Cover
Libor Schaffer
TOD AM GALGEN
Ein Odenwald-Krimi
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2007 Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH
Umschlaggestaltung: Katja Holst, Frankfurt
Satz: Societäts-Verlag, Tobias Dorn, Tanja Heising
eBook: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-942921-93-0
Für Sabine, Lisa und Muzel

Inhalt

Hochgericht
Henkersknoten
Andreas
Verhaltensforschung
Alibi
Imbiss
Dreischläfrig
Anstand und Sitte
Dreckstück
Rausschmiss
Rückkehr
Mein Gewissen ist rein
Stichwort Maulesel
Abschiedsbrief
Entschuldigung
Der verlorene Sohn
Bier und Eis
Ärger
Rock oder Hose
Tatort
Täuschung
Miriam
Beerdigung
Im tiefen Wald
Mein Lieber
Ausgang
Lockvogel
Jogging
Schlamassel
Déjà-vu
Reine Fiktion
Nur wir drei
Jagdinstinkt
Pietätlos
Attacke
Mit dem bin ich fertig
Endspiel
Strafmaß

Kapitel 1
Hochgericht

Zunächst glaubte Franziska Rauscher an einen makabren Scherz. Die alte, etwas kurzsichtige Frau mit dem gebeugten Rücken schnaufte tief durch, als sie die Anhöhe über dem Ort erreicht hatte, die einen großartigen Rundblick auf die sie umgebende Landschaft bot. Dann stemmte sie die Hände in die Hüften und kniff die Augen zusammen.
Hatte da jemand eine Strohpuppe an den dreischläfrigen Galgen gehängt? Eine lustige Puppe, wie sie jedes Jahr zur Kirmes auf die Laterne neben dem Wirtshaus Zur Linde gesetzt wurde?
Etwas machte sie stutzig. Obwohl ein frischer Wind blies, bewegte sich die Puppe – soweit sie das von ihrem Standort am Rand der Landstraße nach Airlenbach beurteilen konnte – keinen Zentimeter von der Stelle. Und noch etwas war merkwürdig. An dem Kopf der Puppe nahm Franziska Rauscher ein schwarzes Flattern wahr. Ein oder zwei große schwarze Vögel hatten sich dort niedergelassen. Es musste sich um Kolkraben oder Saatkrähen handeln. Waren sie sicherheitshalber von einem der an die Richtstätte angrenzenden Felder aufgeflogen, als sie die Ankunft der alten Frau bemerkt hatten?
Franziska Rauscher schüttelte leicht den Kopf. So ängstlich waren diese großen, ausgesprochen vorwitzigen Vögel nicht. Etwas an der Puppe musste ihr Interesse geweckt haben. Denn neugierig waren diese Vögel allemal. Die alte Frau zuckte zusammen. Neugierig und gefräßig.
Je näher die Frau dem sechs Meter hohen, aus drei schlanken Säulen aus rotem Sandstein bestehenden Galgen kam, desto stärker kroch ihr die Angst in die Glieder. Dort oben an einem der drei Bänder aus Eisen, die die im Dreieck aufgestellten Säulen miteinander verbanden, hing mit Sicherheit keine Kirmespuppe.
Wenige Meter vor dem berühmten, mehr als vierhundert Jahre alten Galgen, an dem im Lauf der Zeit unzählige Menschen hingerichtet worden waren, hielt die Alte noch einmal inne. Eine innere Stimme sagte ihr, dass es besser und viel vernünftiger wäre, sofort umzukehren und nach Beerfelden zurückzueilen. Um von dort aus unverzüglich die Polizei zu alarmieren.
Aber wie so oft in ihrem Leben siegte auch dieses Mal wieder die Neugier über die Vernunft. Sie ging bis auf wenige Meter an diejenige Seite des dreieckigen Galgens, an der das Opfer am Strang hing. Jetzt erst ließen die beiden schwarzen Vögel von dem Gesicht der Toten ab und flogen krächzend davon. Franziska Rauscher hob langsam den Kopf. Tränen stiegen ihr in die Augen und rollten über ihre faltigen Wangen, die heftig zitterten. Dieser grausame Anblick würde sie noch sehr viele Nächte heimsuchen.
Das Gesicht der toten Frau hatten die hungrigen Vögel fast bis zur Unkenntlichkeit zerhackt. Aber es musste sich um eine Frau handeln, ihre Kleidung, die sich darunter abzeichnende weibliche Figur und ihr langes kastanienbraunes Haar ließen bei der hemmungslos weinenden Betrachterin keinen Zweifel aufkommen.
Die Augen der Toten hatten die Vögel längst herausgerissen und gefressen. Von der Zunge der Erhängten, die während oder unmittelbar nach ihrem gewaltsamen Ableben aus dem Mund gequollen war, waren nur noch ein paar dünne blutige Fleischfetzen übrig geblieben.
Stöhnend sank Franziska Rauscher auf die Knie. Ihr von Tränen verschleierter Blick fiel auf das vor dem Hochgericht in die Erde eingelassene Kreuz aus rotem Sandstein, das vermutlich die Stätte war, an der in vergangenen Jahrhunderten die zum Tod durch den Strang Verurteilten ein letztes Gebet sprachen, ihre Beichte ablegten und von einem Priester die Absolution erteilt bekamen.

Kapitel 2
Henkersknoten

„Ich möchte, dass Sie den Mörder meiner Mutter finden“, sagte der junge Mann mit dem schwarzen Stoppelhaar, der Tobias Bloch im Wohnzimmer seines Heubacher Hauses gegenübersaß. „Geld spielt keine Rolle. Und wenn Sie erfolgreich sind …“
Der Privatdetektiv winkte ab. „Ich berechne einen festen Tagessatz – unabhängig von dem Ergebnis meiner Ermittlungen. Plus anfallende Spesen. Von Erfolgsprämien halte ich überhaupt nichts.“ Auf der linken Armlehne neben ihm gähnte seine dreifarbige Katze herzhaft. Auch Muzel schien dieses Thema zu langweilen.
Trotzdem fuhr Bloch unverdrossen fort: „Ich erwarte einen Vorschuss für eine Woche. Für eine Siebentagewoche. Wenn Sie mit meiner Arbeit nicht zufrieden sind, können Sie mir jederzeit kündigen. Den überschüssigen Betrag erhalten Sie dann selbstverständlich zurück. Gleiches gilt für den Fall, dass die Kriminalpolizei vor mir den Mörder Ihrer Mutter fassen sollte.“ Muzel legte sich auf die Seite und schmiegte sich mit ihrem angenehm warmen weißen Bauch an seinen Oberarm. Benjamin Unger griff in die rechte Brusttasche seiner neben ihm auf dem Ledersofa liegenden Jeansjacke und holte seine Brieftasche heraus. „Wie viel?“, fragte er, während er sie aufklappte.
Der Privatdetektiv aus Heubach nannte seinen Preis.
„Stimmt so“, sagte der schwarzhaarige junge Mann, den Bloch auf Anfang zwanzig schätzte, und reichte ihm ein ziemlich dickes Bündel Geldscheine.
„Eines hätte ich beinahe vergessen“, sagte Bloch.
Der Sohn der am dreischläfrigen Galgen von Beerfelden gehängten Frau sah ihn misstrauisch an.
„Ich arbeite in der Regel mit einer Assistentin. Sie heißt Susanne Kramer. Um ihre Bezahlung kümmere ich mich, dadurch entstehen für Sie keine weiteren Kosten.“
Benjamin Unger stöhnte leise auf. „Wie viel?“, fragte er. Der Privatdetektiv schüttelte den Kopf.
„Ich bestehe darauf“, sagte der junge Mann.
„Aber ich habe doch noch gar nicht mit ihr gesprochen. Vielleicht hat sie ja überhaupt keine Zeit oder …“
„Wie viel?“
Bloch nannte Susannes Wochenpreis.
Wieder zählte Benjamin Unger einige Scheine ab und reichte sie ihm dann.
Der Privatdetektiv aus Heubach trank einen Schluck Mineralwasser. Er deutete auf die Flasche, die auf dem schwarzen Couchtisch zwischen dem Sofa und dem Ledersessel stand. „Bedienen Sie sich ruhig. Oder wollen Sie etwas anderes? Bier, Kognak?“
Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Nein danke.“
„Ich nehme an, man hat Sie gestern bereits verhört?“, fragte Bloch in sachlichem Tonfall.
„Hmm“, bestätigte Unger brummend. „Stundenlang. Ich werde den Verdacht nicht los, dass diese Erbacher Kommissarin mir nicht glaubt.“
„Sie heißt nicht zufällig Sara Hagedorn?“
„Doch.“ Der junge Mann sah ihn erwartungsvoll an. „Sie kennen sie?“
Bloch nickte lächelnd. „Reizende Dame. Wir hatten bereits das Vergnügen.“
„Wir?“
„Susanne Kramer und ich. Sie sind doch wegen des ziemlich spektakulären Felsenmeer-Falls auf mich gekommen. Damals leitete sie die Ermittlungen. Zusammen mit ihrem Assistenten Melzig. Der ist doch dieses Mal auch wieder mit von der Partie?“
„Richtig“, bestätigte Unger. „Ein unangenehmer Typ.“
Der Privatdetektiv aus Heubach zuckte die Achseln. „Sie haben also kein Alibi für die fragliche Zeit?“
„Nein.“
„Wann starb Ihre Mutter, Herr Unger?“
„Nach ersten Untersuchungen der Gerichtsmedizin erstickte sie in der Nacht von Sonntag auf Montag etwa in der Zeit zwischen Mitternacht und zwei Uhr früh.“
Bloch wurde hellhörig. „Erstickte?“, fragte er. „Kein Genickbruch?“
„Leider nein“, sagte der Sohn. „Das Schwein hat sie qualvoll verrecken lassen. Ihr Sterben muss minutenlang gedauert haben.“
Der Privatdetektiv erhob sich vorsichtig. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass Muzel erwachte. „Ich hole uns ein Bier“, sagte er und machte sich auf den Weg in die Küche. Die weiße Katze mit den mittelbraunen und schwarzen Flecken folgte ihm aufgeregt maunzend.
Nachdem er Muzels Napf in der Küche aufgefüllt hatte, kehrte Bloch mit den Getränken ins Wohnzimmer zurück. Sie gossen sich schweigend ein.
„Aber es handelte sich doch um einen Henkersknoten?“, fragte der Privatdetektiv dann. „Jedenfalls habe ich das heute in der Zeitung gelesen.“
„An dem Knoten und dem Seil lag es nicht“, erklärte der Sohn der Ermordeten. „Entscheidend ist, wie tief man fällt. Bei einem zu kurzen Fall wird nicht genügend Druck auf die Halswirbel ausgeübt. Folglich kommt es zu keinem Genickbruch, sondern zu einem langsamen Erstickungstod. Mit hervortretenden Augen, heraushängender Zunge und allem, was dazugehört.“ Er trank einen kräftigen Schluck.
Bloch wollte eine Frage stellen, aber sein Gegenüber fuhr fort: „Außerdem hat dieses Dreckschwein ihr nicht einmal ein Tuch oder einen Sack über den Kopf gestülpt.“
Der Privatdetektiv sah ihn fragend an. „Ich verstehe nicht recht …“
„Schon mal was von Raben oder Krähen gehört, die sich über eine in der Luft hängende Leiche hermachen?“
„Oh!“ Bloch zuckte zusammen.
„Sie sagen es. Laut Aussage von Frau Rauscher waren es zwei Vögel. Jedenfalls zu dem Zeitpunkt, zu dem sie auf der Anhöhe oberhalb von Beerfelden war und meine am Galgen ermordete Mutter entdeckte. Da hatten die Raben oder Krähen ihr bereits die Augen ausgerissen, die Zunge fast ganz abgerissen und das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerhackt. Ein Tuch oder ein Sack hätte das vielleicht verhindern oder zumindest verzögern können.“
„Wer ist Frau Rauscher?“, fragte der Privatdetektiv, ohne darauf einzugehen, dass man die Hartnäckigkeit und den Einfallsreichtum von Rabenvögeln unter keinen Umständen unterschätzen sollte. Wenn die erst einmal den Braten gerochen hatten, würde sie ein bisschen Sackleinen oder ein anderes Material kaum von ihrer Mahlzeit abhalten …
„Franziska Rauscher. Eine alte Frau aus Beerfelden, die am Montagmorgen den Ort verließ, um ihre Cousine im benachbarten Ortsteil Airlenbach zu besuchen. Sie sieht nicht mehr so gut und hielt das Ganze zuerst für einen üblen Scherz.“ Er senkte den Kopf. „Sie hielt meine Mutter für eine Strohpuppe. Sie wissen schon, solche Puppen, die man zur Kirmes vor Wirtshäusern ausstellt.“
Bloch ließ etwas Zeit verrinnen, bevor er ruhig sagte: „Ich kann mich natürlich täuschen, aber ich glaube, der Mörder Ihrer Mutter wollte genau dies. Er wollte sie in aller Öffentlichkeit und weithin sichtbar ausstellen.“

Kapitel 3
Andreas

Nachdem er sein erstes Gespräch mit dem Sohn der an dem Galgen in Beerfelden Erhängten beendet hatte, rief Tobias Bloch bei seiner potenziellen Assistentin an, die im benachbarten Wiebelsbach wohnte.
Es klingelte bestimmt schon zum neunten oder zehnten Mal, ehe Susanne Kramer schließlich abnahm.
„Ich bin’s“, sagte der Privatdetektiv. Stolz schwang in seiner Stimme mit, denn er wusste, dass er gleich eine Welle der Begeisterung bei einer nicht gerade schlecht aussehenden Frau auslösen würde. „Ich wollte dich eigentlich nur fragen …“
„Du, Tobias“, unterbrach ihn Susanne. „Es ist im Augenblick wirklich sehr ungünstig.“
„Aber es ist wichtig!“, beharrte er trotzig. „Sehr wichtig sogar!“
„Das mag ja durchaus sein. Dass es für dich sehr wichtig ist. Aber ich habe im Moment wirklich alle Hände voll zu tun. Du wirst es nicht glauben, ein richtiger Großauftrag“, sagte die Wiebelsbacher Grafikerin und Kinderbuch-Illustratorin.
„Und außerdem …“
„Es geht um den Mord am Beerfelder Galgen!“, rief Bloch.
„Aha.“
„Der Sohn der Ermordeten hat mich mit den Ermittlungen beauftragt …“
„Aha.“
Plötzlich stutzte der Privatdetektiv aus Heubach. „Habe ich da eben eine Stimme aus dem Hintergrund gehört? Eine männliche Stimme?“
„Du, Tobias …“
„Wer?“, schrie Bloch.
Schweigen. Sündiges Schweigen.
„Wer, verdammt noch mal!“
„Andreas“, sagte Susanne Kramer.
Wütend knallte der Privatdetektiv aus Heubach, der soeben seine attraktive Assistentin an ihren schmierigen Exgeliebten aus Erbach verloren hatte, den Hörer auf. Das heftige Geräusch ließ Muzel, die zu seinen Füßen im Flur gelegen hatte, blitzschnell aufspringen, ins Wohnzimmer flitzen, um durch die geöffnete Terrassentür ins Freie zu fliehen.

Kapitel 4
Verhaltensforschung

Das Odenwälder Institut für Ethologie hatte seinen Sitz im südöstlich von Beerfelden gelegenen Sensbachtal. Die private Einrichtung umfasste mehrere Gebäude eines ehemaligen landwirtschaftlichen Aussiedlerhofes, die nach aufwendigen und augenscheinlich sehr teuren Umbauarbeiten kaum mehr an ihren früheren Zweck erinnerten.
Tobias Bloch stellte seinen schwarzen Renault auf einem der gepflasterten Parkplätze vor dem hohen Hauptgebäude aus rotem Buntsandstein ab, das früher einmal das Bauernhaus des Hofes gewesen sein musste. Er drückte seine Zigarette im Aschenbecher des Autos aus und verließ den Wagen, ohne ihn abzuschließen.
Am Empfang stellte er sich als der Privatdetektiv aus Heubach vor, der einen kurzfristig anberaumten Gesprächstermin mit dem Leiter des Instituts für Verhaltensforschung habe. Die junge Frau, die – als Zeichen der Trauer? – eine züchtig zugeknöpfte schwarze Bluse trug, hieß Lilli Wagner, was Bloch dem Namensschild entnehmen konnte, das oberhalb ihres rechten Busens an ihrer Bluse befestigt war.
Sie sah kurz in einem vor ihr liegenden aufgeklappten Terminkalender nach.
Mach es nicht so spannend, dachte Bloch. Du hast meinen Namen – wenn überhaupt – doch erst vor nicht mehr als vielleicht anderthalb Stunden auf Geheiß deines Chefs in diesen Kalender eingetragen.
„Sie finden Doktor Unger im ersten Stock“, sagte die dunkelblonde Frau mit ausdruckslosem Gesicht. „Zimmer 18.“
„Danke.“ Der Privatdetektiv wandte sich der hellen Marmortreppe zu, die nach oben führte.
„Und regen Sie ihn bitte nicht unnötig auf“, sagte Lilli Wagner.
Bloch drehte sich noch einmal zu ihr um und runzelte die Stirn. „Wie kommen Sie denn auf die Idee?“
Frau Wagner zuckte die Achseln. „Es geht ihm nämlich auch so schon beschissen genug, seitdem ihn die Kriminalpolizei in die Mangel genommen hat.“
Der Privatdetektiv nickte wortlos und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf.
„Sie haben also bereits mit meinem Sohn gesprochen“, eröffnete Doktor Leo Unger ihr Gespräch, nachdem er Bloch mit einem unangenehm feuchten Handschlag begrüßt hatte. Der braun gebrannte Verhaltensforscher stellte seine Dominanz in seinem Revier nicht großartig zur Schau, beharrte aber dennoch darauf, an seinen Schreibtisch zurückzukehren, statt die Unterhaltung mit dem Privatdetektiv in der Sitzecke neben dem hohen, auf den Hof weisenden Fenster zu führen. So wäre Bloch eigentlich gezwungen gewesen, auf dem unbequem wirkenden Stuhl vor dem Schreibtisch des Leiters des Instituts für Ethologie Platz zu nehmen. Der Privatdetektiv war zwar kein Verhaltensforscher, aber blöd war er deshalb noch lange nicht.
Gemächlich ging er an dem massiven Schreibtisch aus dunkler Eiche vorbei und blieb am Fenster mit dem Rücken zu Unger stehen.
Über die Rangordnung werden wir uns eventuell noch einmal unterhalten müssen, dachte Bloch.
Der Verhaltensforscher, ein schlanker, grauhaariger Mann, der schätzungsweise Mitte fünfzig war, ließ sich seine Irritation – sollte eine solche in ihm aufgekommen sein – nicht anmerken.
„Er hat mich beauftragt, den Mörder Ihrer Frau zu finden“, sagte der Privatdetektiv. Als er am Telefon die Unterredung mit Leo Unger vereinbart hatte, hatte er nur allgemein davon gesprochen, mit Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Mord am Beerfelder Galgen befasst zu sein.
Dementsprechend fiel Ungers Reaktion nun aus.
„Was?“, rief er schrill. „Was sagen Sie da?“
„Hat er Ihnen nichts davon gesagt?“ Bloch behielt seine Position bei und sah weiter aus dem Fenster.
„Nein. Ich habe mit Benjamin seit gestern nicht mehr gesprochen.“
„Sie meinen also, er hat sich erst heute dazu entschlossen, einen Privatdetektiv mit den Nachforschungen zur Ermordung seiner Mutter zu beauftragen?“
„Herr Bloch, das gefällt mir nicht. Sie legen mir Worte in den Mund …“
„Ich habe nur eine einfache Frage gestellt, Herr Unger.“ Der Verhaltensforscher erhob sich aus dem Ledersessel hinter seinem Schreibtisch und ging an dem Privatdetektiv vorbei zu der Schrankwand aus dunkler Eiche. Aus dem Augenwinkel sah Bloch, wie er das Barfach öffnete, ein Whiskyglas auf die Ablage stellte und nach einer halb vollen Karaffe griff.
Er goss sich ein und leerte das Glas in einem Zug.
„Möchten Sie auch einen?“, fragte Dr. Unger. Der Privatdetektiv schüttelte den Kopf.
„Wie bitte?“
Bloch drehte sich lächelnd um.
Wir spielen hier aber schöne Spielchen, dachte er. Laut sagte er: „Nein, vielen Dank.“
Unger brummte etwas Unverständliches und schloss das Barfach. Nachdem er an seinen Schreibtisch zurückgekehrt war, drehte er seinen Ledersessel so nach rechts, dass er den weiterhin am Fenster stehenden Privatdetektiv unverwandt ansehen konnte.
„Und Sie haben diesen Auftrag natürlich ohne jedes Zögern angenommen.“
„Nein. Ich sehe mir meine potenziellen Klienten gern etwas genauer an, bevor ich mich dazu entschließe, einen Fall zu übernehmen. Also habe ich Ihren Sohn – er ist doch Ihr leiblicher Sohn? – zu mir nach Heubach gebeten, um mit ihm in aller Ruhe zu sprechen.“
„Heubach?“, fragte Leo Unger irritiert. Lenk nicht vom Thema ab, dachte Bloch.
„Eine völlig unbedeutende Siedlung im vorderen Odenwald. Einige ihrer Bewohner – unter ihnen auch ich – sehen das zwar anders, aber objektiv betrachtet …“
„Warum haben Sie den Auftrag angenommen?“, fragte der Verhaltensforscher. „Es kommt doch sicherlich nicht allzu häufig vor, dass der Sohn einer bestialisch ermordeten Frau Sie darum bittet, Ermittlungen anzustellen?“
„Die Tötungsart spielte bei meiner Entscheidung eine eher untergeordnete Rolle“, sagte der Privatdetektiv. „Obwohl ich zugeben muss, noch nie mit einem Mord an einem Galgen befasst gewesen zu sein. Noch dazu an einem so einzigartigen.“
„Sie weichen meiner Frage aus, Herr Bloch.“
„Dann bin ich offenkundig ein Nachahmungstäter. Sie haben meine Frage bezüglich Ihres Sohnes nämlich auch noch nicht beantwortet.“
„Ich bin nicht sein leiblicher Vater“, sagte Dr. Unger. „Sind Sie jetzt zufrieden?“
Der Privatdetektiv zuckte die Achseln. „Haben Sie mit Ihrer verstorbenen Frau Kinder? Hat Benjamin eine Stiefschwester oder einen Stiefbruder?“
„Nein.“
„Und aus der ersten Ehe Ihrer Frau – es war doch ihre erste?
– mit Benjamins leiblichem Vater sind auch keine weiteren Kinder hervorgegangen?“
„Nein.“
„Bezieht sich das auf den ersten oder den zweiten Teil meiner Frage?“
Leo Unger deutete ein Schnauben an. „Auf den zweiten.“
„Lebt der erste Ehemann Ihrer Frau noch?“ Der Verhaltensforscher sah ihn verblüfft an.
„Woher soll ich das wissen?“, fragte Unger. „Ich habe diesen Mann nie kennengelernt. Ich weiß nicht, wie er aussieht, wo er wohnt, welchen Beruf er hat, ob er wieder verheiratet ist … Ich weiß überhaupt nichts über ihn.“
Das glaube ich dir nicht, lieber Doktor, dachte Bloch. Hast du nie ein Foto von ihm mit deiner ermordeten Frau gesehen? Hat er nie deinen Stiefsohn Benjamin bei seiner Mutter besucht?
„Aber seinen Namen kennen Sie wenigstens?“
„Er heißt Markus Weidinger. Wenn er seinen Nachnamen nach einer neuerlichen Heirat nicht geändert hat.“
„Hat Benjamin noch Kontakt zu seinem Vater? Hatte Ihre Frau noch Kontakt zu ihrem früheren Mann?“
Der Verhaltensforscher lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Zu Ihrer ersten Frage: Benjamins Privatleben ist mir – vorsichtig ausgedrückt – nicht sehr vertraut. Und was meine ermordete Frau angeht,
bin ich ziemlich sicher, dass sie keine Verbindung mehr zu Herrn Weidinger unterhielt. Aber beschwören kann ich es natürlich nicht.“
„Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Ihrem Stiefsohn beschreiben?“
Bloch entfernte sich vom Fenster, nahm auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz und schlug die Beine übereinander. Der Besucherstuhl war tatsächlich unbequem.
„Als ziemlich mittelmäßig.“
„Wäre schlecht vielleicht der treffendere Ausdruck?“
„Wir gehen uns nach Möglichkeit aus dem Weg. Als Charlotte und ich nach unserer Heirat hier ins Sensbachtal gezogen sind, ist Benjamin nicht mitgekommen. Obwohl wir es ihm angeboten haben. Besser gesagt, obwohl seine Mutter ihn darum gebeten hat. Ich hätte ihn ja wohl kaum dazu überreden können. Aber alles gute Zureden hat überhaupt nichts genutzt. Er wohnt jetzt, wie Sie wahrscheinlich bereits wissen, in Bad König.“
„Wann haben Sie das Institut für Ethologie hier im Sensbachtal gegründet?“
Leo Unger dachte kurz nach. „Vor knapp sechs Jahren“, antwortete er dann.
„Benjamin war damals wie alt?“
„Zwanzig.“
Dann sieht er jünger aus, als er tatsächlich ist, dachte Bloch. Ich habe ihn auf Anfang zwanzig geschätzt.
„Können Sie mich ein wenig über die Struktur und die Hierarchie in Ihrem Institut aufklären?“, wechselte der Privatdetektiv das Thema.
Nachdem die Fragen zum Familienhintergrund vorerst beendet waren, entspannte sich der Verhaltensforscher sichtlich. „Hierarchie“, sagte er mit der Andeutung eines Lächelns.
„Ein schönes Wort.“ Er machte eine Kunstpause. „Gut. Offiziell bin ich der Leiter des ethologischen Instituts. Aber meine ermordete Frau stand mit mir gleichberechtigt an der Spitze unserer privaten Einrichtung. Sie kannten Charlotte nicht …“ Er senkte seine Stimme. „Sie legte allergrößten Wert auf ihre Unabhängigkeit. Sie hätte sich niemals untergeordnet. Mir nicht und erst recht keinem anderen Verhaltensforscher. Deshalb ist es uns in der Vergangenheit auch immer wieder schwergefallen, renommierte Kollegen für eine Mitarbeit in unserem Institut zu gewinnen. Aber das ist ein anderes Thema.“
Der Privatdetektiv nickte. „Wie viele Personen arbeiten hier?“
„Einschließlich der Hausangestellten?“
„Ja.“
„Dreizehn.“ Leo Unger stockte einen Moment lang. „Nein“, sagte er kopfschüttelnd. „Jetzt sind wir nur noch zwölf.“
„Wer von diesen Personen wohnt hier auf dem Gut?“, fragte Tobias Bloch.
„Zwei jüngere Kollegen. Darüber hinaus Frau Wagner, die Sie bereits am Empfang kennengelernt haben. Und die Haushälterin sowie der Hausmeister. Platz ist ja genug da.“
„Das kann ich bestätigen, obwohl ich mir bisher nur einen oberflächlichen Überblick verschaffen konnte.“
„Sie haben auf unserem Anwesen herumgeschnüffelt?“ Auf der Stirn des Verhaltensforschers trat eine Zornesader hervor. Der Privatdetektiv schüttelte lächelnd den Kopf. „Alles halb so wild. Bevor ich zum Hauptgebäude gefahren bin, habe ich meinen Wagen vor dem geöffneten Tor des Gutes abgestellt, um einen kleinen Spaziergang zu machen. Das ist doch nicht verboten, oder?“
Dr. Unger winkte ab. „Sie befinden sich auf einem Privatgrundstück, ist Ihnen das klar?“
Bloch überging die Frage, um eine kleinkarierte Auseinandersetzung zu vermeiden, und sagte stattdessen in sachlichem Ton: „Herr Unger, können Sie mir bitte etwas über die Forschungsschwerpunkte Ihres Instituts sagen? Beziehen sich Ihre Arbeiten auf das Verhalten von Menschen oder von Tieren oder von beiden?“
Der nunmehr alleinige Leiter des ethologischen Instituts kniff die Augen zusammen. „Interessiert Sie das wirklich, Herr Bloch? Oder ist diese vermeintliche Wissbegierde nur geheuchelt?“
„Mein Interesse ist absolut echt. Ob Sie es glauben oder nicht, ich habe mich nicht nur in meinem Beruf – da ist es ein zwangsläufiger Teil der Ermittlungsarbeit –, sondern auch sonst schon oft mit Verhaltensforschung beschäftigt. Ich muss Ihnen aber offen gestehen, dass ich die vielfältigen Formen tierischen Verhaltens viel interessanter finde als die des menschlichen.“
Leo Unger lächelte überraschenderweise. „Dann sind Sie hier genau richtig, Herr Bloch.“
Der Privatdetektiv sah ihn fragend an.
„Die Ethologie umfasst, wie Sie es bereits richtig angedeutet haben, Forschungen zum menschlichen und zum tierischen Verhalten“, erklärte der Leiter des Instituts. „Wir hier konzentrieren uns auf das Verhalten von Tieren, genauer gesagt auf deren Kommunikation untereinander. Und da es andere renommierte Einrichtungen im In- und Ausland gibt, die sich beispielsweise auf die Verhaltensforschung bei Vögeln, Reptilien, Fischen oder bei Insekten spezialisiert haben, befassen wir uns in unserem Institut ausschließlich mit der Kommunikation zwischen Säugetieren.“
Bloch nickte. „Darüber habe ich schon einige interessante Tierfilme gesehen.“
„Die aber leider allzu oft das Spektakuläre, das scheinbar Sensationelle und das Vordergründige thematisieren. Kann man einerseits aus dem Blickwinkel der Fernsehmacher verstehen. Andererseits ist es sehr schade, dass die subtilen Formen der Verständigung zwischen Säugetieren in diesen Filmen viel zu kurz kommen.“
„Ich bin natürlich ein absoluter Laie auf diesem Gebiet, aber wenn ich mich nicht täusche, hat sich in dieser Hinsicht in letzter Zeit einiges in die Richtung verändert, die Sie eben angesprochen haben. Aber vermutlich werden solche Fernsehberichte für einen ausgewiesenen Fachmann wie Sie immer unbefriedigend und reichlich oberflächlich bleiben.“
„Täusche ich mich, Herr Bloch, oder sind Sie gerade im Begriff, sich bei mir einzuschmeicheln?“
Der Privatdetektiv aus Heubach errötete leicht. „Diesen Eindruck möchte ich unbedingt vermeiden.“
Trotzdem biss der Leiter des ethologischen Instituts im Sensbachtal an. „Sie kennen die verschiedenen Kategorien der Kommunikation zwischen Säugetieren?“, fragte er sein Gegenüber.
„Offensichtlich ist ja wohl die akustische Verständigung. Kontaktlaute, Warnrufe, Chorgesang und Ähnliches“, antwortete Bloch.
Dr. Unger nickte. „Für einen Laien und für den Anfang gar nicht schlecht“, sagte er gleichmütig. „Aber eines der wichtigsten akustischen Signale bei Säugetieren haben Sie, mit Verlaub, völlig außer Acht gelassen.“
„Ach ja?“
„Lautäußerungen zur Kennzeichnung des eigenen Reviers, Rufe, um die Inanspruchnahme eines bestimmten Territoriums anzuzeigen. Und allgemein akustische Signale zur Bekundung der Anwesenheit, um Auseinandersetzungen mit Artgenossen zu vermeiden.“
„Ich sagte doch, ich bin ein Laie“, sagte der Privatdetektiv. Der Leiter des ethologischen Instituts überging Blochs Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit großzügig.
„Fehlen also nur noch die drei anderen Bereiche“, sagte Leo Unger. „Spielen Sie noch mit?“
„Selbstverständlich.“ Der Privatdetektiv überlegte kurz.
„Duftmarkierungen“, sagte er dann.
„Richtig. Die chemische Kommunikation beinhaltet die Informationsübertragung durch besondere Duftstoffe, die sogenannten Pheromone.“
„Von denen habe ich schon gehört“, wandte Bloch nicht ohne Stolz ein.
„Diese Absonderungen aus speziellen Drüsen werden von den Säugetieren als Duftmarken abgesetzt, die insbesondere Artgenossen, aber auch artfremden Tieren wichtige Nachrichten übermitteln“, dozierte Dr. Unger leidenschaftslos.
„Diese Form der Kommunikation kann so präzise und unmissverständlich sein, dass das Tier, welches die betreffende Duftmarke riechend prüft, daraus das Alter, das Geschlecht, die Bereitschaft zur Fortpflanzung, die soziale Stellung und andere wesentliche Merkmale des die Duftsignale aussendenden Tieres ablesen kann.“
„Wie oft haben Sie diese Sätze schon bei einem Vortrag oder in einem Gespräch gesagt, Herr Doktor?“
Wieder lächelte der Leiter des ethologischen Instituts.
Dir tut die Ablenkung gut, dachte Bloch. Immerzu an diesen monströsen Galgen in Beerfelden zu denken, macht einen ja auch früher oder später verrückt.
„Blieben also noch zwei Kategorien der Kommunikation“, sagte Leo Unger.
„Zunächst die visuelle“, schlug der Privatdetektiv aus Heubach vor. „Zum Beispiel, um den Damen zu imponieren. Denken Sie nur an den ein Rad schlagenden Pfau.“
„Ein sehr vordergründiges Beispiel, aber durchaus zutreffend“, sagte der Verhaltensforscher. „In diesem Bereich müssen Sie sich den Unterschied zwischen tagaktiven und nachtaktiven Säugetieren klarmachen. Bei am Tag aktiven, größeren Säugetieren spielt die visuelle Kommunikation eine tragende Rolle. Sie dient in diesem Fall der Verständigung und Signalübermittlung in überschaubaren Lebensräumen oder zwischen in relativ engem Kontakt lebenden Mitgliedern einer Gruppe. Dagegen ist für nachtaktive Säugetiere die chemische Kommunikation besonders wichtig.“
„Leuchtet mir ein“, sagte Tobias Bloch. „Nachts sieht man wenig bis nichts. Fehlt also nur noch ein Bereich.“
Dr. Unger nickte. „Und zwar die direkteste Art der Kommunikation.“
„Durch das Berühren des Artgenossen?“
„Richtig. Wir nennen sie die körperliche Kommunikation. Sie umfasst den unmittelbaren Körperkontakt durch Körperwärme, Kontaktliegen, durch einfache Berührung, Umarmung, Küssen, Nasenkontakt, soziales Lecken oder soziale Körper- und Fellpflege.“
„Damit kenne ich mich bestens aus“, sagte Bloch. „Ich habe nämlich eine Katze.“
„Die Sie aber hoffentlich nicht küssen oder ablecken?“, fragte der Verhaltensforscher argwöhnisch.
Der Privatdetektiv schüttelte den Kopf. „Wo denken Sie hin? Muzel und ich beschränken uns auf Kontaktliegen, Nasenkontakt und Fellpflege.“
„Das schließt ein, dass Ihre Katze Sie gelegentlich ableckt?“
„Sie hat auf meiner Kleidung, insbesondere dann, wenn es sich um weichere Stoffe handelt, schon regelrechte Seen produziert.“
„Auch wenn es unangenehm sein mag, es ist ein sehr gutes Zeichen“, sagte Leo Unger.
„Sehe ich genauso.“ Tobias Bloch lehnte sich zurück. „Darf ich noch einmal auf den eigentlichen Anlass meines Besuches zurückkommen?“
„Wenn es unbedingt sein muss“, murmelte der Ehemann der Gehängten.
„Der Vergleich hinkt zwar, aber wenn ich mir den Mord an Ihrer Frau vor Augen führe, kann ich mich eines Gedankens nicht erwehren. Könnte man sagen, dass das öffentliche und weithin sichtbare Aufhängen Ihrer Frau an einem Galgen eine Form der visuellen Kommunikation ist? Verstehen Sie mich? Im Rahmen der zwischenmenschlichen Verständigung?“
Leo Unger sah ihn entgeistert an. „Sie haben ja wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank, Herr Bloch!“
Der Privatdetektiv aus Heubach senkte den Kopf.
„Und dann hätte ich noch eine letzte Frage an Sie“, sagte er scheinbar schüchtern.
Der Verhaltensforscher erhob sich aus seinem Ledersessel und steuerte erneut das Barfach in der Schrankwand an.
„Wo waren Sie in der Nacht von Sonntag auf Montag? Sagen wir zwischen Mitternacht und zwei Uhr am Montagmorgen?“

Kapitel 5
Alibi

„Bitte sehr“, sagte Dr. Unger und stellte ein zu einem Viertel mit Kognak gefülltes Glas für den Privatdetektiv aus Heubach auf den Beistelltisch. Sich selbst genehmigte er einen weiteren Whisky. Endlich hatte der Verhaltensforscher ein Einsehen gehabt und die starre Gesprächssituation aufgelöst. Sie saßen nun in der viel bequemeren Sitzecke neben dem hohen Fenster, das auf den Hof wies.
Beide tranken einen Schluck.
Leo Unger deutete auf das Glas seines Gastes.
„Ich hoffe, der Kognak genügt Ihren Ansprüchen.“
Bloch nickte. „Er ist ausgezeichnet.“ Die ungezwungenere Atmosphäre, die nun in dem Büro des Institutsleiters herrschte, ließ ihn fragen: „Stört es Sie, wenn ich rauche?“
„Ja“, antwortete Dr. Unger. „Sehr sogar.“
„Dann wäre das auch geklärt.“ Der Privatdetektiv ließ seine rechte Hand sinken, die sich bereits auf dem Weg zu dem Zigarettenpäckchen in der Brusttasche seines Hemdes befunden hatte.
Leo Unger beobachtete ihn neugierig.
„Wo waren Sie, als Ihre Frau am Galgen von Beerfelden gehängt wurde?“, wiederholte Tobias Bloch seine Frage.
Der Verhaltensforscher zögerte mit seiner Antwort. „Was soll’s“, seufzte er dann. „Früher oder später werden Sie es ja doch herausbekommen …“
Der Privatdetektiv wurde hellhörig. „Also?“
„Im Bett mit Lilli.“
„Der Dame vom Empfang?“ Bloch drehte den Stiel des Kognakglases ein wenig nach rechts, dann ein wenig nach links. Im Glas entstand daraufhin leichter Seegang. Für angehende Verhaltensforscher: ein wenig eindrucksvolles Beispiel einer Übersprunghandlung.
„Ja. Sie empfängt nämlich nicht nur dienstlich, sondern auch privat. Eine wirklich reizende Erscheinung. Und so hemmungslos.“ Dr. Unger sah versonnen auf. „Würde man ihr gar nicht zutrauen, wenn man sie dort unten am Empfang so brav und unschuldig sitzen sieht. Lilli wirkt da so unpersönlich und distanziert, dabei kann sie durchaus ganz andere Seiten ihres Wesens offenlegen.“
Bloch hob sein Glas und trank betont langsam einen Schluck des ausgezeichneten französischen Kognaks.
„Sie wollen Zeit gewinnen, um diese überraschende Information wenigstens halbwegs verdauen oder einordnen zu können“, stellte der Verhaltensforscher kühl fest. „Aber das wird Ihnen nicht gelingen.“ Er deutete auf das Glas seines Gegenübers, das dieser gerade wieder auf dem Beistelltisch absetzte.
„Wo haben Sie sich mit Lilli Wagner getroffen?“, fragte der Privatdetektiv aus Heubach. Er bemühte sich erkennbar um eine feste Stimme. Was ihm auch fast gelungen wäre. „Bei ihr oder bei Ihnen? In Ihrem Ehebett oder …“
„Du liebe Güte!“, ereiferte sich Leo Unger. „In welchem Zeitalter leben Sie denn? Meine Frau und ich haben selbstverständlich getrennte Schlafzimmer.“
Hatten, dachte Bloch.
„Wo also?“, fragte er.
„Zuerst bei mir. Und danach bei ihr. Ein bisschen Abwechslung hat noch niemandem geschadet, finden Sie nicht auch, Herr Bloch?“
„Frau Wagner wohnt in einem der Nebengebäude, die Ihrem Institut angegliedert sind?“
„Das sagte ich Ihnen bereits. Ist übrigens sehr praktisch. Auf diese Weise ergänzen sich berufliche und private Interessen wirklich optimal.“
„Haben Sie das alles auch der Erbacher Kriminalpolizei erzählt, Herr Unger?“
„Dieser Frau Hagedorn und ihrem Assistenten? Wie hieß er noch gleich?“
„Melzig“, antwortete der Privatdetektiv aus Heubach.
„Ach! Sie kennen die beiden?“
„Ja.“ Bloch nickte.
„Darf man fragen, woher?“
„Sie erinnern sich an den Mord im Felsenmeer? Ich zählte in diesem Fall zu den verdächtigen Personen. Folglich hatte ich Kontakt zu Frau Hagedorn und Herrn Melzig.“
Der Verhaltensforscher nickte nachdenklich. „Verstehe“, sagte er dann ernst.
„Also: Haben Sie oder haben Sie nicht?“
„Herr Bloch! Erlauben Sie mir, dass ich Ihre Menschenkenntnis ernstlich in Zweifel ziehe. Wo denken Sie hin? Für wie naiv halten Sie mich eigentlich? Kein vernünftiger Mensch würde das der Kriminalpolizei erzählen, oder? In welchem Licht ließe mich das denn erscheinen?“
„In einem sehr trüben“, murmelte der Privatdetektiv.
Dr. Unger nickte. „Sie scheinen also doch noch Vernunft anzunehmen.“
„Eines verstehe ich nicht“, sagte Bloch.
„Ja?“
„Warum haben Sie es dann mir erzählt?“
„Darf ich ganz offen zu Ihnen sein?“ Der Verhaltensforscher lächelte bittersüß.
„Ich bitte darum.“
„Weil ich Sie ein bisschen auf den Arm nehmen wollte, Herr Bloch. Und das ist mir offensichtlich ganz gut gelungen. Ich habe in meinem ganzen Leben Lilli noch nicht mal an den Po gefasst, obwohl ich mehr als einmal der Versuchung kaum widerstehen konnte. Gut, in ihren Ausschnitt habe ich schon mal geguckt. Aber wer tut das nicht?“
„Darf ich ganz offen zu Ihnen sein, Herr Unger?“
„Tun Sie sich keinen Zwang an, mein Lieber.“
Bloch hatte Mühe sich zu beherrschen. „Angesichts dessen, was man Ihrer Frau angetan hat …“
„Ja? Ich höre.“
„Sie sind ein Arschloch, Herr Unger. Und zwar ein verdammt großes.“
Der Verhaltensforscher nickte. „Das hat meine Frau auch gelegentlich gesagt. Allerdings hat sie mich dabei natürlich geduzt.“ Er trank einen kräftigen Schluck Whisky. „Herr Bloch, ich habe nicht ewig Zeit. Darf ich Ihnen also kurz schildern, was ich in der fraglichen Nacht von Sonntag auf Montag getan habe, als – laut Angaben der Gerichtsmedizin – meine Frau in Beerfelden erhängt wurde?“
Der Privatdetektiv aus Heubach lehnte sich zurück und seufzte. „Sie lügen ja doch nur wieder. Sie erzählen mir nie im Leben die Wahrheit.“
„Zweifeln Sie an meiner Redlichkeit?“
„Ja, das tue ich.“
„Ich war in der fraglichen Nacht allein in unserem Haus, das östlich vom Haupthaus auf dem Anwesen steht. Es handelt sich dabei im Gegensatz zu vielen anderen Gebäuden des Gutes nicht um ein restauriertes wie dieses hier, sondern um einen Neubau.“
„Das interessiert mich nicht“, sagte Tobias Bloch.
„Auch gut. Ich habe ferngesehen und später noch schätzungsweise zwei Stunden lang gelesen. Und ein bisschen was getrunken. Etwa um Viertel nach eins bin ich am Montagmorgen in unser Bett gegangen. In unser Ehebett. Wir haben nämlich keine getrennten Schlafzimmer. Das können Sie übrigens gern überprüfen. Die Kriminalpolizei hat es jedenfalls getan.“
„Ich werde mich hüten“, sagte der Privatdetektiv. Er schob das Glas mit dem Kognak von sich. Der Appetit war ihm längst vergangen. „Haben Sie in der fraglichen Zeit telefoniert oder sind Sie angerufen worden?“
„Um diese Zeit? Nein.“
„Und wo war Ihre Frau?“
„Sie hat übers Wochenende eine Freundin in Lindenfels besucht. Sie heißt Sibylle Schuster.“
„Wie praktisch“, murmelte Bloch.
Der Verhaltensforscher ignorierte die Bemerkung. Er stand auf und ging zu seinem schweren Eichenschreibtisch. Nachdem er die oberste Schublade geöffnet hatte, entnahm er dieser einen kleinen Zettel. Leo Unger ging zurück zu der Sitzecke, blieb vor dem Privatdetektiv stehen und reichte ihm das Papier.
„Ich habe Ihnen die Adresse und die Telefonnummer von Frau Schuster aufgeschrieben. Und nun entschuldigen Sie mich bitte.“
Bloch hatte gerade die Tür erreicht, als Dr. Unger mit mildem Spott sagte: „Ich wünsche Ihnen viel Glück bei Ihren Ermittlungen. Sehr viel sogar.“
Schweigend verließ der Privatdetektiv den Raum.
Über die helle Marmortreppe gelangte er ins Erdgeschoss des Hauptgebäudes. Eigentlich hatte er nach diesem teilweise sehr unappetitlichen Gespräch mit dem Institutsleiter vorgehabt, der privaten Einrichtung zur Verhaltensforschung rasch den Rücken zu kehren, nun aber überlegte es sich der Privatdetektiv – einem plötzlichen Impuls folgend – anders.
Was ihr könnt, kann ich schon lange, dachte Bloch. Zielstrebig ging er auf den Empfangstresen aus rotbraunem Holz zu und sah Lilli Wagner, die sein Näherkommen ohne sichtbare Regung beobachtet hatte, unverwandt an.
Ohne lange Vorrede kam er direkt zum Kern seiner Frage:
„Wo waren Sie in der Nacht von Sonntag auf Montag? Sagen wir in der Zeit zwischen Mitternacht und zwei Uhr früh?“
Die dunkelblonde Frau, die der Privatdetektiv nach seiner Fehleinschätzung bei Benjamin Unger vorsichtig auf Anfang bis Mitte vierzig taxierte, kniff ihre graugrünen Augen kaum wahrnehmbar zusammen. Ein klarer, konzentrierter Blick.
„Darauf muss ich Ihnen keine Antwort geben“, beschied sie ihn kühl.
Bloch nickte. „Wenn Sie nichts zu verbergen haben …“
„Ich habe der Kriminalpolizei die Wahrheit gesagt“, behauptete Lilli Wagner.
„Das glaube ich nicht. Ganz und gar nicht.“
„Sie beschuldigen mich einer Lüge?“
Der Privatdetektiv beugte sich, die Hände an die Kante des Empfangstresens gelehnt, ein wenig vor.
Mal sehen, wo die Grenzen deiner Fluchtdistanz liegen, dachte Bloch.
„Ich beschuldige niemanden, Frau Wagner“, sagte er ruhig.
„Das ist nun wirklich nicht meine Aufgabe. Ich stelle lediglich fest. Gestatten Sie mir eine Frage: Ist hier im Institut allgemein bekannt, dass Sie ein Verhältnis mit Dr. Unger haben? Wusste auch seine ermordete Ehefrau von dieser Beziehung?“
„Wie bitte?“ Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine steile Falte, die ihr nicht sehr gut stand.
„Dr. Unger jedenfalls behauptet, in der Zeit, in der seine Frau auf grausame Weise am Beerfelder Galgen erhängt wurde, mit ihnen zusammen gewesen zu sein. Er habe zuerst in seinem Haus mit Ihnen geschlafen, dann seien Sie beide – ein bisschen Abwechslung hat ja noch niemandem geschadet, nicht wahr? – in Ihre Wohnung umgezogen.“
Auf Lilli Wagners Gesicht war eine interessante Veränderung zu beobachten. Während sie insgesamt blasser wurde, bildeten sich über ihren hohen Wangenknochen zwei kleine, runde, rötliche Flecke, die immer dunkler wurden. „Das ist nicht Ihr Ernst!“, zischte sie.
Der Privatdetektiv aus Heubach zuckte die Achseln. „Ich gebe nur wieder, was Herr Dr. Unger mir gesagt hat. Und die Selbstverständlichkeit, mit der er darüber sprach, lässt mich zu dem Schluss kommen, dass dies nicht Ihre erste intime Zusammenkunft mit ihm war.“ Er räusperte sich. „Offensichtlich ist Leo Unger stark an einem Alibi interessiert. Was man in seiner Lage ja auch gut verstehen kann. Also: Tun Sie Ihrem Chef nun den Gefallen und bestätigen Ihr nettes Rendezvous oder nicht?“
„Ich habe kein Verhältnis mit Dr. Unger“, sagte die dunkelblonde Empfangsdame.
„Klingt für mich nicht überzeugend. Wenn er damit rechnen muss, dass Sie alles abstreiten, warum sollte er sich dann überhaupt die Mühe machen, eine solche Feststellung in die Welt zu setzen? Das macht ihn doch völlig unglaubwürdig. Frau Wagner, sehen Sie es bitte mal aus dem Blickwinkel eines neutralen Beobachters. Dem vermittelt sich doch ganz klar der Eindruck, dass einer von Ihnen beiden lügt. Und zwar ziemlich dreist, wie ich hinzufügen möchte.“
Die Empfangsdame nestelte am Kragen ihrer schwarzen Bluse und schwieg.
„Sind Sie verheiratet oder leben Sie in einer festen Beziehung, Frau Wagner?“
„Was geht Sie das an?“
„Sind Sie nicht einmal dazu in der Lage, eine solch einfache Frage zu beantworten?“
„Mein Privatleben geht Sie nichts an“, wiederholte Lilli Wagner.
„Das sehe ich ein klein bisschen anders. Wenn Sie etwas mit der Ermordung von Charlotte Unger zu tun haben – und sei es auch nur, dass Sie durch eine falsche Aussage jemanden decken oder indirekt beschuldigen –, werden Sie in der nächsten Zeit die Erfahrung machen, dass ich ganz schön hartnäckig sein kann.“
Lilli Wagner entnahm einer Schublade des Empfangstresens ein Zigarettenpäckchen, zog mit einer fahrigen Bewegung eine Zigarette heraus und zündete sie schließlich umständlich an.
Ich habe Zeit, dachte Bloch.
Sie inhalierte tief und blies den Rauch über ihn hinweg.
„Ja, ich habe ein Verhältnis mit Leo“, sagte sie dann leise. Der Privatdetektiv unterdrückte ein zufriedenes Lächeln und bemühte sich stattdessen um einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck.
„Seit wann?“
„Seit etwa einem halben Jahr.“
„Und Ihr Mann weiß nichts davon? Sie sind doch verheiratet oder leben in einer festen Beziehung?“
„Weder noch.“
Auch die männliche Intuition stößt gelegentlich an ihre Grenzen, dachte Bloch.
„Und Charlotte Unger? Hat sie etwas von Ihrer Beziehung zu ihrem Ehemann gewusst?“
Lilli Wagner zog an ihrer Zigarette, bevor sie ihm antwortete. „Ich bin mir nicht sicher. Aber wenn mich nicht alles täuscht, ahnte sie etwas davon.“
„Wie kommen Sie zu diesem Schluss?“
„Ihre Blicke hatten sich verändert. Die Blicke, mit denen sie mich in letzter Zeit anschaute“, sagte die Empfangsdame.
„Sie waren auf einmal kälter, fast feindselig.“
„Visuelle Kommunikation“, murmelte Tobias Bloch.
„Wie bitte?“
Er winkte ab. „Aber in der fraglichen Zeit, in der Charlotte Unger in Beerfelden erhängt wurde, waren Sie nicht mit Ihrem Chef zusammen? Obwohl die Gelegenheit so günstig war? Immer vorausgesetzt, es stimmt, dass Frau Unger am letzten Wochenende eine Freundin besuchte …“
Sie sah den Privatdetektiv erstaunt an. „Davon wusste ich nichts. Davon hat er mir nichts erzählt.“
„Um es klar zu stellen: Sie waren in der Nacht von Sonntag auf Montag nicht mit Leo Unger im Bett?“
„Nein.“
„Und ich darf doch wohl annehmen, dass Sie der Erbacher Kriminalpolizei nichts von Ihrem Verhältnis mit Dr. Unger erzählt haben?“
„Man hat mich nicht danach gefragt, also habe ich es auch nicht erzählt.“
„Können Sie sich vorstellen, dass Leo Unger seine Frau umgebracht hat?“
Lilli Wagner zögerte mit der Antwort. Dann schüttelte sie leicht den Kopf.
„Aber Sie haben einen Verdacht?“
„Nein.“
Als der Privatdetektiv aus Heubach Anstalten machte, das Institut für Ethologie für heute zu verlassen – dass er hier noch öfter auftauchen würde, um weitere Personen zu befragen, war sonnenklar –, hielt ihn Lilli Wagner mit einer kalt lächelnd vorgetragenen Frage zurück: „Sie haben mich verarscht, nicht wahr? Leo hat überhaupt nichts von unserem Verhältnis erzählt?“
„Ganz so hart würde ich das nicht ausdrücken. Wissen Sie, Ihr feuriger Liebhaber wollte besonders schlau sein, mich ein wenig auf den Arm nehmen und allgemein meine Reaktion testen. Deshalb war er so strohdumm, mir vorzulügen, in der Nacht von Sonntag auf Montag mit Ihnen geschlafen zu haben. Später hat er dann alles ins Lächerliche gezogen und mir bedeutet, dass er Sie noch nie angefasst hat.“
„Dieser Idiot!“, rief die Empfangsdame.
„Ich habe ihn ein Arschloch genannt. Und zwar ein verdammt großes. Dieser Ausdruck scheint mir treffender zu sein.“ Tobias Bloch wandte sich zum Gehen. „Machen Sie es gut, Frau Wagner. Wir sehen uns bestimmt bald wieder. Wenn ich Ihnen noch einen kleinen Tipp geben darf: Passen Sie gut auf sich auf. Denn ich habe den Eindruck, dass hier im Institut nicht nur sehr viel gelogen und betrogen wird.“

Kapitel 6
Imbiss

Es war bereits früher Abend, als der Privatdetektiv aus Heubach das lang gezogene Sensbachtal verließ, um in seinen etliche Kilometer nördlich gelegenen Heimatort zurückzukehren. Bloch erwog kurz, einen Abstecher zum berühmten Galgen von Beerfelden zu machen, verwarf diesen Gedanken dann aber rasch wieder. Bevor er sich an den Ort des Verbrechens an Charlotte Unger begeben würde, wollte er zunächst noch ein Gespräch führen, um weitere Informationen über die Geschichte und die Bedeutung des Galgens sowie über die damals angewandten Hinrichtungsmethoden zu erhalten. Einem anderen Besuch konnte er dagegen nicht widerstehen. Der vorzügliche Schnellimbiss in der malerischen, verwinkelten Altstadt von Michelstadt befand sich in einer engen Gasse in der Nähe des spätgotischen Fachwerk-Rathauses.
„Dass man Sie auch mal wieder zu Gesicht bekommt!“, begrüßte ihn die Inhaberin des Imbisses. Sie hatte sich gerade die Hände gewaschen und trocknete diese nun an einem Geschirrtuch ab. „Was darf ich Ihnen servieren?“, fügte sie mit einem koketten Lächeln hinzu, denn sie schien die Antwort bereits zu erahnen.
„Sie kennen mich inzwischen doch gut genug …“, sagte Bloch und erwiderte ihr Lächeln.
Die Inhaberin des Imbisses nickte wissend.
„Einen oder zwei?“, fragte sie.
„Zwei.“
„Mit Brötchen? Und Bier? Und?“
„Zwei Brötchen und ein Pils bitte“, antwortete der Privatdetektiv. „Und keinen Schnaps. Aber wenn Sie etwas trinken möchten? Sie sind herzlich eingeladen.“
„Man dankt.“ Sie deutete eine Verbeugung an, um ihm einen besseren Blick auf ihren wohlgeformten Oberkörper zu ermöglichen. „Zu einem kleinen Kümmerling würde ich nicht Nein sagen.“
„Dann bedienen Sie sich bitte.“ Sie öffnete den Kühlschrank.
„Zuerst sind Sie an der Reihe“, sagte die etwa vierzigjährige Frau, von der Bloch nur wusste, dass sie Anke hieß, weil er einmal mitbekommen hatte, dass ein Gast sie so angesprochen hatte. „Sie wollen das Pils doch schön kalt?“
Die Frage konnte nur rhetorisch gemeint sein, deshalb beließ er es bei einem schwachen Nicken.
Bloch trank einen Schluck des herrlich kalten Bieres, während die Inhaberin des Imbisses zwei große Nierenspieße in einen Teller füllte, die Holzspieße herauszog und die Nierenstücke und die Zwiebelscheiben großzügig mit dunkelbrauner Soße übergoss. Das Essen duftete verführerisch, als sie es auf die breite Holzfensterbank stellte. Neben den Teller legte sie auf eine auseinandergefaltete Papierserviette die beiden Brötchen und das Besteck.
„Lassen Sie es sich schmecken“, sagte sie. „Wenn Sie noch etwas möchten, können Sie mich jederzeit rufen. Aber jetzt essen Sie erst mal“, fügte sie fürsorglich hinzu.
Der Privatdetektiv trug seine Mahlzeit und sein Getränk zu einem kleinen Holztisch vor dem Schnellimbiss. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie sie einen Flachmann öffnete und sich einen Schluck gönnte. Er hob seine Bierflasche und prostete ihr zu. Sie schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln.
Nach dem ganzen Mist geht es mir hier richtig gut, dachte Bloch. Und beglückwünschte sich zu seinem Entschluss, nicht direkt nach Heubach zurückgefahren zu sein, sondern in der Michelstädter Altstadt Station gemacht zu haben.
Er genoss das Essen in aller Ruhe und versuchte, Gedanken an den Beerfelder Galgen, die erhängte Charlotte Unger, den dubiosen Dr. Unger und seine untreue Assistentin Susanne Kramer zu verdrängen. Aber das gelang ihm nur teilweise.