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Sven Hillenkamp

DAS

        GEFÜHLE

ENDE

    IM ZEITALTER

DER

UNENDLICHER FREIHEIT

LIEBE

Klett-Cotta


Klett-Cotta
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Klett-Cotta
© 2009/2010 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: sans-serif, Berlin
unter Verwendung des Bildes »Stadion 7/I«-06 von Ralph Fleck ©
© VG Bild-Kunst, Bonn 2009
Printausgabe: ISBN 978-3-608-94608-6
E-Book: ISBN 978-3-608-10133-1

Stets befürchte ich, dass ich nur die Wahrheit
niedergeschrieben habe, wo ich Seufzer
aufzuzeichnen wähnte.

 

[7]INHALT

Vorrede    Die große Übertreibung

Teil I – Die freien Menschen und die Nichtliebe

Eins    Geschichten und Visionen

Zwei    Das Zeitalter der unendlichen Freiheit

Drei    Gefühle, Gedanken der Nichtliebe

Teil II – Die Unendlichkeit möglicher Partner

Vier    Wie Unendlichkeit entsteht

Fünf    Unbegrenztes Ich, enttäuschendes Du

Teil III – Was die Liebe in der Freiheit sein soll

Sechs    Die Suche nach dem Meist-Erregenden

Sieben    Die Suche nach dem Passenden

Acht    Was die Menschen von der Liebe denken

Schluss des Buches (nicht jedoch der Suche)

Neun    Die Rückkehr der Vernunftehe

Epilog    Der kleine Sprung

Nachweise

Informationen über den Autor

[9]VORREDE

DIE GROSSE ÜBERTREIBUNG

Einem Soziologen wurde einmal vorgeworfen, er schildere die Gesellschaft aus Sicht eines Neurotikers, also maßlos übertrieben.

Der Soziologe sagte: »Es ist erwiesen, dass alle Menschen neurotisch sind. Also ist die neurotische Sicht die gewöhnliche, die übertriebene die objektive. Schon wenn ein Mensch die Farbe Rot wahrnimmt, nimmt er eine Übertreibung von Rot wahr. Sogenannte Objektivität käme also einer Untertreibung gleich, die kaum ein Mensch nachvollziehen könnte. Warum sollte ich Menschliches mit den Mitteln der Physik beschreiben?«

In dem Sinne ist auch dieses Buch ein wahrhaft objektives, also übertriebenes.

Das Phänomen, das dieses Buch erforscht, ist aber auch an sich eine Übertreibung. Es ist das Übel einer unendlich gewordenen Freiheit, unendlichen Auswahl in jedem Bereich, unbegrenzter Möglichkeiten – also einer gesellschaftlichen Übertreibung, die alles Menschliche ins Unendliche steigert und damit ins Unmenschliche.

Eine Folge, die erste und einschneidendste, ist das Ende der Liebe. Es ist die Tragödie zweier Geschwister. Die Liebe war eine Schwester der Freiheit. Nun reißt die Freiheit sie mit in den Tod.

[10]Die Zwänge, die aus der Freiheit sich ergeben, haben andere benannt. Sie sind Gegenstand von Reportage und Polemik. Die Feststellung unbegrenzter Möglichkeiten ist daher nicht Zweck des Buches, sondern sein Ausgangspunkt. Es zeigt die Zwänge der Freiheit in Reinform, mit allen Konsequenzen. Es rechnet sie hoch, spielt sie durch, lässt ihrer Logik freien Lauf, offenbart ihren Charakter in der Extremsituation totaler Verwirklichung.

Das romanhafte Verfahren des Durchspielens und Hochrechnens wird jedoch stets eingeholt von der Wirklichkeit. Denn die freien Menschen wollen ja tatsächlich ihr Selbst in Reinform erfahren, ihr Leben bis zur letzten Konsequenz leben. Das Buch, das maßlos übertreibt, beschreibt eine Welt, die maßlos übertreibt.

Die Menschen, die schon heute nicht mehr lieben, sind von unbekannter Zahl. Doch hier geht es nicht um Zahlen. Es geht um eine Erfahrung. Diese Erfahrung ist typisch für die Zeit. Wenn es einen einzigen Satz gibt, der die heutigen Menschen charakterisiert, so ist es der Satz: »Ich liebe nicht.«

Das Bild, das jemand sich von der Zukunft macht, zum Beispiel vom Ende der Liebe, ist in Wahrheit ein Bild der Gegenwart – ein Bild, das nur das Typische einer Zeit zeigt, ungemischt, bar aller Vergangenheitsrelikte. Die Gegenwart ist wie Metall im Sand eines Flusses, mit bloßem Auge zuweilen schwer sichtbar, gemischt unter die Sedimente der Zeit. Sie ist in ihr selbst nur ein Teil, ein Anfang.

Der Autor, der, historisch und literarisch, maßlos übertreibt, sitzt in Wahrheit am Fluss der Zeit und siebt die Gegenwart heraus.

Viele leben in dieser Gegenwart, der Welt unendlicher Freiheit – und kein Weg, kein Beschluss führen sie aus dieser [11]Welt heraus. Man entkommt der Freiheit nicht, in keine Nische, kein Exil. Auch eine Partnerschaft bleibt – wie die Verehrung eines Gottes, eines Führers – eine freiwillig betretene Unfreiheit, also innerhalb der Freiheit. Die Menschen können mit keinem Schwur, keinem Schritt ihrer Freiheit entfliehen. Sie können den Möglichkeiten nicht entfliehen, die die Liebe unmöglich machen.

Wer dem Druck einer autoritären Gesellschaft nachgibt, passt sich an. Wer dem Druck einer freien Gesellschaft nachgibt – nachgeben muss –, wird zum Extremisten. Darum sind die Extremisten in der Freiheit der Durchschnitt: die Marathonläufer und Weltumsegler, die Künstler und Kandidaten, die Don Juans und Donna Juanas, die Swinger und Sadomasochisten, die Aufsteiger und Aussteiger, die Einwanderer und Auswanderer, die Esssüchtigen und Arbeitssüchtigen, die Körperveränderer und Seelenheiler, die Isolationisten und Exhibitionisten, Totalfitte und -kaputte, Terroristen und Amokläufer, Kriegsreporter und Katastrophenhelfer.

Das will nichts über die moralische Qualität des jeweiligen Extremismus sagen; derselbe kann gut oder schlecht sein. Es besagt nur, was Extremismus heute nicht mehr ist: Er ist kein Widerstand mehr. Extremismus ist Anpassung an die Freiheit.

Die Unmöglichkeit der Liebe entsteht nicht in einer kalten, lieblosen Gesellschaft, sondern – umgekehrt – aus einem Liebesextremismus.

Die Menschen, die nie lieben, sind Menschen, die tatsächlich immer lieben – in jeder Sekunde, mit jedem Blick einen Anderen. »Ich liebe«, das heißt jetzt: »Ich liebe nicht«. Aus Möglichkeiten und immer noch mehr Möglichkeiten wird Unmöglichkeit. »Ich habe alle Möglichkeiten«, das heißt jetzt: »Ich habe keine«.

[12]Aus dem totalen Markt wird das Verschwinden des Marktes. Aus der Romantik wird nun, da es unbegrenzte romantische Möglichkeiten gibt, ein Romantikfanatismus.

Das Äußere, Gesellschaftliche nehmen die Menschen als Inneres, Psychisches wahr. Das unbegrenzte Eigene tritt ihnen als Fremdes entgegen, ihr Selbst als ein Anderer. Die Menschen werden von ihrem eigenen Willen terrorisiert und bezwungen. Aus Freiheit und immer noch mehr Freiheit wird Zwang. So stürzen die Worte in ihr Gegenteil. Nichts bedeutet mehr, was es einst bedeutet hat.

Wenn Gedanken und Geschichten in diesem Buch sich oftmals aneinanderfügen wie die Szenen eines Films – ohne das Gesagte nochmals zusammenzufassen, den Sinn des jeweiligen Teils für das Ganze zu erklären –, so darum, weil der Lesende Mensch bleiben soll, Erfahrender, nicht mutieren soll zum Allwissenden, Abgeklärten. Auch ein Chaos macht noch einen ordentlichen Eindruck, wenn man nur weit genug davon entfernt ist. Dann ist auch ein Weltuntergang ein liebliches Schauspiel. Statt dessen sei der Lesende hier aufgefordert, die Welt der Nichtliebe zu Fuß zu durchqueren, von einem der hier ausgelegten Steine auf den anderen zu springen, mitten durch den Fluss der Gedanken.

Dabei wird er sich allein verlassen müssen auf jene unscheinbaren Wörter, die Sätze verbinden (und die zwischen Gefühlen leider fehlen, weshalb Gefühle oft so schwer verständlich sind): ein Infolgedessen, ein Denn oder Weil, ein Und oder Also.

Wenn das Buch also die durchnummerierte Klarheit der Wissenschaft vermissen lässt, so ist das der Methode zuzuschreiben, nicht dem Willen, rätselhaft, also tief zu erscheinen. Unverständlichkeit, so heißt es, ist ein Vorrecht Gottes.

[13]In Teil eins des Buches werden Nichtliebesgeschichten erzählt. Es wird berichtet von dem neuen Zeitalter, in dem die Freiheit unendlich wird und umkippt in Zwang; und es werden die Gefühle der freien, also immerzu gezwungenen Menschen beschrieben. Teil zwei untersucht, wie eine Unendlichkeit möglicher Partner entstehen konnte und wie die Menschen mit dieser Unendlichkeit umgehen, vielmehr: nicht umgehen können. In Teil drei wird berichtet, welche Erwartungen die freien Menschen an die Liebe und an einen Geliebten haben – und warum diese Erwartungen sich nicht erfüllen können. Das Schlusskapitel handelt davon, wie die unendliche Liebessuche und das Leben in einer unendlichen Freiheit zwangsläufig münden in die Rückkehr der Vernunftehe.

Im Epilog scheint eine Hoffnung auf: wie die freien Menschen sich der großen Übertreibung durch einen kleinen Sprung entziehen.

[15]TEIL I

DIE FREIEN MENSCHEN UND DIE NICHTLIEBE

[17]EINS

GESCHICHTEN UND VISIONEN

Das erste Kapitel: in dem die Unmöglichkeit der Liebe nur behauptet und von dieser nur erzählt wird, noch ohne Angabe von Gründen; in dem das Aussterben der Liebe angekündigt wird zu einer Zeit, da die Bedingungen der Liebe die besten aller Zeiten sind; in dem die Nichtliebe als eine Geisteskrankheit beschrieben wird, deren Träger sich nicht durch Irrsinn, sondern durch einen ausgeprägten Wirklichkeitssinn auszeichnen; in dem von einer Stadt erzählt wird, in der die Menschen aufeinander zu fallen, als liege die Stadt auf einer Senkrechten; in dem von Menschen erzählt wird, die trotz einer Partnerschaft weiter nach einem Partner suchen; die immer bis ans Ende ihrer Möglichkeiten gehen; in dem von einer Frau erzählt wird, die ihre »sexuelle Autobiografie« geschrieben hat, von einem jungen Mann, der bereits seine Kapazität erschöpft hat; und von einer nicht mehr ganz so jungen Frau, die ein Mann enttäuscht, weil er nicht weiß, wie der Regisseur Fassbinder mit Vornamen heißt

[18]Man stelle sich vor!

Die Liebe stirbt aus. Sie verschwindet wie Absolutismus und Sowjetsozialismus, wie die Ohnmachtsanfälle der Frauen, die Hysterie der Massen, das Unbehagen in der Kultur. Mehr noch als andere Phänomene wird die Liebe sich als historisch erweisen. Als Besonderheit, die mit ihren Bedingungen kommt und geht.

Die Liebe wird wieder sein, was sie einst war. Ausnahme, Seltenheit. Die Liebenden werden wieder, wie Millionäre oder Rollstuhlfahrer, zu einer kleinen Minderheit. Die Mehrheit wird die Ekstasen und Tragödien der Liebe in Filmen und Romanen verfolgen wie die Mehrheit des Theaterpublikums einst, im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, die Liebe auf der Bühne. Tief berührt, doch ahnungslos.

Ein Mann lebt seit drei Jahren mit einer Frau zusammen. Sie haben sich kennen gelernt über eine Internetseite, die der Partnersuche dient. Die Frau ist achtundzwanzig, der Mann vierunddreißig. Eines Tages fällt der Frau ein, dass ihr Profil noch im Internet steht: zwei Fotos und der Text, den sie über sich und ihre Erwartungen an eine Partnerschaft geschrieben hatte. Die Frau geht online. Als sie die Fotos sieht, aufgenommen während einer Reise durch Vietnam, hat sie das Gefühl, zwischen der Person auf den Fotos und ihr liege eine Ewigkeit. In diesen drei Jahren, denkt sie, sei sie erwachsen geworden.

Sie sucht nach seinem Profil, lacht, als sie die Fotos sieht. Er hat noch kein graues Haar, die Augen sind groß und traurig, wie die eines Kindes, das man in der Fußgängerzone hat stehen lassen. Dann sieht sie den kleinen Sendemast, der rechts oben auf der Seite blinkt.

Als er nach Hause kommt, hat sie alle Entscheidungen getroffen. Er sagt, es sei nur ein Spiel gewesen, ein Zeitvertreib. [19]Er habe sich nie mit jemandem verabredet. Er habe nur die Nachrichten gelesen, nicht einmal geantwortet. Doch sie weiß, dass er, während der drei Jahre, die sie ein Paar gewesen sind (sie haben über Kinder gesprochen, den Kauf einer Wohnung, den Umzug in eine andere Stadt), weiter gesucht hat. Sie sagt: »Du hast weiter gesucht.« Als sei auch ihre Beziehung, ihre Liebe das Ergebnis einer Suche gewesen.

Sie sagt: »Während ich mit dir geredet habe, während ich dich geküsst habe, warst du gar nicht da. Ich habe drei Jahre mit einem Hologramm geredet. Du warst die ganze Zeit über an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit. Ich bin ein Versuch für dich gewesen, nicht einmal das, ein Provisorium. Du hast dich in meiner Liebe, in unserem Leben aufgehalten wie in einem Wartezimmer.« Er streitet es ab. Doch irgendwann sagt er in die Stille: »Da war eine Sehnsucht, nach einer Frau … Ich weiß es auch nicht.«

Bemerkenswert an dieser Geschichte ist nicht, dass der Mann über das Internet gesucht hat. Das Internet macht die Suche eines Menschen, die sonst für andere unsichtbar bleibt, nur sichtbar. Wer eine Waffe benutzt, kann durch sie überführt werden. Die Meisten aber benutzen keine Waffe, gebrauchen kein Suchwerkzeug – nur ihren Körper, ihren Geist. Sie suchen endlos mit ihrem Körper, ihrem Geist, bewegen sich durch die Stadt, durch die Register ihrer Erinnerung und Hoffnung, und suchen nach einem, der ihren Vorstellungen entspricht.

Ein Roman handelt von einem jungen Menschen, der allein in einer großen Stadt lebt. Er sagt: »Wenn ich von zu Hause weggehe, rechne ich immer mit einem Ereignis, das mein Leben von Grund auf ändern wird. Ich erwarte es bis zum Moment meiner Rückkehr. Das ist der Grund, dass ich nie im Zimmer bleibe.«

[20]Der Roman wurde im frühen zwanzigsten Jahrhundert geschrieben. Doch sein Held lebte, in der hier geschilderten Erfahrung, bereits in unserer Gegenwart, in einem Anfang unserer Gegenwart.

Die Menschen können ihre Hoffnung an das Netz der Computer knüpfen oder an das Netz der Straßen. Tatsächlich sind heute beide, das Netz der Computer und das Netz der Straßen, weltweite Netze, Netze unendlicher Hoffnung.

Es macht keinen Unterschied mehr, ob die Menschen drinnen oder draußen sind.

Ein Mann und eine Frau leben seit neun Jahren zusammen. Sie haben sich über gemeinsame Freunde kennen gelernt. Sie sind in eine andere Stadt gezogen, in ein anderes Land. Sie haben ein Haus gebaut und geheiratet. Sie haben zwei Kinder und einen Hund (aber kein Internet). Dennoch sucht der Mann weiter. Er hat eine Sehnsucht. Er wartet. Und auch die Frau sucht weiter. Auch sie hat eine Sehnsucht. Auch sie wartet.

Die Menschen, von denen hier die Rede ist, sind nicht unbedingt einsame Menschen. Sie leben mit anderen. Sie sind verheiratet, haben Kinder. Manche verlieben sich, wenn auch für immer kürzere Zeit. Es sind Menschen, die auf der Suche sind. Sie verlassen ihre Suche nicht mehr, indem sie eine Wahl treffen. Sie wählen, immer weiter zu suchen. Treu sind sie nur ihrer Hoffnung.

Eine Studie über »Partneralternativen und Ehescheidungen« ergibt: Das Risiko der Scheidung ist dort am höchsten, wo die Menschen vielen anderen, vielen möglichen Partnern begegnen. Die Berufstätigkeit der Frauen und die gestiegene räumliche und gesellschaftliche Mobilität haben das Risiko der [21]Scheidung erhöht. Die Forscher schreiben: »Die Ergebnisse zeigen an, dass viele Menschen ihre Partnersuche heute fortsetzen, während sie verheiratet sind, und dass die Häufigkeit der Partneralternativen, wie sie aus der Struktur der Gesellschaft hervorgeht, signifikant das Risiko der Scheidung beeinflusst.«

Partnersuche führte einmal zu Partnerschaften. Heute ist sie der wichtigste Trennungsgrund. Dabei muss der Suchende nicht einmal suchen. Die Häufigkeit der Partneralternativen geht nicht aus seinem Handeln hervor, aus seiner Suche, sondern aus der Struktur der Gesellschaft.

Der Suchende braucht kein Suchwerkzeug mehr. Er muss nicht einmal seinen Körper, seinen Geist benutzen. Er kann warten. Die Gesellschaft selbst ist heute eine Suchmaschine. Die Gesellschaft ist in Bewegung. Sie dreht sich unter den Augen der Menschen wie ein Globus. Sie zeigt ihre Möglichkeiten.

Nie zuvor in der Geschichte waren Liebeshoffnung und Liebeserwartung der Menschen so groß. Nie zuvor war das Glück, das sie ersehnten und suchten, so weitgehend deckungsgleich mit Liebesglück. Die Epoche der romantischen Liebe ist nicht Vergangenheit, sondern – gemessen an ihren Bedingungen – angelangt auf ihrem Höhepunkt.

Die Voraussetzungen für die Liebe scheinen besser denn je. Die Menschen begegnen immer mehr Menschen. Sie sind frei, zu wählen. Sie wissen, was sie wollen. Kein gesellschaftlicher oder kultureller Unterschied scheint für die Liebe noch ein Hindernis aufzurichten. Nicht nur die Männer, auch die Frauen leben ihre sexuellen Bedürfnisse frei aus. Die gewerbsmäßige, zur Industrie gewachsene Partnervermittlung über das Internet erzeugt eine größtmögliche Auswahl von Sex- und Lebenspartnern, ermöglicht eine maschinelle, computergestützte[22] Suche. Die Idee der Liebe wird durch keine andere Idee, keine Struktur mehr beschränkt. Sie ist absolut, unbegrenzt. Die Liebe verschwindet im Moment ihres historischen Triumphes.

Therapien scheitern. Psychologen sprechen von Traumata, Neurosen, Depressionen. Sie halten sich an die Turbulenz der Lebensgeschichten, nicht an die Turbulenz der Geschichte. Sie halten die neue Art nicht zu lieben für die alte: für eine Krankheit des Herzens, des Gemüts. Sie sehen nicht, dass die neue Nichtliebe auf einer allgemeinen Erfahrung beruht, einer gesellschaftlichen Erfahrung und Idee. Sie ist keine Gemüts-, sondern eine Geisteskrankheit – und der Wahnsinn der Menschen ist ihr Wirklichkeitssinn. Je mehr Wirklichkeit einer aufnimmt, je tiefer seine Verwurzelung in der Wirklichkeit, umso ärger die Symptome.

So ist es nur folgerichtig, dass die Menschen, von denen hier die Rede ist, keineswegs bloß junge Menschen sind; dass ihre Nichtliebe sich mit der Zeit, der Erfahrung nicht verliert. Im Gegenteil, sie wächst mit der Zeit, der Erfahrung. Je älter die Menschen sind, desto erfahrener, also unreifer werden sie.

Eine Frau ist sehr nervös. Wenn sie sich mit einem Freund in einem Café unterhält, blickt sie ständig nach links und rechts. Sie macht in einem fort neue Bekanntschaften und fällt kurz darauf in eine Art Depression. Sie kann immer Gründe anführen, warum der Mann, den sie gerade kennen gelernt hat, nicht der Richtige sei, ohne diesen Gründen selbst zu trauen. Sie fragt also einen Freund, was er davon halte. Ihre letzte Verliebtheit liegt nun fünf Jahre zurück. Die Frau ist neununddreißig Jahre alt. Sie sagt, die Männer, jedenfalls die klugen, hätten sich die Männlichkeit verboten. Einmal war sie beinah euphorisch, als sie einen Mann kennen gelernt [23]hatte, der für eine Filmproduktionsfirma arbeitete und der, wie sie sagte, erotisch war. Zwei Wochen später war sie wieder enttäuscht. Er sage immerzu Heiner Werner Fassbinder und kenne vom Film nur die Logistik. Nach dem Kino beschwere er sich entweder, der Film habe zu wenig Handlung, oder, der Film habe zu wenig Dialog. (»Oder ist meine Irritation da übertrieben? Was denkst du?«) Beim Sex sei er komisch, jedenfalls anders, als sie sich das vorstelle; anders auch als der Mann, mit dem sie einst das Erwachen ihrer Sexualität erlebt habe und der noch immer »der Maßstab« sei. Schließlich sei sie einem Kollegen des Mannes begegnet, der sei umwerfend gewesen, schon rein äußerlich.

Die Frau denkt über ihre Gefühle nach und findet einiges an ihnen auszusetzen. Sie findet ihre Gefühle – ja, irrational. Unrealistisch, beleidigend billig. Den Einwand, dass die meisten Gefühle irrational seien, wischt sie vom Tisch. Sie fand auch die Männer, beide, irrational und unrealistisch. Sie sagt: »Es ist hoffnungslos. Ich projiziere alles Mögliche in einen Mann hinein, die Projektionen zerplatzen, und am Ende siegt, erneut, die Pornografie.«

Die Menschen trennen sich jetzt nicht mehr, weil die Liebe sich in Schweigen, in Krieg verwandelt hätte; sondern weil sie unzufrieden sind. Weil »etwas fehlt«. Sie hatten anderes erwartet. Die Menschen trennen sich nicht mehr nach, sondern vor der Liebe.

Im Jahr 1967 bringt der Engländer Engelbert Humperdinck die Single Release Me (And Let Me Love Again) auf den Markt. Bis dahin hatte es zwar unzählige Liebeslieder gegeben und unzählige Lieder, die von fehlender Liebe und Trennung handeln – doch immer aus der Sicht des Ungeliebten, des Verlassenen.

[24]Release me ist der erste Song, der einen Trennungswunsch ausspricht, der Trennung und fehlende Liebe aus der Sicht des Trennungswilligen behandelt. Der Song klingt wie ein Liebeslied. Doch er handelt von Nichtliebe und – von der nächsten Liebe.

Please release me, let me go

For I don’t love you anymore

To waste our lives would be a sin

Release me and let me love again

Der Song steht fünfundsechzig Wochen auf Platz eins der britischen Charts. Er erobert auch die Hitparaden in anderen Ländern. Es ist die Zeit, in der die Scheidungsraten, wie man sagt, explodieren. Noch gelten Trennung und Scheidung als verpönt. Der Song spricht aus, was viele denken – und bald auch tun werden. Angeblich hatte der Songschreiber Eddie Miller die Idee zu dem Song, als er in einer Bar einer Frau zuhörte, die ihrem Mann erklärte, dass sie sich trennen wolle. Nach dem Erfolg des Songs kommt auch ein Parfüm Release Me für Frauen auf den Markt.

Eine Frau bleibt plötzlich auf der Straße stehen. Sie schüttelt den Kopf und sagt zu ihrem Mann: »Ich hatte auf einmal die Erleuchtung, dass du von mir weggehst; dass du mich allein lässt. Ja, das ist es. Geh weg, Bruno. Lass mich allein.«

Eine Frau, die sich von ihrem Mann scheiden lassen will, sagt: »Ich bilde mir ein, dass Möglichkeiten zur Liebe in mir liegen, aber das alles liegt sozusagen in einem verschlossenen Raum. Das Traurige ist nur, dass das Leben, das ich bisher geführt habe, meine Möglichkeiten mehr und mehr eingekapselt hat. Dagegen muss ich endlich etwas unternehmen. Der erste Schritt dazu muss also sein, dass ich die Scheidung [25]einreiche. Ich glaube, dass mein Mann und ich einander auf eine – tödliche Weise im Wege stehen.«

In diesem Buch wird von Männern wie von Frauen erzählt. Ja, die Tatsache, dass die Frauen jetzt wie die Männer ihre Freiheit nutzen, dass sie selber Liebe und Sex suchen, lässt diese Art nicht zu lieben überhaupt erst entstehen, sich verbreiten. Es ist ihre wichtigste Eigenschaft, dass sie die Grenzen der Geschlechter und Generationen, Schichten und Regionen überschreitet. Sie greift über – von den Männern auf die Frauen, von den Städten auf das Land, von den Reichen auf die Armen, von den Jungen auf die Alten. Sie schwappt zurück – von den Frauen zu den Männern, vom Land in die Städte, von den Armen zu den Reichen, von den Alten zu den Jungen. Sie verschlingt ihr Gegenteil und macht es sich gleich. Der Einzelne ist nur deshalb von dieser Art nicht zu lieben betroffen, weil alle betroffen sind. Es ist das Besondere an ihr, dass sie allgemeingültig wird. Wollte man sie eingrenzen auf ein Merkmal, so müsste man sagen: Alles an ihr geht über Grenzen hinaus, bis ans Ende seiner Möglichkeiten.

Eine Frau trennt sich von einem Mann, weil sie weiß, dass sexuelle Möglichkeiten in ihr liegen, die sie mit dem Mann nicht ausleben kann. Sie trennt sich, weil sie weiß, dass Möglichkeiten zur seelischen Entwicklung in ihr liegen, die sie mit dem Mann nicht ausschöpfen kann (denn der Mann entwickelt sich nicht).

Sie trennt sich, weil sie weiß, dass die Verbindung zu diesem Mann auf einer Idealisierung, einer Kompensation und einer Schwäche beruht. Die Frau sagt: »Ich habe den Mann idealisiert. Ich habe in ihm gesucht, was mir fehlt. Meine Schwäche war die Basis der Beziehung.« Die Frau [26]trennt sich. Sie lässt nicht zu, dass ihre Möglichkeiten eingekapselt werden; dass ihr Bewusstsein ein schwaches, neurotisches ist.  

Ein Psychologe sagt: »Der Mensch hat ein Interaktions-Selbst. Das heißt: Er ist mit einem Partner anders als mit einem anderen Partner. Sein Selbst wird bestimmt und begrenzt durch die Interaktion mit dem Anderen. Wenn der Mensch sich trennt und eine neue Partnerschaft beginnt, kann er ganz neue Seiten an sich entdecken. Im Prinzip ist das Selbst unendlich.«

Man stelle sich vor!

Alles sähe so übertrieben aus, wie es tatsächlich ist: Eine typische große Stadt. Millionen Menschen. Massen auf den Straßen, in den U-Bahnen und Hochbahnen, in den Hör- und Lesesälen, in den Büros und Cafés, Restaurants und Geschäften.

Was ist eine Masse?

Früher bildete sich eine Masse nur, wenn Viele einen Einzelnen anschauen wollten. In der Masse von heute dagegen schaut jeder Einzelne die Vielen an. Seit die Stadt groß ist, waren die Menschen aneinander vorbeigegangen, ohne Kenntnis voneinander zu nehmen. Doch jetzt plötzlich sehen sie sich an. Sie sehen sich, wie man sagt, tief in die Augen. Sie bleiben stehen und berühren einander. Sie halten sich in den Armen und küssen sich lang mit gesenkten, flatternden Lidern. Sie beißen einander in die langen, bloßen Hälse. Sie verlieben sich auf den ersten Blick – und sind enttäuscht auf den zweiten. Sie begegnen der großen Liebe auf der Straße, in einem Geschäft, und haben es Minuten später vergessen. Sie haben keine Zeit mehr für die Liebe, weil sie dauernd lieben müssen.

[27]Von Weitem sieht man einen Menschen auf den anderen zu fallen, als befänden sich beide auf einer Senkrechten, keiner Waagerechten. Überall sieht man die Menschen fallen, einer auf den anderen zu. Die Erde steht lotrecht, es gibt kein Halten mehr. In Ecken und Sackgassen bilden sich Menschenhaufen.

Die Menschen sehen nicht mehr geradeaus, sondern gehen mit verdrehten Köpfen durch die Straßen. Viele wachen bereits auf mit verdrehten Köpfen.

Auf den großen Plätzen erzählen Fremde einander ihr Leben in Reimform. Sie können es auswendig. Sie fallen sich in die Arme wie alte Bekannte. Sie sagen »Du« zueinander und »Ich« zu sich selbst. Sie halten auf dem Weg zur Arbeit inne, gehen auf einen ihnen vollkommen fremden Menschen zu, sagen Ich und Du, und der Andere sagt Du und Ich, und die beiden ändern ihre Routen und gehen Hand in Hand davon. Andere, die Hand in Hand dahergekommen sind, bleiben stehen, an einer Ampel, vor einem Schaufenster, und sagen einander unvermittelt Lebewohl.

Menschen, die unterschiedliche Sprachen sprechen, sind in lebhaftem Gespräch. In den Zügen und Bussen tun die Menschen, als seien sie auf einem Fest, in einer Disko. Sie tanzen, sie lassen die Hüften kreisen. Sie werfen die Arme in die Luft. Einander Unbekannte steigen irgendwo zusammen aus. Überall ist Musik.

Viele Menschen gehen nackt durch die Straßen. Jahrhundertelang liefen die Menschen eingekleidet durch die Städte wie isolierte Drähte in einem Kabelmantel. Es war ein gedrängtes, doch reaktionsloses Nebeneinander. Jetzt haben die Menschen ihre Isolierungen abgestreift. Es fließt Strom. Oder die Isolierungen sind so dünn geworden, dass die Spannung dauernd durchschlägt. Überall schlägt es Funken, gibt es Kurzschlüsse, riecht es verbrannt. Auch in den Büros sind [28]die Menschen nackt. Auch in den Konferenzen stehen die Menschen auf und sagen in Reimform ihr Leben auf.

Auf der Straße halten die Menschen plötzlich inne, weil ihnen ein anderes Leben eingefallen ist. Auch wenn sie ein Gefühl haben, bleiben sie stehen – und schreien. Andere laufen hinzu und nehmen sie in den Arm.

Die Menschen haben ihre Möbel auf die Straße gestellt, sie schlafen und arbeiten, weinen und befriedigen sich selbst auf dem Bürgersteig.

Oder ist es umgekehrt? Die Straßen gehen durch die Häuser hindurch, Tausende Menschen auf dem Weg zur Arbeit strömen jeden Morgen an zerwühlten Betten vorbei, strömen abends zurück, den ganzen Tag herrscht in den Wohnungen das Gewimmel von Einkaufsstraßen. Die Menschen wissen nicht mehr, was Wohnung, was Straße ist, ob sie zu Hause oder draußen sind. Es macht auch keinen Unterschied. Die Häuser sind eng zusammengerückt, auch die alten Boulevards und Heerstraßen sind jetzt Gassen, durch die der Menschenstrom wie zähe Lava fließt.

Überall sieht man Menschen, die auf andere Menschen klettern. Sie bitten nicht mehr um Feuer oder um die Uhrzeit (sie wissen, dass sie zu spät sind), sondern um eine Räuberleiter, einen Ritt. Sie tragen einander Huckepack bis zur nächsten Ecke, zur nächsten Kreuzung. Dann steigen sie ab und um. Sie bitten den Nächsten. Sie suchen nicht mehr den Seelen-, sondern den Etappenmenschen. Sie haben Etappenseelen.

Sie hauen sich selbst und andere in Stücke; ich ein Stück Weg, du ein Stück Weg. Vor allem die Großen, Starken, Schnellen werden bestürmt. Sie können sich vor Räuberleiter- und Huckepack-Bitten nicht retten. Die Kleineren, Schwächeren, Langsameren lassen sich von ihnen auf Simse und in Bäume heben, reiten auf ihnen zur Arbeit oder nur zur nächsten Bushaltestelle.[29] Es ist ein Gewusel und Gekletter wie auf einem Kinderspielplatz. Viele gehen aber umher und finden keinen, der groß genug ist für ihr Sims, stark genug, sie zu heben, schnell genug, die Verspätung, die sie haben, doch noch aufzuholen. Sie klettern an Menschen hoch und springen enttäuscht wieder ab. Sie wiegen so viel, dass die Träger stöhnend in die Knie gehen. Die große Stadt ist nicht mehr wiederzuerkennen, so maßlos übertrieben ist alles, was dort geschieht.

Eine Frau schreibt ihre »sexuelle Autobiografie«. Sie ist nicht alt, aber schon alt genug. In dem Kapitel »Die Zahl« schreibt sie: »Zahlen und Mengen haben mich als Kind sehr beschäftigt. (…) Eine Frage drehte sich darum, mehrere Ehemänner zu haben; nicht, ob es möglich sei – denn das war es wohl –, sondern unter welchen Bedingungen. Konnte eine Frau mehrere Männer gleichzeitig haben oder immer nur einen nach dem anderen? (…) Und wie viele Männer waren ›angemessen‹? Ein paar, fünf oder sechs? Oder sehr viel mehr, unzählige gar? Wie würde ich damit umgehen, wenn ich groß wäre?«

Das Kind ist groß geworden, zur Frau. Die Frau schreibt: »Bei den größten Sexpartys, an denen ich in den folgenden Jahren teilnahm, machten bis zu 150 Personen mit (nicht alle vögelten, manche sahen auch nur zu); ein Viertel oder Fünftel von ihnen nahm ich, wie es kam – mit den Händen, mit dem Mund, mit der Möse, mit dem Arsch. Ich habe auch mit Frauen gevögelt oder sie gestreichelt, allerdings nicht so häufig. In den Clubs schwankten die Zahlen natürlich je nach Teilnehmern, aber auch je nach Raumnutzung; darauf komme ich noch zu sprechen. Die Zahl der Männer, mit denen ich abends im Bois de Bologne zugange war, ist noch schwieriger zu schätzen. Müsste ich auch jene hinzuzählen, denen [30]ich mit dem Kopf am Lenkrad einen blies oder bei denen ich mich in der Kabine eines Lastwagens auszog? Und müsste ich all die Körper ohne Kopf vernachlässigen, die sich hinter der Wagentür abwechselten und ihre unterschiedlich steifen Pimmel mit wilder Hand wichsten, während die andere aus dem offenen Fenster langte und meine Brust knetete? Neunundvierzig Männern, mit denen ich geschlafen habe, kann ich einen Namen zuordnen und in manchen Fällen auch eine Identität. Jene aber, die sich in der Anonymität verlieren, kann ich nicht zählen. Auch wenn auf den Partys Leute waren, die ich kannte oder wiedererkannte, konnte ich im Durcheinander der Berührungen und bei den schnell aufeinander folgenden Ficks vielleicht die Körper erkennen, oder besser gesagt, deren charakteristische Merkmale, aber nicht immer die Gesichter. Und selbst wenn ich mich an diese Besonderheiten erinnere, muss ich zugeben, dass ich nicht alle kannte; der Kontakt war manchmal sehr flüchtig, es konnte sein, dass ich mit geschlossenen Augen eine Frau an ihren weichen Lippen erkannte, aber nicht notgedrungen an ihren kräftigen Berührungen. Es kam vor, dass ich erst nach dem Fick gemerkt habe, dass es ein Transvestit war. Ich war einer Hydra ausgeliefert.«

Das Buch wird zum Erfolg – nicht weil es den Lesern und Leserinnen etwas Unbekanntes, Überraschendes offenbart, sondern, im Gegenteil, weil es ein Bild des Gewöhnlichen, des Alltags gibt. Die Menschen erkennen sich wieder, wie sie sich vielleicht noch nie wiedererkannt haben. Denn die meisten Bücher sind nicht so übertrieben, also wirklichkeitsgetreu.

Auch die Leser und Leserinnen sind der Hydra ausgeliefert. Nicht nur der Sex-Hydra, auch der Liebes-Hydra. Auch sie leben in einer Welt der Zahlen, des Plurals, der Körper ohne Kopf, der charakteristischen Merkmale.

[31]Auch ihre Wege führen durch einen Bois de Bologne. Auch sie haben Probleme, sich an alle zu erinnern, ihnen Namen und Identitäten zuzuordnen; wenn schon nicht bei allen, die sie besessen, so doch bei allen, die sie einmal begehrt haben. Auch die Partys, auf die sie gehen, sind Sexpartys, führen zum Sex, sind Sexmöglichkeiten. Auch ihre Kontakte sind häufig sehr flüchtig.

Die Menschen fragen sich also: »Kann ich mehrere Partner gleichzeitig haben? Oder nur einen nach dem anderen? Wie viele Partner sind angemessen? Ein paar, fünf oder sechs? Oder sehr viel mehr, unzählige? Was würde ich tun, wenn ich mehr Mut hätte?«

Eine Frau von fünfundvierzig Jahren ist in Südafrika auf Dienstreise. Die Frau hat einen internationalen Beruf (der mehr eine Leidenschaft ist als ein Dienst, weshalb ihre Reise besser eine Leidenschaftsreise heißen sollte, was auch aus einem anderen Grund zutreffender ist, wie sich zeigen wird).

Die Frau sitzt mit zwei anderen Frauen im Café und sagt: »Mit dem Einen kannst du toll reden, der Andere ist toll im Bett, der Dritte ist wirklich zuverlässig. Aber das alles findest du nie in einer Person. Nie!«

Die Frau hat drei Liebhaber. Sie sagt Lover. Sie ist Amerikanerin, lebt in New York. Doch auch wenn sie Deutsche wäre, würde sie das Wort Lover verwenden. Es gibt das Serielle, Flüchtige ihrer Erfahrung wieder.

Der Mann, der toll im Bett ist, lebt in Kapstadt. Die Frau wird ihn in Kürze besuchen. Der Mann, mit dem die Frau reden kann, lebt in Marseille. Und der Mann, der zuverlässig ist, ist aus Zürich. Die Frau reist also nicht nur aus beruflichen Gründen. Die Männer wissen voneinander, zwar nicht von ihrer Funktion, ihrem exklusiven Vorzug, doch von der Existenz ihrer Konkurrenten – richtiger: Komplementäre.

[32]Die Frau erzählt im Café von einem Traum. Die drei Männer sind einer geworden. Der Mann hat das Aussehen von keinem der drei, doch die Frau weiß, er ist alle drei. »Ich weiß nicht warum«, sagt sie, »aber es war kein schöner Traum. Ich fühlte mich beim Aufwachen, als hätte mich jemand tagelang in einen Wandschrank gesperrt. Eine furchtbare Enge. Eigentlich war das mein Traummann. Doch mir kam es vor, als sei ein gigantisches Universum implodiert und zusammengeschnurrt zum Schwarzen Loch.«

Ein Psychoanalytiker berichtet: »Ein 36-jähriger Patient – im Kunstgewerbe als Kaufmann bereits sehr erfolgreich tätig – hatte von zahlreichen Freundinnen kleinere Gegenstände ›archiviert‹ und in einer Kiste, seiner ›Schatzkiste‹ versteckt. Hierin befanden sich also Fotos, Postkarten, Ringe, Spangen, Haarlocken, Tücher, Lippenstifte, und diverse delikate Dinge. Er hatte die Beziehungen zu seinen Freundinnen immer abgebrochen. Seine Vorstellung war, später aus diesen Gegenständen eine große Collage anzufertigen – seine ›unsterbliche Geliebte‹.«

Auch die Menschen, die nicht in der Wirklichkeit mehrere Partner gleichzeitig haben, haben im Bewusstsein mehrere Partner gleichzeitig.

Ein Mann ist noch so jung, dass man ihn kaum einen Mann nennen würde. Er hat neulich mit einer Frau geschlafen, die ihn an eine Marokkanerin erinnert hat, mit der er geschlafen hat, als er siebzehn war.

Davor hat er mit einer Frau geschlafen, die ihn an seine erste große Liebe erinnert hat. Damals war er neunzehn. Er sagt: »Schon seit einigen Jahren erinnert mich jede Frau, der ich begegne, an eine andere Frau, der ich früher begegnet bin. [33]Ich scheine sogar nach Frauen zu suchen, die mich an andere erinnern, die mir früher begegnet sind. Wenigstens fallen mir offensichtlich nur solche Frauen auf. Mittlerweile frage ich mich bei jeder Frau, die ich anziehend finde: Was ist das Vorbild? Was ist das Urbild?«

Der Mann ist erst fünfundzwanzig Jahre alt, aber er ist es gewohnt, die Dinge zu durchdenken und Wörter wie »Urbild« zu benutzen. Er sagt: »Ich habe mit dreißig oder vierzig Frauen geschlafen. Doch tatsächlich gibt es nur fünf oder sechs Urbilder, fünf oder sechs Frauen, an die mich alle anderen erinnern, die ich treffe. Wenn mich eine Frau nicht interessiert, so wahrscheinlich deshalb, weil sie mich an niemanden erinnert. Wenn mich dagegen eine Frau interessiert, vermisse ich in ihr jene, an die sie mich erinnert, die sie aber nicht ist. Ich bin erst fünfundzwanzig Jahre alt. Doch tatsächlich bin ich schon alt. Ich habe meine Kapazität erschöpft.«

Die Menschen, von denen in diesem Buch erzählt wird, haben viele Erinnerungen. Sie haben schon früh eine sexuelle und eine Liebesbiografie. Sie sind in jungen Jahren Greise.

Ein Mann hat seinen Laptop dabei. Während er sich mit der Frau unterhält, die ihm seit einer Stunde in einem Café gegenübersitzt, sieht er immer wieder auf den Bildschirm. Sie erzählt von ihrer Kindheit in Hannover. Sie hört, wie der Zeigefinger seiner rechten Hand über das Touchpad gleitet. Das Café hat drahtloses Internet. Sie sagt: »1983 haben sich dann meine Eltern …« Er schaut unbeirrt auf den Bildschirm. Sie sagt: »Was tust du da eigentlich?« Er sagt: »Ich vergleiche dich.«

Auch Menschen, die ihren Laptop nicht dabei haben, haben ihre Erinnerungen. Sie haben eine drahtlose Verbindung zu ihrem Gedächtnis.

[34]In einem Buch mit dem Titel »Millionen Frauen warten auf Dich« erzählt ein Mann, wie seine Partnersuche im Internet beginnt. »Ich werde es mit der Agentur Udate.com versuchen, schlicht wegen ihrer angeblichen Größe (4,5 Millionen Abonnenten!), und mit DatingDirect, weil sie verspricht, die größte Auswahl von Singles in Großbritannien zu haben.

Der Zugang ist offenbar einfach. Nach wenigen Klicks bin ich eingeloggt. Ich kann schon unter einigen der Frauen ›stöbern‹ (oh, die ist hübsch!) …«

»Eine Menge wohnt anscheinend in meiner Nähe, mitten in London. Ich werde schon ganz aufgeregt, wenn ich nur an sie denke. Das heißt doch, ich brauchte nur um die Ecke zu biegen und könnte mich verlieben, einfach so!

In den nächsten Stunden verschicke ich etwa ein Dutzend E-Mails an eine Auswahl dieser regionalen Schönheiten, diesen Mädels in meinem Städtchen. Innerhalb weniger Minuten sehe ich die erste, die allererste Anzeige oben auf meinem Schirm blinken. Lyonshall, steht da, du hast eine Mail bekommen

»Nach drei Gläsern Kneipenwein erzählt sie doch echt einen schmutzigen Witz …«

»Wir verstehen uns fabelhaft. Und zwar so fabelhaft, dass ich mich fast selbst beglückwünsche, als ich auf dem Klo in den Spiegel schaue. Ich kann es mir gerade noch verkneifen. Dennoch, ich fühle mich saugut. Ich weiß nicht genau, ob das am Wein oder am Abend oder daran liegt, dass ich ein hoffnungsloser Optimist bin, wenn es um Liebe und Leidenschaft geht, aber diese Frau ist anrührend und sexy zugleich. Außerdem hat sie etwas liebenswert Schüchternes an sich … eine gewisse Zurückhaltung, die zu dem Grübchen an ihrem Kinn passt.

Als ich an unseren Tisch zurückgehe, habe ich einen Entschluss gefasst. Es ist zwar unser erstes Date, doch ich mag [35]sie und glaube, sie mag mich auch, und ich werde versuchen, sie zu küssen.«

Die Menschen glauben, Entschlüsse zu fassen. Sie glauben, Möglichkeiten wahrzunehmen. Tatsächlich aber fallen sie auf ihre Möglichkeiten zu wie Steine zu Boden.

Die Freiheit, jemanden zu küssen, ist tatsächlich der Zwang, jemanden zu küssen. Die Menschen, die ihre Freiheit nutzen, müssen sie nutzen. Sie müssen trinken und müssen küssen. Die Geschwindigkeit der Menschen in der Freiheit ist die Geschwindigkeit des freien Falls. Die Menschen tun alles beim ersten Mal. Wie auch der Stein beim ersten Mal zu Boden fällt. Auch er kann nicht warten in der Luft.

Eine Frau und ein Mann haben sich häufiger in der U-Bahn gesehen. Eines Abends begegnen sie sich im Theater. Sie trinken Wein, erzählen sich (wie man so sagt) ihr Leben und beschließen, (wie man so sagt) die Nacht gemeinsam zu verbringen.

Die Frau sagt: »Wir wollen uns nicht einreden, dass wir es auch bleiben lassen könnten. Tatsächlich haben wir keine andere Wahl. Alles, was wir uns sagen können, müssen wir uns jetzt sagen. Was getan werden kann, muss sofort getan werden. Alles, was eine Möglichkeit ist, ist in Wahrheit ein Zwang, ein gesellschaftliches Gesetz – der Wein, das Gespräch, die gemeinsame Nacht. Lass uns gehen.«

Der Mann sagt: »Du hast Recht, gehen wir. Wir können uns ja vom Zwang befreien, indem wir nach der Nacht den Kontakt abbrechen.«

Die Frau sagt: »So wird es sein. Wir werden uns alles geben, sogar die Hoffnung. Dann werden wir uns aus dem Weg gehen. Denn auch das ist ein Zwang, gesellschaftliches Gesetz.«

[36]Man stelle sich vor!

Das Zeitalter der Nichtliebe hat begonnen. Der historische Zenit der Liebe ist überschritten. Kein Mensch wird mehr auf die Dauer lieben, die meisten nicht einmal für die kürzeste Zeit. Alle sogenannte Liebe ist nur noch Restliebe, alle sogenannte Zufriedenheit nur noch Restzufriedenheit.

Die Menschen müssen sich überwinden, mit einem Anderen zusammenzubleiben, sich mit einem Anderen zu bescheiden, es mit einem Anderen auszuhalten. Aber sie wollen sich nicht mehr überwinden. Denn sie sind freie Menschen.

[37]ZWEI

DAS ZEITALTER DER UNENDLICHEN FREIHEIT

Das zweite Kapitel: in dem das Buch wechselt von der Nahaufnahme zur Vogelperspektive; in dem die Epoche geschildert wird, in der die Liebe verschwindet, die Epoche unendlicher Freiheit, unbegrenzter Möglichkeiten; in dem die Hauptfiguren des Buches vorgestellt werden, die freien Menschen; in dem die Freiheit als absolut bezeichnet wird, weil ihr nichts mehr entgegensteht, kein Zwang, keine Regel, keine Gewohnheit; in dem die Geschichte gedeutet wird als Entwicklung von der Einzahl zur Mehrzahl, von der Mehrzahl zur Unendlichkeit – und die Liebe als im Widerspruch zur Zeit; in dem der ewige Dreischritt der freien Menschen erklärt wird: Verlangen, Blockade, endlose Suche; in dem berichtet wird, dass die freien Menschen keine Gesellschaft mehr kennen, nur noch sich selbst; dass sie nicht mehr mit anderen kämpfen, nur noch mit sich selbst; dass sie, wenn sie etwas analysieren, also sich selbst analysieren; in dem von einer Revolution berichtet wird, die infolgedessen kein Mensch bemerkt hat; einer Revolution, die das Lieben unmöglich gemacht hat; die keine Tatsachen geschaffen hat, nur Möglichkeiten; die keine neue Welt geschaffen hat, sondern die Welt hat verschwinden lassen