das klingt toll, aber die Freude wird einem vergällt, wenn man mitkriegt, dass die Revisionisten, also Nazis und Halbnazis, wenigstens die Hälfte der Beiträge posten, wie das im Jargon heißt, also in die Gruppe schicken. Es gibt natürlich auch die anderen Fraktionen bis hin zu Stalinisten. Ein thread ist nichts anderes als ein Diskussionsfaden, Beiträge, die sich aufeinander beziehen. Da hat also jemand etwas über dich geschrieben. Das heißt erst mal gar nichts. Allerdings, Stachelmann muss weg, das klingt eher unfreundlich.«

»Ich bewundere deinen Humor. Und wie erfahre ich, was in dieser Gruppe über mich steht?«

»Lass mich machen.« Sie zog an seinem Kragen. Er erhob sich und trat hinter den Stuhl, nachdem sie sich daraufgesetzt hatte. Sie klickte in abenteuerlicher Geschwindigkeit in Menüs und Fenstern des Mailprogramms. »Das kann man auch benutzen, um im Usenet mitzumischen.« In der linken Leiste stand nun unter den Mailordnern der Eintrag News-Konto. Sie klickte darauf, im Hauptfenster des Programms stand oben Newsgruppen abonnieren. Ein weiterer Klick öffnete ein Fenster, in dessen Eingabezeile sie als Suchbegriff Geschichte eintrug. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis das Programm die Gruppe zeigte. »Da ist sie schon. Jetzt abonnieren wir die auch auf deinem Computer.« Sie klickte so schnell, dass er nicht mitkam. Er hatte vergessen, wie gut sie klarkam mit dem Internet. »So, das war's. Da ist auch schon der thread. Wobei das eine Übertreibung ist. Es ist nur ein einziger Beitrag, er stammt von vorgestern.« Sie klickte, um die Nachricht zu öffnen. Dann sagte sie: »Um Himmels willen! Das ist ein Verrückter. Kein Wunder, dass ihm niemand antwortet.«

Schweigend lasen sie die wenigen Zeilen, die ein Absender verfasst hatte, der sich hinter dem Kürzel E.T. verbarg:

 

Dr. Josef Maria Stachelmann nennt sich Historiker. Er ist aber ein Lügner. Seine Habilitationsschrift soll im Mai beim Schmid Verlag erscheinen. Darin verleumdet er die Opfer des Faschismus, vor allem die Häftlinge des KZ Buchenwald. Alle wirklichen Antifaschisten müssen zusammen dafür kämpfen, dass Stachelmanns Lügen nie erscheinen.

 

»Dass Stachelmanns Lügen nie erscheinen«, las er noch einmal, diesmal laut. »Glaubst du jetzt auch, dass dieser schießwütige Irre mich meinte?«