Kühnel, Franziska Munich Lovers - Du bist meine Welt

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978-3-492-98487-4

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Für Papa, Mama, Christian, Sebastian, Melanie und Tanja – ich liebe euch.

Prolog

Alex

Es gibt Momente im Leben, in denen sieht man einfach rot. Als bekäme man einen burgunderfarbenen Seidenschal über die Augen gelegt. Als blicke man durch ein rötliches Stück Scherbe eines Buntglasfensters in der Kirche. Ich sehe gerade rot. In einer Situation, die unter anderen Umständen, zu einer anderen Zeit, mit anderen Personen völlig harmlos wäre. Aber die gegenwärtige Kombination ist genau der Knackpunkt. Und es passiert mir, verdammt!

»Du verfluchter Bastard«, knurrt mein Vater und hält sich die Nase. Sie blutet und ist gebrochen. Wie mein beschissenes Herz, wenn ich das Blondchen neben meinem Vater sehe, das ihm eine Hand auf die Schulter legt und ihn besorgt mustert. Sie ist die Frau, die er jetzt liebt. Jetzt. Ganze einundzwanzig Tage nach dem Tod meiner Mutter. Neun verschissene Tage, nachdem ihr lebloser, vom Krebs zerfressener Körper unter die Erde gebracht wurde. Aber – und ich glaube, das ist ein sehr wahrscheinliches Aber – er hat sie mit Sicherheit schon vor dem Tod meiner Mutter gepoppt. Sie ist immerhin Krankenschwester in dem Krankenhaus, in dem die beste Frau der Welt ihren letzten Atemzug getätigt hat. Die beiden hatten also genug Kontakt. Genug Zeit, um etwas miteinander anzufangen. Vor den Augen der wichtigsten Person in meinem Leben. Am liebsten würde ich ihn gleich noch mal schlagen. Nicht mehr auf die Nase. Auf den Kiefer oder so. Damit der Schmerz aufhört.

»Vielleicht beruhigen wir uns alle erst mal wieder und setzen uns?«, schlägt Blondie mit aufgesetzt fröhlicher Stimme vor.

»Einen Scheiß werde ich mich beruhigen!«, brülle ich. »Wer glauben Sie eigentlich, wer zur Hölle Sie sind, dass Sie mir sagen können, ich solle mich beruhigen?«

»Alexander, pass auf, was du sagst …«, warnt mich mein Vater. Seine eisblauen Augen funkeln mich bedrohlich an. Bohren sich tief in meine ebenfalls eisblauen Augen. Ich hasse es, dass wir die gleiche Augenfarbe haben. Jede noch so kleine Ähnlichkeit mit ihm macht mich rasend. Denn ich will nichts, wirklich überhaupt nichts, mit diesem Arschloch gemein haben.

»Ich, Vater, rede so mit dieser Frau, wie ich es für angemessen halte«, zische ich und wende den Blick ab. Zurück zu der Frau der Stunde. »Na, wie fühlen Sie sich so? War es schön, meine Mutter zu betreuen und hinter ihrem Rücken mit ihrem Mann zu vögeln? War es schön, ihr jeden gottverdammten Tag dreist ins Gesicht zu lügen? Ihr ein falsches Lächeln zu schenken? Ihr mehr und mehr beim Sterben zu zusehen? Ach, zum Teufel! Ich glaube, so was wie Gewissen kennen Sie noch nicht mal! Das würde nämlich bedeuten, Sie hätten ein Rückgr-«

Das Klatschen einer Handfläche auf bloßer Haut stoppt meine Schimpftirade. Genauer gesagt ist es die Handfläche meines Vaters auf meiner rechten Wange, die mich zum Schweigen bringt. Blondie quiekt erschrocken und bricht anschließend in Tränen aus. Wäre ich nicht so extrem fassungslos, dass mein Vater tatsächlich die Hand gegen mich erhoben hat, würde ich ihr befehlen, damit aufzuhören. Sie ist schließlich die Letzte, die das Recht hat zu flennen.

»RAUS!«, schreit mein Vater hasserfüllt. »Verzieh dich aus meinem Haus und lass dich so schnell nicht wieder blicken.«

»Liebend gern«, gebe ich für mich selbst überraschend ruhig zurück und gehe rückwärts, ihn nicht aus den Augen lassend, in Richtung meines Zimmers. Dort packe ich wahllos ein paar Klamotten, einen Zeichenblock und meine Kohlestifte in eine Sporttasche, nehme eines der Familienfotos von meinem Schreibtisch, reiße den Teil, auf dem mein Vater zu sehen ist, ab, stecke die andere Hälfte in meine Hosentasche, schnappe mir eine Jacke und verlasse ohne ein weiteres Wort das Haus meines Vaters. Weil – sind wir mal ehrlich –, er ist es nicht wert, auch nur ein einziges Geräusch von mir zu hören zu bekommen.

Es wäre besser gewesen, er hätte ins Gras gebissen. Nicht meine Mutter. Denn sie war ein Engel. Der beste Mensch auf der Welt. Eine Frau, die immer nur das Schöne gesehen hat. Wenn ich jemals so sein will wie eines meiner Elternteile, dann wie meine Mutter. Gegen die Augenfarbe, die Gesichtszüge und die Statur – Merkmale, die ich allesamt von meinem Erzeuger habe – kann ich nichts machen. Aber an allem anderen kann ich arbeiten. Ich kann so werden wie meine Mutter. Kann jeden ihrer Charakterzüge in mir weiterleben lassen. Nur eines werde ich niemals tun können. Ich werde meinen Vater nie so lieben können, wie sie es getan hat. Nicht mal annähernd. Das Einzige, was ich diesem Mann entgegenbringen kann, sind Verachtung und Gleichgültigkeit. Mehr aber auch nicht. Soll er doch glücklich werden mit seiner Krankenschwester. Mir kann es egal sein. Ich bin volljährig. Ich bin erwachsen. Ich komme auch alleine klar. Ich brauche weder ihn noch sein zum Himmel stinkendes Geld. Was ich stattdessen brauche, ist ein Plan. Immerhin bin ich im Grunde obdachlos, weil ich ganz sicher nicht vorhabe, jemals wieder zurückzukommen. Diese Aktion hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Klar, ich könnte bei meinem Schulfreund Nils für eine Weile unterkommen. Für ein, zwei Tage vielleicht. Aber was dann?

Seufzend fahre ich mir mit einer Hand durchs Haar, ehe ich die Sporttasche schultere und die Straße entlanglaufe. Momentan brauche ich nur eins. Meine Mutter. Ich muss mit ihr sprechen. Auch wenn sie mir nicht antworten kann. Ich muss mir den Frust von der Seele reden. Auch wenn sie mir nicht wirklich zuhört. Ich muss ihr nahe sein. Auch wenn sie ein paar Meter unter der Erde schläft. Ja, das ist es, was ich gerade am allernötigsten brauche. Und deshalb schlage ich nicht den Weg zu Nils, sondern den zum Friedhof ein.

♥♥♥♥

Ich brauche knapp eine halbe Stunde bis zum Friedhof. Meine Hände sind starr vor Kälte. Meine Nase ist taub. Meine Lippen beben. Es ist Ende November und schweinekalt. Aber ehrlich gesagt ist mir das relativ egal. Von mir aus könnte es minus zehn Grad sein. Nichts und niemand hielten mich jetzt davon ab, zu dem einzigen Ort zu gehen, an dem ich mich zu Hause fühle. Und genauso wenig wird mich keine Temperatur der Welt dazu bringen, meinen Vater um Verzeihung zu bitten, damit ich in einem warmen Bett schlafen kann. Lieber erfriere ich, als dass ich das zulasse. Mein Stolz ist zu groß und die Liebe zu meiner Mutter zu stark.

Ich bahne mir einen Weg durch die unzähligen Gräber, bis ich an das wichtigste von allen gelange. Es ist wunderschön. Es ist übersät mit hübschen, winterfesten Blumen, einem Engel, einem sattroten Weihnachtsstern und einem Weihnachtskranz. Meine Mutter hat die Vorweihnachtszeit geliebt. Noch vor dem ersten Advent hat sie Plätzchen gebacken, das Haus von oben bis unten in ein Winterwonderland verwandelt und Weihnachtslieder vor sich hingesungen. Sie war so glücklich, wenn sie die erste Kerze am Adventskranz anzünden konnte. Genauso wie sie traurig war, wenn es Weihnachten nicht geschneit hat.

»Hallo Mama«, flüstere ich und gehe vor ihrem Grab in die Hocke. »Ich habe leider keine Blumen oder so dabei, weil – na ja, sagen wir, das hier ist ein Spontanbesuch. Hoffentlich macht dich das nicht traurig. Ich will nämlich nicht, dass du traurig bist. Niemals. Da wo du jetzt bist, sollst du immerzu glücklich sein. Du hast es dir verdient.« Lächelnd streiche ich mit einer Hand über die schwarze Inschrift im weißen Marmor.

»Gott, ich vermisse dich so, Mama. Heute ganz besonders. Ich schätze mal, du hast mitbekommen, was dein Mann sich geleistet hat. Wie kann er einfach meine Mama so gegen eine neue Frau ersetzen? Das geht nicht. Nicht jetzt und auch nicht in zwei Monaten oder zwei Jahren. Niemals, verstehst du? Ich habe mir geschworen, so zu werden wie du, nicht wie Papa. Du bist mein Vorbild. Und vielleicht habe ich irgendwann sogar das Glück, eine Frau zu finden, die genauso wundervoll ist wie du. Ich bin mir sicher, die gibt es irgendwo. Und ich glaube, du wirst mir dabei helfen, sie zu finden, oder?« Abermals streiche ich über ihren Namen. Ich schließe die Augen und stelle mir ihr Lächeln vor. Es war immer gutmütig. Voller Liebe. Absolut ansteckend.

Plötzlich landet etwas Kaltes, Nasses auf meiner Hand. Neugierig öffne ich die Augen. Es schneit. Das erste Mal in diesem Jahr. Dicke, strahlendweiße Flocken rieseln vom Himmel hinab. Sie sind wunderschön. Nahezu perfekt. »Sieh nur, Mama. Frau Holle schüttelt endlich ihre Kissen aus«, wispere ich. Ich weiß, stünde sie jetzt vor mir, würde sie mich angrinsen und genau diesen Satz sagen. Sieh nur, Alex. Frau Holle schüttelt endlich ihre Kissen aus. Denn das war immer das Allererste, was sie gesagt hat, wenn der erste Schnee fiel. Jedes Jahr. Seit ich mich daran erinnern kann. Und auch, wenn ich als Jugendlicher immer die Augen verdreht habe, wenn sie den Spruch gebracht hat, habe ich ihn geliebt. Wie alles andere an ihr auch. »Weißt du was, Mama? Ich zeichne dir eine Schneeflocke. Damit du immer eine bei dir hast und nie vergisst, wie sehr du den Schnee liebst.« Mit steifen Fingern ziehe ich den Reißverschluss meiner Sporttasche auf, hole meine Zeichenutensilien raus, schließe die Tasche wieder und setze mich auf sie.

Eine Weile lang studiere ich das Schneegestöber, ehe ich zu zeichnen anfange. Und wie immer, wenn ich zeichne, verliere ich den Bezug zur Realität. Ich verfalle in eine Art Trance. Die Umgebung verschwimmt. Ich höre nichts, außer meinen eigenen Herzschlag und das Schaben der Kohle auf dem Papier. Zeit und Raum verlieren an Bedeutung. Beim Zeichnen gibt es nur mich. Das liebe ich. Das und die Tatsache, dass ich währenddessen nicht nachdenke. Nicht einmal darüber, was ich überhaupt zu Papier bringe.

Weswegen es mich auch nicht überrascht, dass statt einer einfachen Schneeflocke eine Frau, die ein dickes Kissen ausschüttelt, zu sehen ist. Was mich aber wundert, ist, dass diese Frau nicht Frau Holle, sondern meine Mutter ist. Meine wunderschöne Mutter, mit den hellbraunen Haaren, dem seligen Lächeln und den schokoladenbraunen Augen schüttelt auf dem Bild ihr Kissen so kräftig, dass der Inhalt des Kissens in Flocken auf die Erde niedersegelt. Ich weiß nicht warum, aber mir gefällt die Vorstellung, sie wäre ab sofort für den Schnee verantwortlich. Schließlich hat sie ihn immer so sehr geliebt. Er hat sie glücklich gemacht. Genau das, was ich mir jetzt auch für sie wünsche.

Zufrieden reiße ich die Seite aus dem Block und lege sie auf das Grab. Um sie am Davonfliegen zu hindern, lege ich ein paar Steine auf die Ecken des Blattes. Ich weiß, dass es dadurch natürlich nicht vor dem Wetter geschützt ist und bestimmt innerhalb weniger Minuten durchgeweicht sein wird. Aber solange es Schneeflocken sind, die mein Bild verwischen, ist das in Ordnung. Wenn nicht sogar perfekt. »Ich hoffe, es gefällt dir, Mama«, seufze ich. »Schneeheeflöckchen, Weißröckchen, wahann kommst du geschneiiit …«, singe ich leise ihr Lieblingsweihnachtslied und breche anschließend in Tränen aus.

Eins

Emma

Fünf Jahre später

Manchmal gibt es Tage, an denen weiß man einfach, dass sie von morgens bis abends grandios werden. Heute ist so ein Tag. Der Himmel ist wolkenlos. Einfach perfekt. Umso besser, dass heute meine Nachmittagskurse an der Uni spontan entfallen sind und ich mich jetzt schon auf dem Nachhauseweg befinde. Um halb eins. An einem Freitag. Besser ist nur noch, dass ich, dank der entfallenen Kurse, meinen Freund Till besuchen kann, ehe er zur Arbeit muss. Till und ich sind seit zwei Jahren ein Paar. Was, laut unserer Mütter, sowieso vorhersehbar war. Seit der siebten Klasse, als Till mit seiner Familie in unseren Ort gezogen ist, sind wir quasi unzertrennlich. Und irgendwann hat es zoom gemacht, wie meine beste Freundin Vivien immer so schön sagt. Sie zitiert mit Vorliebe Songtexte und vergleicht sowohl ihr als auch die Leben anderer Menschen mit irgendwelchen Liedern. In Tills und meinem Fall ist es 1000 und eine Nacht von Klaus Lage. Mehr als einmal hat sie es in Tills Anwesenheit vor sich hingeträllert und mir verschwörerisch zugezwinkert.

Till weiß von der Bedeutung nichts. Und das ist auch gut so. Er würde es nicht verstehen. Till ist nicht besonders kreativ. Er ist pragmatisch. Aber dafür ist er höflich, verständnisvoll, liebenswert und stets gut gelaunt. Er hilft meiner Mutter beim Abwasch, repariert Kleinigkeiten im Haus und kocht sogar manchmal für uns. Was ihn letztendlich sogar zu seinem Beruf gebracht hat. Er ist Koch in einem kleinen Restaurant. Der Grund, warum wir uns unter der Woche nie sehen und warum der Tag so grandios ist. Für gewöhnlich habe ich nämlich bis um fünf Uni, und er muss ab sechs Uhr arbeiten. Uns bleiben also nur die Wochenenden, an denen wir uns zumindest tagsüber sehen können. Außer heute. Heute kann ich Zeit mit meinem Freund verbringen. Und ich werde jede einzelne Minute davon genießen. Vielleicht sollte ich ihn mit etwas überraschen? Klar, dass wir uns noch sehen, ehe er zur Arbeit muss, wird für ihn schon Überraschung genug sein. Aber ich finde, wenn wir schon mal die Gelegenheit dazu haben, sollten wir die Zeit auch ausgiebig nutzen.

Gedanklich gehe ich jedes Unterwäscheset, das sich in meinem Kleiderschrank befindet, durch, während ich aus München raus, auf die Autobahn und nach Hause in das kleine Dorf fahre, in dem ich aufgewachsen bin. Seit ich fünf Jahre alt bin und meine Eltern sich wegen unüberwindbaren Differenzen scheiden ließen, wohne ich im absolut überschaubaren Örtchen Hattenhofen. Und ich bin froh, dass meine Mutter nach der Scheidung beschlossen hat, wieder aufs Land zu ziehen. In unserem Ort kennt jeder jeden, die Leute sind hilfsbereit, und alles ist irgendwie einfach. Ich bin also ein waschechtes und furchtbar stolzes Dorfkind mit null Sinn für Großstädte. Die paar Stunden, die ich täglich in München verbringen muss, weil ich dort studiere, reichen mir schon. Sicher, man hat etliche Möglichkeiten, um sich zu beschäftigen. Es gibt Geschäfte jeglicher Art in Massen, und an jeder Straßenecke steht mindestens ein Restaurant, Café oder Schnellimbiss. Aber trotzdem ist mir das alles zu unsympathisch. Ich bevorzuge Ruhe und Natur. Einen Ort, an dem ich ungestört in meine Lieblingsbücher eintauchen und alles ausblenden kann.

♥♥♥♥

Als ich vor der Einfahrt unseres Hauses stehe, muss ich lächeln. Es ist ein schönes Haus. Wohnlich und bodenständig. Meiner Mutter und mir geht es hier echt gut. Unsere Mutter-Tochter-WG funktioniert super. Fröhlich steige ich aus meinem Auto, schnappe mir meine Uni-Unterlagen, mache mich auf den Weg nach drinnen. Bevor ich nämlich zu Till fahre, möchte ich noch duschen und mir das Set anziehen, für das ich mich im Laufe der Fahrt entschieden habe. Eine schwarze, mit Spitze besetzte Corsage inklusive passendem Höschen.

Till bevorzugt Spitzenunterwäsche. Außerdem hat er eine Vorliebe für tief ausgeschnittene Tops und Röcke. Nicht gerade das, was ich am liebsten trage, aber solange es Till gefällt, komme ich damit klar. Eine gewisse Vorfreude breitet sich in meiner Brust aus und kribbelt angenehm warm in meinem Bauch, wenn ich daran denke, wie Till mich ansehen wird, wenn ich die Stripperinnen-Nummer für ihn abziehe. Er steht auf solche Sachen. Und ich mag es, wenn er mich ansieht, als hätte er nie etwas Schärferes gesehen. Trotz meiner Makel. Denn ich bin nicht gerade das, was man als schlank bezeichnet, sondern eher pummelig. Doch Till scheint das nichts auszumachen. Etwas, wofür ich ihn noch mehr liebe. In Gedanken bei Till schlendere ich durch den Flur Richtung Treppe, als ich Geräusche aus dem Wohnzimmer höre. Was seltsam ist, da meine Mutter eigentlich noch bei der Arbeit sein müsste. Aber vielleicht geht es ihr nicht gut.

»Mama? Ist alles in …« Der Rest des Satzes bleibt mir wortwörtlich im Hals stecken, als ich sehe, was sich da in unserem Wohnzimmer abspielt. Wie ein dicker, überdimensional riesiger Kloß blockiert das kleine Wörtchen okay meine Stimmbänder.

Keuchend trete ich einen Schritt zurück. Das ist doch wohl ein schlechter Scherz, oder? Ein Albtraum.

Bittere Galle sammelt sich in meinem Hals. Meine Welt beginnt sich zu drehen. Sie geht unter. Der Zorn, der sich in meiner Brust ausbreitet, schubst sie wellenartig hin und her.

»Was zum Teufel SOLL. DIE. SCHEISSE«, kreische ich. Till und meine Mutter schrecken auf und starren fassungslos in meine Richtung. Wäre diese Situation nicht absolut grauenvoll, würde ich angesichts ihrer verdatterten Mienen lachen.

»Emma? Was machst du schon hier? Du hast doch noch Uni«, stammelt meine Mutter.

»Was ich hier mache? Willst du mich verarschen? Die Frage ist wohl eher, was du hier treibst. Vor allem mit wem du es treibst!« Ich lasse meinen Blick zu Till wandern, der mich schockiert anguckt. Er sieht aus, als sähe er ein Fabelwesen oder so.

»Ernsthaft, Till? Was für ein Arschloch bist du eigentlich? Knutschst hier eiskalt mit meiner MUTTER«, schreie ich, schnappe mir den erstbesten Gegenstand, den ich zu fassen kriege, und werfe ihn nach Till. Passenderweise ein Foto von mir und meiner Mutter im Freizeitpark Rust. Es landet auf dem Boden vor den beiden und zerschellt. Till zuckt erschrocken zurück. Er sieht aus großen, schockgeweiteten Augen zu mir auf. Dann klärt sich sein Blick plötzlich. Erkenntnis zeichnet sich in seinem Gesicht ab.

»Emma, lass es mich erklären.« Meine Mutter richtet sich auf. Ihre Wangen sind gerötet.

»Was willst du mir erklären, hä?« Trotzig verschränke ich die Arme vor der Brust. »Dass du mit meinem Freund rummachst? Nein, danke. Kein Bedarf«, füge ich abfällig schnaubend hinzu, mache auf dem Absatz kehrt und renne in mein Zimmer, um meine Habseligkeiten in einen Koffer zu stopfen. Eines ist nämlich definitiv klar. Hier bleibe ich keine einzige Minute länger wohnen.

»Emma, was machst du?«, erkundigt sich meine Mutter mit zittriger Stimme, als ichwenig später mit meinem Koffer, einer Tasche und meinem Rucksack an ihr vorbeimarschiere. »Und wo willst du hin? Zu Vivien?«

Pff, als ob ich so bescheuert wäre, zu meiner besten Freundin zu gehen, von der meine Mutter genau weiß, wo sie wohnt. Und zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich, es wäre anders.

»Das geht dich einen feuchten Dreck an. Ich bin zwanzig Jahre alt und kann machen, was ich will. Lass mich also einfach nur in Ruhe. Mein Exfreund kann dich ja trösten.« Ich werfe ihr noch einen giftigen Blick zu, ehe ich mehr oder weniger erhobenen Hauptes mein ehemaliges Zuhause verlasse. Ich will gerade einfach nur weg. Und zwar so schnell wie möglich.

Auf dem Weg zur nächsten Bushaltestelle zücke ich mein Handy und rufe den Menschen, den ich seit dreizehn Jahren immer nur einmal im Jahr für eine Woche sehe, der meine Studiengebühren bezahlt, sich aber sonst aus meinem Leben raushält, an. Meinen Vater.

»Emma, schön, dass du anrufst! Wie geht es dir?«, flötet mein Vater gut gelaunt, wenn auch etwas überrascht in den Hörer. Verständlich. Wenn wir beide in den letzten Jahren telefoniert haben, dann hat immer er mich angerufen.

»Hey, Papa. Du willst gar nicht wissen, wie es mir geht. Aber sag mal, kann ich bei dir einziehen?« Das Wort Papa schmeckt komisch. Ich benutze es nur sehr selten. Aber ich finde, wenn ich ihn schon frage, ob er mich an der Backe haben möchte, sollte ich ihn vielleicht auch so nennen.

»Warum? Ist irgendwas mit deiner Mutter?«

»Oh, glaub mir, der geht’s super! Also, was ist nun? Kann ich zu dir oder nicht?«

»Natürlich! Wann bist du da?«

Ich bin froh, dass er keine Fragen mehr stellt. Gerade bin ich nämlich nicht in der Lage, sie zu beantworten. Später vielleicht. Aber ganz sicher nicht jetzt.

»Weiß ich noch nicht. Ich ruf dich dann an.«

»Okay, bis dann.«

»Bis nachher. Und danke, Papa«, krächze ich ins Handy und lege schnell auf, bevor mein Vater mitbekommt, dass die zurückgehaltenen Tränen nun ihr Recht fordern.

Während ich auf den nächsten Bus warte, der, so nebenbei bemerkt, erst in fünfzig Minuten kommt, denke ich, dass mein ganzes Leben mich gerade verhöhnt.

Als der Bus zischend vor mir hält, muss ich mich aufraffen, um diesen Schritt tatsächlich zu wagen. Trotz meines abgrundtiefen Schmerzes, der momentan in meiner Magengrube brodelt, fällt es mir doch schwer, diesen Ort zu verlassen. Immerhin bin ich hier aufgewachsen. Ich verbinde schöne Erinnerungen mit diesem Dorf.

Der Fahrer mustert mich amüsiert, als er mich voll beladen vor der Tür stehen sieht.

»Wollen Sie auswandern, hm?«, scherzt er und lacht herzhaft. Wenn er wüsste, wie nah er der Wahrheit ist, würde ihm das Lachen vergehen.

»So in etwa«, murmle ich und hieve meinen Koffer die Stufen rauf. Der Busfahrer beobachtet mich dabei. Hilfsbereitschaft? Fehlanzeige! Okay, jetzt mal im Ernst: Wo ist die Ritterlichkeit geblieben? Was ist mit der Gattung Gentleman passiert? Gibt es die vielleicht nur in Film, Fernsehen und Romanen? Ich meine, meiner derzeitigen Bilanz nach zu urteilen, scheine ich, was Männer betrifft, einfach kein Glück zu haben. Gut. Diese besteht zwar bisher nur aus zwei Personen, aber unterm Strich liegt meine erfolgreiche Beziehungsrate bei minus fünftausend oder so. Markus, meine Sandkastenliebe, hatte mich damals ziemlich unsanft abgeschossen, indem er mir eins mit seiner Schaufel übergebraten, mir den tollen Stein, den er mir geschenkt hat, wieder weggenommen und ihn einem anderen Mädchen geschenkt hat. Und dann noch die Sache mit Till. Der Supergau meines bisherigen Liebeslebens.

Als ich meinen verflucht schweren Koffer endlich oben habe, kaufe ich mir eine Fahrkarte und trolle mich bis ganz nach hinten.

Froh, endlich auf etwas Gepolstertem zu sitzen, ziehe ich mein Handy inklusive Kopfhörer aus meinem Rucksack und scrolle durch meine Playlist. Wäre ich eines dieser superemotionalen Mädchen, die schon fast übertrieben nah am Wasser gebaut sind, würde ich mich wahrscheinlich mit Herzschmerzsongs foltern. Aber so bin ich nicht. War ich noch nie. Ich bin ein Mensch, der dem Leben und den Mitmenschen mit Sarkasmus, dummen Sprüchen, aber auch Optimismus und Gutgläubigkeit begegnet. Ich lache gern, liebe Flachwitze und lebe am liebsten im Moment. Letzteres ist im Grunde sogar das Einzige, was ich wirklich an mir mag. Und was meine Eigenschaften betrifft, sollte ich vielleicht auch eine Sache streichen. Die Gutgläubigkeit. Denn wo die mich hingebracht hat, habe ich heute schließlich gesehen. Okay, man sollte mir vielleicht zugutehalten, dass wohl kein Mensch der Welt automatisch damit rechnet, vom Partner mit der eigenen Mutter betrogen zu werden. Apropos. Mich wundert es ehrlich gesagt schon, dass weder meine Mutter noch Till mir eine Nachricht geschickt haben. Zwar haben beide versucht, mich telefonisch zu erreichen, aber ich bin nicht rangegangen. Scheint, als hätten sie die Message, dass ich nicht mit ihnen reden will, verstanden.

Seufzend drücke ich auf den Playbutton und gebe mich der Stimme von Michael Stipe, dem Sänger der Band R.E.M hin. Till hat nie verstanden, was ich an dieser Gruppe, beziehungsweise generell an Rockmusik finde. Er war mehr der Typ Bass, banale Lyrics, nackte Frauen und Autos im dazugehörigen Video. Das war auch einer der wenigen Gründe, warum wir uns des Öfteren in die Haare gekriegt haben. Wenn ich Till zum Beispiel irgendwo abholen musste, weil er sich mal wieder total abgeschossen hatte, wollte er einfach nicht damit klarkommen, dass in meinem Auto meine Musik lief. Er hatte sie immer als »ohrenkrebsfördernd« bezeichnet und anschließend so lange an meinem Smartphone herumgewerkelt, bis er es geschafft hatte, den Player auszuschalten. Danach hatte er immer ein »Viiiiiieeeeeel besser« vor sich hin gelallt und war keine fünf Minuten später in einen komatösen Schlaf gesunken.

Und ich, die fürsorgliche Freundin, habe es ihm natürlich jedes Mal durchgehen lassen und mir die ganze Fahrt über eingetrichtert, dass ich den Kerl liebe, ihm nicht an die Gurgel gehen und die Musik auch nicht wieder anmachen werde, damit er selig vor sich hin schnarchen konnte. Was das angeht, sollte ich es vielleicht als positiv vermerken, nicht mehr seine Freundin zu sein. Ab sofort kann ich hören, was ich will, wo ich es will und wann ich will. Mit diesem Gedanken drehe ich die Lautstärke gleich noch mal einen Ticken auf und schaue aus dem Fenster. Verabschiede mich von den vielen Feldern und Wiesen. Tue alles, um nur nicht an die Szene im Wohnzimmer denken zu müssen.

Als der Bahnhof in Sicht kommt, raffe ich meine Sachen zusammen und begebe mich zur Tür. Und wieder beobachtet mich der Busfahrer amüsiert dabei, wie ich mich mit meinem Gepäck beim Aussteigen abmühe. Arschloch. Auf sein geträllertes »schöne Weiterreise« erwidere ich nichts und schleppe mich stattdessen direkt zum nächsten Fahrkartenautomaten, ziehe mir ein Ticket und mache mich auf den Weg zum Bahnsteig. Beim Blick auf die Anzeigetafel stöhne ich genervt auf. Der nächste Zug kommt erst in zwanzig verdammten Minuten. War ja klar. Wäre ja auch zu schön gewesen, würde meine Reise in ins Neuland bequemer werden.

Gefühlte tausend Stunden später betrete ich endlich die Wohnung meines Vaters. Ich bin heilfroh, dass er noch auf der Arbeit ist. So habe ich zumindest die Möglichkeit, mich in Ruhe zu akklimatisieren. Außerdem bin ich letztendlich doch ganz dankbar dafür, dass ich meinen Vater die letzten Jahre über immer eine Woche lang besuchen musste. Das bedeutet nämlich, dass ich ein eigenes Zimmer habe und nicht auf dem Sofa pennen muss. Mein Zimmer hier ist zwar etwas spartanisch eingerichtet, aber ich sollte mich wohl nicht beklagen. Schließlich hat mich mein Vater ohne Weiteres bei sich aufgenommen. Klar, ich bin seine Tochter, und er ist im Grunde auch ein recht guter Vater, aber wir stehen uns nicht besonders nahe. Was will man auch erwarten, wenn man sich so selten sieht? Die dreizehn Wochen, die ich insgesamt bei ihm verbracht habe, konnten unser Vater-Tochter-Verhältnis nicht vertiefen.

Sicherlich bin ich zum Teil auch selbst schuld, dass es so ist. Ich habe mich schließlich nie sonderlich darum gekümmert, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Früher, weil ich Angst hatte, meine Mutter könnte böse auf mich werden, weil sie nicht wollte, dass ich zu viel Kontakt mit meinem Vater habe. Und als ich älter wurde, hatte ich andere Dinge im Kopf.

Jetzt allerdings will ich an unserem Verhältnis arbeiten. Und nicht nur, weil meine Mutter für mich gestorben ist, sondern weil ich ihn tatsächlich kennenlernen will. Während der Fahrt hierher hatte ich nämlich mehr als genug Zeit, über das künftige Zusammenleben mit meinem Vater nachzudenken. Und dabei ist mir zum ersten Mal in meinem Leben aufgefallen, dass ich ihn in all den Jahren doch irgendwie vermisst habe. Wir haben so vieles verpasst. Und auch, wenn er und meine Mutter anscheinend recht unschön auseinandergegangen sind, hat er mir nie etwas getan. Im Gegenteil. Er bezahlt mein Studium, hat sich immer darum bemüht, den Kontakt zu mir zu halten, und bietet mir, ohne Wenn und Aber, Unterschlupf. Er ist ein guter Mann. Und ich frage mich, was meine Mutter dazu veranlasst hat, sich von ihm zu trennen. Unüberwindbare Differenzen könnten alles sein. Mit einem Mal schäme ich mich, nie genauer nachgehakt zu haben, was es damit auf sich hat. Es wird also wirklich mal Zeit herauszufinden, was zwischen den beiden vorgefallen ist.

Ein plötzliches Piepen meines Handys reißt mich aus meinen Überlegungen. Die Nachricht ist von meiner Mutter.

Emma, Schatz, wo bist du? Vivien sagt, sie weiß nicht, wo du dich aufhältst. Sie macht sich Sorgen. Till macht sich Sorgen. ICH mache mir Sorgen. Wir müssen doch darüber reden, Spatz! Bitte antworte und komm nach Hause.

 

Die Wahrscheinlichkeit, dass ich lese, was sie mir zu sagen hat, ist größer, das hat sie wohl endlich kapiert. Allerdings bedeutet das nicht, dass ich auch nur im Entferntesten auf ihre Nachricht reagiere. Eigentlich hätte ihr auch das klar sein müssen. Ich schließe den Chat mit meiner Mutter und öffne stattdessen den mit meinem Vater.

Hey, Papa. Bin jetzt in der Wohnung. Sollte meine Mutter bei dir anrufen, könntest du dann bitte so tun, als wüsstest du nicht, wo ich bin? Ich will sie nicht sehen.

 

Da ich so schnell nicht mit einer Antwort rechne, stopfe ich das Handy zurück in die Hosentasche und beschließe, mich erst mal einzurichten. Was im Klartext nichts anderes heißt, als dass ich meinen Koffer in mein Zimmer bringe und mir etwas Bequemeres anziehe. Wenn ich schon niemandem mehr gefallen muss, kann ich es mir auch getrost in meiner Jogginghose und einem XXL-Hoodie gemütlich machen.

Gerade als ich in meine Jogginghose schlüpfe, piept mein Handy erneut. Und gleich darauf noch mal. Ich werfe einen Blick auf das Telefon, das auf meinem Bett liegt, und seufze. Die erste Nachricht ist von Vivi. Meine Mutter hat also nicht gelogen. Sie war wirklich bei meiner besten Freundin, um sie über meinen Verbleib auszuquetschen.

Wo, in drei Teufels Namen, steckst du? Du kannst doch nicht einfach abhauen, ohne auch nur ein Wort zu mir zu sagen!!! –.-

 

Wenn Vivi mit Emoticons oder einer Satzzeichentirade anfängt, um ihre Gefühle zu verdeutlichen, ist sie wirklich sauer. Aber wenn sie wüsste, warum ich abgehauen bin, würde sie ihre Wut auf Till und meine Mutter kanalisieren. Ihr könnte ich also sagen, wo ich stecke und wieso ich dort bin. Vivi wird dichthalten. Eher würde sie Fleisch essen, als dass sie meiner Mutter oder irgendwem sagt, wo ich bin. Und Vivi ist Vollblut-Veganerin! Jedoch nicht mehr heute. Heute will ich eigentlich nur noch meine Ruhe haben.

Ich tippe ein schnelles

Können wir morgen ausführlich darüber reden?

 

und widme mich anschließend der Antwort meines Vaters.

Super, bin auch bald zu Hause. Ich weiß zwar nicht warum, aber okay, ich werde deiner Mutter nichts sagen.

 

Mir fällt ein Stein vom Herzen. Schön zu wissen, dass wenigstens auf eines meiner Elternteile Verlass ist.

Danke, Papa. Ich erkläre dir alles später.

Natürlich Schätzchen. Bis gleich.

 

Ich schicke ihm einen Thumbs-up-Smiley und werfe mein Handy zurück auf die Matratze. Jetzt heißt es warten. Und während ich das tue, mache ich mir einen Tee, verschanze mich anschließend auf dem Balkon und heiße mein neues Leben willkommen. Vielleicht, ganz vielleicht, sollte ich das Ganze zumindest etwas positiv sehen. Denn wie Harrison Ford einmal sagte: Große Veränderungen in unserem Leben können eine zweite Chance sein. Und möglicherweise ist diese Veränderung genau das. Eine zweite Chance. Ein zweites Leben, mit neuen Menschen, in einer neuen Welt.

Zwei

Alex

Wie des Öfteren seit rund fünf Jahren schiebe ich die Gedanken an meine Mutter und wie enttäuscht sie von mir wäre, beiseite, während ich mich nach einer neuen – wie ich es nenne – Gastgeberin umsehe. Ich lehne an der Mauer eines stockdunklen Geschäftes und lasse meinen Blick über jedes weibliche Gesicht wandern, von dem ich glaube, dass es aufgeschlossen genug ist. Dass die Persönlichkeit, die hinter der Fassade schlummert, so offenherzig ist, dass sie mich mit offenen Armen empfängt. Mich mit zu sich nach Hause nimmt. Mich in ihr Bett lässt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn jedes Mal, wenn mir alles zu viel wird, mache ich mich auf die Suche nach einer Frau, die mich, gegen sexuelle Gefälligkeiten, bei sich übernachten lässt. Nur damit ich meine Nächte nicht in einem Zimmer verbringen muss, das vor besagten fünf Jahren meine einzige Rettung vor der Obdachlosigkeit war.

Diese Zwangswohngemeinschaft ist gelinde gesagt einfach nur ätzend. Die Wohnung, ein Zweizimmer-Schuhkarton, der allein schon bautechnisch eine Generalüberholung gebrauchen könnte, ist im Grunde nicht mehr als eine versiffte Müllhalde. Meinen Mitbewohner Georg kann man wohl am besten als dauerbetrunkene, zockende, nichtsnutzige Nachteule beschreiben. Und dann wäre da noch ich. Ein dreiundzwanzigjähriger Taugenichts, der keinen Plan hat, sich irgendwie von Tag zu Tag hangelt und sich wortwörtlich durch halb München schläft. Nichts, worauf man stolz sein kann. Außer man bedenkt, dass ich es fünf Jahre lang geschafft habe, nicht zu verhungern, mir nicht irgendwelche Krankheiten einzufangen und keine kriminelle Scheiße zu bauen. Ja, darauf könnte ich stolz sein. Bin ich aber nicht. Im Gegenteil. Ich bin maßlos enttäuscht von mir und meinen Lebensumständen. Und alles nur, weil mein Erzeuger sich ein junges Flittchen angelächelt hat, obwohl er meine Mutter hatte. Natürlich hätte ich vor ihm zu Kreuze kriechen und eine Entschuldigung heucheln können, um zumindest einen angenehmeren Schlafplatz zu haben und eine Ausbildung machen zu können.

Das wären drei Jahre gewesen. Drei Jahre, in denen ich mir genug Geld hätte auf die Seite legen können, um mir damit anschließend eine eigene Wohnung leisten zu können. Drei Jahre, die durchaus sinnvoll, vernünftig und sicher gewesen wären. Drei Jahre, die den Grundstein meiner Zukunft gelegt hätten. Allerdings wären diese drei Jahre auch die unerträglichsten, beschämendsten und verräterischsten für mich gewesen. Ich bin kein Mensch, der um Verzeihung bittet, wenn es keinen Grund dazu gibt. Ich bin kein Heuchler. Ich stehe zu meiner Meinung. Bin stur. Eine Kämpfernatur. Ein Optimist. Ein Träumer. Aber auch ehrlich und loyal gegenüber den Menschen, die mir sehr am Herzen liegen. Das alles macht mich aus. Es sind meine Tugenden und Schwächen zugleich. Es sind die Charakterzüge, die ich von meiner Mutter habe.

Sie war ebenfalls eine Träumerin. Sie hat auch immer alles mit Optimismus betrachtet. Ihr Glas war stets halbvoll. Egal, ob das überhaupt möglich war oder nicht. Meine Mutter war eine Kämpferin. Die ehrlichste Person, die ich kenne. Und sie stand immer zu den Leuten, die sie liebte. Ob berechtigt oder nicht. So war sie. Und so will ich auch sein. Vieles davon hat sie mir vererbt. Einiges musste ich mir erst antrainieren. Den Kampfgeist zum Beispiel.

Nicht nur einmal in den vergangenen fünf Jahren habe ich darüber nachgedacht, meinem Leben ein Ende zu setzen. Ein tiefer Schnitt in die Pulsadern wäre so viel einfacher, als weiterhin in dieser Bruchbude hausen zu müssen und absolut keine Perspektive zu haben. Wäre. Aber Selbstmord ist eine Schwäche. Und ich will nicht schwach sein. Ich will, genau wie meine Mutter, dem Schicksal in die Augen blicken und kämpfen. Spiel, Satz und Sieg. Darauf habe ich es abgesehen. Und ich glaube, mit meinen eigenen Charakterzügen, jene die ich nicht von meiner Mutter habe, sondern schon von Geburt an in mir trage, könnte ich es irgendwann schaffen.

Mein Sturkopf wird mir helfen. Da bin ich mir sicher. Genauso wie ich mir sicher bin, dass ich heute noch eine Übernachtungsmöglichkeit finde. Auch wenn ich spät dran bin. Später als eigentlich ratsam. Aber ich hatte zu tun. Mehr als sonst. Erst musste ich bei einer alten Katzenlady, die wirklich jedes Klischee erfüllt, um so bezeichnet zu werden, den Garten von Unkraut befreien, um mir die fünfzig Euro zu verdienen, mit denen ich die nächste Woche über Essen kaufen und von denen ich zwanzig Euro für den nächsten Mietanteil auf die Seite legen will.

Der zweite Grund, warum ich heute spät dran bin, ist, dass ich etwas länger als gewöhnlich am Grab meiner Mutter war. Ich gehe sie tagtäglich besuchen. Und an Tagen, an denen ich irgendwelche Gärten gesäubert habe, bringe ich ihr sogar Blumen aus diesen mit und erzähle ihr davon. Heute waren es Pfingstrosen. Außerdem hatte ich meiner Mutter einiges zu berichten. Und es fiel mir unsagbar schwer, irgendwann damit aufzuhören. Doch zum einen schließt der Friedhof um acht und zum anderen will ich unbedingt woanders schlafen. Ich kann heute einfach nicht nach Hause. Nicht, wenn Georg Besuch hat. Denn ich kann seine Freunde absolut nicht leiden. Nicht nur, dass sie jeden Quadratmeter der Wohnung wieder verdrecken, nachdem ich wenigstens versucht habe, etwas Ordnung in das Chaos zu bringen. Nein, sie lärmen, wollen mich jedes Mal in ihren Zockerkreis reinziehen und sorgen dafür, dass der Zigarettenqualm wie Nebel über dem Boden hängt. Der Grund, warum ich meine mickrigen Habseligkeiten auch stets in meiner Sporttasche mit mir rumtrage. Alles andere wäre mir zu heikel. Mit einem frustrierten Seufzen blicke ich mich abermals um.

Am Wochenende ist die Auswahl an weiblichen Personen zwar größer, gleichzeitig aber auch wieder nicht. Zu später Stunde sind die meisten Frauen geistig nicht mehr ganz zurechnungsfähig. Und so sehr ich auch eine andere Schlafoption möchte – auf eine Frau, die komplett weggetreten ist, habe ich keine Lust. Ganz so verzweifelt bin ich dann doch nicht.

Die weibliche Auswahl des Abends ist ein bunter Mix aus blond, brünett, schwarz- und rothaarig, dunkel- und hellhäutig, klein und groß, dick und dünn und jung und alt. Einige Frauen sind ganz klar vergeben und somit schon mal raus aus dem Rennen. Andere wiederrum sind eindeutig Single und stehen in der engeren Auswahl. Allerdings ist bisher keine dabei, bei der ich zu hundert Prozent sagen kann: Die ist es! Ich suche also weiter.

Und dann sehe ich sie.

Seit zwei Wochen sitzt jeden Abend eine junge Frau auf einer Parkbank und starrt, tief in Gedanken versunken, an einen Baum. Sie trägt stets Jeans, ein Top und eine Sweatjacke und hat immer ein Buch auf dem Schoß liegen, das sie aber nie beachtet. Der Baum scheint interessanter zu sein. Oder ihre Gedanken tiefer. Sie wirkt verloren. Traurig. Und irgendwie auch wütend. Aber sie ist hübsch. Dicke, braune Locken, ebenmäßige Gesichtszüge und ein voller Schmollmund. Vor allem aber ist sie sehr – kurvig. Sie hat einen kleinen Bauch und eine beachtliche Oberweite. Mehr kann ich von meiner Position leider nicht sehen. Aber ich wüsste gern ihre Augenfarbe. Allerdings müsste ich, um diese zu erfahren, zu ihr rübergehen. Doch dafür habe ich keine Zeit. Ich brauche einen Schlafplatz. Und diese Frau scheint mir nicht geeignet dafür. Man kann es Instinkt nennen, aber ich weiß einfach, dass sie keine dieser Frauen ist.

Dennoch kann ich heute den Blick nicht von ihr abwenden. Ihre Erscheinung berührt etwas ganz tief in mir. Weckt ein Gefühl, das ich seit mindestens fünf Jahren nicht mehr gespürt habe. Ich will sie beschützen. Ihr die Traurigkeit nehmen. Versuchen, sie aus den Fängen der Wut zu befreien. Ohne darüber nachzudenken, mache ich einen Schritt nach vorn. Und noch einen. Ein dritter folgt. Es ist, als hätte ich keine Kontrolle mehr über meine Beine. Das ist verdammt schlecht. Denn wenn ich mich zu ihr setze, verpasse ich meine Gelegenheit, eine Frau für heute Nacht zu finden. Aber ich kann nichts dagegen tun. Sie ist ein Magnetpol. Und ich bin der Gegenpol, der auf sie zuschießt.

»Das ist ein wirklich schöner Baum«, bemerke ich, als ich mich letztendlich neben ihr niederlasse. Sie blinzelt daraufhin mehrere Male und beäugt mich misstrauisch. So als würde sie abschätzen, ob dieser Satz eine billige Anmache sein soll oder ob ich verrückt bin oder so. Ich erwidere ihren Blick und stelle dabei fest, dass sie braune Augen hat. Sanfte, haselnussbraune Augen, die, wegen ihres Misstrauens mir gegenüber, momentan eine gewisse Härte ausstrahlen. Ich schenke ihr ein zaghaftes Lächeln, um ihr zu zeigen, dass ich gute Absichten habe. Ein Lächeln, das eher als angedeutet zu beschreiben ist. Mein Aufreißergrinsen, wie es Nils zu Schulzeiten immer genannt hat, wird bei ihr nicht fruchten. Das kann ich mir getrost für andere Frauen aufheben.

Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, scheint sie durch ihre unverhohlene Musterung zu einem Ergebnis gekommen zu sein. Eines zu meinen Gunsten. Ihre Gesichtszüge entspannen sich, ihre Augen werden weicher. Und ich muss mich korrigieren. Sie hat braun-grüne Augen. Wirklich hübsch. Es passt irgendwie zu ihr.

Ich fasse mir ein Herz. »Okay, ich muss dich das jetzt einfach fragen: Was ist an diesem Baum so besonders? Ich meine, er ist schön, aber sonst…?« Möglicherweise bin ich mit meiner Frage zu direkt, aber ich will das unbedingt wissen. Seit zwei Wochen schon. Sie legt den Kopf etwas schräg, zieht eine Augenbraue hoch und sieht mich neugierig an.

»Du bist echt seltsam, das weißt du schon, oder? Normale Menschen hätten zuerst nach meinem Namen gefragt und sich ebenfalls vorgestellt. Aber okay, Mr. Noname. Ich beantworte dir deine Frage.« Sie schmunzelt. »Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, was an dieser Eiche so besonders ist. Vielleicht erzählt sie mir ja etwas über den Sinn des Lebens? Vielleicht bete ich sie auch an, weil ich eine strenggläubige Baumanbeterin bin? Vielleicht finde ich es aber auch einfach nur lustig? Wer weiß? Es gibt viele Möglichkeiten, diese Frage zu beantworten. Such dir die aus, die dir am besten gefällt«, fügt sie achselzuckend hinzu und sieht mich verschmitzt an. Ein verspieltes Funkeln glitzert in ihren Augen.

»Strenggläubige Baumanbeterin? Wirklich? Und du behauptest, ich sei seltsam?« Ich lache auf.

»Ich habe nie behauptet, dass ich es tatsächlich bin«, korrigiert sie mich. »Du kannst es dir lediglich aussuchen. Also, wenn du dich dafür entscheidest, bist du seltsam.«

»Und ich habe nie behauptet, dass ich mich dafür entschieden habe. Ich war einfach nur überrascht. Gibt es so was wirklich?«

»Keine Ahnung. Wäre aber durchaus möglich. Ich meine, es gibt auch Leute, die an ein fliegendes Spaghettimonster glauben. Warum nicht auch an einen Baum?«, kontert sie frech und lacht leise.

»Touché.« Beeindruckt von ihrer Denkweise strecke ich ihr meine Hand entgegen. »Ich bin Alex. Ein seltsamer Typ, der definitiv nicht an fliegende Spaghettimonster glaubt, keine Bäume anbetet und immer erst irgendwelche Fragen stellt, ehe er sich nach dem Namen seines Gegenübers erkundigt beziehungsweise sich selbst vorstellt.«

Ein strahlendes Lächeln umspielt ihre Lippen, als sie ihre Hand in meine schiebt und sie drückt.

»Ich bin Emma. Eine Frau, die seltsame Typen, die definitiv nicht an fliegende Spaghettimonster glauben, keine Bäume anbeten und immer erst irgendwelche Fragen stellen, ehe sie sich nach dem Namen ihres Gegenübers erkundigen beziehungsweise sich selbst vorstellen, magisch anzieht«, wiederholt sie meine Worte und bringt mich damit zum Lachen.

»Also Emma, die eine gewisse Gattung von Typen magisch anzieht, ich gehe jetzt einfach mal davon aus, dass du es schlichtweg lustig findest, diese Eiche zu betrachten. Trotzdem frage ich mich, warum es so lustig ist. Ich jedenfalls kann mir spaßigere Freizeitbeschäftigungen vorstellen.«

»Die da wären?«

»Eine Unterhaltung mit mir zum Beispiel.«

»Du findest dich also unterhaltsam, ja?« Sie zieht die Stirn kraus und mustert mich spöttisch.

»Aber sicher doch«, gebe ich überzeugt zurück und zwinkere ihr zu.

»Beweis es!«

»Kein Problem.« Achselzuckend lehne ich mich zurück und fixiere ihren Blick. »Weil du so viel Spaß an Bäumen hast, habe ich sogar einen Witz, der dir bestimmt gefällt.«

»Lass hören.«

»Was wächst in der Erde und stinkt?«

Emma zuckt leicht mit den Achseln. Ihre vollen Lippen kräuseln sich. Sie ahnt, dass dieser Witz ein Flachwitz ist, und findet auch noch Gefallen daran.

»Eine Furzel.«

Einige Sekunden blickt Emma mich einfach nur an, ehe sie lacht und den Kopf schüttelt. Sie hat ein süßes Lachen. Es ist irgendwie ansteckend. Und ich freue mich, dass sie so reagiert. Denn genauso habe ich reagiert, als man mir den Witz erzählte.

»Ich muss gestehen – der war echt gut. Auch wenn er extrem flach war.« Sie kichert.

»Mach’s besser«, fordere ich sie heraus, verschränke die Arme vor der Brust und grinse provokativ.

»Nichts leichter als das«, meint sie locker, während sie ihre Position etwas verändert. »Also gut. Was steht bei einem Mathematiker auf dem Grabstein?« Sie wartet einige Sekunden, ehe sie den Witz vollendet: »Damit hat er nicht gerechnet!«

Jetzt bin ich es, der lacht. Ich nicke ihr anerkennend zu und rutsche ebenfalls etwas auf der Bank herum, um es bequemer zu haben. Ich habe nämlich das dumpfe Gefühl, dass das hier – dieses Geplänkel – noch länger dauern wird. Emma hat einen tollen Sinn für Humor und scheint Herausforderungen zu mögen. Und wer wäre ich, würde ich darauf nicht eingehen? Auch wenn mir wirklich die Zeit davonläuft. Aber das ist es mir allemal wert. Also erzähle ich ihr den nächsten Witz. Und sie kontert wiederrum mit einem anderen. Wir battlen uns eine ganze Weile mit jedem Sparwitz, den wir kennen. Wobei jeder versucht, den anderen zu überbieten. Und ich muss gestehen, dass ich schon sehr lange nicht mehr so viel gelacht habe.

Ich kenne Emma kaum. Bis auf ihren Namen, ihr Gesicht und ihre Vorliebe für banale Witze habe ich keine Ahnung, wer da eigentlich neben mir sitzt. Und doch habe ich mit ihr mehr Spaß als mit den meisten Leuten, die ich wirklich richtig kenne. Das ist zwar irgendwie merkwürdig, aber auch verdammt großartig. So frei und unbeschwert fühle ich mich sonst nur, wenn ich meiner Mutter von meinem Tag erzähle. Emma scheint irgendwas an sich zu haben, was mich lockermacht. Was, weiß ich nicht. Aber ich werde es herausfinden. Irgendwann.

Ich bin gerade dabei, ihr den x-ten, bescheuerten Blondinenwitz zu erzählen, als plötzlich ihr Handy klingelt. Seufzend zieht sie es aus ihrer Jackentasche, wirft einen raschen Blick auf das Display, legt die Stirn in Falten und schiebt es wieder in die Tasche zurück.

»Willst du nicht rangehen? Mir macht das nichts aus.«

»Nein«, antwortet sie ernst. Ihre Gesichtszüge verhärten sich. Ihre Lippen bilden eine gerade Linie. Wer auch immer dieser Anrufer ist, er hat sich bei Emma ziemlich unbeliebt gemacht. In ihren Augen brodelt eine Wut, die ich schon sehr oft zu sehen bekommen habe. Jedes Mal, wenn ich mein Spiegelbild betrachte und mir der Ähnlichkeit mit meinem Vater bewusst werde, tritt die gleiche Wut in meine Augen und verhärtet meinen Blick.

Emma merkt, dass ich sie beobachte, und dreht deshalb den Kopf zur Seite, sodass ihr Gesicht im Schatten ist.

»Willst du darüber reden?«, frage ich vorsichtig.

Emma schüttelt stumm den Kopf.

»Ich bin ein guter Zuhörer«, versuche ich es erneut. Ich weiß nicht, warum ich sie so dränge, aber irgendwas sagt mir, dass sie zwar darüber reden will, sich jedoch nicht traut. Außerdem will ich es unbedingt wissen.

»Mag ja sein, dass du ein guter Zuhörer bist. Aber bist du auch ein guter Verlierer?«, schnaubt Emma.

»Wie meinst du das?« Etwas irritiert von ihrer Frage, lehne ich mich vor und warte auf ihre Antwort. Zeitgleich dreht sie ihren Kopf wieder in meine Richtung. Jetzt sitzen wir fast Nase an Nase. Ihre Augen bohren sich tief in meine. Sie sind kalt, hart, aber auch gefüllt mit Schmerz. Nichts ist mehr von der Emma übrig, die noch vor ein paar Minuten neben mir lungernd herumgealbert und gelacht hat. Ich schlucke und lehne mich wieder zurück. Gebe ihr eine gewisse Distanz. Trotzdem halte ich ihren Blick fest.

»Wenn ich dir diesen Witz erzähle, hast du verloren. Er ist nämlich wirklich gut. Unfassbar gut sogar«, antwortet sie zynisch.

»Schieß los. Ich kann mit Niederlagen umgehen.« Ich versuche, so locker wie möglich zu klingen. Obwohl ich ahne, dass das, was sie mir gleich erzählen wird, kein Scherz ist. Dass das der Grund für ihr Verlorensein ist.

»Also schön, wie du willst. Dann stell dir mal vor, du bist in einer glücklichen Beziehung. Stell dir vor, du kommst früher als sonst von der Uni nach Hause, weil sich das spontan ergeben hat. Stell dir vor, du freust dich überdimensional, noch Zeit mit deinem Freund verbringen zu können, mit dem du zwar glücklich bist, den du aber sehr selten siehst. Stell dir vor, du kommst nichtsahnend nach Hause und findest deine Mutter und besagten Freund miteinander knutschend vor«, spuckt sie mir die Geschichte quasi vor die Füße. In ihren Augen schimmern Zornestränen, die sie eilig wegzublinzeln versucht. Ihre Wangen sind leuchtend rot. Ihre Brust hebt und senkt sich angestrengt. Ihre Hände zittern wie Espenlaub. Sie sieht aus wie nicht von dieser Welt.

Ich weiß nicht warum, aber irgendwas drängt mich dazu, ihre Hände in meine zu nehmen. Und ich weiß schon gar nicht warum, aber Emma lässt es geschehen. Sie krümmt leicht ihre Finger, sodass ich sie mit meinen Händen umschließen kann. Beide sagen wir kein Wort. Wir sehen uns einfach nur an. Hängen den eigenen Gedanken nach. Verarbeiten das Geschehene. Und öffnen letztendlich, ohne es zu wissen, für den jeweils anderen das Tor zu unseren Seelen.

Drei

Emma