Inhalt

Unfall

Veränderung

Neuanfang

Konfrontationen

Hangrutsch

Garagengeist

Verrat

Bekenntnisse

Konsiliarisch

Feste

Besucherinnen

Männerbekanntschaften

Business

Im Nachthemd

Volksfest

Konsequenzen

Im Heu

Kaltes Wasser

Im Krankenhaus

Am Ziel

Über die Autorin

 

Carolin Schairer

ZURÜCK
AUF LOS

Roman

Ulrike HELMER Verlag

 

 

ISBN (eBook) 978-3-89741-940-7
ISBN (Print) 978-3-89741-442-6

© 2020 eBook nach der Originalausgabe
© 2020 Copyright Ulrike Helmer Verlag,
Roßdorf b. Darmstadt
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Atelier KatarinaS / NL
unter Verwendung des Fotos »Sie geht …« © LMDB_photocase.de

Ulrike Helmer Verlag
Blütenweg 29, 64380 Roßdorf b. Darmstadt
E-
Mail: info@ulrike-helmer-verlag.de

www.ulrike-helmer-verlag.de

 

Unfall

Astrid schlängelte sich durch die stehenden Autos und Klein-LKWs. Schon wieder Stau. Und sie mittendrin.

Sie befand sich auf der A9 in Richtung Berlin, irgendwo zwischen Bayreuth und Leipzig. Wo genau, vermochte sie nicht zu sagen. Nirgendwo ein Schild, das darüber Auskunft gab. Überall nur Autos. Die zahllosen Scheinwerfer spiegelten sich auf der regennassen Fahrbahn und erhellten die Nacht.

Weiter vorne fiel ihr blinkendes Blaulicht auf. Vorhin hatte sie den Signalton eines Krankenwagens vernommen. Offenbar war irgendein Unfall passiert. Na toll.

Eigentlich hatte sie geplant, noch vor 22 Uhr am Schreibtisch in ihrer Wohnung in Berlin zu sitzen. Bereits während der Fahrt hatte sie die Unterlagen zu der Studie, die sie als Prüfärztin in der Klinik durchführen wollte, zum wiederholten Male durchgearbeitet. Ein paar Punkte waren offen geblieben, zu denen sie aber erst Stellung beziehen konnte, wenn sie wieder Zugang zu ihren Online-Dokumenten hatte. Morgen Nachmittag würde es eine Anhörung der Ethik-Kommission geben, die grünes Licht für die Erhebung geben sollte. Bis dahin musste die Präsentation fertig sein.

Nieselregen durchnässte ihren dünnen Strickpulli. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie nicht nur zu Fuß unterwegs war, sondern auch keine Jacke trug.

Warum saß sie nicht bei Hennie im beheizten Wagen?

Ach ja. Weil sie gestritten hatten. Wegen ihres angeblich miserablen Zeitmanagements. Auch wegen Simone, ihrer gemeinsamen Tochter, die auf der Rückbank gesessen und damit gedroht hatte, die Schule zu schmeißen. Was Hennie anscheinend vollkommen egal war. Ihr aber nicht.

Und dann noch wegen Nicolette. Nicolette, die keine Gelegenheit verpasste, über soziale Ungleichheit und unfähige Regierungen zu wettern und im obersten Management einer NGO saß, die sich für Umweltschutz stark machte, gleichzeitig dafür aber ein sattes Gehalt kassierte, zum Urlauben auf die Seychellen flog und mit einem fetten SUV herumfuhr. Die edle, reine Nicolette.

Während Astrid ihren Weg durch die Autoreihen fortsetzte, wurde sie immer unsicherer. Irritiert sah sie sich um, drehte sich ein paarmal. War das überhaupt die richtige Richtung? Sie wollte wieder zurück zum Wagen, weg aus der nassen Kälte.

Zwischen einem BMW und einem Wohnmobil stand eine Gruppe von Leuten, die ausgestiegen waren. Der Größte von ihnen stellte sich auf die Zehenspitzen, bemüht, am Stauanfang irgendetwas zu erkennen.

Ob er ihr Auto sah?

Sie näherte sich der kleinen Gruppe.

Die Gespräche verstummten abrupt, als sie direkt vor den Leuten stand. Alle starrten sie an wie einen Geist.

»Entschuldigen Sie bitte. Haben Sie mein Auto gesehen

Die zwei Männer und zwei Frauen machten immer noch große Augen.

Vielleicht Ausländer.

»Excuse me. Have you seen my car

Ihr Wechsel ins Englische hatte keinen Effekt, außer dass sich die eine der beiden Frauen nun mit einem erschrockenen Laut die Hand vor den Mund schlug.

Einer der beiden Männer war ein südländischer Typ, wie Astrid im Licht der Scheinwerfer erkannte. Spanier vielleicht?

»Viste mi coche?«, versuchte sie es, um dann in der dritten Fremdsprache, die sie einigermaßen beherrschte, nachzuschieben: »Excusez-moi. Avez-vous …«

»Gehen Sie dorthindiese RichtungNun kam plötzlich Leben in den Mann, den sie für einen Spanier gehalten hatte. Er deutete in Richtung Blaulicht, wirkte seltsam panisch. »Da wird Ihnen geholfen

Kam sie von dort?

Sie wusste es nicht mehr genau. Wenn ja, warum hatte sie das Auto nicht gesehen?

Zögerlich ging sie weiter. Die Kälte, die sie plötzlich erfüllte, kam nicht nur vom regennassen Pulli, der inzwischen an ihr klebte wie eine zweite Haut. Sie kam von innen. Trotz des leichten Schwindels setzte sie ihren Weg fort. Stolperte. Stand wieder auf.

Ihre Jeans hatte jetzt an den Knien dunkle Flecken.

Sie fiel erneut.

Der Asphalt war kalt und rau. Als sie diesmal wieder auf die Füße kam, hatte sich das Gummihaarband gelöst, ihr schulterlanges braunes Haar klebte in nassen Strähnen im Gesicht. Sie wollte sie wegwischen, aber die Gliedmaßen ließen sich nicht richtig steuern. Einen Fuß vor den anderen zu setzen, fühlte sich plötzlich wie Schwerstarbeit an. Trotzdem kämpfte sie sich weiter. Wo war ihr Wagen? Warum kam Hennie nicht, um sie zu holen? Vielleicht, weil sie noch sauer war?

Astrid glaubte sich dunkel zu erinnern, dass sie eigentlich mehr Grund hatte, auf Hennie wütend zu sein als umgekehrt. Allerdings hatte sie keine Ahnung, weshalb.

Sie kam dem Blaulicht immer näher. Mittlerweile hatte sie vergessen, weshalb sie dorthin wollte. Alles war so mühsamjede Bewegung, jeder Gedanke.

Erschöpft lehnte sie sich gegen einen Kombi, der in der Schlange stand.

Sie sprang entsetzt zur Seite, als der Fahrer prompt die Scheibe hinunter ließ.

»Kann ich Ihnen helfen

»Ichich weiß nicht

Sie hatte sich zu ihm umgedreht. Sein Gesichtsausdruck erinnerte an jenen, den sie bereits bei den Leuten von zuvor bemerkt hatte.

»Steigen Sie ein, ich fahre Sie durch die Rettungsgasse nach vorn«, sagte er und wies auf den Beifahrersitz. »Sie können hier nicht herumspazieren, in Ihrem Zustand

»Ich suche meinen Wagen«, fiel ihr wieder ein. »Wissen Sie, wo mein Auto ist

»Nein, aber Sie sollten …«

»Ich muss zu meiner Frau und meiner Tochter

Sie gab ihm nicht die Zeit, um etwas zu erwidern, sondern taumelte weiter. Ein paar Autos später musste sie wieder innehalten.

Sie fühlte sich unendlich schwach. Irgendetwas brannte in ihren Augen. Mit der Hand strich sie sich übers Gesicht.

»Hören Sie, Sie brauchen einen Arzt

Der Mann, der ihr zuvor den Beifahrersitz angeboten hatte, war ihr nachgekommen.

Er sprach ruhig und freundlich. Dennoch war er ihr suspekt. Was wollte der Typ von ihr?

»Ich bin Ärztin«, erwiderte sie kurz angebunden.

Sie schob sich weiter, so gut es ging. Nur weg von ihrem Verfolger, der sich, wie sie auch ohne Blick über die Schulter intuitiv wusste, an ihre Fersen geheftet hatte.

»Warten Sie!«, rief er.

Es klang in ihren Ohren wie eine Drohung. Die plötzlich aufkommende Panik ließ sie ihre letzten Kräfte mobilisieren. Sie schleppte sich zu den Einsatzfahrzeugen, ohne nochmals anzuhalten.

Zunächst sah sie nur zwei große Feuerwehrautos und einige Streifenwagen. Weiter rechts standen drei Rettungs- und ein Notarztwagen.

Feuerwehrleute hatten sich um irgendetwas herumgruppiert; sie wirkten beschäftigt. Die Polizisten sprachen mit Leuten, deren Autos in der ersten Reihe standen, und machten sich Notizen.

Auf dem Asphalt zwischen den Fahrzeugen lag eine Decke, unter der sich unverkennbar ein schmaler Körper abzeichnete.

Ein Unfall, war das einzige, das Astrid im Moment zusammenhängend denken konnte. Ihr war jetzt speiübel. Ihr Herz raste. Sie schlotterte vor Kälte und vor Angst, deren Ursache sich ihr nicht einmal erschloss.

Wie in Trance schlüpfte sie unter dem rot-weißen Absperrband durch, das die stauenden Autos von der Unfallstelle trennte.

»Hej, Sie! Sie dürfen hier nicht …«

Einer der Uniformierten kam auf sie zu, stutzte, als er knapp vor ihr stand.

»Um Himmels willen, was ist Ihnen denn passiert? Wo kommen Sie her

»Sie kommt von ganz da hinten, glaube ichIhr Verfolger, der Mann aus dem Kombi, übernahm das Antworten. »Ich wollte ihr helfen, aber …«

Er setzte seinen Satz nicht fort, sondern starrte hinüber zur Unfallstelle.

Astrid drehte leicht den Kopf. Jetzt, wo die Feuerwehrleute kurz zur Seite getreten waren, konnte sie erkennen, was sie taten: sie hantierten mit einem Ding, das aussah wie eine Kombination aus übergroßer Schere und Zange, und das an einem Stromkabel hing. Zweifelsohne, sie schnitten einen Menschen aus dem völlig zerbeulten Autooder dem, was davon noch übrig war. Mit glasigen Augen betrachtete sie das Geschehen.

Ihr Kopf dröhnte.

Jemand berührte sie an der Schulter.

Es war der Notarzt.

»Begleiten Sie mich zum Rettungswagen

Astrid blinzelte verwirrt. Sie sah auf die Gestalt unter der Decke, die reglos auf dem Asphalt lag, dann wieder zu dem zerstörten Wagen.

Jetzt verstand sie.

»Sie brauchen Hilfe mit den Verletzten? Ich bin Ärztin, ich kann …«

Sie brach ab. Ihr Blick war auf das zerbeulte, aber lesbare Nummernschild des Unfallwagens gefallen. Ein Berliner Kennzeichen.

Ihr stockte der Atem.

Sie starrte erst den Notarzt an, dann auf die reglose Gestalt unter der Decke. Sah erstmals auf ihre Hände und begriff, dass das, was sie für Regen gehalten hatte, in Wahrheit Blut war. Sie schmeckte es nun auch auf ihren Lippen.

Die Erkenntnis, was geschehen war, sickerte langsam in ihr Bewusstsein. Erst jetzt entdeckte sie das Wrack eines zweiten Wagens. Auch er glich einem einzigen Blechhaufen.

Was zum Teufel …?

Hennies fassungslose Bemerkung, unterbrochen von Simones Aufschrei.

Der Aufprall, der um nichts zu verhindern gewesen wäre.

Alles ergab plötzlich Sinn.

Astrids Beine gaben nach. Ihr wurde schwarz vor Augen.

 

Veränderung

»Ich finde, du machst einen Fehler. Aber du bist alt genug, um zu wissen, was du tust

Inge Behringer stand im grauen Putzkittel am Spülbecken ihrer Küche in München-Giesing und füllte einen Eimer mit warmem Wasser. Die Schubladen am Küchenschrank waren herausgezogen; Lebensmittel standen aufgereiht auf der Arbeitsfläche. Neben dem bereits randvollen Müllsack lag eine Schachtel Müsli, deren Öffnungen mit klebrigen weißen Fäden versehen war, und eine durchsichtige Tüte mit Kürbiskernen, in der sich kleine Würmer tummelten. Über den alten, ockerfarbenen Fliesen saßen zwei Motten an der Wand. Der Küchenputz war tatsächlich dringend notwendig.

Dennoch ärgerte sich Astrid darüber, dass ihre Mutter ausgerechnet jetzt damit beginnen musste. Noch vom Zug aus hatte sie angerufen und ihren Besuch angekündigt. Das war vor einer Stunde. Kaffee und Kuchen hatte sie nicht erwartet, dafür kannte sie ihre Mutter zu gut, doch etwas mehr Aufmerksamkeit hätte sie sich schon gewünscht. Sie sahen sich schließlich nicht oft.

Mit angezogenen Knien kauerte Astrid auf der kleinen Eckbank, weil sie den Hund nicht stören durfte, der sich unter dem Tisch genüsslich ausgestreckt hatte. Lumpi, der alte Dackel, war eine Art Heiligtum. Als ihre Mutter vor sechs Jahren in Pension gegangen war, hatte sie den damals fünfjährigen Hund aus dem Tierheim geholt. Seither drehte sich ihr Leben nur noch um ihn und seine Bedürfnisse. Im Laufe der Jahre hatten sich die beiden, wie Astrid immer wieder mit einer Mischung aus Faszination und Grauen feststellte, aneinander angeglichen: beide hatten mehrere Kilo zugelegt, kämpften mit Typ-2-Diabetes und verließen die kleine Wohnung nur noch, wenn es absolut nicht anders ging. Mit leisem Ekel hatte Astrid die Katzenkiste registriert, die im Flur gleich neben der Garderobe stand. Lumpi hatte gelernt, dass es einfachere Wege gab, als jetzt im Februar auch nur einen Schritt hinaus in die Kälte zu setzen.

Während sie zusah, wie ihre Mutter den vollen Putzkübel so schwungvoll aus dem Becken hob, dass sich das Wasser sogleich von selbst auf den abgewetzten PVC-Boden ergoss, fragte sie sich, ob es eine gute Idee gewesen war, herzukommen. Besuche bei ihrer Mutter kosteten erfahrungsgemäß unendlich viel KraftKraft, die sie eigentlich kaum aufbringen konnte.

Das Jahr nach dem Unfall hatte sie in den Abgrund gerissen. Physisch, psychisch und auch existentiell. Sie hatte erst ihre Familie verloren, dann ihre Wohnung, war für ein halbes Jahr nicht arbeitsfähig gewesen. Die ständigen Gerichtsprozesse rund um das Unfallgeschehen hatten sie zermürbt. Ständig gab es neue Gutachten, die besagten, wer wofür verantwortlich war. Sogar in einigen Lokalausgaben war über den Prozess berichtet worden, wenngleich auch nur als Einspalter. Die wenigen Zeilen hatten gereicht, um an der Charité, ihrem Arbeitsplatz, Tuscheleien in Gang zu setzen. Die Kollegen dort schienen mittlerweile besser darüber Bescheid zu wissen, was damals auf der A9 passiert war, als sie selbst.

Seit drei Monaten ging es finanziell wieder leicht bergauf, doch das brachte Hennie und Simone nicht zurück. Wenn sie nach ihren Diensten an der Klinik in das Appartement kam, in das sie sich seit dem Verkauf ihrer ehemals gemeinsamen Eigentumswohnung eingemietet hatte, umschlossen Leere und Kälte sie wie ein Korsett.

Bei jedem Handgriff, den sie in der Wohnung tat, bei jedem Schritt, den sie nach draußen machteüberall flammten Erinnerungen an ihr altes Leben auf: Hennie vor ihrem Lieblingscafé in Friedrichshain, ihr dunkler Lockenkopf zerzaust vom leichten Wind, ein Lächeln auf den vollen Lippen. Hennie, die Leintücher mit der Parole Mein Bauch gehört mir bepinselte, um für die endgültige Abschaffung des Paragraphen 218 auf die Straße zu gehen. Hennie, die noch nie Grenzen gekannt hatte, wenn es darum ging, ihre eigenen Interessen zu verteidigen.

Und Simone, die ihr so ähnlich war. Die keinen Bock auf Hausaufgaben hatte und Schule schwänzte, um stattdessen Flüchtlingskindern Deutsch beizubringen. Die an einem Tag ausgelassen mit einer Tüte neuer H&M-Klamotten den Kudamm entlangtanzte und am nächsten Tag genau dort gegen Materialismus und Konsum demonstrierte. Die mit geübter Hand die Unterschriften ihrer beiden Mütter fälschte, wenn es darum ging, sich selbst vom Schulsport zu entschuldigen, sonntags aber mit ihr joggen ging.

Joggen gegangen war.

Denn das und vieles andere würde sie niemals mehr tun können.

»Einfach alles so hinzuschmeißen, nur weil du gerade einen Hänger hast«, ergriff ihre Mutter wieder das Wort, während sie nun großzügig Putzmittel in den Eimer gab. »Ich hätte mehr Kampfgeist von dir erwartet. Aber wen wunderts? Du bist wie dein Vaterimmer den Kopf in den Sand stecken, wenns mal nicht so gut läuft

Astrid presste die Lippen aufeinander. Besuche bei ihrer Mutter führten meist dazu, dass sie sich danach schlecht fühlte, das war nichts Neues. Allerdingsdiesmal hatte sie insgeheim etwas anderes erwartet. Schließlich würde sie nach über zwanzig Jahren in Berlin wieder zurück nach Bayern ziehen. Ein kleiner Teil von ihr hatte gehofft, dass ihre Mutter sich darüber freuen würde. Immerhin trennten sie dann nicht mehr knappe sechshundert Kilometer voneinander. Selbst ihre Mutter mit ihren achtundsechzig Jahren, ihrem Vorhofflimmern und dem Diabetes musste doch einsehen, dass sie irgendwann auf Hilfe angewiesen sein würde. Das einzige Kind in der Nähe zu wissen, hätte wohl jede andere beruhigt.

»Berchtesgaden«, sprach es ihre Mutter auch schon aus, während sie den Putzeimer jetzt zu den geleerten Schubladen schleppte. Wieder schwappte Wasser über den Rand. Diesmal wurde nicht nur der Boden nass, sondern auch die grauen Filzpantoffeln der Mutter. Es schien ihr nicht mal aufzufallen.

»Ich frage mich, was du da eigentlich willst!«, machte sie ihrem Ärger stattdessen weiterhin Luft. »Die haben da sicher nicht auf dich gewartet. So eine tolle Stelle an der Charité einfach aufzugeben, das ist doch Wahnsinn

Wenn Inge Behringer zum Verbalschlag ausholte, war jeder Satz ein Treffer.

Astrid ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Sobald sie lauter werden würde, fühlte sich ihre Mutter persönlich angegriffen. Dann steigerte sie sich in eine kaum erträgliche Kaskade aus Selbstmitleid, Aggression und Hass auf die Welt , die nicht selten damit endete, dass sie mit Selbstmord drohte. Als Kind hatte dieses Verhalten bei Astrid nie seine Wirkung verfehltvöllig verstört hatte sie alles versucht, um ihre Mutter von ihrem vermeintlichen Vorhaben abzubringen. Erst im fortgeschrittenen Teenageralter hatte sie begriffen, dass die Drohungen nur eine Manipulationsmethode waren. Mehr noch: Sie würde ihre Mutter niemals glücklich machen können. Trotzdem waren ihr diese unkontrollierten Ausbrüche derart verhasst, dass sie sich angewöhnt hatte, sofort zu gehen, wenn ihre Mutter sich in Rage zu reden begann.

»Ich brauche Abstand von Berlin«, wiederholte sie geduldig, was sie gleich zu Beginn ihres Besuchs gesagt hatte. »In dieser Stadtist alles mit Hennie und Simone verbunden. Silla meint auch, dass mir Distanz guttun würde, um wieder zu mir selbst zu finden

Astrid verbuchte es als kleinen Erfolg, dass sie inzwischen über ihre Frau und ihre Tochter reden konnte, ohne dass ihr die Tränen in die Augen schossen. Den sprichwörtlichen Kloß in der Kehle fühlte sie allerdings noch immer.

»Silla? Wer ist das denn schon wieder? Ach jawar das nicht die Seelenklempnerin, bei der du einmal pro Woche deine ganzen Probleme ablädst? Gehst du da etwa noch immer hin?!«

Seelenklempnerin.

Fast hätte Astrid bei der Bezeichnung gelacht. Aber bitte, wenn ihre Mutter das so in ihrem Gedächtnis abgespeichert hatte, dann sollte es so sein.

»Allmählich könntest du wieder zur Vernunft kommen und damit aufhören, dir selbst leidzutun. Diese Sache liegt jetzt schon über ein Jahr zurück. Kopf hoch, auch wenn der Hals dreckig istdas hat dein Großvater immer gesagt. Seelenklempner hat früher niemand gebraucht. Bei uns in der Familie ist bisher jeder selbst mit seinen Problemen fertiggeworden

Dazu hätte Astrid einiges sagen können, doch sie konzentrierte sich auf das Wesentliche.

»Mama! Ich habe meine Frau und meine Tochter verlorenNun drohte ihre Stimme doch zu kippen. Sie schluckte ihre Verzweiflung tapfer hinunter. »Die beiden waren mein Leben! Seither ist nichts mehr so, wie es war! Begreifst du das denn nicht

»Was ich begreife, ist dass du dich gehen lässtDie Mutter schüttelte entrüstet ihr ergrautes Haupt. »Und überhauptFrau und Kind! Auch wieder so ein Blödsinn. Simone war dem Gesetz nach allein Henriettes Tochter, nicht deine. Das hat sie dir nur schöngeredet, damit du auch brav für ihr Kind zahlst

Sie kam zu Astrid herüber und stützte ihren Kopf mit beiden Händen auf der Tischplatte ab.

»In der Erinnerung ist immer alles rosa, nicht wahr? – Aber ich kann mich da noch an anderes erinnern. Dass der Himmel bei euch nicht mehr voller Geigen hing, hat ja ein Blinder gemerkt! Und das, was dann nach dem Unfall noch wardu lieber HimmelSie schüttelte den Kopf und richtete sich wieder auf.

»Was meinst du eigentlich, wie es mir ging, als ich erfahren musste, dass meine einzige Tochter irgendwo in der Ex-DDR im Krankenhaus liegt? Ich hatte niemanden, mit dem ich darüber reden konnte; ich musste mit diesem Schock ganz alleine klarkommen! Und ich habe keine Kosten und Mühen gescheut, um zu dir zu fahren, wie du weißt! Es war gar nicht so leicht, jemanden zu finden, der auf den Lumpi aufpasst! Vier ganze Tage habe ich an deinem Krankenhausbett gesessen und darauf gewartet, dass du endlich mit der Heulerei aufhörst. Und jetzt, über ein Jahr später, heulst du immer noch. Anstatt froh zu sein, am Leben zu sein. Drei Kreuze kannst du schlagen, dass du aus der Sache mit einem blauen Auge herausgekommen bist, das sag ich dir

Astrid griff sich gequält auf die Stirn und fühlte die kleine Narbe knapp unterhalb des Haaransatzes. Eine Erinnerung an die Platzwunde, die sie sich beim Aufprall auf die Windschutzscheibe zugezogen hatte.

Ihre Mutter war Meisterin darin, Salz in offene Wunden zu streuen. Außerdem sah sie sich selbst schon wieder in der Opferrolleein Zeichen dafür, dass die Unterhaltung eskalieren konnte.

Es war Zeit, zu gehen.

Astrid wusste das, blieb aber dennoch sitzen. Tief in ihrem Inneren hoffte sie noch immer darauf, zu bekommen, weshalb sie diesen Besuch unternommen hatte: Verständnis. Zuspruch. Ein bisschen Mitgefühl. Trost.

Hennie hatte nie verstanden, weshalb sie dieser Frau immer wieder eine Chance gab, sich wie eine liebevolle Mutter zu verhalten.

Warum lässt du dir das alles bieten? Warum besuchst du sie, obwohl du weißt, wie es abläuft, und dich danach mies fühlst?

Fragen, die ihr Hennie zu Beginn ihrer Beziehung wieder und wieder gestellt hatte, vermutlich in der Hoffnung, irgendwann mal eine andere Antwort zu bekommen als die einzige, die Astrid einfiel:

Weil es schon immer so war.

Astrid war damit aufgewachsen, dass ihre Mutter über alles bestimmte und urteilte, sich dabei aber als Opfer inszenierte und permanent ungeliebt fühlte. Und dass sie kaum in der Lage war, sich in die Gefühlswelt anderer hineinzuversetzen. Ihr Vater hatte in dem gesamten Gefüge ein Schattendasein gefristet. Astrid kannte ihn als stillen, in sich gekehrten Mann, der mit leiser, ruhiger Stimme sprach und bei jedem verbalen Hieb seiner Frau zusammenzuckte.

Als Kind hatte Astrid seine Nähe gesucht und sich immer wieder gewünscht, dass er für sie Partei ergriff. Vergebens. Er wandte sich lieber ab, als sich gegen seine zeternde Gattin zu stellen.

Astrid war erst vierzehn gewesen, als er von seiner Arbeit nicht mehr nach Hause gekommen war. Direkt am Schreibtisch hatte er einen Schlaganfall erlitten. Sein plötzlicher Tod beendete abrupt das Hausfrauendasein ihrer Mutter. Die Rente, die ihr als Witwe zustand, reichte nicht, um die steigenden Kosten in einer der teuersten Städte Deutschlands zu decken. Unter Klagen und zahlreichen Tränen hatte sie jenen Job wieder aufgenommen, den sie vor Astrids Geburt leichtherzig an den Nagel gehängt hatteden einer Verkäuferin in einem Modegeschäft.

Im Nachhinein war sich Astrid darüber bewusst, dass die Berufstätigkeit der Mutter ihr zumindest etwas Freiraum ermöglicht hatte. Abends, wenn Inge Behringer von der Arbeit nach Hause kam, war sie meist zu abgekämpft und müde, um sich noch ihrer Tochter zu widmen. Hauptsächlich jammerte sie über die Arbeit und über die Kolleginnen, die sich ihr gegenüber natürlich allesamt völlig unmöglich verhielten. Astrid saß dann mit ihr am Tisch, löffelte Suppe oder biss in ein Schnittlauchbrot, nickte hin und wieder oder gab ein bedauerndes Hmmm von sich, während sie ihren eigenen Gedanken nachhing. Diese kreisten damals hauptsächlich darum, dass mit ihr irgendetwas nicht stimmen konntedenn warum sonst hatten fast alle Mädchen in ihrer Klasse schon mit mindestens einem Typen herumgeknutscht, während sie lieber weiterhin mit ihrer besten Freundin abhing oder dieses Mädchen aus der Parallelklasse so faszinierend fand? Die Antwort sollte sie erst Jahre später bekommen.

»Jedenfalls, wenn du meinst, dass du das mit Berchtesgaden tun musst, dann werde ich dir sicher keine Steine in den Weg legen

Die Stimme ihrer Mutter brachte Astrid in die Gegenwart zurück.

»Aber sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt

Astrid runzelte die Stirn.

Hatte sie irgendetwas verpasst? – Anscheinend.

»Wovor denn?«, hakte sie vorsichtig nach.

In ihrem Kopf hörte sie Hennies fassungslose Stimme.

Du willst es nicht anders, oder? Du lechzt richtiggehend danach, dass sie dich demütigt!

Ihre Mutter, die mit dem Schwamm das Innere der Schubladen bearbeitete und ihr dabei den Rücken zugewandt hatte, drehte sich um und atmete tief durch.

»Wovor wohl? – Davor, dass du es dort schwer haben wirst. Du glaubst doch nicht, dass das alles geheim bleibt! Allein schon als so einealso, als«, sie räusperte sich, um zu unterstreichen, wie schwer es ihr fiel, das vermeintliche Unwort auszusprechen, »Lesbe. Das ist tiefstes Land! Da wird getratscht, was das Zeug hält. Sobald das herauskommt, kannst du einpacken

Astrid beschloss, dass es genug war. Die Mission, ihre Mutter von ihrem Umzug in Kenntnis zu setzen, war hiermit beendet.

Sie rutschte von der Bank und stieß dabei mit den Füßen gegen Lumpi. Der Hund schreckte mit einem Jaulen aus dem Schlaf hoch, das so jämmerlich klang, als hätte sie ihn halb totgetrampelt. Prompt fasste sich ihre Mutter mit einer theatralischen Geste ans Herz und rang nach Luft.

»Du musst deinen Frust jetzt wirklich nicht an dem armen Tier auslassen!«, fuhr sie Astrid an, während sie auch schon auf die Knie sank, um den Hund zu liebkosen. Der Dackel winselte und schleckte ihr die Hände, während sie beruhigend auf das Tier einredete und ihm versicherte, wie lieb sie es doch hatte.

Astrid gab sich das Schauspiel noch einige Sekunden, in denen sie überlegte, ob sie ihrer Mutter vielleicht doch auf den Kopf zusagen sollte, dass sie dringend professioneller Hilfe bedurfte. Sie verwarf den Gedankender Ratschlag würde nur zu Streit führenund erklärte stattdessen: »Danke für den Tipp, aber deine Sorge ist unnötig. Ich habe es beim Einstellungsgespräch gleich erwähnt und, stell dir vor, ich bin nicht gekreuzigt worden

Weil ich in der Lage bin, die Dinge gekonnt in Worte zu fassen, ergänzte sie in Gedanken. Und damit meinte sie nicht ihre sexuelle Orientierung.

Ihre Mutter ging nicht darauf ein. Noch immer am Boden kauernd, sagte sie vorwurfsvoll: »Du gehst schon? Ich hätte uns später Kaffee gemacht

»Ich habe noch eine lange Fahrt vor mir

»JajaInge richtete sich auf und folgte ihrer Tochter zur Wohnungstüre. »An deiner Stelle würde ich von deiner Psycho-Tante das Geld zurückfordern«, bemerkte sie mit unverhohlenem Sarkasmus in der Stimme. »Beigebracht hat sie dir nämlich nichts. Du haust noch immer beim kleinsten bisschen Kritik ab

Astrid presste die Lippen aufeinander, um nicht zu schreien.

Erst, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, begannen die tapfer zurückgehaltenen Tränen zu fließen.

Sie vermisste Hennie, die einzige, die nie davor zurückgeschreckt war, ihrer Mutter Widerworte zu geben. Die deshalb zu einer Persona non grata in dieser Wohnung geworden war, obwohl es Astrids Mutter selbst natürlich anders ausdrückte. Selbst als sie nur noch alleine nach München fuhr, waren die anschließenden Gespräche mit Hennie befreiend gewesen. Am Ende hatten sie meistens gemeinsam darüber gelacht, was die Mutter wieder alles vom Stapel gelassen hatte, und so gelang es Astrid, erfolgreich zu verdrängen, dass ihr gestörtes Verhältnis zu ihrer Mutter einfach nur traurig war.

Astrid vermisste in dieser Minute auch Simone. Deren Bemerkungen über die Frau, die von ihr nicht Oma genannt werden wollte, hatten mit den Jahren an Wortwitz gewonnen. Sie hatte mit ihren Worten so oft den Nagel auf den Kopf getroffen, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Eine Fünfzehnjährige, die mit der Schule auf Kriegsfuß stand, ihr schönes dunkelbraunes Haar blondierte und dann blau färbte, die gegen alles rebellierte und sich dabei immer treu blieb.

Wenn Astrid jetzt an sie dachte, schämte sie sich, im Grunde nie ein gutes Wort für Simone übrig gehabt zu haben. Sie war immer nur auf allem herumgeritten, was sie störte, und dabei unbewusst in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten.

Astrid weinte still im Treppenhaus. In ihr tobten Verzweiflung und Schuldgefühle. Sie hatte sich nicht genügend Zeit für Hennie genommen, sich nicht genug Mühe gegeben, ihre pubertierende Tochter zu verstehen. Deshalb war alles ins Chaos gemündet, und deshalb hatte sie die beiden für immer verloren.

Es war nicht das erste Mal, dass sie an dieser Erkenntnis verzweifelte. Sie schleppte diese Last mit sich herum wie einen schweren Rucksack, den sie niemals würde abnehmen können. In diesem Punkt war sie sich sicher.

Dem Klacken der Haustür folgten Schritte im Stiegenhaus. Einer der Nachbarn war nach Hause gekommen und auf dem Weg nach oben. Astrid wischte sich ihre Tränen weg und zog die Nase hoch. Niemand musste sie so sehen.

Als sie einige Minuten draußen auf der Straße stand, fühlte sie sich noch immer erbärmlich einsam und ungeliebtund damit ihrer eigenen Mutter ähnlicher, als ihr lieb war.

*

Bibi, Ebru und Silla waren zum offiziellen Abschied in die kleine Pizzeria in Charlottenburg gekommen, die quasi ums Eck lag. Bibi und Ebru waren der Rest ihres ursprünglich großen Freundeskreises, der, wie Astrid sich inzwischen eingestehen musste, wohl hauptsächlich Hennies Freundeskreis gewesen war. Sicher, sie hatte es den Freundinnen seit dem Unfall nicht einfach gemacht, mit ihr Zeit zu verbringen. Nach Gesellschaft hatte sie sich selten gesehnt – und wenn doch, dann weder nach unbekümmertem Geplauder bei ein paar Drinks in einer Bar noch nach ausufernden Gesprächen über das, was passiert war und wie es ihr damit ging.

Den Part der verständnisvollen Zuhörerin hatte Silla übernommen. Als aus den keineswegs freiwilligen regelmäßigen Treffen Freundschaft geworden war, hatte Silla sich über sämtliche Grenzen und Gesetze ihrer Profession hinweggesetzt.

»Bayern alsoBibi nickte nachdenklich, während der Ober die Getränke servierte. »Echt mutig! Ich könnte mir das überhaupt nicht vorstellen, egal unter welchen Umständen. – Aber du kommst ja von dort, richtig

Astrid nickte. Sie erinnerte sich, dass sie es mal erwähnt hatte. Sprachlich war ihr ihre Herkunft jedenfalls nicht anzumerken, was vor allem daran lag, dass ihr Vater, der in Hannover aufgewachsen war, immer mit klarem Hochdeutsch aufgewartet und damit das Kontrastprogramm zu ihrer Dialekt sprechenden Mutter gebildet hatte. In Berlin sprach Astrid nie Bayerisch, nachdem sich sogar Hennie darüber lustig gemacht hatte, als sie das erste Mal ein Telefonat zwischen Astrid und ihrer Mutter mitbekam. »Du klingst wie aus der Österreich-Werbung«, hatte Hennie gewitzelt. Dass da zu Bayerisch durchaus ein Unterschied bestand, war ihr entweder nicht bewusst oder egal. Nicolettes französischen Akzent fand Hennie dagegen entzückend. Obwohl Nicolette seit zwei Jahrzehnten in Berlin wohnte und ihnzumindest von Astrids Warte aus betrachtetschon längst hätte ablegen können.

»Bekommst du in diesem Krankenhaus wenigstens eine leitende Position?«, erkundigte sich Ebru erwartungsvoll, und Astrid fragte sich einen Moment lang, wann sie sich eigentlich alle in aufstiegs­besessene Karrierefrauen verwandelt hatten.

Als sie sich vor über zwanzig Jahren auf einer Frauenparty an der Uni kennengelernt hatten, hatte Ebru in der Studentenzeitschrift noch Artikel gegen den Kapitalismus veröffentlicht, und Bibi, jetzt Germanistikprofessorin mit eigenem Lehrstuhl, wollte nach Fuerteventura auswandern und am Strand Muschelketten verkaufen. Jetzt bewohnte das langjährige Paar eine Einhundertfünfzig-Quadratmeter-Wohnung am Prenzlauer Berg und buchte auch für Privatflüge Businessclass.

»NeinAstrid griff automatisch nach ihrem Glas Rotwein. Es fühlte sich besser an, etwas in der Hand zu halten, wenn sie diese überflüssige Frage schon beantworten musste.

Dass eine leitende Position für sie erst einmal in weite Ferne gerückt war, lag nach allem, was in den vergangenen fünfzehn Monaten geschehen war, schließlich auf der Hand.

»Aber wenn es keine Beförderung ist, warum wechselst du dann

Astrid fühlte sich spontan an den Besuch bei ihrer Mutter erinnert. Diesmal jedoch hatte sie Silla an ihrer Seite.

»Sie wechselt, weil sie eine Veränderung will«, erklärte die Freundin auch schon eifrig. »Also, ich finde das toll! Wer von uns würde sich schon trauen, einfach so ins kalte Wasser zu springen und irgendwo in der Fremde ganz neu durchzustarten

Sogar für Astrid war Sillas Enthusiasmus etwas zu viel des Guten. Welche der Freundinnen hatte denn schon einen Anlass, das gewohnte Umfeld hinter sich zu lassen? Bibi und Ebru genossen ihr gemeinsames Leben. Und auch Silla hatte keinerlei Veranlassung, irgendetwas an ihrem Leben zu ändern.

»Ich will einen Neuanfang«, wiederholte Astrid, was sie bereits ihrer Mutter zu erklären versucht hatte. »Es ist einfach alles zu viel

Die Freundinnen schwiegen betreten. Ebru starrte auf die Tischplatte, Silla in ihr Weinglas, und Bibi kramte plötzlich mit beunruhigendem Eifer in ihrem Rucksack herum, als gelte es, eine darin steckende Bombe noch knapp vor der Explosion zu entschärfen.

Astrid nahm einen Schluck Wein und wunderte sich im Stillen, warum es selbst in dieser vertrauten Runde so schwerfiel, die Dinge beim Namen zu nennen. Jede von ihnen wusste von dem Unfall, jede von ihnen kannte die lähmenden, aber juristisch höchst relevanten Diskussionen darüber, wo genau sich Astrids Hand kurz vor dem Aufprall befunden hatte: auf ihrem Oberschenkel, am Türgriff oder auch irgendwo dazwischen. Jede wusste außerdem, dass sie bereits drei Wochen nach dem Unglück wieder ihre Arbeit aufgenommen hatte, bei der ersten Visite jedoch mit einem Weinkrampf zusammengebrochen war. Dass man sie danach für ein halbes Jahr dienstfrei gestellt hatte, war ebenfalls kein Geheimnis, genauso wenig wie die Tatsache, dass es ihr anschließend nicht mehr gelungen war, in ihrer Abteilung neu Fuß zu fassen. Sie hatte jetzt diesen gewissen Ruf, der sie umgab wie eine unheilvolle Aura. Ihre Diagnosen wurden plötzlich skeptisch beäugt, Therapieentscheidungen infrage gestellt. Ihre langjährige Expertise in der Behandlung von Schmerzpatienten, ihre Erfahrung als Prüfärztin und ihre zahlreichen Publikationen waren mit einem Mal nichts mehr wert.

»Wie hast du diese neue Stelle eigentlich gefunden? Hast du aktiv gesucht?«, brach Bibi nun das Schweigen.

Astrid war dankbar um den Themenwechsel.

»Gesucht ist übertrieben. Ich habe in einer Ärztezeitschrift geblättert; die Ausschreibung klang interessant. Eine Privatklinik am Königssee, die auf chronische Schmerzpatienten spezialisiert ist und eine Oberärztin der Neurologie sucht. Die Details waren wie auf mich zugeschnitten. Ich habe noch am selben Abend meinen Lebenslauf hingeschickt, weil ich wusste, dass ich es sicher nicht tue, wenn ich eine Nacht darüber schlafe. Am nächsten Vormittag hat sich die Klinikleitung bei mir gemeldet und mich zum Gespräch gebeten

»Das überrascht michBibi runzelte die Stirn. »Immerhin bist du heillos überqualifiziert für die Stelle

»Sie haben schon nachgebohrt, aber angesichts derUmständeverstanden, dass ich etwas kürzertreten will

Astrid merkte selbst, wie sie herumdruckste. Wie konnte sie von den Freundinnen erwarten, Klartext zu reden, während sie selbst genau das tunlichst vermied?

Wieder war es Silla, die verhinderte, dass die Stimmung in den Keller sank. »Wir werden dich selbstverständlich besuchen!«, erklärte sie mit dem für sie typischen Überschwang. »Ich hoffe, deine Wohnung ist groß genug für uns alle

Sie zwinkerte Astrid zu, doch in dem Scherz steckte ein Körnchen Wahrheitzumindest bei Silla, die Hotels verabscheute und ihre Urlaube als begeisterte Couch-Surferin meisterte. Sie müsse in ihrem Job so viel professionelle Distanz wahren, dass sie im Privaten genau das Gegenteil suche, hatte sie Astrid einmal dazu erklärt.

»Hast du überhaupt schon eine Wohnung?«, erkundigte sich Ebru nun. »Einer meiner Cousins wohnt in Salzburg, quasi nebenan, und der jammert ständig über den krassen Immobilienmarkt der Region. Angeblich gibts quasi nichts Leistbares zur Miete, und Eigentum ist unerschwinglich. Für jede Wohnung stehen mindestens hundert­fünfzig Leute Schlange

»Fast so wie hier«, bemerkte Bibi spöttisch, doch keine ging darauf ein.

Erwartungsvolle Blicke richteten sich auf Astrid, die an dieser Stelle nur zu gerne ihr Smartphone zückte. Wenn schon ihr beruflicher Wechsel Skepsis hervorriefmit ihrem neuen Domizil konnte sie ganz gewiss punkten.

»Es war schwierig, aber letztendlich habe ich eine sehr hübsche Wohnung gefundenSie drehte das Gerät zu den Freundinnen. »Voilà! Mein neues Zuhause! Zweiundvierzig Quadratmeter, Balkon südseitig, absolute Ruhelage mit Blick auf die bayerische Alpenlandschaft, sonnige Hanglage unddas Beste: Erstbezug

Wie erwartet, zogen ihre Beschreibung und die Fotos des modern gestalteten Mehrparteien-Hauses, mit dem sich eindeutig ein Architekt ein kleines Denkmal hatte setzen wollen, begeisterte Ausrufe nach sich.

»Und das ist direkt in Berchtesgaden?«, wollte Bibi wissen.

»Nein, in Schönau am KönigsseeDass ihr neues Zuhause in einem Vorort des bekannten Touristenortes stand, war unerheblich. »Die Klinik ist ja dort in der Nähe. Berchtesgaden ist der nächstgrößere Ortoder die nächstgrößere Stadt

»Wahnsinn, echt geilEbru lehnte sich über den Tisch und senkte die Stimme. »Und jetzt mal ehrlich, liebe Astrid: Was genau hast du getan, um diese Wohnung zu bekommen

Astrid spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. Seit dem Unfall begleiteten sie Schuldgefühle, wenn sie daran erinnert wurde, wie gut es ihr im Vergleich zu anderen ging. Sichersie hatte einen hohen Preis für alles gezahlt. Doch im Gegensatz zu anderen konnte sie weiterarbeiten, sich finanziell stabilisieren.

»Sag schon, was zahlst du für die WohnungEbru ließ nicht locker.

Sie gab nach und nannte ohne Umschweife den Preis. Die Reaktion fiel wie erwartet aus: Bibi wurde blass. Silla rang nach Luft.

»Für zweiundvierzig QuadratmeterEbru war entsetzt.

»TjaAstrid hob die Schultern. »Im Grunde ist es fast egal. Ich brauche eh nicht viel zum Leben. Und einen Grund, um zu sparen, gibt es auch nicht mehr

In diesem Moment kam der Ober, um ihre Essensbestellungen aufzunehmen. Astrid war froh darüber. Sogar in ihren eigenen Ohren hatten ihre Worte erbärmlich geklungen. Außerdem flammten ihre Schuldgefühle auf. Sie würde kein Eigentum mehr abbezahlen, aber einen guten Lebensstandard halten können.

Da keine einen Blick in die Karte geworfen hatte, brach Hektik aus. Flink wurden die Speisekarten geöffnet. Schnell hatte jede etwas gefunden.

Als Astrid an diesem Abend in ihre Wohnung zurückkam, in der sich die gepackten Umzugskartons übereinanderstapelten, fühlte sie leise Wehmut. Sie hatte gehofft, durch dieses vorläufig letzte gemeinsame Abendessen mit den Freundinnen auch mit Berlin abzuschließen. Stattdessen zweifelte sie mehr denn je an ihrer Entscheidung.

Hier hatte sie zumindest Leute, die sie kannten und akzeptierten wie sie nun einmal war: zurückhaltend, in Gesellschaft etwas unbeholfen, wenig humorvoll. Eine Ärztin, die sich um ihre Patienten stets mehr gekümmert hatte als um die Menschen, die ihr nahestanden.

In Berchtesgaden kannte sie niemand.

Die Angst, dass sie irgendwann so enden würde wie ihre Mutter, ließ sie in dieser Nacht lange keinen Schlaf finden: ohne Freunde, ohne Abwechslung, stattdessen mit einer Mottenzucht in der Küche und einem übergewichtigen Dackel unter dem Tisch.