Zeit der Zauberer

Das große Jahrzehnt
der Philosophie
1919–1929

Wolfram Eilenberger

Klett-Cotta

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Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Gemäldes von Ernst Emil Schlatter (1883–1954), Blick auf Piz Margna von Zuoz aus, 1919

© John Mitchell Fine Paintings/Bridgeman Images

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96451-6

E-Book: ISBN 978-3-608-11017-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Für Eva

Das Beste, was wir von der Geschichte haben,
ist der Enthusiasmus, den sie erregt.

Johann Wolfgang von Goethe(1), »Maximen und Reflexionen«

I. Prolog


Die Zauberer

Gottes Ankunft

»Macht euch nichts draus, ich weiß, ihr werdet das nie verstehen.« Mit diesem Satz endete am 18. Juni 1929 in Cambridge, England, das wohl eigenartigste Rigorosum der Philosophiegeschichte. Zur Doktorprüfung angetreten vor den Ausschuss, der aus Bertrand Russell(1) und George Edward Moore(1) bestand, war ein 40-jähriger Ex-Milliardär aus Österreich, der die vorangegangenen zehn Jahre hauptsächlich als Grundschullehrer gearbeitet hatte.[1] Sein Name lautete Ludwig Wittgenstein(1). Wittgenstein(2) war in Cambridge kein Unbekannter. Im Gegenteil, in den Jahren 1911 bis kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte er dort bei Russell studiert und war unter den damaligen Studenten ob seiner offenbaren Genialität wie auch seiner Eigenwilligkeit schnell zu einer Kultgestalt aufgestiegen. »Gott ist angekommen, ich traf ihn im Fünf-Uhr-Fünfzehn-Zug«, notiert John Maynard Keynes(1) in einem Brief vom 18. Januar 1929. Keynes, zu diesem Zeitpunkt wohl der bedeutendste Ökonom der Welt, hat Wittgenstein(3) am ersten Tag von dessen Rückkehr nach England zufällig getroffen. Und es sagt viel über die ausgesprochen enge und damit gerüchteträchtige Atmosphäre der damaligen Zirkel aus, dass sich Wittgensteins alter Freund G. E. Moore(2) ebenfalls in diesem Zug von London nach Cambridge befand.

Man sollte sich die Atmosphäre im Abteil indes nicht als allzu ausgelassen vorstellen. Denn Small Talk und herzliche Umarmungen waren zumindest Wittgensteins Sache nicht. Vielmehr neigte das Genie aus Wien zu plötzlichen Wutausbrüchen und war überdies äußerst nachtragend. Bereits ein einziges loses Wort oder eine scherzhafte politische Äußerung konnten zu jahrelangem Groll, ja zum Abbruch der Beziehungen führen – wie es auch mit Keynes(2) und Moore(3) mehrfach der Fall gewesen war. Dennoch: Gott war zurück! Und die Freude entsprechend groß.

Bereits am zweiten Tag nach Wittgensteins Ankunft beruft man in Keynes(3)’ Haus deshalb den sogenannten Kreis der »Apostel« ein – ein ausgesprochen elitärer, inoffizieller Studentenclub, der vor allem für die homosexuellen Techtelmechtel seiner Mitglieder berüchtigt war –, um den verlorenen Sohn willkommen zu heißen.[2] Im Rahmen eines feierlichen Abendessens wird Wittgenstein(4) in den Rang eines Ehrenmitglieds (»Angels«) erhoben. Mehr als 15 Jahre sind für die meisten seit der letzten Zusammenkunft vergangen. Viel ist seither geschehen. Wittgenstein(5) indes wirkt auf seine Apostel äußerlich so gut wie unverändert. Nicht nur, dass er auch an diesem Abend seine immer gleiche Kombination aus kragenlosem Knöpfhemd, grauer Flanellhose und schweren, bäuerlich wirkenden Lederschuhen trägt. Auch körperlich scheinen die Jahre spurlos an ihm vorübergegangen zu sein. Auf den ersten Blick gleicht er deshalb eher einem der ebenfalls zahlreich geladenen Elitestudenten, die den seltsamen Mann aus Österreich bisher nur aus den Erzählungen ihrer Professoren kennen. Sowie natürlich als Autor des »Tractatus logico-philosophicus«, jenes legendären Werks, das die philosophischen Diskussionen in Cambridge die vorangegangenen Jahre entscheidend geprägt, wenn nicht dominiert hat. Zwar hätte keiner der Anwesenden behaupten wollen, das Buch auch nur annähernd verstanden zu haben. Die Faszination für den »Tractatus« befeuerte diese Tatsache indes nur noch mehr.

Wittgenstein(6) hatte das Buch 1918 in italienischer Kriegsgefangenschaft mit dem festen Bewusstsein beendet, sämtliche Probleme des Denkens »im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben«, und folgerichtig beschlossen, der Philosophie nunmehr den Rücken zu kehren. Nur wenige Monate später überschrieb er, als Erbe einer der reichsten Industriellenfamilien des Kontinents, sein gesamtes Vermögen seinen Geschwistern. Wie er Russell(2) damals brieflich mitteilte, wolle er – geplagt von schweren Depressionen und wiederkehrenden Selbstmordgedanken – fortan »mit ehrlicher Arbeit« sein Leben verdienen. Konkret hieß dies, als Grundschullehrer in der Provinz zu unterrichten.

Dieser Wittgenstein(7) also war zurück in Cambridge. Zurück, wie es hieß, um zu philosophieren. Indes besaß das Genie, mittlerweile 40 Jahre alt, keinen akademischen Titel und zeigte sich zudem vollkommen mittellos. Das wenige, was er sich über die Jahre hatte ansparen können, ist bereits nach einigen Wochen in England aufgebraucht. Vorsichtige Erkundigungen, ob nicht die reichen Geschwister bereit wären, ihm finanziell auszuhelfen, werden mit aller Heftigkeit abgewehrt: »Akzeptieren Sie bitte meine schriftliche Erklärung, daß ich nicht nur eine Anzahl wohlhabender Verwandter habe, sondern daß sie mir auch Geld geben würden, wenn ich sie darum bäte. DASS ICH SIE ABER NICHT UM EINEN PENNY BITTEN WERDE«,[3] lässt er Moore(4) noch am Vortag seiner mündlichen Doktorprüfung wissen.

Was tun? Niemand in Cambridge zweifelt an Wittgensteins Ausnahmebegabung. Jeder, darunter die einflussreichsten Gestalten der Universität, wollen ihn halten und ihm helfen. Doch ohne akademischen Titel erwies es sich selbst in der familiären Atmosphäre von Cambridge als institutionelle Unmöglichkeit, dem Studienabbrecher von einst ein Forschungsstipendium oder gar eine feste Stelle zu besorgen.

So verfällt man schließlich auf den Plan, Wittgensteins »Tractatus logico-philosophicus« als Doktorarbeit einreichen zu lassen. Russell(3) hatte sich für die Veröffentlichung im Jahre 1921/1922 persönlich eingesetzt und eigens ein Vorwort verfasst, um die Publikation zu ermöglichen, hielt er das Werk des einstigen Zöglings seinen eigenen, nicht weniger epochalen Arbeiten zur Philosophie der Logik, Mathematik und Sprache doch für weit überlegen.

Kein Wunder also, dass Russell(4) beim Betreten des Prüfungssaals fluchte, »in seinem ganzen Leben nichts derart Absurdes erlebt zu haben«.[4] Dennoch: Eine Prüfung ist eine Prüfung, weshalb sich Moore(5) und Russell nach einigen Minuten freundschaftlicher Erkundigungen dann schließlich doch noch zu einigen kritischen Fragen entschlossen. Sie betrafen eines der zentralen Rätsel des an dunklen Aphorismen und mystischen Einzeilern nicht eben armen Traktats von Wittgenstein. Bereits der erste Satz des nach einem ausgeklügelten Dezimalsystem streng angeordneten Werks liefert dafür ein eindrückliches Beispiel. Er lautet:

1  Die Welt ist alles, was der Fall ist.

Aber auch Einträge wie die folgenden gaben den Wittgenstein(8)-Adepten Rätsel auf (und tun dies bis heute):

6.432  Wie die Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig. Gott offenbart sich nicht in der Welt.

6.44  Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.

Trotz dieser Rätselhaftigkeit ist der Grundimpuls des Buches klar. Wittgensteins »Tractatus« steht in einer langen Tradition moderner Werke wie die »Ethik, nach geometrischer Methode dargestellt« (posthum 1677) von Baruch de Spinoza(1), David Humes(1) »Untersuchung über den menschlichen Verstand« (1748) und Immanuel Kants(1) »Kritik der reinen Vernunft« (1781). All diese Werke streben an, eine Grenze zu ziehen zwischen den Sätzen unserer Sprache, die im eigentlichen Sinne sinnvoll und damit wahrheitsfähig sind, und solchen, die nur sinnvoll erscheinen und unser Denken und unsere Kultur aufgrund dieser Scheinhaftigkeit in die Irre führen. Es handelt sich beim »Tractatus« mit anderen Worten um einen therapeutischen Beitrag zu der Problemstellung, wovon man als Mensch sinnvoll sprechen kann – und wovon nicht. Nicht zufällig endet das Buch mit dem Lehrsatz:

7  Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.

Und nur eine Dezimalstelle zuvor, unter Eintrag 6.54, legt Wittgenstein(9) seine eigene therapeutische Verfahrensweise offen:

6.54  Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)

Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.

Genau an diesem Punkt nun hakt Russell(5) im Prüfungsgespräch nach. Wie genau soll das vor sich gehen: jemandem durch eine Aneinanderreihung unsinniger Sätze zu einer, ja der einzig richtigen Weltsicht zu verhelfen? Hatte Wittgenstein(10) im Vorwort zu seinem Werk nicht ausdrücklich verkündet, »die Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken« erscheine ihm »unantastbar und definitiv«? Wie könne das sein, bei einem Werk, das nach eigenem Bekunden ausschließlich sinnfreie Sätze enthielt?

Die Frage war Wittgenstein(11) nicht neu. Vor allem nicht aus Russells(6) Mund. Sie war über die Jahre und regen Briefwechsel vielmehr zu so etwas wie einem Klassiker ihrer spannungsgeladenen Freundschaft geworden. Ein weiteres Mal also, »for old times sake«, stellte Russell seine gute Frage.

Wir wissen leider nicht, was genau Wittgenstein(12) zu seiner Verteidigung antwortete. Wir dürfen aber annehmen, dass er es wie üblich leicht stotternd tat, mit glühenden Augen und in einer höchst eigenwilligen Intonation, die weniger einem Fremdsprachenakzent als vielmehr dem Sprechen eines Menschen glich, der in den Worten der menschlichen Sprache eine besondere Bedeutung und Musikalität wahrnimmt. Und irgendwann dann, nach Minuten monologischen Stammelns, immer auf der Suche nach der eigentlich klärenden Formulierung, auch darin bestand Wittgensteins Eigenart, wird er einmal mehr zu dem Schluss gekommen sein, genug gesprochen, genug erklärt zu haben. Es ist einfach nicht möglich, jedem Menschen alles verständlich zu machen. Genauso hatte er es ja auch im Vorwort zum »Tractatus« festgehalten: »Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat.«

Das Problem daran war nur (und Wittgenstein(13) wusste es): Es gab sehr wenige Menschen, womöglich sogar keinen einzigen, der ähnliche Gedanken schon einmal so gedacht und formuliert hatte. Ganz sicher nicht sein einstmals hoch verehrter Lehrer Bertrand Russell(7), Autor der »Principia Mathematica«, den Wittgenstein(14) für philosophisch letztlich beschränkt hielt. Und schon gar nicht G. E. Moore(6), seines Zeichens einer der brillantesten Denker und Logiker seiner Zeit, über den Wittgenstein(15) im Vertrauen sagte, Moore »sei ein hervorragendes Beispiel dafür, wie weit es ein Mensch bringen kann, der über keinerlei Intelligenz verfügt«.

Wie sollte er diesen Menschen die Sache mit der Leiter unsinniger Gedanken erklären, die man zunächst heraufsteigen und dann von sich stoßen muss, um die Welt richtig zu sehen? War nicht auch der Weise aus Platons(1) Höhlengleichnis, einmal ans Licht gelangt, daran gescheitert, seine Einsichten den anderen Höhlengefangenen verständlich zu machen?

Genug für heute. Genug erklärt. So steht Wittgenstein(16) also auf, schreitet auf die andere Seite des Tisches, klopft Moore(7) und Russell(8) wohlwollend auf die Schulter und äußert jenen Satz, von dem bis heute jeder Doktorand der Philosophie in der Nacht vor der Prüfung träumen muss: »Macht euch nichts draus, ich weiß, ihr werdet das nie verstehen.«

Damit war das Schauspiel beendet. Es blieb an Moore(8), den Prüfungsbericht zu verfassen: »Meiner persönlichen Einschätzung nach handelt es sich bei der Doktorarbeit von Herrn Wittgenstein(17) um das Werk eines Genies; doch sei dem wie es will, sie erfüllt ganz gewiss die Anforderungen, die zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie in Cambridge verlangt werden.«[5]

Das Forschungsstipendium wurde kurz darauf bewilligt. Wittgenstein(18) war wieder in der Philosophie angekommen.

Gipfelstürmer

Im eigentlichen Sinne angekommen durfte sich auch Martin Heidegger(1) fühlen, als er am 17. März desselben Jahres den Festsaal des Davoser »Grand Hôtel & Belvédère« betrat. Denn das ist sie ganz unzweifelhaft, die große philosophische Bühne, die zu erobern der mittlerweile 39-jährige Denker aus dem Schwarzwald sich bereits von früher Jugend an auserkoren sah. Nichts an seinem Auftritt sollte deshalb als zufällig angenommen werden. Nicht sein sportlich eng geschnittener Anzug, der sich von den klassischen Fracks der geladenen Würdenträger absetzte, nicht die streng nach hinten gekämmten Haare, nicht sein von der Höhensonne bäuerlich gebräuntes Antlitz, nicht die stark verspätete Ankunft im Saal und schon gar nicht die Tatsache, dass er, anstatt in den vorderen Reihen seinen eigens für ihn reservierten Platz einzunehmen, sich ohne ersichtliches Zögern unter die Schar der ebenfalls zahlreich angereisten Studenten und Jungforscher im Bauch des Saales mischte. Sich den herrschenden Konventionen ohne Tabubruch zu beugen, kam auf keinen Fall infrage. Denn für einen wie Heidegger(2) gab es nun einmal kein richtiges Philosophieren im falschen. Und falsch musste ihm an dieser Art von gelehrter Zusammenkunft in einem Schweizer Nobelhotel so gut wie alles erscheinen.

Noch im Vorjahr hatte Albert Einstein(1) den Eröffnungsvortrag für die »Davoser Hochschulkurse« gehalten. 1929 nun war er, Martin Heidegger(3), als einer der Hauptredner geladen. Drei Vorträge würde er in den kommenden Tagen halten sowie abschließend mit Ernst Cassirer(1) – dem zweiten philosophischen Schwergewicht der Tagung – in ein öffentliches Streitgespräch treten. Mochte der gesetzte äußere Rahmen also auch noch so sehr missfallen, die mit ihm verbundene Geltung und Anerkennung brachten Heideggers(4) tiefste Sehnsüchte zum Schwingen.[6]

Erst zwei Jahre zuvor, im Frühjahr 1927, hatte er mit »Sein und Zeit« ein Werk veröffentlicht, das binnen weniger Monate als neuer Meilenstein des Denkens anerkannt war. Durch seinen großen Wurf bestätigte der Küstersohn aus dem badischen Meßkirch indes nur einen Ruf, der ihn bereits in den Jahren zuvor, um es in den Worten seiner damaligen Schülerin (und Geliebten) Hannah Arendt(1) zu sagen, als »heimlichen König« der deutschsprachigen Philosophie auswies. Heidegger(5) hatte das Werk im Jahre 1926 unter enormem zeitlichen Druck geschrieben – und in Wahrheit nur zur Hälfte beendet. Mit »Sein und Zeit«, einem Jahrhundertwerk, hatte er die formalen Voraussetzungen geschaffen, aus dem ungeliebten Marburg an seine Freiburger Alma Mater zurückzukehren. Im Jahr 1928 übernimmt Martin Heidegger(6) dort den prestigeträchtigen Lehrstuhl seines einstigen Lehrers und Förderers, des Phänomenologen Edmund Husserl(1).

Hatte John Maynard Keynes(4) anlässlich der Rückkehr Wittgensteins nach Cambridge noch das transzendente Register eines »Gottes« gewählt, so verweist Arendts(2) Begriffswahl des »Königs« auf einen Willen zur Macht und damit sozialen Dominanz, die sich im Falle Heideggers(7) jedem Beobachter schon nach wenigen Sekunden deutlich mitteilte. Egal wo er auftritt oder erscheint: Heidegger(8) ist niemals nur einer unter vielen. Im Festsaal von Davos untermauert er diesen Anspruch mit der symbolträchtigen Weigerung, sich als einer unter anderen Philosophieprofessoren auf vorgesehenem Platze einzufinden. Man tuschelt, raunt, dreht sich gar eigens um: Heidegger(9) ist da. Es kann also losgehen.

Contenance wahren

Mehr als unwahrscheinlich, dass auch Ernst Cassirer(2) in das allgemeine Geraune und Gemurmel im Saal mit einstimmte. Nur nichts anmerken lassen: die Form wahren – und vor allem Haltung. So lautet das Credo seines Lebens. Und auch der Kern seiner Philosophie. Wovor hätte er sich, bei Lichte betrachtet, auch fürchten sollen? Schließlich ist dem 54-jährigen Professor der Universität Hamburg keine Umgebung vertrauter als der zeremonielle Rahmen einer akademischen Großveranstaltung. Exakt zehn Jahre nun hat er seinen Lehrstuhl inne. Zum Wintersemester 1929/1930 würde er – als der erst vierte Jude in der Geschichte der deutschen Universitätsgeschichte – gar das Rektorat seiner Hochschule übernehmen. Auch mit der Etikette Schweizer Nobelhotels durfte sich Cassirer(3) als Spross einer wohlhabenden Breslauer Kaufmannsfamilie von frühester Kindheit an vertraut wissen. Wie man es in seinen Kreisen zu tun pflegte, fuhr er mit seiner Frau Toni(1) jedes Jahr über die Sommermonate in die Schweizer Berge zur Kur. Vor allem aber befindet sich im Jahre 1929 auch Cassirer(4) auf dem Zenit seines Ruhms, dem Gipfel seines Schaffens. In den vorangegangenen zehn Jahren hatte er seine dreiteilige »Philosophie der symbolischen Formen« zu Papier gebracht. Die enzyklopädische Breite und systematische Originalität des Werkes – dessen dritter und letzter Band nur wenige Wochen vor der Davoser Tagung erschienen war – etablierte Cassirer(5) als das unbestrittene Haupt des Neukantianismus und damit der führenden akademischen Strömung der deutschen Philosophie.

Anders als bei Heidegger(10) ist Cassirers(6) Aufstieg zum Meisterdenker kein kometenhafter gewesen. Vielmehr war sein Ruf über Jahrzehnte philosophiehistorischer und editorischer Arbeiten kontinuierlich gewachsen. Sowohl eine Gesamtausgabe der Werke von Leibniz(1) als auch der Werke Kants(2) hat er als Herausgeber betreut und in den Jahren seiner Tätigkeit als Privatdozent in Berlin überdies ein umfangreiches Werk zur Philosophiegeschichte der Neuzeit veröffentlicht. Anstatt durch charismatische und sprachliche Verwegenheit zeichnet sich sein Auftreten vor allem durch beeindruckende Belesenheit und ein bisweilen übermenschlich erscheinendes Erinnerungsvermögen aus, das es ihm bei Bedarf ermöglicht, zentrale Stellen der großen philosophischen und literarischen Klassiker seitenlang aus dem Kopf zu zitieren. Geradezu berüchtigt ist Cassirers ausgeglichenes Wesen, das stets auf Vermittlung und Mäßigung abzielt. Er verkörpert – und weiß es genau – in Davos genau jene Form des Philosophierens und auch des akademischen Establishments, das Heidegger(11) mit seinem dank großzügiger Reisestipendien fast vollständig angereisten Stoßtrupp von Schülern und Habilitanden unbedingt aufzumischen strebt. Das Foto der Eröffnungsfeier zeigt Cassirer(7) – zweite Reihe links – an der Seite seiner Gattin Toni(2) sitzend. Das volle Haupthaar würdig ergraut, ist sein Blick konzentriert zum Rednerpult gewandt. Der Stuhl linker Hand vor ihm ist frei. Ein an die Lehne geheftetes Papier weist ihn als »reservé« aus. Heideggers(12) Platz.

Mythos Davos

Wie spätere Aufzeichnungen bezeugen, blieben Heideggers(13) gezielte Verstöße gegen die Davoser Etikette durchaus nicht ohne Wirkung. Toni Cassirer(3) hat das Zusammentreffen gar derart verstört, dass sie es in ihren Memoiren, die sie 1948 im New Yorker Exil unter dem Titel »Mein Leben mit Ernst Cassirer(8)«[7] schreibt, um volle zwei Jahre fehldatiert. Sie beschreibt darin einen »kleinen, ganz unscheinbaren Mann, schwarzes Haar stechend dunkle Augen«, der sie – die Kaufmannstochter aus bester Wiener Gesellschaft – »sofort an einen Handwerker, etwa aus dem südlichen Österreich oder Bayern« erinnerte, ein Eindruck, der beim späteren Gala-Diner »bald darauf durch seinen Dialekt unterstützt wurde«. Schon damals ahnte sie deutlich, mit wem ihr Gatte es zu tun bekommen würde: »Heideggers(14) Neigung zum Antisemitismus«, schließt sie ihre Erinnerungen an Davos, »war uns nicht fremd.«

Die Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer(9) und Martin Heidegger(15) gilt heute als einschneidendes Ereignis in der Geschichte des Denkens. In den Worten des amerikanischen Philosophen Michael Friedman(1) stellt sie gar die maßgebliche »Wegscheide für die Philosophie des 20. Jahrhunderts« dar.[8] Das Bewusstsein, Zeuge eines Epochenwandels zu sein, beseelte bereits alle damals anwesenden Teilnehmer. So zelebriert der Heidegger(16)-Student Otto F. Bollnow(1) (der in den Jahren nach 1933 zu einem bekennenden Nazi-Philosophen aufstieg) in seinem Tagebuch das »erhebende Gefühl, … einer geschichtlichen Stunde beigewohnt zu haben, ganz wie es Goethe(2) in der ›Kampagne in Frankreich‹ ausgesprochen hatte: ›Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus‹ – in diesem Fall der Philosophiegeschichte – und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen«.[9]

In der Tat. Hätte Davos nicht tatsächlich stattgefunden, zukünftige Ideenhistoriker hätten es im Nachhinein erfinden müssen. Bis in kleinste Details spiegeln sich in diesem epochalen Ereignis die prägenden Kontraste der gesamten Dekade. Der jüdische Industriellenspross aus Berlin trifft auf den katholischen Küstersohn aus der badischen Provinz, hanseatische Contenance auf unverblümt-direkte Bäuerlichkeit. Cassirer(10) ist das Hotel. Heidegger(17) die Hütte. Unter gleißender Höhensonne treffen sie an einem Ort aufeinander, in dem die Welten, für die sie stehen, einander in unwirklicher Weise überblenden.

Die traumgleiche, insulare Atmosphäre eines Davoser Kurhotels war es ja auch, die Thomas Mann(1) zu seinem 1924 erschienenen Roman »Der Zauberberg« inspiriert hatte. Die Davoser Disputation von 1929 mochte den Teilnehmern deshalb gar als konkrete Umsetzung einer fiktionalen Vorlage erscheinen. Mit einer geradezu unheimlichen Passgenauigkeit fügten sich Cassirer(11) und Heidegger(18) in die ideologischen Schablonen eines Lodovico Settembrini und eines Leo Naphta, die Thomas Manns(2) Roman für die gesamte Epoche erstellt hatte.

Menschen fragen

Epochal lautete auch das von den Veranstaltern gewählte Thema der Davoser Zusammenkunft: »Was ist der Mensch?« Eine Frage, die bereits das Leitmotiv der Philosophie Immanuel Kants(3) bildete. Kants gesamtes kritisches Denken geht dabei von einer ebenso einfachen wie unabweisbaren Beobachtung aus: Der Mensch ist ein Wesen, das sich Fragen stellt, die er letztlich nicht beantworten kann. Diese Fragen betreffen insbesondere die Existenz Gottes, das Rätsel der menschlichen Freiheit und die Unsterblichkeit der Seele. In einer ersten kantischen Bestimmung ist der Mensch also ein metaphysisches Wesen.

Doch was folgt daraus? Für Kant(4) eröffnen diese metaphysischen Rätsel, gerade weil sie sich nicht abschließend beantworten lassen, dem Menschen einen Horizont möglicher Vervollkommnung. Sie leiten uns in dem Bestreben an, möglichst viel in Erfahrung zu bringen (Erkenntnis), möglichst frei und selbstbestimmt zu handeln (Ethik), sich einer immerhin möglichen Unsterblichkeit der Seele möglichst würdig zu erweisen (Religion). Kant spricht in diesem Zusammenhang von einer regulativen oder auch leitenden Funktion des metaphysischen Fragens.

Die Vorgaben des kantischen Projekts blieben bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts bestimmend für die deutschsprachige Philosophie – ja für die moderne Philosophie als Ganzes. Zu philosophieren, das bedeutete, nicht zuletzt für Cassirer(12) und Heidegger(19), in der Spur dieser Fragen zu denken. Und Gleiches galt auch für die bereits erwähnten, eher logisch orientierten Versuche Ludwig Wittgensteins, eine feste Grenze zu ziehen zwischen dem, wovon man als vernünftiger Mensch sprechen kann, und dem, worüber man schweigen muss. Wittgensteins Therapieversuch des »Tractatus« ging allerdings insofern entscheidend über Kant(5) hinaus, als er selbst noch den als grundmenschlich angenommenen Impuls, überhaupt metaphysische Fragen zu stellen – und also zu philosophieren –, mit den Mitteln der Philosophie für therapierbar zu halten schien. So heißt es im »Tractatus«:

6.5  Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen.

Das Rätsel gibt es nicht.

Wenn sich eine Frage überhaupt stellen lässt, so kann sie auch beantwortet werden.

6.51  … Denn Zweifel kann nur bestehen, wo eine Frage besteht; eine Frage nur, wo eine Antwort besteht, und diese nur, wo etwas gesagt werden kann.

6.53  Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich: Nichts zu sagen, als was sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. …

Die mit Wittgensteins Werk verbundene zeittypische Hoffnung, vom Geiste der Logik und der Naturwissenschaft geleitet metaphysische Fragen endlich hinter sich lassen zu können, beseelte auch zahlreiche Teilnehmer der Davoser Konferenz, so zum Beispiel den damals 38-jährigen Privatdozenten Rudolf Carnap(1), Autor von Werken mit solch programmatischen Titeln wie »Der logische Aufbau der Welt« oder auch »Scheinprobleme in der Philosophie« (beide 1928). Nach seiner Emigration in die USA im Jahre 1936 stieg Carnap zu einem der führenden Köpfe der sich auf Wittgensteins Wirken berufenden sogenannten »analytischen Philosophie« auf.

Ohne Fundament

Doch ganz gleichgültig, welcher Prägung oder Schule sich die Teilnehmer der Davoser Tagung zugehörig fühlten – Idealismus, Humanismus, Lebensphilosophie, Phänomenologie oder Logizismus –, in einem wesentlichen Punkt herrschte unter den anwesenden Philosophen Übereinstimmung: Das weltanschauliche und vor allem wissenschaftliche Fundament, auf dem Kant(6) einst sein beeindruckendes philosophisches System errichtet hatte, war ausgehöhlt oder zumindest stark reformbedürftig. Kants »Kritik der reinen Vernunft« basierte, nicht zuletzt in ihrem Verständnis der Anschauungsformen von Raum und Zeit, deutlich auf der Physik des 18. Jahrhunderts. Doch war das newton(1)sche Weltbild durch Einsteins(2) Relativitätstheorie (1905) revolutioniert worden. Weder können Raum und Zeit als voneinander unabhängig betrachtet werden, noch waren sie in benennbarem Sinne a priori, also vor aller Erfahrung gegeben. Bereits zuvor hatte Darwins(1) Evolutionstheorie der Idee einer dem zeitlichen Werden enthobenen, auf ewig vorgegebenen menschlichen Natur Entscheidendes an Plausibilität genommen. Mit der durch Darwin vollzogenen Aufwertung des Zufalls für die Entwicklung aller Arten auf dem Planeten – von Nietzsche(1) einflussreich auf den Bereich der Kultur übertragen – sah sich zudem die Aussicht auf einen zielgerichteten, gar vernunftgeleiteten Verlauf der Geschichte entscheidend geschwächt. Auch die vollkommene Transparenz des menschlichen Bewusstseins für sich selbst – als Ausgangspunkt von Kants transzendentaler Untersuchungsmethode – schien spätestens mit Sigmund Freud(1) nicht mehr selbstverständlich. Mehr als alles andere aber hatten die Greuel des anonymisierten, millionenfachen Tötens im Ersten Weltkrieg der aufklärerischen Rhetorik eines zivilisierenden Fortschritts der Menschheit durch die Mittel der Kultur, Wissenschaft und Technik jede Glaubwürdigkeit geraubt. Die Frage nach dem Menschen zeigte sich im Lichte der politischen und wirtschaftlichen Krisen dieser Dekade als drängender denn je. Allein die einstige Grundlage ihrer Beantwortung war endgültig fraglich geworden.

Der 1928 überraschend verstorbene Philosoph Max Scheler(1) – Autor des Werkes »Die Stellung des Menschen im Kosmos« (1928) – fasste dieses Krisengefühl in einem seiner letzten Vorträge folgendermaßen in Worte: »Wir sind in der ungefähr zehntausendjährigen Geschichte das erste Zeitalter, in dem sich der Mensch völlig und restlos problematisch geworden ist; in dem er nicht mehr weiß, was er ist, zugleich aber auch weiß, daß er es nicht weiß.«[10]

Das ist der Fragehorizont, vor dem Cassirer(13) und Heidegger(20) auf dem Gipfel von Davos zusammentreffen. Dieser Horizont hat beide Denker die vorangegangenen zehn Jahre zu ihren Hauptwerken inspiriert. Anstatt allerdings eine direkte und substantielle Antwort auf Kants(7) Frage »Was ist der Mensch?« zu versuchen – und darin besteht die jeweilige Originalität ihres Denkens –, konzentrieren sich Cassirer(14) und Heidegger(21) auf die stillschweigende Frage hinter der Frage.

Der Mensch ist ein Wesen, das sich Fragen stellen muss, die er nicht beantworten kann. Schön und gut. Aber welche Bedingungen müssen eigentlich gegeben sein, damit ein Wesen überhaupt in der Lage ist, sich diese Fragen zu stellen? Welches sind die Bedingungen der Möglichkeit dieses Fragens selbst? Worauf beruht die Fähigkeit des Hinterfragens von Fragen? Dieser Impuls? Die Antworten sprechen sich bereits im Titel ihrer Hauptwerke aus: Im Falle Cassirers(15) lautet er: »Philosophie der symbolischen Formen«. Im Falle Heideggers(22): »Sein und Zeit«.

Zwei Visionen

Nach Cassirer(16) ist der Mensch vor allem ein zeichenverwendendes und zeichenhervorbringendes Wesen – ein animal symbolicum. Er ist mit anderen Worten ein Wesen, das sich selbst und seiner Welt durch die Verwendung von Zeichen Sinn, Halt und Orientierung gibt. Das wichtigste Zeichensystem des Menschen ist dabei seine natürliche Muttersprache. Doch gibt es zahlreiche andere Zeichensysteme – in Cassirers Begrifflichkeit: symbolische Formen –, etwa die des Mythos, der Kunst, der Mathematik oder der Musik. Diese Symbolisierungen, seien es sprachliche, bildliche, akustische oder gestische Zeichen, verstehen sich in der Regel nicht von selbst. Vielmehr bedürfen sie ihrerseits der Interpretation durch andere Menschen. Der fortlaufende Prozess, in dem Zeichen in die Welt gesetzt und durch andere Menschen interpretiert und verändert werden, ist der Prozess der menschlichen Kultur. Erst diese Fähigkeit zur Zeichenverwendung ermöglicht es dem Menschen, metaphysische Fragen, ja überhaupt Fragen über sich und die Welt zu stellen. Kants(8) Kritik der reinen Vernunft wird für Cassirer(17) zum Projekt einer Untersuchung der symbolischen Formsysteme, mit denen wir uns und unserer Welt Sinn verleihen. Es wird damit zu einer Kritik der Kultur in ihrer ganzen, notwendig widersprüchlichen Breite und Vielfalt.

Auch Heidegger(23)geworfenes Dasein(24)Eigentlichkeit