Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

Nachwort

 

Marion Feldhausen

Der Himmel
so rot

Kriminalroman

CRiMiNA

 

 

ISBN (eBook) 978-3-89741-939-1
ISBN (Print) 978-3-89741-443-3

© 2020 eBook nach der Originalausgabe

Originalausgabe in CRiMiNA.

CRiMiNA ist ein Imprint des UIrike Helmer Verlags, Roßdorf bei Darmstadt.
© 2020 Copyright Ulrike Helmer Verlag, Roßdorf
bei Darmstadt
Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Atelier KatarinaS / NL
unter
Verwendung des Fotos »Lerato« © Emoji_photocase.de

Ulrike Helmer Verlag
Blütenweg 29, 64380 Roßdorf b. Darmstadt
E-Mail: info@ulrike
-helmer-verlag.de

www.ulrike-helmer-verlag.de

 

 

Obwohl sich »Der Himmel so rot« mit realen Verbrechen beschäftigt:

Dieses Buch ist ein Roman, eine Fiktion.

 

1

Duisburg

»Du hast da was

Sofia lächelt unfreundlich und deutet mit dem Finger auf das Hemd von Staatsanwalt Roland Hecht. Er schaut hoch, dann an sich herunter.

»Mist«, sagt er und rennt ins Bad. Hecht, einer der drei Staatsanwälte für Kapitalsachen in Duisburg, hat heute einen langen Verhandlungstag beim Landgericht und turnt dabei gerne mit offenem Talar vor seinem Publikum herum.

Als er wiederkommt, ist der Schaden behoben.

Bevor er sich wieder in die Süddeutsche vertieft, fragt er: »Magst was ab?«, doch als sie nickt, guckt er schon wieder in die Zeitung und sieht es nicht. »Na

»Ja, ich will, Menschenskind!«, sagt sie aufgebracht.

Er hält ihr die Panoramaseite hin. Ihr reicht ein kurzer Blick.

»Ich will nicht wissen, was der Truthahn über dicke Frauen gesagt hat

»Truthahn?«, fragt Hecht.

»Dieser alte Zopfträger mit der Halskrause

»Hm«, sagt Hecht, blättert vor, winkt kurz darauf mit der Seite drei und vertieft sich wieder in die Tagespolitik.

»Nicht nur, dass sich unsere Dialoge aufs Allernötigste beschränken und du dich ständig mit irgendwas bekleckerstdein Interesse an mir ist offensichtlich auf dem Nullpunkt angekommen. Hecht! Hörst du mir zu

Stille.

Sofia greift nach der Seite und feuert sie mit Schwung über die Tischplatte. Sie segelt bis zum Ende des Zwei-Meter-vierzig-Tisches und landet auf den drei Kerzen, die vor einer Stunde in der Hoffnung auf morgendlichen Frieden von ihr angezündet worden waren. Fassungslos starren beide auf das Feuerchen, das im Nu hochzüngelt. Hecht springt auf, wirft seine Kaffeetasse um. Ein Viertel vom Weißbrötchen steckt ihm noch im Mund, der Grund für sein unverständliches Röcheln. Es riecht brenzlig, nach Pfadfinder und Lagerfeuer. Sie hasten zum Wasserhahn, stoßen zusammen, reißen Küchenhandtücher vom Haken, halten sie unter den Strahl und rennen zurück. Die nassen Tücher ersticken den Brand. Es ist so gut wie nichts passiert, der Tisch hat nur einen winzigen Brandflecken. Die Seite drei ist Asche.

Während sie die Sauerei entfernt, nörgelt sie über Männer, die nie zuhören, und über Frauen, die beim Frühstück beachtet werden wollen, selbst wenn sie sich in einem höchst unattraktiven Stadium des Ovarialzyklus befinden.

Hecht hört wieder nicht zu, er ist zu erschüttert. Fast hätte Sofia seinen herrlichen Tisch abgefackelt (von Team 9 aus Hamburg, das in seinen Prospekten tunlichst keine Preisangaben macht)! Ihre Argumentation, fast sei eben nur fast, rauscht ebenfalls an ihm vorbei, weil er gleich weiter herumschnauzen muss, was noch alles hätte passieren können. Ist es aber doch nicht, denkt sie genervt und sagte es dann laut, richtig laut, woraufhin Hecht nur verächtlich schnaubt.

»Du hast es billigend in Kauf genommen

»Wenn überhaupt«, sagt sie, »war es höchstens fahrlässig

Mitten in seine neuen Tiraden hinein klingelt ihr Handy und das Bild des Kollegen Paul Scholten erscheint auf dem Display.

»Hallo, was gibt es

»Anruf von unbekannt, sechs Uhr zwoundzwanzig aus öffentlicher Telefonzelle Tonhallenstraße, Skelett auf dem Kaiserberg, Nähe Denkmalwiese

»Und

»Bestätigt. Die Uniformierten sind vor Ort und kümmern sich.«

»Bin gleich da, melde mich unterwegs

Paul beendet das Telefonat.

»Ich freue mich!«, ruft Sofia in die tote Leitung.

»Wer war das?«, fragt Hecht, die Augen leicht zusammengekniffen.

»Das?«, fragt sie scheinheilig zurück, »das war mein Kollege Paul. Ich muss los, Leichenfund am Kaiserberg

Während sie ihre Sachen zusammenpackt, feststellt, dass es regnetund wo ist der Schirm, verdammt! –, baut sich Hecht vor der Wohnungstür auf.

»Da läuft doch was mit dieser Pappnase, das ist ja wohl nicht zu überhören. Ich frage mich ernsthaft, was …«

»Und frag dich dann noch, ob du das Wort Veränderungsresistenz schon mal gehört hast

Sofia öffnet die Tür und schließt sie leise.

Was will ich mit diesem Cretino, überlegt sie auf dem Weg zum Auto. Ein bayrischer Stiesel ohne Humor. Und ein Kind mit dem kann ich auch vergessen. Bei meinem Pech wirds ein blasses Bürschchen, das niemanden an seine Spielsachen lässt und CSU wählt.

Als sie im Trockenen sitzt und den Wagen anlässt, betrachtet sie sich im Rückspiegel.

Gar nicht schlecht. Bis auf die braunen Korkenzieherlocken, die bei Regen aussehen wie Hundeköttel auf der Flucht. Voller Wehmut denkt sie an das Foto, das auf ihrem Nachttisch steht und Papa Barucchi zeigt, zwischen Großvater und Urgroßvater, und alle drei haben diese Putzwolle auf dem Kopf. Sie wandert mit ihren Gedanken tausend Kilometer nach Süden. Papa lebt mit seinem Sohn aus erster Ehe, der geistig zurückgeblieben ist, in der Nähe von Volterra und baut Gemüse an. Ti amo, babbo!

Hallo?!, ruft sie sich zur Ordnung, da draußen liegen Knochen, die auf dich warten. Sie fährt los und wählt Scholtens Telefonnummer, um zu erfahren, wo genau sie hinmuss.

 

2

Nach vier Stunden blicken Sofia und Paul ein letztes Mal auf die Fundstelle, über der inzwischen ein Zeltdach errichtet worden ist. Das Skelett ist weitgehend ausgegraben, ein paar Stofffetzen hängen noch an den Armknochen und bedecken einen Teil des Brustkorbes.

Die Wolkendecke ist aufgerissen, Sonnenstrahlen flirren durch das Blätterdach der Buchen und werfen durchs Zelt Lichtflecken auf die Knochen .

»Was für ein Anblick. Von wegen goldener Herbst!«, sagt Paul.

»Surreal. Gleich kommt Barnaby ins Bild und sagt uns, wer es war

»Also ehrlich, Chefin. Verscharrt zu werden und dann so erbärmlich wieder ans Tageslicht zu kommen …«

»Ist ja gut, Paul

Der Leiter der Spusi hatte informiert, dass die Grabungen von dieser Nacht stammten, weitere Grabungsversuche in der Nähe ebenfalls.

»Nichts gefunden, was auf Ortung durch einen Detektor hinweisen könnte?«, hatte Sofia sich erkundigt und eine abschlägige Antwort erhalten.

Doktor Leonie Banasch, die Rechtsmedizinerin, hatte sich nicht festlegen wollen, der Schädel weise zwar seitlich eine Fraktur auf, möglicherweise die Todesursache, aber wie üblich müsse erst die Obduktion abgewartet werden. Die Bestimmung der Liegezeit sei kompliziertdenkbar, einen forensischen Anthropologen hinzuzuziehen. Es handele sich auf jeden Fall um ein weibliches Skelett, das sei aufgrund der Beckenknochen eindeutig.

Paul hatte den Fehler gemacht, zu fragen.

»Breite und flache Darmbeinschaufeln, ein fast runder Beckeneingang sowie ein stumpfer Schambeinwinkel mit …«

Herrgott, Paul!, denkt sich Sofia und hört nicht mehr zu.

Sie verlassen den Fundort. Als Paul über das Absperrband steigen will, verfängt er sich, stürzt und lässt sich ungeheuer elegant abrollen. Sofia hilft ihm auf, klopft ihm Erde von Jacke und Hose.

»Toller Stunt, Kollege«, sagt sie andächtig, dann lacht sie los und Paul streckt sich und lacht mit. Die Männer von der Spusi schauen rüber, schütteln nur die Köpfe.

Der Oberkommissar geht vor Sofia her und findet den Weg zum Auto nicht, flucht leise, bleibt stehen, blickt sich um. »Verdammt, hier war ich noch nie. Wo ist übrigens dein Wagen

»Keine Ahnung, um den kümmere ich mich später

Sofias Stiefel versinkt in einer tiefen Pfütze.

»Scheiß goldener Herbst

»Sag ich doch«, meint Paul.

Irgendwann landen sie auf dem Kiefernweg. Von hier aus findet Paul die Denkmalstraße, auf der er geparkt hat. Er wischt mit seinem Ärmel den Regen von der Motorhaube und breitet eine Karte aus.

»Da«, sagt er und deutet mit dem Finger auf eine grüne Fläche, »der nördliche Stadtwald mit dem Kaiserberg. Hier etwa dürfte sich der Fundort befinden

Beide Köpfe beugen sich über eine Waldlandschaft, begrenzt von Straßen, dem Botanischen Garten, dem Zoo.

»Verdammt viele Möglichkeiten, da ranzufahren. So viel Glück, dass jemand unseren Maulwurf heute Nacht beobachtet hat, werden wir vermutlich nicht haben

»Falsche Zeit und dazu noch das Scheißwetter. Und vermutlich wird auch niemand den Anrufer gesehen haben«, sagt Sofia und bewegt die nassen Füße in ihren Stiefeln.

»Beten wir mal zum heiligen Severus von Ravenna, dass irgendwer irgendwas gesehen hat

»Den hast du gerade erfunden, den Severus

»Nee, ist der Schutzheilige der Polizei! Neulich noch auf einer der Kirchenseiten gefunden

»Interessant, wo du dich im Netz so rumtreibst, Paul. Aber gefällt mir, den Burschen merk ich mir

»Diese Fraktur am Kopf, Totschlag wäre verjährt

»In besonders schweren Fällen aber auch erst nach dreißig Jahren. Aber wie auch immer, wir wissen zu wenig

»Was meinst du, Sondengänger und Zufallsfund

»Muss nicht«, sagt Sofia, zieht die Schultern hoch und lässt sie wieder fallen. »Kann auch jemand sein, der gezielt gesucht hat und will, dass die Tote gefunden wird, warum auch immer

»Der Anrufer wird uns dazu was sagen können

»Erst mal auftreiben

Sie steigen in den Wagen, überlegen eine Weile, diskutieren, streiten über den Anrufer, wobei Sofias schöne Altstimme laut und schrill wird.

»Täter, Mitwisser, Beobachter, Erpresser, Sondengänger oder alles zusammensonst noch was? Und wenn es ein Sondler war, dann muss er was mitgenommen haben, sonst hätte sich sein Detektor ja nicht gemeldet

Pauls Streitkultur ist unterentwickelt, er sorgt dafür, dass Ruhe einkehrt. »Eins nach dem anderen, Chefin. Jetzt erst mal Abflug und Frühstück

»Der hätte sich ruhig noch zwei Wochen Zeit lassen können mit seiner Buddelei, hatte mich gerade auf ein paar ruhigere Tage eingestellt

Paul nickt, ihm geht es nicht anders.

Die Ermittlungen im Entführungsfall Ayin waren kräftezehrend gewesen, täglich mehr als zwölf Arbeitsstunden. Den Kleinen haben sie gefunden, aber zu spät, und einer der drei Täter ist immer noch auf der Flucht.

»Oder noch besser, anstatt die Totenruhe zu stören, hätte er einfach das Grab wieder zuschaufeln können

Die Witzeleien ändern nichts an der Trostlosigkeit ihrer Arbeit, aber sie helfen, sich von ihr nicht zu sehr vereinnahmen zu lassen.

Der Regen hat wieder eingesetzt. Starker Wind treibt ihn waagerecht vor die Scheiben. Paul parkt den Wagen in der Mülheimer Straße. Er steigt aus und hastet zum Dönerladen. Der grauhaarige Mann mit dem mächtigen Schnurrbart, dessen Enden sich nach oben rollen, guckt giftig, stellt einen Schrubber weg und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Früh heute! Wissen, wann ich aufmachen

»Ich Polizist, du armer Mann aus Anatolien, der bei Steuer betrügt

»Deutsch Polizei erpresst Türkmann, ich dich anzeigen

»Gut, aber erst zweimal Döner Paradiso, dann Anzeige

Sie lachen und Schnurrbart klopft Paul auf die Schulter.

»Immer noch zwei Frauen, du

Paul war schon häufig mit Sofia hier, aber auch mit seiner Freundin Hanna.

»Ehrensache

»Klug Mann

Paul schüttelt sich wie ein Hund, bevor er ins Auto steigt. Tüten und Becher sind tropfnass geworden.

»Döner Paradiso«, sagt er, als verkünde er das Evangelium.

Die Fensterscheiben beschlagen schnell, übler Mief verbreitet sich. Ein paar Tropfen des kostbaren Pure Poison, ein Geschenk von Hecht, machen es nicht besser.

»Wie im orientalischen Männerpuff«, moniert Paul und Sofia lässt die Scheibe runter.

»Der hat keine Mühe gescheut, die Frau verschwinden zu lassen. Mal sehen, was passiert, wenn wir ihn über die Presse aufscheuchen«, sagt der Oberkommissar mit vollem Mund und ein Stück Fleisch fällt ihm auf die Hose.

 

3

Herma sieht sie kommen, winkt ihnen zu.

»Na?«, fragt Paul und bleibt an ihrem Schreibtisch stehen, während Sofia in ihr Zimmer geht, um die nassen Stiefel loszuwerden.

»Die Befragung auf der Tonhallenstraße hat noch nichts gebracht«, ruft sie laut genug, damit Sofia es auch hören kann. Die Perle des KK 11 erhebt sich stöhnend. Hundertachtundzwanzig Kilo, ohne Knochen, hat neulich eine Kollegin in der Kantine angemerkt und sich damit keine Freunde gemacht. Herma, ihre Fülle stets in edle Stoffe gehüllt, sieht aus wie die Schwester von Helen Mirren in XL-Ausgabe. Sie ist die Mutter der Abteilung, fürsorglich und fast liebevoll, besonders, wenn es um Paul geht.

»Du siehst aus wie ein Otter«, sagt sie und reicht ihm ein Handtuch. Er fährt sich damit durch die verbliebenen Haare, zieht seine Jacke aus. Herma greift nach einem Bügel und hängt sie an die Heizung.

Die Hauptkommissarin streift sich im Büro inzwischen die Lederstiefel ab und legt die Füße auf die Heizung. Sie nutzt die Zeit für erste Schreibarbeiten, was gar nicht so einfach ist, weil sie schräg vor ihrem Computer sitzt und sich ständig vertippt. Aber ihre Füße werden langsam warm.

Als Paul von unten aus der Leitstelle anruft, schreckt sie auf.

»Wie lange brauchst du noch

»Ja, Herrgott!«, murrt sie und schaut auf den Bildschirm. Sechs oder sieben Reihen d sind zu sehen, nachdem sie zuletzt das Wort Leichenfund geschrieben hat. Sekundenschlaf. Sofia entfernt die Reihen, speichert den Bericht und steigt in ihre feuchten Stiefel.

In der Leitstelle lassen sie sich mehrmals den Mitschnitt des Telefonats vorspielen:

»Da liegen menschliche Knochen am Kaiserberg. Denkmalstraße hoch, noch östlich an der Denkmalwiese vorbei bis zum Ende. Dann direkt dreißig Schritt in nördlicher Richtung« –Räuspern, Husten –, »da ist das Skelett, nicht zu verfehlen

Das war es. Der Anrufer hat seine Stimme verstellt, ziemlich dilettantisch, ist zudem erkältet, da sind sich die Zuhörer einig.

»Laut Google Maps sind es dreieinhalb Kilometer von der Fundstelle des Skeletts bis zur Telefonzelle auf der Tonhallenstraße. Wenn es keine Zeugen gibt, stellen wir den Anruf ins Netz! Irgendwie kriegen wir unseren Anonymus!«, sagt Paul.

Die ramponierte Telefonzelle, eine der letzten, macht nicht den Eindruck, als könne man noch telefonieren. Sofia ruft eine Kollegin zu sich, die gerade aus einem der Häuser kommt und sich Notizen macht.

»Na, wie siehts aus

»Bescheiden. Haben die Nummern siebenunddreißig bis neunundvierzig abgeklappert, nichts, gar nichts. Müssen abends wiederkommen, dann sind hoffentlich alle von der Arbeit zurück

Paul schaut sich um. »Dreistöckige Häuser, solide Wohngegend, funktionierende Sozialkontrolle. Wohnt der da oder wusste der nur, dass hier so ein Ding steht

Sofias Magen rumort, sie hätte den Kaffee vorhin nicht trinken sollen.

»Tja, beides möglich. Gegen halb sieben könnten Berufstätige doch schon auf sein oder sogar auf der Straße

»Hm, also ich rennmorgens mit geschlossenen Augen durch meine Hütte und auf die Straße guckich schon gar nicht«, merkt Paul dazu an.

»Sehr hilfreich. Wir nehmen uns die Häuser ab Nummer zwoundfünfzig vor. Dann weiter frohes Schaffen, Kollegin

Zwei Stunden und einige frustrierende Erlebnisse später wissen sie nicht mehr als vorher und sind durch, bis auf die drei oberen Wohnungen von Nummer siebenundfünfzig. Das Haus steht etwa zehn Meter von der Telefonzelle entfernt.

»Du bist dranSofia schiebt Paul lustlos vor die Tür und denkt an eine heiße Dusche, an ganz viel Tiramisu und die letzten Folgen von Downton Abbey.

Als Paul schellt, wird sofort geöffnet. Ein kleiner Junge, kaum älter als drei, steht vor ihnen, nuckelt an irgendetwas Undefinierbarem und guckt sie mit großen Augen interessiert an.

»Ist deine Mama zu Hause?«, fragt Sofia und beugt sich zu dem Knirps hinunter. Der nickt und nuckelt weiter.

»Wo ist sie denn?«, will sie wissen.

»Soll ich nicht sagen

»Hm. Kannst du sie mal rufen

»Nee

Paul versucht, ein Lachen zu unterdrücken. Eine Stimme aus dem Inneren der Wohnung meldet sich.

Sie warten. Laut Namensschild muss das Anne Kleefisch sein, die jetzt durch den Flur gehastet kommt. Eine Schönheit, graziler Körperbau, das Gesicht eines Engels.

»Flynn, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst nicht an die Tür gehen, wennich nicht kann

Paul ist so in den erfreulichen Anblick vertieft, dass Sofia ihn in die Seite stoßen muss. Er stellt sie beide vor. Die junge Frau hört zu, als er sein Sprüchlein aufsagt, und schüttelt den Kopf.

»Um die Zeit haben wir geschlafen. Flynn hat mich zwar gegen fünf geweckt, weil er Durst hatte, aber wir sind dann gleich wieder eingeschlafen

»Glaubst du an Böse?«, will Flynn von Sofia wissen und guckt sie so ernsthaft an, dass ihr keine schnelle Antwort einfällt.

»Unten in der Erdgeschosswohnung wohnt eine Erika Nösser. Seitdem ihr Mann tot ist, geht sie kaum noch vor die Tür, sitzt oft stundenlang am Fenster. Wenn Sie Glück haben, hat sie was gesehen

Paul kann es nicht lassen: »Tut uns leid, wenn wir Sie bei wichtigen Verrichtungen gestört haben

Frau Kleefisch mustert ihn und lacht plötzlich los. Flynn hebt seinen kleinen Zeigefinger und flüstert verschwörerisch: »Die Omi Erika ist eine Böse. Die stinkt nämlich und sieht aus wiene Kröte

Seine Mutter schimpft und schließt schnell die Tür.

Paul schellt erneut unten bei Frau Nösser und klopft zusätzlich an die Tür. Erst nichts, dann Schritte. Eine alte Frau, einer Kröte nicht unähnlich, öffnet und stützt sich mühsam auf ihren Stock. Um den Kopf trägt sie einen blutigen Verband, ein Auge ist blau unterlaufen. Sie scheint nicht gut zu hören. Sofia muss laut werden, bis sie versteht, um was es geht. Sie nickt und sagt: »Ja, das kann

»Wie, was kann?«, fragt Sofia, schon genervt, will das Ganze abkürzen, aber Paul zeigt brav seinen Polizeiausweis und dann sitzen sie auch schon in der guten Stube, zusammen mit etlichen Katzen. Frau Nösser will unbedingt, dass die beiden Kaffee mit ihr trinken. Sofia sagt nein und Paul sagt ja, gerne.

»Hatten Sie einen Unfall?«, fragt er teilnahmsvoll.

Frau Nösser guckt auf den Boden, nestelt an grauen Haaren, die unter der Binde zu sehen sind.

»Das war der Gevatter«, flüstert sie und bekreuzigt sich, »der hat mich gerufen. Aber ich geh nicht, kann doch die armen Dingelchen nicht alleinlassen

Paul nickt milde und will noch wissen, ob sie mit ihrer Kopfverletzung beim Arzt gewesen ist.

»Das kann!«, antwortet Frau Nösser und humpelt Richtung Flur.

»Komm, wir verschwinden hier. Das bringt doch nichts. Und außerdem stinkt es übel nach Katzenpisse

Paul bringt es nicht übers Herz. Er hat so einen Vater, der allein lebt und auch nicht ganz bei Trost ist. Sofia öffnet ein Fenster und hält die Nase in die frische Luft.

»Also«, sagt Frau Nösser fünf Minuten später, nach dem ersten Schlückchen Kaffee, der eindeutig nur aus Wasser besteht, »da ist heute früh der junge Mann rein

»JaSofia ist plötzlich hellwach. »Um welche Uhrzeit, wissen Sie das

»Noch vor sieben, weil da rennt die über mir immer ins Bad. Er war höchstens zwei Minuten drin, der Schmickler, hat telefoniert und ist dann in seine Wohnung

Die beiden Beamten starren die alte Frau an.

»Und wo«, fragt Paul, »ist die Wohnung

»Na nebenan, da links«, sie zeigt nach rechts, »die Erdgeschosswohnung. Aber der macht nie auf, der Schmickler

Sie stehen auf, Paul bedankt sich.

»Sie haben den Kaffee doch noch nicht ausgetrunken

Das klingt empört. Paul sagt ihr, dass ihre Aussage noch protokolliert werden müsse, die Polizei melde sich bei ihr.

Als die Wohnungstür hinter ihnen zufällt, öffnet Sofia ein Flurfenster und atmet ein paarmal tief durch.

»Gib den Namen weiter, die kann nicht mehr alleine wohnen

»Wieso, geht doch noch, besser als im Heim. Und immerhin haben wir jetzt einen Namen

»Genau, wir hatten ja auch Kaffee. Aber los, wer weiß

Dann haben sie es doch eilig, verlassen das Haus und wenden sich nach rechts. Das Nachbarhaus ist kleiner, vollgeschmiert mit Aufforderungen, sich zu vermehren. Laut Klingelschild wohnt Peter Schmickler im Erdgeschoss rechts. Paul drückt mehrmals auf den Klingelknopf und als sich nichts rührt, schellt er bei den oberen Wohnungen. Jemand betätigt den Drücker und Paul ruft nach oben: »Hermes, danke! Hat sich schon erledigt. Der Adressat ist doch zu Hause

Eine Stimme schnauzt von oben irgendetwas zurück, jemand kommt nach unten gepoltert. Eine Frau im Bademantel baut sich vor ihnen auf.

»Wo sind die Pakete, was, wo denn? Verarschen kann ich mich selber. Ich rufe jetzt sofort die Polizei, wenn Sie nicht …«

Sofia erledigt das elegant, zückt ihre Marke und dankt für die Mithilfe. Sie schickt die Frau zurück, bittet sie um Verschwiegenheit. Die Nachbarin nickt eifrig und verschwindet nach oben. Sofia hört nicht, dass eine Tür geschlossen wird.

»Hallo! Bitte gehen Sie in Ihre Wohnung und schließen Sie hinter sich ab, zu Ihrer eigenen Sicherheit

Jetzt fällt eine Tür mit lautem Knall ins Schloss.

Trotz des Radaus, den sie veranstaltensie schellen, rufen, klopfen an die Wohnungstür –, lässt Schmickler nichts von sich hören und sehen. Sofia und Paul gucken sich an.

»Rein oder nicht rein, ist hier die Frage«, sagt Paul und gähnt.

»Wir nehmen mal Gefahr im Verzug an. Außerdem ist um achtzehn Uhr ein richterlicher Beschluss eh nicht mehr zu erwirken

»Achtzehn Uhr? Wir haben noch keine vier

»Ja eben. Und auf den Schlüsseldienst können wir auch verzichten

Sofia holt ihr Lockpicking-Set aus der Tasche. In Sekunden ist die Tür geöffnet. Paul, deutlich wacher geworden, reibt sich unternehmungslustig die Hände.

»Das kann«, sagt er zufrieden. Sie treten rufend in die Wohnung ein und schließen die Tür hinter sich. Niemand antwortet, als sie durch den Flur in die Küche gehen. Paul sichert das Schlafzimmer, Sofia den Wohnraum. Überrascht blickt sie sich um. Wo bin ich hier, denkt sie.

»Paul, komm her, das musst du dir angucken

 

4

15 Stunden zuvor

Die Alte nebenan hat noch Licht, als Peter Schmickler gegen halb eins die Haustür hinter sich zuzieht. Ihr Schatten ist hinter der Gardine deutlich zu erkennen. Er bückt sich, schleicht zu ihrem Fenster und schnellt plötzlich hoch, fuchtelt laut schreiend mit den Armen. Der Schatten verschwindet, es folgt dumpfes Gepolter. Schmickler ist zufrieden, in Zukunft wird sich die alte Schachtel überlegen, nachts die Straße zu kontrollieren. Und wenn sie sich an die Bullen wendet, wird ihr niemand glauben, dafür sind bei der zu viele Schrauben locker.

Er schultert seinen Rucksack mit dem Detektor und läuft an den Mietshäusern entlang, deren dunkles Grau mit ebenso einfallslosen wie hässlichen Fassadenschmierereien verunstaltet ist. Auf der Tonhallenstraße sind um diese Zeit die Bürgersteige hochgeklappt. Durch eine Toreinfahrt zwischen zwei Häusern am Ende der Straße gelangt er auf den Hinterhof mit den Mietgaragen. Schmickler holt sein Motorrad heraus, eine BMW F 650 GS. Die gebrauchte Maschine hat er sich zugelegt, nachdem sein Großvater gestorben war. Er hatte dessen Opel günstig an den Mann bringen können, nach einer Spritzfahrt in eine Werkstatt in Venlo. Da hatte sich nämlich der Kilometerstand dramatisch verringert, von über hundertfünfzigtausend auf dreiundachtzigtausend Kilometer.

Der Großvater war sein Lehrmeister gewesen, hatte ihn mit seinem vorsintflutlichen Induktions-Balance-System in die Grundlagen des Sondengehens eingeführt. Um Genehmigungen hatte der Alte sich nie gekümmert, geschweige denn interessante Artefakte beim Landesamt für Denkmalpflege abgegeben. Seine umfangreiche Sammlung konnte sich sehen lassen. Schmickler hat einiges davon zu Geld gemacht, aber die schönsten Stücke für sich behalten.

Er braucht nicht lange von der Tonhallenstraße bis zum Kaiserberg. Als er die Mülheimer Straße verlässt, schaltet er das Licht aus und fährt langsam auf den Botanischen Garten zu, parkt im Schutz überhängender Büsche. Sein Husten ist schlimmer geworden. Ärgerlich sucht er nach seinen Tabletten und nimmt gleich drei auf einmal. Bevor er sich auf den Weg macht, sondiert er das Terrain. In den Häusern gegenüber zeigt sich nur hier und da das bläuliche Licht von Fernsehern. Gute Voraussetzung, ungesehen zum Ziel zu kommen. Doch kaum hat er die ersten Schritte gemacht, ertönt ein wütendes Bellen.

»Herrgott, Titus, jetzt scheiß halt und hör auf zu kläffen

Eine Frau taucht auf der anderen Straßenseite unter einer Bogenlampe auf und versucht ihre gefleckte Promenadenmischung zu bändigen, die wie verrückt in Schmicklers Richtung strebt. Sie zieht so heftig an der Leine, dass nur noch ein Röcheln zu hören ist. Kaum lässt sie die Leine locker, gelingt es dem Hund, sich loszureißen. Mit wehenden Ohren stürzt er auf Schmickler los, der nach ihm tritt. Titus kommt richtig in Fahrt und verbeißt sich in ein Hosenbein, trotz Motorradkluft äußerst schmerzhaft. Das Frauchen kommt nicht näher, beschränkt sich aufs Lärmen.

»Tituuus, verdammt

Schmickler nimmt seinen Rucksack und schlägt mit aller Kraft nach dem Hund. Am Kopf getroffen, lässt das Tier seine Beute los und verschwindet jaulend. Scheißtöle, denkt Schmickler und atmet ein paarmal tief durch. Er bewegt das Bein, die Schmerzen halten sich in Grenzen.

Auf seine Stirnlampe kann er verzichten, der Vollmond legt ein weiches Licht über die Landschaft. Er geht die Denkmalstraße hoch und schlägt sich nach rechts in den Wald, Richtung Denkmalwiese. Hier hofft er auf Gräber zu stoßen, die von den Stadtarchäologen noch nicht entdeckt worden sind.

Sein Deus ist schnell zusammengesetzt, er stellt das Programm G-MAXX ein, um größere Ortungstiefe zu erzielen. Und los geht die Suche. Auch hier zunächst nur Coladosen und anderer Mist. Verdammt, er könnte mal wieder ein wenig Glück brauchen! Die Stromrechnung ist noch nicht bezahlt und die Miete fällig. Vielleicht sollte er sich in den nächsten Tagen mal in den Freilichtmuseen der näheren Umgebung umsehen. Da hat er vor Zeiten schon einiges von Wert mitgehen lassen. Er muss grinsen, als er daran denkt, wie er auf der Museumsinsel zwei Vasen organisiert hat. Bevor das Theater losging, hatte er sie schon längst über einen Zaun verschwinden lassen. Viel gebracht haben sie nicht, aber Planung und Ausführung waren nach seinem Geschmack gewesen.

Als endlich das akustische Signal ertönt, das auf Funde bei einer Tiefe von über einem halben Meter schließen lässt, ist er bereits zwei Stunden unterwegs und wird müde. Er hebt mit seiner Hacke die obere Erdschicht ab und geht zur Vorsicht mit seinem Pinpointer über die Grassodennichts, wie zu erwarten. Über dem zweiten und dritten Aushub meldet sich der Punktorter ebenfalls nicht. Aber dann beim vierten, beim Aushub aus zirka sechzig Zentimetern Tiefe ist es soweit! Schmicklers Finger durchsuchen vorsichtig die Erde und stoßen auf zwei runde Metallstücke. Er säubert sie mit einer Bürste und stellt seine Kopflampe wieder an. Im Schein des Lichtes erkennt er identische Münzenfünfzig italienische Lire aus dem Jahr 1952!

Wutentbrannt steht er auf und tritt mit dem Fuß vor den Grashaufen, den er eben abgetragen hat. Ein weißliches Etwas fliegt durch die Luft, landet unsanft auf dem Boden, zerbricht in mehrere Teile. Neugierig geht er wieder in die Hocke und hebt einen der hellen Gegenstände auf. Ein Knochen? Tatsächlich, er hält einen Fingerknochen in der Hand, auf dem Boden liegen die restlichen. Auf was ist er da gestoßen? Skelette aus alten Grabhügeln? Die lägen mit Sicherheit tiefer, oder wurden sie durch Erdbewegungen nach oben verschoben? Vielleicht haben die Knochen etwas mit den Münzen zu tun? Schmickler überlegt für einen Moment, sich aus dem Staub zu machen. Aber wer weiß, vielleicht ist hier auf die eine oder andere Weise was zu holen. Er bleibt und arbeitet vorsichtig mit der Hacke weiter, schwitzt, legt eine kurze Pause ein. Mit einer kleinen Schaufel macht er sich an die Feinarbeit, stößt auf größere Knochen. Zentimeter für Zentimeter gräbt er einen Brustkorb frei, an dem Stofffetzen hängen. Schmickler ist ein harter Bursche, aber jetzt wird ihm mulmig, er ist sicher, dass er gerade das Opfer eines Verbrechens entdeckt hat. Mit einem Ast hebt er einen der Fetzen an. Etwas löst sich, fällt vom Ast herunter und landet mit einem dumpfen Geräusch auf den Rippenknochen. Er schaut nach, die Entscheidung dauert einen Moment, dann greift er zu. Wenigstens ist die Schufterei diese Nacht nicht ganz umsonst gewesen, denkt er und lässt eine Kette in seinem Fundbeutel verschwinden.

Auf der Rückfahrt hat Schmickler das Gefühl, sich eine handfeste Erkältung eingefangen zu haben.