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QIU MIAOJIN

Aufzeichnungen eines
KROKODILS

Roman

Aus dem Chinesischen von
Martina Hasse.

Mit einem Nachwort von
Hannah Lühmann.

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1. Notizbuch

2. Notizbuch

3. Notizbuch

4. Notizbuch

5. Notizbuch

6. Notizbuch

7. Notizbuch

8. Notizbuch

1. Notizbuch

_1_

20. Juli 1991.

Durchs Fenster am Schalter der Universitätsverwaltung wurde mir mein BACHELOR OF ARTS überreicht. Die Urkunde war übertrieben groß, ich musste sie mit beiden Händen festhalten. Als ich damit über den Campus lief, fiel sie mir zweimal runter, einmal landete das Abschlusszeugnis am Wegrand im Matsch und ich wischte es an meinem Hemd ab, das andere Mal blies der Wind es mir aus der Hand. Peinlich berührt sprintete ich hinterher, alle vier Ecken hatten Knicke abgekriegt, ich musste mir ein Kichern verkneifen.

»Wenn du bei mir vorbeikommst, kannst du dann was zum Spielen mitbringen?«, fragte das Krokodil.

»Mache ich. Ich bringe dir schöne Dessous mit, die ich selbst genäht habe«, sagte Osamu Dazai.

»Und ich bringe dir den prächtigsten Bilderrahmen der Welt mit, wenn’s recht ist«, sagte Yukio Mishima.

»Und ich lasse für dich hundert Kopien von meinem Abschlusszeugnis der Waseda-Universität machen und tapezier dir damit dein Klo«, sagte Haruki Murakami.

Damit fing alles an.

Musik aus dem Off.

(Soundeffekte vom Schluss des Kinderlieds »Bruder Jakob«.)

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Weil ich kein langes Hin und Her mit dem Abgeben meines Studenten- und des Bibliotheksausweises wollte, sagte ich einfach, ich hätte sie verloren. Das stimmte auch, ich hatte sie tatsächlich verloren. Neunzehn Tage später bekam ich in einem Einschreiben ohne Absender beide Ausweise zurückgeschickt und meine Verlustanzeige verwandelte sich in eine Falschaussage. Dabei war ich doch wirklich unschuldig und bei der Wahrheit geblieben! Was blieb mir anderes übrig, als die Ausweise weiter zu benutzen. (Außerdem war es praktisch.)

Um meine Führerscheinprüfung kümmerte ich mich auch nicht mehr. Obwohl ich schon viermal angetreten war, hatte ich immer noch nicht bestanden. Zweimal war die Prüfung allerdings aus Gründen schiefgelaufen, die nichts mit menschlichem Versagen zu tun hatten. In meinem Umfeld (ich spreche hier von meinem gesellschaftlichen Umfeld) ließ ich daher verlauten, ich sei bloß zweimal durchgefallen.

Aber Schluss, aus, keine Zeit mehr für so was …

Ich verschloss Tür und Fenster, zog den Telefonstecker und setzte mich an den Tisch. So geht nämlich Schriftstellerei!

Als ich mich müde geschrieben hatte, rauchte ich zwei Zigaretten und verschwand ins Bad, um mich kalt abzuduschen.

Es war Taifun-Wetter, wir hatten Sturm und Sturzregenfälle. Ich war oben herum schon ausgezogen, als ich sah, dass im Bad die Seife fehlte. Also streifte ich mir schnell ein Hemd über, holte aus meinem Zimmer ein Stück Happy-Soap und huschte ins Bad zurück. So schreibt man einen »Bestseller«!

Während ich um ein Uhr nachts mit einem Ohr das Nachtprogramm des Polizeisenders hörte und mich dabei einseifte, gab es plötzlich einen Riesenknall. Im Elektrizitätswerk hatte sich eine Explosion ereignet. Im gesamten Umkreis war Funkstille und alles tintenschwarz; überall war der Strom ausgefallen.

Jetzt sah mich ja niemand, also kam ich nackt aus dem Badezimmer, um nach Kerzen zu suchen. Ich fand nur drei kleine Teelichte. Mein einziges Feuerzeug war leer, weswegen ich sie mit in die Küche nahm. Auf dem Weg rannte ich den Ventilator um. Ich hielt sie so lange zum Anzünden über die Flamme am Gasherd, bis die Halter zu heiß wurden und die Teelichte schmolzen; sie anzuzünden hatte ich nicht geschafft. Da wusste ich auch nicht mehr weiter.

Also öffnete ich die Balkontür und trat hinaus, um mich ein wenig abzukühlen. Ich hoffte, noch andere Exemplare der menschlichen Spezies zu entdecken, die nackt auf ihren Balkons standen. Auf diese Art entsteht »gehobene Literatur«!

Und falls es doch kein Besteller und auch keine gehobene Literatur wird, wird es eben ein aufsehenerregendes Buch. Fünf Cent pro Zeichen!

Es geht darum, einen Abschluss zu kriegen und zu schreiben.

_2_

Früher dachte ich immer, in jedem Mann schlummere ein Bild von seiner Traumfrau, und diejenige, die seinem »Urbild« der idealen Frau entspricht, wird dann seine große Liebe.

Obwohl ich eine Frau bin, trage auch ich das Idealbild einer Frau in meinem Herzen. Bisher ist mir diese Traumvorstellung von einer idealen Frau allerdings immer nur im Angesicht meines eigenen Todes erschienen, wenn sie als ultraschönes Hirngespinst sonnengleich über einem eisbedeckten Gipfel aufging. Aber sie zerstob jedes Mal sofort wieder.

Vier Jahre lang habe ich fest geglaubt, dies müsste das Urbild der absoluten menschlichen Schönheit sein … Es war überhaupt das Einzige, an das ich während meiner Studienjahre glaubte, und das war noch die Zeit, in der ich die meiste Ehrlichkeit und den größten Lebensmut aufbrachte.

Heute glaube ich’s nicht mehr. Jetzt ist dieses Bild für mich nichts weiter als die kleine, spontan hingesetzte Pinselei irgendeines Straßenkünstlers, die ich bei mir an der Wand hängen hatte. Als das Ich-glaube-das-nicht-mehr wie ein linder Luftzug vorbeizog, verwehte das Bild allmählich, ich fing an zu vergessen. Fast für lau verkaufte ich die ganze Sammlung Straßenkünstler-Bilder, die mir einmal so teuer gewesen war und jeden freien Fleck an meinen vier Wänden eingenommen hatte. Mit einem Schlag, als hätte ihn ein Zen-Mönch mir auf den Kopf gegeben, begriff ich, dass ich sie doch alle in Erinnerung behalten durfte, denn mein Gedächtnis war wie ein Krug. Aber ein voller Krug ist, wie man weiß, im Handumdrehen wieder leer, und dann würde ich wach und wüsste nicht einmal mehr, wo die Liste mit den Bildern steckte, die ich gekauft und zu welchem Preis ich sie wieder verkauft hatte.

Als klebe da ein doppelseitig beschriftetes Transparent, ein Band, auf dem hinten »Ich glaube es nicht mehr« steht und vorne drauf ist eine brutale Axt. Eines Tages dämmerte mir – und es war so, als schriebe ich zum ersten Mal meinen eigenen Namen: Grausamkeit und Güte sind ein und dasselbe. Es ist wirklich wahr, dass in unserer Welt dem Bösen die gleiche Macht zukommt wie dem Guten! Brutalität und Bosheit sind nur allzu natürlich. In unsrer Welt bestimmen sie die Hälfte allen Nutzens und aller Tatkraft. Um Meisterin meines Schicksals zu werden, muss ich es an Brutalität also noch übertreffen. Dann machst du es wie dieser berühmte Koch aus dem Zhuangzi im Kapitel Pflege des Lebensprinzips, der mit gekonntem Schnitt den Ochsen zerlegt.

Die Axt schwingen … um den Brutalitäten des Lebens beizukommen, brutal gegen sich selbst und gegen andere sein. Das ist das altbewährte Mittel, um den animalischen Instinkten, der Ethik, der Ästhetik und der Metaphysik beizukommen und dazu noch der Vierfaltigkeit.

22 Jahre alt. Punktum.

_3_

S h u i l i n g.

Wenzhou-Straße.

Die weiße Bank beim Eingang der französischen Bäckerei.

Die Buslinie 74.

Wir saßen ganz hinten im Bus, zwischen uns lag der Gang. Shuiling und ich hatten gegenüberliegende Fensterplätze in Beschlag genommen, sodass neben uns jeweils ein Sitz frei geblieben war. Auf den gegen die Dezemberkälte fest verschlossenen Busfenstern lag feuchter Beschlag. Es war am frühen Abend um sechs; in Taipeh eine Uhrzeit, zu der die tintenschwarze Nacht das Tageslicht längst geschluckt hat. Der Bus kroch im stockenden Verkehr die Heping East Road entlang, Haltestelle um Haltestelle. Über dem Kessel der Stadt, dort, wo sich Himmel und Erde berühren, legte der letzte Lichtschein ein faseriges Orangerot an den Horizont, wie ein strahlendes Band. Ein Welle von Glück überkam uns bei diesem ganz naturgegebenen, deshalb aber nicht minder mystischen Anblick und ergoss sich durchs Heckfenster in den Autostrom hinter uns.

Übermüdete, schweigende Menschen füllten den Mittelgang, mit hängenden Köpfen lehnten sie wie Holzpuppen an den Bussitzen. Durch einen Spalt zwischen den Mänteln der Fahrgäste hindurch linste ich vorsichtig zu Shuiling hinüber und gab mir Mühe, völlig unbeteiligt, ohne jeden Anflug von Sehnsucht dreinzublicken, um meine Aufregung zu dämpfen.

»Hast du das da draußen gesehen?«, fragte ich sie und versuchte einen etwas schmeichelhafteren Klang hineinzulegen.

»Mhhh«, hauchte sie mit einer Stimme, so zart wie Flaum.

Da war mir, als säße ich zusammen mit Shuiling in einer luft- und schalldicht verschlossenen Blechkapsel in einem geräuschlosen Raum – als trieben wir federleicht umher. Außerhalb des Busses tobte das abendliche Leben in den hell erleuchteten Straßen, durch die sich die Menschenmassen drängten. Bunt und ohne einen Laut strömten sie an den Fenstern vorbei. Wir waren beide glücklich und zufrieden. Lächelnd blickten wir uns an, während unter uns das Leben blind im schwarzen Magma der subvulkanischen Gänge pulste. Von seiner Bitterkeit wussten wir da noch nichts.

_4_

1987 hatte ich das jeden das Fluchen lehrende Studieneintrittssystem Taiwans endlich hinter mich gebracht und war an der Uni immatrikuliert. In einer Stadt wie Taipeh lebten die Leute eigentlich nur, um ihr Leben wie eine Konservendose abzufüllen mit Prüfungen und Geldverdienen. Ich mit meiner Premium-Konservendose hatte schon drei Jahre auf dem Fließband der industriellen Weiterverarbeitung hinter mir, obwohl die Büchse nichts anderes als fauliges Fleisch enthielt.

Als der Herbst gekommen war, bezog ich ab Oktober ein Zimmer in einer im ersten Stock gelegenen Wohnung in der Wenzhou-Straße. Gleich im Haus nebenan gab es einen 24-Stunden-Tongyi-Supermarkt. Das Zimmer bekam ich in Untermiete von einem jungen Ehepaar, das ein paar Jahre zuvor die Uni abgeschlossen hatte. Sie gaben mir einen ihrer vier Räume ab. Er lag nach hinten zur Gasse raus und hatte ein großes Fenster. Das gegenüberliegende Zimmer hatten sie an zwei Schwestern vermietet. Die beiden übrigen bewohnten sie selbst. Wenn ich zum Fernsehschauen ins Wohnzimmer kam, saßen die beiden üblicherweise Arm in Arm auf ihrem kaffeefarbenen Sofa. »Im letzten Unijahr haben wir geheiratet«, erzählten sie mir lächelnd. Für gewöhnlich wechselten sie aber kein Wort mit mir. Die beiden Schwestern verbrachten den ganzen Abend auf ihrem Zimmer und schauten sich dort Sendungen an. Kam man an ihrer Tür vorbei, hörte man ihre leidenschaftlichen Diskussionen bis auf den Flur. Mit den übrigen Mietern sprachen sie nur das Notwendigste. Sie würdigten uns keines Blickes, ungezwungen gingen sie ein und aus, als existierten wir anderen überhaupt nicht. Deshalb herrschte unter den fünf Bewohnern dieser großen Etagenwohnung mit ihren vier Räumen plus Wohnzimmer Grabesstille, eine wahre Stummenmietwohnung war das!

Ich hauste dort ganz allein vor mich hin. Morgens blieb ich liegen, erst abends ging ich raus. Um Mitternacht stand ich auf, schwang mich auf mein burgunderrotes Giant-Bike und holte mir um die Ecke ein paar Nudeln mit Fleischsoße. Oder ich kaufte Frühlingsrollen. Fuhr wieder nach Hause, fing an zu lesen und aß dabei. Ich duschte, wusch Wäsche; um mich her kein einziges menschliches Geräusch, nirgendwo mehr Licht. Nächtelang schrieb ich Tagebuch oder war am Lesen. Mich fesselten Kierkegaard und Schopenhauer. Ich lechzte nach all den Büchern von wimmernden Seelen und sammelte sämtliche Ausgaben der Oppositionellen-Wochenzeitung, die es bloß unter dem Ladentisch zu kaufen gab. Ich erforschte die Logik politischer Lachnummern, studierte politische Spieltheorie, die den Gegenpol meiner Seele bildet, und der damit einhergehende Entfremdungsgrad half mir, den Highspeed meiner spirituellen Energie etwas zu drosseln. Wenn morgens zwischen sechs und sieben die Sonne aufging, verzog ich mich, so wie die Ratte sich vor dem Tageslicht verkriecht, mit meinem heißgelaufenen Hirnkasten unter die Bettdecke.

So lief es, wenn alles bestens war. Zumeist aber war es nicht so. Dann aß ich den ganzen Abend überhaupt nichts. Wusch mich nicht. Stand erst gar nicht auf. Sogar das Tagebuchschreiben und die Selbstgespräche fielen flach. Nicht mal ein paar Seiten lesen, ein paar menschliche Geräusche aufschnappen war dann drin. Den ganzen Tag über hörte ich, eingewickelt in meine Bettdecke, nicht auf zu weinen; an einen Luxus wie Schlaf war nicht zu denken.

Ich wollte niemand um mich haben. Es wäre nutzlos gewesen. Überflüssig. An solchen Tagen ritzte ich mich.

Mein eigentliches Zuhause war die Bankomat-Studentenkarte. Damit brauchte ich erst gar nicht in meine Bude zurück.

Die Uni gab mir das trügerische Gefühl, einer Art Beruf nachzugehen, sodass mich die Verantwortung, für mein Leben aufkommen und in der Gesellschaft klarkommen zu müssen, nicht einschnürte wie eine Zwangsjacke. Man muss sich eben bloß dafür hergeben, auf dieser heruntergekommenen Bühne mitzuspielen, sein Fähnchen nach dem Wind der Leute hängen – als fürchte man Strafen, wenn man nicht hart genug arbeitet – und hinterher ein reuevolles Gesicht aufsetzen. Dieses ganze hohle gesellschaftliche Theater, das nichts als Müll produziert, ist doch echt seltsam! Als ob jemand deinen Körper in ein Gebäude hineinzwingt, deiner Seele aber den Zutritt verwehrt. Dass die Leute das entweder nicht wissen oder aber nicht zugeben wollen, macht’s noch viel schlimmer, dabei sind diese zwei »Konstrukte« im Alltag so dermaßen real und umfassend! Sie sorgen dafür, dass ich identifizierbar bin für andere, die dauernd, sich wie Würmer windend, etwas von mir wollen. Aber ehrlich gesagt beschreibt mich dieses abstrakte Gefasel hier lange nicht so treffend, wie es meine Wege zum Tongyi-24-Stunden-Supermarkt nebenan tun.

Ich las keine Zeitung, sah auch kein Fernsehen. Den Sport ausgenommen, wo eine Anwesenheitsliste geführt wurde, ging ich überhaupt nicht zur Uni. Bei den Leuten, die ich kannte, meldete ich mich nicht mehr. Und mit meinen Mitbewohnern in der Wohnung wechselte ich kein Wort. Es gab nur eine bestimmte Zeit, zu der ich noch den Mund aufmachte, nämlich an jenen Mittagen oder späten Nachmittagen, an denen ich eitler Pfauenmensch in den Debattierkurs ging, freies Sprechen üben.

Viel zu früh schon war mir klar, dass mir das Pfauenhafte, Schöne angeboren ist. Ich habe es nicht geschafft, diesem Umstand unbeteiligt gegenüberzustehen. War ich auch eine noch so faule Haut, mein Gefieder unterzog ich regelmäßiger Pflege! Und da ich nun mal die allerprächtigsten Federn besaß, konnte ich mir nur selten verkneifen, mich in der Bewunderung zu sonnen. Brachte es nicht fertig, auf diesen Spiegel zu verzichten, schaffte es nicht, mich vom Pfauentanz fernzuhalten, sondern verfiel ihm geradezu.

So war das mit mir.

Eine fundamental schlechte Eigenschaft, finde ich!

Nun haben wir aber eine Welt, in der die meisten Menschen durchs Leben gehen, ohne je gelebt zu haben. Wir sagen, dass wir üben müssen, uns in uns selbst abzuschließen, um autark zu sein gegenüber dem System. Wir wissen, dass das, was wir als Welt empfinden, individuell, also subjektiv ist. Und dass wir uns in der Welt der anderen, also in der von den anderen subjektiv als Welt erkannten Welt, akribisch genau zu benehmen haben.

Damit die Zeit vergeht, musst du sie durch Langeweile überwinden. Auf Englisch hieße es »break on through«, das trifft’s noch besser.

_5_

Sie beging ein Verbrechen an mir. Früher hätte man da gesagt: »Ich hätte sie dafür umbringen müssen!« Heute sagen wir: »Sie nötigte mich so, dass es bei mir die strukturierte Revolution auslöste.«

S h u i l i n g.

Ich ging dabei drauf, opferte jede Chance, auch nur weiterzuleben. Danach und überhaupt war alles nicht mehr auszuhalten, so absolut, so dermaßen, dass ich zerbrach, ach, viel schlimmer noch … Du kannst eine Zahl teilen, bis sie kleiner und kleiner ist, aber kommst damit nie zu einem Ende, weil du nun mal mit dem Dividieren angefangen hast.

Als ich an einem Tag im Oktober 1987 mit meinem Giant-Bike auf dem links und rechts von großen Palmen flankierten Yelin-Boulevard, der Prachtstraße der Universität, an einer Person vorbeiradelte, war mir sofort bewusst: Sie hat heute Geburtstag. Aller Kummer und alle Furcht wurden mir dabei aufs Sparbuch überwiesen. Mir schwante, dass der Kontostand einen ziemlichen Sprung getan hatte. Ich wies die Überweisung entschieden zurück – mehr kann man nicht tun. Wie sehr wünschte ich mir später, dass ich das ganze Sparbuch hätte zurückgeben können!

Sie war gerade zwanzig geworden, ich fünf Monate vorher achtzehn. Sie ging mit ein paar ihrer Highschool-Mädels dort lang. Mein Blick hatte lediglich ihr Profil gestreift und auch wenn ich jetzt schon weit vor ihnen fuhr, ich hatte es noch gesehen: Sie schien wie aus dem Tiefschlaf gerissen und mit einem Schlag hellwach, und sogar ihr übermütig überdrehtes Gekicher war mir nicht entgangen.

Wie Nadelstiche spürte ich, dass sie in mir Zuneigung und Beschützerinstinkte entfachte mit ihrer kindlichen, makellos zufriedenen Art. Im Grunde fühle ich mich bis heute von ihrer von Natur aus bei allen Leuten Zuneigung und Beschützerinstinkt entfachenden Art gefangengenommen. Ich kann nichts dafür, dass ich mich in ihrer Nähe wie ein einsamer Zaungast fühle; sie schafft es nicht, mit ein paar mehr Menschen zu tun zu haben, weil diejenigen, die sie immer um sich hat, sie schon mit Händen und Füßen umgarnen. Da braucht sie nicht noch andere. Sie kommt ja ohnehin kaum zum Luftholen, so fest umlagert, wie sie bereits ist.

Deswegen musste ich, als ich mich in ihrer Nähe befand, alles aufs Spiel setzen, um sie einzuwickeln und bei ihr zu sein. Kam ich nicht in ihre unmittelbare Nähe, war es unmöglich, zu ihr vorzudringen. Ich hätte es nicht geschafft, die anderen beiseitezuschieben, so wenig wie sie es geschafft hätte, sich aus eigenem Antrieb herauszudrängen. Das ist bei ihr fundamental so angelegt. Ihr angeboren.

Das ganze dritte Jahr an der Highschool war verstrichen, ohne dass wir uns ein einziges Mal auch nur richtig angesehen hätten. Vorsichtshalber ging ich ihr aus dem Weg. Niemals hätte ich die Initiative ergriffen und ihr einfach Hallo gesagt. Aber ich verzehrte mich danach, von ihr wiedererkannt zu werden, wenn ich in irgendeiner Gruppe in Blickweite stand. Die Schülerinnen aus dem Jahrgang über mir waren alle mit äußerster Vorsicht zu genießende Pik-Damen. Waren die Karten gemischt und hatte man erst einmal abgehoben, waren sie umso gefährlicher.

_6_

Ich ging im sinologischen Seminar als Gasthörerin zu »Einführung in die Literatur«. Der große Hörsaal war voll besetzt. Weil ich zu spät war, griff ich mir einen Stuhl und hob ihn übers Rednerpult hinweg, um mich wie ein Schaf gleich vorn neben die erste Reihe zu drängen. Die Professorin unterbrach die Vorlesung und machte mir den Weg frei, während die anderen Schafe den Kopf hoben und meinen Stunt verfolgten.

Als die Vorlesung fast zu Ende war, wurde von hinten an mich ein Schnipsel Papier weitergereicht:

Kann ich dich nach der Vorlesung sprechen? Shuiling.

Sie hat mich ausgewählt!, dachte ich.

Das sollte ich noch oft denken.

Auch zu andrer Zeit und an andrem Ort hätte sie mich ausgewählt. Sie lauerte zusammengeduckt in der Menge, völlig ausgehungert und abgezehrt, wollte von niemand entdeckt werden. Hinter ihren befangenen, furchtsamen Augen hatte sie sich versteckt und so lange im Tiefschlaf verharrt, bis ich auftauchte. Dann hob sie entschieden ihre Hand, zeigte auf mich und sagte: »Die da will ich!« Dabei entschlüpfte ihr das schüchterne Lächeln eines kleinen Kindes, das etwas heiß und innig begehrt. Ich wurde, ohne dass ich eine Chance gehabt hätte, es abzulehnen, mitgenommen wie eine frisch erstandene Topfsonnenblume.

Hey, aber diese Blumenkäuferin war inzwischen eine wunderhübsche, charmante junge Frau! In meinem Ofen loderten die Flammen hoch auf. Sie stand direkt vor mir und schob sich eine dicke Strähne ihres langen Haares aus dem Gesicht. Im Bruchteil einer Sekunde hatte ihr perfekter neuer Charme Tattoos in mein Herz gestochen. Ihre weibliche Ausstrahlung war schier überwältigend, sie traf mich mit der Wucht eines mächtigen Faustschlags und katapultierte mich aus dem Ring. Zwischen uns waren die Zeiten der Ebenbürtigkeit damit endgültig vorbei. Ich lag hier am Boden, während sie dort drüben eine andere von ihr Auserkorene krönen würde. Nie und nimmer konnte ich es wieder in den Ring hineinschaffen …

»Wie kommt’s, dass du hier bist?«

Darauf sagte sie überhaupt nichts, und das war ihr kein bisschen peinlich. Also ergriff ich, weil ich nur nervöser wurde, nochmals das Wort. »Hast du das Studienfach gewechselt und holst jetzt Vorlesungen nach?«

Sie wagte nicht, aufzuschauen und mich anzusehen. Ihre Fußsohlen bearbeiteten den Boden. Aber es kam kein einziges Wort von ihr, als ginge dieses Gespräch sie nichts an.

»Woher weißt du, dass ich das Fach gewechselt habe?«, gab sie plötzlich das Schweigen auf. Die Überraschung war ihr deutlich anzusehen. Mit riesengroßen Kulleraugen starrte sie mich an. Endlich konnte ich ihr mal richtig in die Augen schauen!

»So was kriegt man halt irgendwie mit.« Ich wollte ihr nicht sagen, dass ich nach Neuigkeiten über sie immer die Ohren spitzte. »Endlich sagst du mal was!«, atmete ich erleichtert auf. Sie lächelte verschüchtert, aber fröhlich. Da brach ich in ziemlich lautstarkes Gelächter aus. Es beruhigte mich, dass ich sie zum Lachen bringen konnte. Ihr Strahlen war wie ein silberner Abendsonnenschein, der zart den goldgelben Meeressaum überpudert.

Sie sagte, seit ich in den Vorlesungssaal gekommen sei, hätte sie keine Minute mehr stillsitzen können und unbedingt mit mir sprechen wollen, dann aber nicht gewusst, über was.

Ich wies sie auf ihre losen Schnürsenkel hin. Sie hockte sich auf den Boden, um sie mit aller Sorgfalt zu binden.

Als sie mich dann vor sich gehabt hätte, habe sie keinen Ton herausgebracht auch gar nichts mehr sagen wollen, nur noch so dastehen.

Sie warf sich den violetten Rucksack aus Segeltuch über die Schulter, beugte sich wieder nieder und redete weiter.

Plötzlich überkam mich das Verlangen, meine Hand auszustrecken und über ihr langes Haar, das ihr über den Rücken fiel, zu streicheln. Es sah so weich aus und fließend wie Seide.

Natürlich weißt du von gar nichts. Ich verstehe alles, sagte ich im Stillen zu ihr. Unterdessen schnappte ich mir ihren Rucksack. Ins Spüren seiner Last mischte sich verschwommenes Glück. Wie sehr hoffte ich, dass es bei ihr ewig dauerte, sich die Schuhe zuzubinden!

Um sechs Uhr war Vorlesungsschluss. Die Gebäude auf dem Campus verschwanden schon in der Dunkelheit und der Nachtwind rauschte. Wir schoben unsere Fahrräder nebeneinander her. Entspannt klackerten unsere Schritte im gemächlichen Tempo über den breiten, gepflegten Boulevard. Keine Ahnung, ob ich mit ihr ging oder sie mit mir.

Ein ganzes Jahr war es nun her, dass wir beide in diesen engvertrauten, aber auch befremdlichen, ja zwielichtig amourösen Zustand verfallen waren und diesen Gefühlen entsagt hatten, als wir uns im Stillen damit konfrontiert sahen.

»Wieso kommt du jetzt an und willst mit mir sprechen?« Dass ich zu viel wusste, verbarg ich in meinem Herzen, lieber fragte ich in kleinen Schritten.

»Wieso sollte ich das nicht tun?«, fragte sie leicht aufmüpfig zurück. Das Dunkel der Nacht verbarg ihr Gesicht. Ich musste es gar nicht sehen, um zu begreifen, dass sie in diesem Jahr an der Uni sehr gelitten hatte. In ihrer Antwort klang die unverwechselbare, für sie nun so typische Schwermut mit. Ich las in ihr wie in einem offenen Buch.

»Ich bin doch nur ’ne ehemalige jüngere Mitschülerin von dir, die du bloß dreimal gesehen hast«, tat ich überrascht.

»Ist ja gar nicht wahr!«, sagte sie in absolut entschiedenem Ton. Als hätte sie zu sich selbst gesprochen.

»Hattest du keine Angst, dass ich dich vergessen haben könnte und gar nicht mit dir sprechen will?« Ich sah auf ihren langen Rock, der im Wind schwang.

»Ich wusste, dass du mich nicht vergessen hast.«

Sie sprach immer noch so bestimmt, als wäre alles, was sie über mich zu wissen glaubte, mit dem Eisen in Stein gemeißelt.

Am Campustor angekommen, blieben wir stehen und hielten inne. Fast klang es ein wenig flehentlich, als sie mich fragte: »Magst du dir noch mein Zimmer anschauen?« Ein unverstelltes, natürliches Interesse, wie man es den eigenen Leuten gegenüber hat, umfloss ihre Stimme wie ein weiches Stück Stoff – so weich, dass mir mein Herz vor Sehnsucht wehtat. Wenn die Flut auf dich zukommt, was tust du, um sie aufzuhalten?

Sie war wie geboren für mich – also brauchte es keine langen Umstände. Später ging ich mit ihr die Xinsheng South Road entlang und dann zurück in die Wenzhou-Straße.

»Wie ist es dir in dem Jahr so ergangen?«, versuchte ich den Schleier ihrer Schwermut zu lüften.

»Ich möchte nicht darüber reden.« Sie kniff die Augen ganz fest zu, seufzte unmerklich. (Ich hatte es aber trotzdem gehört.) Dann hob sie unsicher den Kopf und blickte ins Leere.

»Willst du’s mir nicht erzählen?« Ich zog sie vom Bordstein weg und wechselte auf die andere Seite, aus Angst, dass sie von einem Auto erfasst werden könnte.

»Ich will es niemandem erzählen.« Dabei schüttelte sie den Kopf.

»So schlimm? Wie ist das gekommen?«

Ich ertrug es nicht, dass sie mir partout nichts sagen wollte.

»Ja, echt! Ich bin anders geworden!«

Beim nächsten Wimpernschlag hatte sie die Augen weit aufgerissen und stolz und mit bösem Blick gesprochen. Es war mehr eine Kundgabe als eine Mitteilung.

»Wie? Anderer Mensch oder was?«

Ich fand es kindisch, was sie da sagte, und wollte mir einen Spaß daraus machen.

»Ich bin eben eine andere als früher auf der Highschool!« Ihr Blick wurde noch böser und in ihrer Stimme schwang Hartherzigkeit gegenüber sich selbst mit.

Zu hören, wie resolut und trotzig sie sagte, ›ich bin jetzt anders‹, war wirklich markerschütternd traurig.

Die vielen Straßenlaternen auf der Xinsheng South Road legten eine goldene Leuchtspur. Wir gingen in dem roten Backsteinviertel außerhalb des Universitätsbereichs spazieren, dabei fuhren wir mit den Händen am Eisenzaun der Campus-Einfriedung entlang, links von uns die Straße mit dem weithin strahlenden Licht, rechts das von dunklen Bäumen gesäumte, stockfinstere Unigelände, das märchenhafte Einsamkeit atmete.

Wenn nichts vorgefallen wäre, wärest du nicht zu einer anderen geworden. Ist doch logisch, oder?, dachte ich still bei mir.

Laut sagte ich: »Zähl doch mal, in wie vielen Wohnungen in dem Hochhaus dort Licht brennt.«

Ich zeigte mit dem Finger auf einen neuerrichteten Wohnturm an der großen Kreuzung.

»Ja. Warte! Nur in fünf Fenstern ist es hell. Da sind erst fünf Familien eingezogen«, antwortete sie fröhlich.

»Mal sehen, wie viele es noch werden.«

Ob Shuiling sich einmal daran erinnern wird, wie viele es waren?, fragte ich mich. Und ich nickte unmerklich.

_7_

Ohne sie hätte ich in meinem ersten Semester aufgehört zu atmen. Was mich in Atem hielt, war eine geheime Verabredung – eine verbrecherische. Das Objekt meiner Verabredung hatte allerdings keine Ahnung, dass es sich dabei um ein Date handelte. Ich wollte es nicht zugeben, nicht einmal selbst wahrhaben, dass sie Einzug in mein Leben erhalten hatte, verleugnete sogar die Existenz dieser durchbrochenen Linie, durch die unsere gesetzesferne Beziehung möglich geworden war, dabei hatte mein waches Auge sie vor langer Zeit schon erkannt.

Während meiner Pubertät war dieses spezielle Auge in irgendeiner Viertelstunde zum ersten Mal aufgegangen. Was vor mir lag, ließ mein Haar schnell schütter und grau werden. Denn mein künftiges Leben war heimlich gegen ein grausiges Höllengemälde ausgetauscht worden. Deshalb beschloss ich, ehe ich erwachsen war, dass ich zu dem höllischen Menschen, der ich werden sollte, so zart und zaghaft wie irgend möglich heranwachsen wollte. Das Spezialauge und mich selbst sperrte ich in eine dunkle Kammer.

Jeden Sonntagabend befiel es mich wie ein Zwang und ich dachte wieder an sie. Wie eine verhasste Aufgabe, an der man nicht vorbeikommt. Ich musste mich dazu durchringen, nicht mehr zu der Literatur-Vorlesung zu gehen. Dafür verschlief ich den halben Montag. Es war fast drei, als ich dann doch von allein aufwachte und mein Giant-Bike mich ruckzuck Richtung Seminar beförderte.

Denn jeden Montag war Shuiling nach Unterrichtsschluss immer einfach da und begleitete mich so selbstverständlich zurück, als läge die Wenzhou-Straße auf ihrem Heimweg. Ich leistete ihr dann immer auf der Bank vor der französischen Bäckerei Gesellschaft beim Warten auf den 74er-Bus. Unsere geheimen Dates blieben simpel und sauber. Ausgeführt mit der leichten Hand des gehobenen Verbrechens, die auf der einen Seite die wachsame Polizeipatrouille schmiert und auf der anderen das schändliche Begehren noch weiter anfüttert mit süßem Agar Agar – wie in einer Petrischale, worin sich die angesetzte Kultur erst so richtig entwickelt und zum Nährboden unseres kriminellen Verlangens werden kann.

Die ganze übrige Woche hatten wir nicht das Mindeste miteinander zu tun. Ich dachte nicht mal an sie. Sie war das Montagsspukgespenst. Montags war Gedenktag meiner Seele! Der Seele einer Verblichenen. Da brachte Shuiling mir Rosen zu meinem Gedenken. In einem weißen Umhang aus Seidenbatist schwebte sie herbei, barfüßig, ekstatisch tanzend vor Liebesverlangen. Mit geschlossenen Augen, trunken und ungestüm ließ sie Unmengen von Rosen über der Wildnis herabregnen. Sie wusste nicht einmal, dass sie mir opferte. Jede Woche brachte sie mir Rosen. An den Rosen konnte ich ablesen, dass ich noch lebte. Das echte Leben konnte zwar herbeigaloppieren und mir die Rosen wegnehmen, doch immer gab es da eine Glasscheibe, die mir den Weg versperrte und meine ausgestreckte Hand zu einer Reflexion im projektiven Raum werden ließ. Dann war Montag vorbei, und der projektive Raum war zu einer noch dickeren Glasscheibe geworden.

Das kleine Zimmer in der Wenzhou-Straße besaß eine elegante dattelbraune Tapete und gelbe Gardinen. Was habe ich dort eigentlich mit ihr gesprochen? Hinter dem Holzbett auf dem Boden saß sie, hatte die Beine aufgestellt in dem schmalen Spalt, der zwischen dem Fuß des Bettes und dem Kleiderschrank an der Wand noch blieb, und mir den Rücken zugewandt. Sie sagte extrem wenig. Ich dagegen viel. Die meiste Zeit sprach ich. Ich erzählte ihr alles, was mir in der Vergangenheit zugestoßen war, Vorfälle, die zu grausig zum Hinsehen gewesen waren, Menschen, die mich in der Vergangenheit immer wieder beschäftigt hatten, und dass ich kompliziert und seltsam verstiegen sei.

Sie hatte die ganze Zeit über mit irgendetwas in ihren Fingern herumgespielt, nun hob sie beiläufig den Kopf und fragte, auf welche Art und Weise ich denn kompliziert und verstiegen sei.

Sie akzeptierte mich, und zwar völlig. Das ging so weit, dass sie sogar in Abrede stellte, dass ich selbst etwas an mir nicht mochte. Der Blick ihrer Augen war so unverdorben rein wie ein blitzblanker Spiegel und verletzte mich.

Aber sie akzeptiere und wolle mich doch …

Eingeschnappt sagte ich: »Du verstehst gar nichts!«, und das nach jedem dritten Satz. Ich wich zurück vor ihrer Riesenakzeptanz. Ihre Augen leuchteten nur umso durchdringender und noch transparenter. Wie aus ozeanischen Tiefen nahm sie mich mutig in den Blick und blieb still, als wäre alles Reden überflüssig.

»Du verstehst überhaupt nichts!«

Sie glaube, sie verstünde es schon. Wie dem auch sei. Sie akzeptiere und wolle mich …

Mehr als ein ganzes Jahr später hatte ich begriffen, dass das die Hauptsache war. Diese Augen, die mein gesamtes inneres Gerüst aufrichten konnten, waren der Angelpunkt meiner Sehnsüchte. Ach, hätte ich doch in ihren ozeangleichen Augen versinken und mich darin auflösen können!

Einmal erwacht, ließ mich dieses Wunschbild keine Sekunde mehr los, es brannte mir auf der Seele. Ihre Augen schlugen zwischen mir und der Welt eine Brücke. Die Brandmale meiner Sünden und der Ablehnung, die wie rote Schriftzeichen leuchteten, setzten das Signal: Mich drängte es mit jeder Faser meines Herzens zum Ozean!

_8_

Ich gehöre zu den Frauen, die sich in Frauen verlieben. Ich weine ohne Ende, und es sind nie versiegende Tränen, und dabei sehe ich aus, als hätte ich mein Gesicht mit einem Eier-Shake eingeschmiert.

Die Zeit versank in meinen Tränen. Auch wenn die ganze Welt mich liebt: Es ändert nichts daran, dass ich mich hasse. Angehörige der menschlichen Spezies stoßen ihr Bajonett in den Brustkorb von Säuglingen, Väter produzieren Töchter und zerren ihr eigen Fleisch und Blut aufs Abort, um es zu vergewaltigen, zwergwüchsige Bettler mit verstümmelten Beinen liegen bäuchlings auf der Fußgängerüberführung, von wo sie sich angeblich gleich in den Tod stürzen, und lassen sich von Passanten fotografieren, für ein Almosen. In der Psychiatrie leiden Menschen, die ihr Hirn nicht unter Kontrolle halten können, unter dem quälenden Zwang, sich umbringen zu wollen. Wie kann die Welt nur dermaßen grausam sein?! Ein Mensch muss am eigenen Leib so viel Schlimmes erfahren und noch dazu begreifen, was er bereits schemenhaft empfunden hat, seit er ganz klein war: Dich hat die Welt längst aufgegeben, und welches Urteil schon da über ihn verhängt wurde: Du lebst und also hast du dich versündigt / Dein Verbrechen ist, dass du überhaupt am Leben bist.

Die Welt drehte sich weiter so wie immer, als wäre nicht das Geringste geschehen, und schrieb mir vor, mit dem gezwungenen Lächeln der Glücklichen in Erscheinung zu treten: Stimmt schon, Bajonette durchbohren Brustkörbe, es wird vergewaltigt und missbraucht, Bettler liegen auf Brücken und Kranke sperrt man in die Psychiatrie. Niemand und keiner erfährt von deiner Not, denn die Welt hat, durchtrieben, wie sie ist, sich längst von aller Verantwortung freigesprochen. Allein du weißt ganz genau, dass es eben diese eine Sache war, die dich gekreuzigt hat, und dass du nun auf ewig mit diesem einen bestimmten Gefühl leben musst. Nichts und niemand kann dir helfen. Denn du hast dich da allein reingeritten. Und diese Geschichte zertrennt die Verbindung zwischen dir und der menschlichen Spezies. Es ist wie Gefängnishaft ohne Bewährung. Und dann erzählen mir Vertreter der menschlichen Spezies obendrein noch, ich könnte mich doch ach so glücklich schätzen, glücklicher geht gar nicht! Mein Hals ist voll behängt mit den erlesensten Markenschildchen, die mich als glücklich ausweisen. Wenn ich mich vor der Kamera nicht zufrieden zeige, breche ich ihnen das Herz.

Shuiling,

klopf nicht mehr an meine Tür! Du kannst dir nicht vorstellen, wie dunkel es in meinem Herzen ist. Du weißt nicht, wer ich eigentlich wirklich bin! Da ist nur ein schwammiges, undeutlich zu erkennendes Ich vor mir, so wie ein Wasserzeichen, das auf mich wartet. Aber ich will gar nicht vorwärts gehen, ich will nicht ich selbst werden! Seit ich dich zum ersten Mal sah, wusste ich, dass ich dich lieben würde mit einer Liebe, die einem Raubtier, einem lodernden Flammenmeer gleicht. Aber es ist verboten! Es darf niemals so weit kommen! Sonst reißt wie bei einem Erdbeben die Erde auf und die Gebirge stürzen ein. Sonst zerreißt es mich in einem Gemetzel, bis nur noch Fleischfetzen und Blut zurückbleiben.

Du wirst der Schlüssel sein, der die Tür zu meinem Selbst aufschließt. Wenn ich erst offen und zugänglich geworden bin, peitschen mich Starktränenströme der Angst. Mein wahres Ich, das ich so sehr hasse, wird mich dann aus meinem fleischlichen Körper eliminieren.

Sie begreift es nicht. Begreift nicht, dass sie sich in mich verlieben wird. Oder sich längst in mich verliebt hat. Sie begreift nicht, dass hinter meinem lammfrommen Schafpelz der hungrig wilde Wolf wohnt, der seine erregte Gier, sie in Stücke zu reißen, jetzt nur bezähmt. Sie begreift nicht, dass alles, aber auch alles nur auf dem Austausch von Liebe beruht. Sie begreift nicht, dass sie mir Leid zufügt. Sie begreift nicht, was das ist, das sich Liebe nennt.

Sie schenkt mir ein Puzzle, mit dem sie mich Teilchen um Teilchen geduldig zusammensetzt.

_9_

»Ich komme nächste Woche nicht zur Lit-Einfü, da geh ich erst übernächste Woche wieder hin«, sagte ich.

Abends um sieben hatten Shuiling und ich zusammen den 74er genommen. Sie fuhr nach Hause und ich, weil ich da Nachhilfe gab, in die Changchun-Straße. Wir saßen nebeneinander auf einer Zweierbank, sie am Fenster, ich am Gang. Sie trug einen weißen Schal. Das Oberlicht stand offen, an die untere Glasscheibe hatte sie ihren Kopf angelehnt und ließ ihren Körper vom Bus durchschütteln. Ihre Augen blickten nach draußen in die Dunkelheit und fixierten irgendwelche Punkte in der Finsternis. In mir machte sich eine grenzenlose Einsamkeit breit. Wie fern wir einander doch waren …

»Alles klar.« Sie klang enttäuscht und ließ durchblicken, dass sie die Lust verloren hatte. Sie wusste, dass ich mich wieder auf der Flucht befand.

»Interessiert dich nicht, warum?« Ich hatte Gewissensbisse, wollte nicht, dass sie sich einsam fühlte.

»Okay. Na sicher interessiert’s mich. Sag schon, warum?«

Sie wandte mir den Kopf zu, ließ sich, während sie mich mit ehrlichem Interesse fragte, nicht anmerken, dass sie sich in ihrer Ehre gekränkt fühlte.

»Ich möchte mit niemandem eine feste Beziehung eingehen. Ich hab mich dran gewöhnt, dass ich dich jede Woche sehe, und mir macht Angst, dass mich das an dich bindet, und deswegen möchte ich diese schlechte Angewohnheit beenden«, sagte ich mit einem flauen Gefühl.

»Alles klar. Ganz wie du willst!« Damit wandte sie ihren Kopf wieder ab.

»Bist du jetzt sauer auf mich?« Sie tat mir so leid!

»Ja. Du bist egoistisch.«

Sie saß mit dem Rücken zu mir und im Fenster spiegelte sich ihr betrübtes, einsames Gesicht.

»Wieso egoistisch?« Ich wollte, dass sie aussprach, was sie kränkte. Es war schwierig, sie zum Sprechen zu bringen!

»Du willst diese … schlechte Angewohnheit loswerden. Und was mache ich mit meiner Angewohnheit?!«, fragte sie aufgebracht, nachdem sie lange vor sich hingegrübelt hatte. Normalerweise sagte sie, wenn sie ihr Schweigen aufgab, etwas zu mir, das mich ihrer Gunst versicherte.

»Welche Angewohnheit hast du denn?«, fragte ich spitzbübisch und tat, als ob ich nicht wüsste, was sie meinte.

»Das weißt du nur zu gut!«

Wenn ihre samtweiche Stimme in Wut sprach, spürte ich besonders, wie ich sie in mein Herz geschlossen hatte.

»Weiß ich nicht

Sie ließ ein wenig durchscheinen, mit wieviel Liebe sie mich überhäufte. Es schmerzte, so sehr genoss ich es.

»Du lügst! – Mir geht’s so wie dir. Ich bin’s gewohnt, dich allwöchentlich zu sehen.«

Es klang verzagt und kleinmütig. Aber nicht, weil sie sich dieses Gefühl absprach, sondern weil sie mir davon erzählte. Das Gewissen einer Frau warnt sie wie eine angeborene Vorsichtsmaßnahme stets davor, sich die Liebe anmerken zu lassen, die sie jemandem gegenüber empfindet.

»Dann ist es ja noch viel schlimmer! Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen! Mit der Lit-Einfü ist sofort Schluss! Wir werden uns nicht mehr sehen.«

»Warum sollen wir uns nicht mehr sehen?« Sie blinzelte mit den Augen wie bei einer Matheaufgabe, deren Lösung sich nicht erschließt.

»Es gibt keinen Grund, warum wir uns sehen sollten. Außerdem mach ich mich eines Tages sowieso aus dem Staub. Und dann bist du umso trauriger.«

Zum ersten Mal sprach ich ganz klar aus, dass ich wirklich Gefühle für sie hegte, und war dabei so anmaßend grob und übergriffig …!

»Das kapier ich nicht. Aber ganz wie du willst!«

Sie ließ sich meine Schikane gefallen und leistete rein passiven Widerstand.

_10_

Mauvais sang ist ein französischer Film, keiner von Jean-Luc Godard, sondern ein neuerer, von Leos Carax. Der Hauptdarsteller sieht aus wie eine Eidechse, da besteht also nahe Blutverwandtschaft mit der Genealogie des Krokodils. Die anderen Männer im Film sind entweder klein und dick oder glatzköpfig. Allesamt sind es hässliche alte Männer; mit einer Ausnahme vielleicht: der kleine Bruder des Hauptdarstellers ist ein hübscher blauäugiger Junge, der aber später ein Auge einbüßt. Der Regisseur ist ein Meister der Ästhetik des Gegenwartsfilms.

»Es muss nach oben gehen, nicht nach unten«, sagt der Hauptdarsteller gegen Ende, die Hauptdarstellerin nähert sich ihm von hinten und umarmt ihn, er protestiert. Seine Sätze gehen mir unter die Haut. »Ein ehrliches Kind zu sein, ist ziemlich schwer«, sagt er und schließt die Augen. Dann macht er weiter bauchrednerisch sein Testament. Schließlich stirbt er. Einer der alten, hässlichen Männer drückt ihm zwischen seinen fest geschlossenen Lidern einen Augapfel heraus. Eine Eidechse ist von Natur aus nicht fähig, ehrlich zu sein. Selbst dann, wenn sie sich rücklings hinkugelt und ihren weißen Bauch nach oben dreht, verbirgt sie noch die Tränen, die sie für ihren Liebsten vergießt, hinter falschen Worten. Deshalb nennt man eine Eidechse auch treffend einen schwatzhaften Mann und Labersack.

Ein anderer französischer Film ist 37,2°C le matin. Er wird schon eher in den großen Kinoketten gezeigt und ist für die breite Masse geeignet. Inwiefern er sich dafür eignet? Es kommen nur zwei Farben darin vor, blau und gelb, was leicht zu merken ist, und außer dem männlichen und dem weiblichen Protagonisten, also zwei Figuren, gibt es kaum jemand sonst auf der Welt. Auch die Zeit bleibt von Anfang bis Ende brav geradlinig, es gibt nicht einen halben Satz, der Verständnisprobleme bereiten würde, oder gar längere Dialoge. Jeder Mensch mit Augen im Kopf, selbst Farbenblindheit wäre kein Hindernis, schafft es, ihn sich Popcorn knabbernd und am Strohhalm der Cola nuckelnd zu Ende anzuschauen. Da passt alles.

Die tollste Szene in dem Film ist die, als ein Freund des Hauptdarstellerpaares vom Tod seiner Mutter erfährt und wie gelähmt auf dem Bett liegt. Leute ziehen ihm anderes Zeug an, damit er nach Hause fahren kann, um die Beerdigung vorzubereiten. Die Krawatte, die sie ihm umbinden – man sieht das Muster, als sie hervorgeholt wird –, ist mit nackten Frauen bedruckt. Dabei stehen ihm noch die Tränen im Gesicht, was die anderen zum Lachen bringt.

Die weibliche Hauptfigur Betty sagt: »Das Leben schmeißt mir ständig Steine in den Weg!« Und als sie sich die Augen auskratzt, wird sie in die Psychiatrie gesteckt und mit Lederriemen stramm aufs Bett geschnallt. Da sagt die männliche Hauptfigur: »Keiner kann uns beide jemals auseinanderbringen!«, schminkt sich als Frau und taucht in der Klinik auf, um seine Freundin Betty schließlich mit dem Kopfkissen zu ersticken. Sein Gesicht ist dabei porzellanweiß und wunderbar zart und hat eine beängstigende weibliche Ausstrahlung.

Dem Regisseur gelingt es meisterhaft, eine obsessive Liebe zum lebenslänglichen Fluch werden zu lassen. Soweit passt das alles noch sehr gut in den Mainstream, aber die letzte Viertelstunde lehrt einen das Leben, und man kotzt Popcorn und Cola.

Der erste der beiden Filme ist eklig. Der zweite ist es auch. Mit dem Unterschied, dass der Zuschauer beim ersten wahrheitsgemäß von Anfang an erfährt, dass es eklig werden wird, der zweite den Zuschauer aber täuscht und ihn in dem Glauben lässt, dass nichts Schlimmes passieren wird, bis es zuletzt dann doch auf einmal widerlich eklig ist.

»Eklig ist nun mal eklig, man muss tunlichst versuchen, ein ehrliches Kind zu sein«, sagt Mauvais sang.

»Wer sagt, dass man keinen Schlips mit nackten Frauen drauf tragen kann?«, sagt 37,2°C le matin.

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M e n g s h e n g.

Habe ich den Typen etwa mal geliebt? Auf diese Frage weiß ich keine Antwort.

Im Dezember 1987 nahm ich an einem Kunst- und Literatur-Camp in Tamsui teil. Nachdem ich mich in der Romangruppe vorgestellt hatte, kam dieser Junge aus der ersten Reihe zu mir rüber und hockte sich neben mich in den Gang. Die Art, wie er da saß und übers ganze Gesicht grinste, bewies mir seine ganz außerordentliche Ernsthaftigkeit.

»Ich bin ein Jahr älter als du und geh jetzt in die Mittelstufe. Nächstes Jahr komm ich an deine Hochschule, dann sehen wir uns öfter! Als ich dich reden gehört habe, fand ich, du bist hier die einzige, die’s wert ist, mal zuzuhören. Was der Rest hier von sich gibt, ist alles Müll. Da wird einem schlecht. Echte Zeitverschwendung, dass ich hergekommen bin!«

Dieser arrogante Typ sprach, als gäbe es niemanden, der mithörte! Ich war voller Verachtung, wollte schon über ihn herfallen, brachte aber trotzdem ein geschmeicheltes Lächeln zustande.

Er hockte ziemlich lange neben mir, sprang mehrmals auf und setzte sich wieder. Ein fröhliches Spiel, das er da mit sich spielte. Es war so ein Typ, der viel Wert darauf legt, wie ein braver, hübscher Junge rüberzukommen. Ich sage jetzt Junge, aber dieses Wort passt gar nicht auf ihn. Ich spürte gleich, dass er eine herausragende Begabung darin hatte, andere irre zu machen. Diese Eigenschaft sorgte irgendwie dafür, dass er spitzbübisch wirkte. Aber außer dass er eine Riesenbegabung im Grinsen besaß, gab es an ihm nicht das Geringste, was ihn jungenhaft machte.

»Hey, was hast du vor? Du führst dich ja auf wie ein Stinktier! Muss das sein?« Er lief mir schon die ganze Zeit hinterher, seit ich rausgegangen war. Andere bekamen gar keine Chance, mit mir zu reden, denn er schob sie alle rücksichtslos aus dem Weg. Mir wurde das langsam zu viel.

»Was hast du gegen Stinktiere? Zumindest schaffen die es, sich verhasste Typen vom Hals zu halten!«

»Was soll das? Wieso tauchst du eigentlich hier auf, und warum ziehst du nicht Leine?« Mich verließ langsam die Höflichkeit.

»Warum ich hier auftauche?«, wiederholte er. »Gute Frage!« Er klopfte mir auf die Schulter. »Weiß ich selbst nicht.« Dabei zog er einen Schmollmund und setzte eine Unschuldsmiene auf.

»Wir unterhalten uns jetzt mal! Okay, alter Kumpel?«, sagte ich weich und zog ihn am Arm, damit er sich zu mir setzte.

»Ich bin nicht dein alter Kumpel«, protestierte er ernsthaft. Er wollte mich um die Schulter fassen, doch ich schob ihn weg.

»In Ordnung. Dann sag ich großer Bruder zu dir. Renn mir nicht andauernd nach und steh mir im Weg rum, wenn ich die Chance bekomme, glücklich zu werden.«

»Du bist ja auch die Ältere hier! War nur ‘n Witz … Menschen wie du werden sowieso nicht glücklich. Das Wort Glück kannst du aus deinem Hirn streichen«, sagte er verächtlich.

Sprach‘s und schlug ausgelassen einen Purzelbaum.

Ich kapierte sofort, dass er, genauso wie ich, andersherum war und dass er wie ich dieses Spezialauge besaß. Aber er war dabei wesentlich unverfälschter, wesentlich straighter. Darin hatte er mir etwas voraus.

Er war noch frühreifer als ich und auch begabter als ich. Wäre es möglich gewesen, ihn zu lieben, ich hätte ihn mitsamt seiner herausragenden Begabung geliebt. Im Winter dieses Jahres sah er, ehrlich gesagt, ziemlich gut aus. Ein schlaksiger, feingliedrig gewachsener, attraktiver junger Typ.

_12_

Eines schönen Tages.

Es sollte das letzte Mal »Lit-Einfü« sein. Wie ich es geplant hatte, ging ich in der Woche wieder hin.

Kurz vor Vorlesungsbeginn radelte ich schnell zum Hörsaal. Auf dem Weg trat ich in die Pedale, als ginge es um mein Leben. Mein Puls schlug wie wahnsinnig. Mir jagte so unaussprechlich viel durch den Sinn. Berge von Gedanken, es nahm mir die Luft.

Ein Gefühl war das, als läge mein Herz unter einem Berg von Zement. Kein Ton kam über meine Lippen. Sie hatte sich in die allerletzte Reihe gesetzt, ihren violetten Rucksack auf die Tischplatte gepackt und Kopf und Arme daraufgelegt. Das lange Haar fiel frei herunter.

Seit sie die Uni besuchte, wollte sie mit niemandem mehr ein Wort sprechen. Ich wusste, dass sie einsam war. In dieser Zeit, in der sie von ihrem großen Bekanntenkreis getrennt war und sich ihre Freunde nicht mehr um sie kümmerten, musste sie erfahren, wie es ist, wenn man allein auf sich gestellt zurechtkommen muss.

Sie lag da wie tot. Ich stand daneben und starrte auf ihre Einsamkeit. Sie tat sich enorm schwer damit, sich in ihrer neuen Situation einzugewöhnen. Ich wusste, dass sie ein solches Leben nie gewollt hatte. Mir ging das so nahe, dass ich innerlich völlig aufgewühlt war; ich hatte sie ungerecht behandelt.

»Bin schon hier!«, rief ich ihr sanft zu, denn die Vorlesung begann erst in ein paar Minuten.

»Mhmm …«, antwortete sie gleichgültig und hob nicht einmal den Kopf.

»Willst du nicht mehr mit mir reden?« Ich hatte Gewissensbisse und fühlte, wie ich vor Zärtlichkeit überströmte.

»Och, ich bin müde. Ich würd gern schlafen«, sagte sie mit matter Stimme. Sie hatte mir immer noch nicht ins Gesicht gesehen und wollte mich offenbar abweisen.

»Alles klar. Dann schlaf erstmal.«

Ich war also unerwünscht. Mir sank das Herz, als hinge es an einer bleiernen Schnur. Ich nahm all meine Kraft zusammen, schwang mich über den Tisch und setzte mich weiter vorn. Nach Vorlesungsschluss blieb ich dort stehen und beobachtete sie genau. Es kam kein Blick von ihr, still und mit langsamen Bewegungen packte sie ihre Sachen. Ein Kommilitone und ich tauschten ein paar Sätze, da war sie im Nu auch schon weg.

»Warte! Ich muss dir ganz viel erzählen!«