Soweit der zitierte Wortlaut Rudolf Steiners der im Rudolf Steiner Verlag erschienenen Gesamtausgabe (GA) folgt, geschieht der Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung, Dornach/Schweiz.

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1. Auflage 2018
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ISBN 9783746005737

INHALT

»Es ist allein des Menschen würdig, dass er selbst die Wahrheit
suche, dass ihn weder Erfahrung noch Offenbarung leite.
Wenn das einmal durchgreifend erkannt sein wird, dann haben
die Offenbarungsreligionen abgewirtschaftet. Der Mensch wird
dann gar nicht mehr wollen, dass sich Gott ihm offenbare oder
Segen spende. Er wird durch eigenes Denken erkennen, durch
eigene Kraft sein Glück begründen wollen«.

(Rudolf Steiner, Einleitungen ..., 1883)

»Auf das geistige Gestanden-Haben vor dem Mysterium von
Golgatha in innerster ernstester Erkenntnis-Feier kam es bei
meiner Seelen-Entwickelung an«.

(Rudolf Steiner, Das Goetheanum, 4. Januar 1925)

VORWORT ODER
VOM
GOTT DER PHILOSOPHEN ZUR MYSTISCHEN
GOTTESERFAHRUNG

Rudolf Steiner hat die von ihm konzipierte und praktizierte Geisteswissenschaft bekanntlich als Erfahrungswissenschaft verstanden. Allerdings fasste er den Erfahrungsbegriff nicht so eng, wie der Empirismus seiner Zeit, sondern betrachtete von Beginn seiner publizistischen Tätigkeit an auch geistige Erfahrungen als vollgültige Gegenstände wissenschaftlicher Erkenntnis. In den Grundlinien einer Erkenntnistheorie1 z.B. kritisiert er das empirizistisch verengte Verständnis von Erfahrung, das nur das sinnlich Gegebene als solche gelten lässt und bezeichnet demgegenüber das Denken als »höhere Erfahrung in der Erfahrung«. Damit wird bereits 1886 der Zugang2 zur Geisterkenntnis geöffnet, denn im Denken ist der Geist dem Menschen unmittelbar zugänglich: Denkerfahrung ist der Anfang – wenn auch nicht das Ende – der Geisterfahrung.

Im frühesten Brief, der uns von Steiner erhalten ist, bezieht sich der 19jährige auf Schellings »intellektuelle Anschauung« und spricht sich selbst die Fähigkeit zu, »im reinen Selbst das Ewige anzuschauen«. Schelling schreibt in seinen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus 1795: »Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen. Diese Anschauung ist die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher allein alles abhängt, was wir von einer übersinnlichen Welt wissen und glauben«.3

Steiner kommentiert diese Sätze Schellings: »Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben – geahnt habe ich es ja schon längst –; die ganze idealistische Philosophie steht nun in einer wesentlich modifizierten Gestalt vor mir; was ist eine schlaflose Nacht gegen solch einen Fund!« Man kann diesen Brief vom 13. Januar 1881 als das biografische Zeugnis einer mystischen Erfahrung betrachten, als einen Hinweis auf die Quellen der Anthroposophie, aus welchen bereits das philosophische Weltbild des jungen Steiner hervorgegangen ist. Steiner beschreibt sein »nächtliches Erlebnis« in der klassischen Form einer Illumination, einer Erleuchtung.4

Aber schon zwei Jahre vorher, 1879, versuchte er, Fichtes Wissenschaftslehre im Hinblick auf seine offensichtlich vorhandenen spirituellen Erfahrungen umzuschreiben. In dieser Zeit begegnete er nach seiner späteren Darstellung seinem spirituellen »Meister«. Der »Meister« knüpfte an Steiners Beschäftigung mit Fichte an, um »systematische« Fragen der spirituellen Erkenntnis zu erörtern. In den Gesprächen mit diesem unbekannten »Meister« sei, wie Steiner später berichtete, »manches von dem veranlagt« worden, was 1909 in seiner Geheimwissenschaft im Umriß, dem Entwurf einer »Anthroposophie als eines Ganzen« seinen Ausdruck gefunden habe.5

Fichtes »Wissenschaftslehre« lässt die geistige Essenz der Welt – ebenso wie die Natur oder das »Nicht-Ich« – aus »Tathandlungen« eines transzendentalen, absoluten »Ich« hervorgehen. Dieses transzendentale oder höhere Ich setzt sich selbst als Ich; dem Ich, das es setzt, setzt es ein Nicht-Ich entgegen und fasst damit beide Aspekte der Realität, den subjektiven und den objektiven, Geist und Natur in sich zusammen. In diesem

Ich, das dem Ich ein Nicht-Ich entgegensetzt, lebt eine abstrakte Erinnerung an das »Zimzum«6 der Kabbala, die Selbstbeschränkung Gottes fort. Gott, der alles ist, der die Unendlichkeit ausfüllt, muss nach dieser Lehre der Kabbala in sich selbst Platz für die Schöpfung schaffen, er muss sein eigenes Wesen beschränken, verneinen, damit etwas anderes als er in ihm oder neben ihm existieren kann.

Die Geheimwissenschaft im Umriss, die ja eine Summe der Anthroposophie, die größte systematische Entfaltung ihrer Inhalte darstellt, entwickelt nacheinander: eine Anthropologie, eine Kosmogonie und Anthropogonie, eine Historiosophie, eine Erkenntnislehre oder Gnoseologie und schließlich eine Eschatologie.

Am Anfang, im ersten großen Kapitel, steht die Idee des Menschen – es ist, als würde man mit dem Auge Gottes auf den Menschen blicken und aus diesem Anblick heraus zur Schöpfung übergehen. Die Entstehung des Kosmos ist zugleich die Entstehung des Menschen: – die Kosmogonie ist die Entäußerung des »göttlichen Urgrundes« in die Hierarchienwelt und durch die Hierarchienwelt in den Menschen.7 Die Erzählung8 vom objektiven Geist, die »Schöpfungslehre« oder »Emanationslehre« der Geheimwissenschaft im Umriß, ist jedoch in einer ergänzenden Erzählung vom subjektiven Geist, in der Schilderung eines Initiationsweges verankert, der zur Transformation der Seele des Menschen, zur »geistigen Wiedergeburt« führt. Durch den Schulungsweg findet der Mensch den Weg zurück zu seinem göttlichen Ursprung, wenn er die Selbstentäußerung Gottes in sich rückgängig macht. Geisterkenntnis ist die Rekapitulation der Schöpfung in spiegelbildlicher Form, der Rückgang in den Grund, die Involution der Evolution.

Der Gnostiker, d.h., der Erkennende, findet »in sich« den gesamten Schöpfungsprozess. Weil der Mensch ein Bild Gottes ist, trägt er die geistigen Bilder jenes kreativen Handelns in sich, aus dem er hervorgegangen ist. Diese Bilder sind aber nicht bloß Bilder, sondern schaffende Wesen. Die Gesamtheit dieser schaffenden Wesen zelebriert eine kosmische Liturgie, in der sie ihre eigene Wesenssubstanz hinopfert, um den Menschen hervorzubringen. Die Hierarchienwelt liegt nicht außerhalb des Menschen, sondern durchdringt ihn in fortdauernder kreativer Tätigkeit. Gleichzeitig durchdringt der Gnostiker mit seinem erweiterten Bewusstsein diese kosmische Wesenswelt als Grund seines eigenen Wesens. Aber der Gnostiker ist sich auch der Tatsache bewusst, dass sein erkennendes Bewusstsein von dem umfasst wird, was es erkennt.

Hier, in der Geheimwissenschaft im Umriß, ist die höchste Synthese von Transzendenz und Immanenz erreicht: aus dem transzendenten göttlichen Urgrund geht die Welt und mit ihr der Mensch hervor, aber das Hervorgegangene fällt nicht aus dem Urgrund heraus, dieser durchdringt es und es bleibt in ihm, ist ihm immanent. Gleichzeitig ist der Urgrund für das Erkennen transzendent, aber nur solange, als dieses Erkennen nicht in den Urgrund eingedrungen ist und – im Doppelsinn dieses Wortes – seine Immanenz in ihm erkannt hat.

Auf diese mystische Urtatsache – dass das Erkennende vom Erkannten umfasst wird und umgekehrt –, weist bereits die Philosophie der Freiheit hin, deren Ausführungen über das Erkennen man in der Formel zusammenfassen kann: »Das Ich lebt im Denken und das Denken lebt im Ich«.


1 Alle Werke Rudolf Steiners werden nach der jeweiligen ersten Auflage zitiert. Die Änderungen in den späteren Auflagen bleiben unberücksichtigt bzw. werden als solche kenntlich gemacht. Nur so kann die tatsächliche historische Entwicklung der hier untersuchten Begriffe rekonstruiert werden.

2 Das erste Mal hat Christoph Lindenberg 1970 in seinem Essay Individualismus und offenbare Religion – Rudolf Steiners Zugang zum Christentum von einem Weg gesprochen, den Steiner zurücklegte. Diese Publikation löste eine heftige Kontroverse aus. Das Buch ist 1995 in einer erweiterten Neuausgabe erschienen.

3 Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, 1795, zitiert nach Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke, herausgegeben von F.K.A. Schelling, 1. Abt., 1. Band, Stuttgart 1856, S. 318. Den im Zitat kursiv gesetzten Satz hat Steiner in seinem Brief nicht wiedergegeben. Der Brief Steiners an Josef Köck in: Rudolf Steiner, Briefe, Bd I, Dornach 1985, S. 13-14.

4 Dies wird deutlich, wenn man die ganze Erzählung liest, in die das Zitat eingebettet ist: »Lieber, getreuer Freund! Es war die Nacht vom 10. auf den 11. Januar, in der ich keinen Augenblick schlief. Ich hatte mich bis 1/2 1 Uhr mitternachts mit einzelnen philosophischen Problemen beschäftigt, und da warf ich mich endlich auf mein Lager; mein Bestreben war voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr wäre, was Schelling sagt: ›Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.‹ Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben – geahnt habe ich es ja schon längst –; die ganze idealistische Philosophie steht nun in einer wesentlich modifizierten Gestalt vor mir; was ist eine schlaflose Nacht gegen solch einen Fund! Und der Morgen kam heran – ein eisig kalter ... da war ich denn schnell reisefertig und stand zur Abfahrt bereit – an mich ein Brief war da; dass er von Dir war, entdeckte ich ja gar bald an der Adresse. Ich war im Waggon, und bei einer erbärmlichen Lampe las ich – meine augenblicklichen Gefühle zu schildern, ist heute schon ganz unmöglich; ich war außer mir – ungeheuer bewegt; was war zu tun, um beruhigt zu werden offenbar nichts! Ich war den ganzen nicht derselbe des vorigen Tages – natürlich materialiter gemeint, nicht formaliter –. Des Abends beim Nachhausefahren hatte es eine Frau zu büßen; ich stieg in den Waggon – d. h. mein Körper –. Um Dir zu zeigen, dass so was auch möglich ist, flechte ich hier eine kleine Anekdote ein: – Einmal saß ich bis tief in die Nacht hinein bei Jean Paul; ich las und las so fort – des vorigen Tages war dasselbe geschehen –, doch was weiter war, das weiß ich nicht, denn ich hatte mich weder ausgezogen noch schlafen gelegt, doch fand ich mich des Morgens liegend im Bette, meine Bücher, Kleider etc. an den gewohnten Orten –, offenbar war alles im Traume geschehen, und da ich täglich auf ganz bestimmte Weise schlafen gehe, d. h. meine Bücher an einen bestimmten Ort lege, meine Kleider desgleichen etc., etc., so war dieses mit ebenderselben Genauigkeit jetzt im Traume geschehen –. Nun so ging ich desselbigen Tages auch herum und zum Bahnhof bis in den Wagen und setzte mich – nur zum Unglück auf eine Uhr, die eine Frau dort liegen hatte und die auf Scherben hin war. – Den Schaden hatte sie, nicht ich; denn ich habe ihr nichts gezahlt; sie soll ihre Uhr anderswohin legen«. Rudolf Steiner, Briefe, Band 1, Dornach 1985, S. 13-14. – Der Empfänger des Briefes war Josef Köck.

5 Vortrag vom 4. Februar 1913, gehalten bei der ersten Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft nach der Trennung von der Theosophischen Gesellschaft, Beiträge zur Gesamtausgabe, Dornach 1984, Nr. 83-84, S. 18.

6 Der Begriff wurde im 16. Jahrhundert von Isaak Luria geprägt. Siehe: Christoph Schulte, Zimzum. Gott und Weltursprung, Berlin 2014.

7 Steiners Sprachgebrauch, in dem von der «Hierarchienwelt« und »himmlischen Hierarchien« (in der Mehrzahl) die Rede ist, könnte man Goethes »vortreffliches« Aperçu entgegenhalten: »Die Idee ist ewig und einzig; dass wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgetan«. (Sprüche in Prosa, in: J.W. Goethe, Naturwissenschaftliche Schriften [Hrsg. Rudolf Steiner], Band 5, Berlin 1897, S. 379). Der Begriff »Hierarchie« bezeichnet eine »heilige Stufenordnung«, schließt also eine Pluralität unterschiedlicher Wesen ein, es gibt viele hierarchische Wesen, aber nur eine heilige Ordnung. Einzahl und Mehrzahl werden im Folgenden je nach Kontext flexibel gehandhabt.

8 Zur Verwendung des Ausdrucks »Erzählung« siehe Anmerkung 356, S. 327.

GOTT UND DAS GÖTTLICHE IM
PHILOSOPHISCHEN
WERK

Wie spricht Steiner in seinen philosophischen Schriften zwischen 1886 und 1897 von Gott und dem Göttlichen?

Drei Dinge fallen auf:

  1. er verwendet eine ganze Reihe von Umschreibungen für das »Prinzip der Dinge« oder »das Absolute« und vermeidet geradezu systematisch den traditionellen Ausdruck »Gott«;
  2. sein Denken oszilliert permanent zwischen Transzendenz und Immanenz hin und her, aber die Betonung liegt auf der Immanenz des Göttlichen;
  3. mit dieser Immanenz steht ein zentrales Motiv im Zusammenhang: die Wiedergeburt der Dinge im menschlichen Erkennen.

Klassisch spricht Steiner die Alternative »Immanenz oder Transzendenz« bereits 1883 im ersten Band der Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften an. Im Anschluss an Spinoza unterscheidet er hier drei Erkenntnisarten: eine Erkenntnis vom Hörensagen, bei der Worte, die wir lesen oder vernehmen, in uns Vorstellungen von den Dingen evozieren, eine induktive, abstraktive Erkenntnis, bei der wir uns aus Wahrnehmungsvorstellungen Allgemeinbegriffe bilden und eine intuitive, anschauende, deduktive Erkenntnis, bei der wir die Dinge aus den Eigenschaften, den Attributen Gottes erkennen, da jedes einzelne Ding eine Individualisierung einiger göttlicher Attribute ist. Diese dritte, die höchste Erkenntnisart, strebte Goethe laut Steiner an. Interessant ist, wie Steiner diese dritte Erkenntnisart kommentiert: die Dinge sollen in der anschauenden Erkenntnis so erkannt werden, dass wir in ihrem Wesen einige Attribute Gottes erkennen. Der Gott Spinozas ist aber gemäß der Interpretation des 22-Jährigen »der Ideengehalt der Welt, das treibende, alles stützende und alles tragende Prinzip«.9 Nun kann man sich, fährt Steiner fort, entweder vorstellen, dass dieses Prinzip aller Dinge »als selbständiges Wesen« für sich, abgesondert von den endlichen Wesen, neben ihnen existiert – das wäre die Transzendenz – oder aber, man stellt sich vor, dass es »in den Dingen aufgegangen« ist, dass es nicht mehr neben oder über ihnen, sondern nur noch in ihnen existiert – das wäre die Immanenz.

Die Auffassung der Transzendenz, so Steiner, sieht in der endlichen Welt eine Offenbarung des Unendlichen, das Unendliche bleibt in seinem Wesen erhalten, es geht nicht aus sich heraus, es bleibt, was es vor der Offenbarung war. Die Auffassung der Immanenz dagegen leugnet das Urprinzip keineswegs, sie erkennt es vollkommen an, aber sie geht davon aus, dass es sich in die Welt ausgegossen hat: also Emanation. Auch sie betrachtet die endliche Welt als Offenbarung des Unendlichen, aber dieses Unendliche ist, indem es sich offenbart hat, ganz aus sich herausgegangen, es hat sich selbst, sein eigenes Wesen und Leben »in seine Schöpfung« gelegt, so dass es nur mehr in dieser existiert. Und da das Erkennen »ein Gewahrwerden des Wesens der Dinge ist«10, dieses Wesen aber aus jenem Teil des Urprinzips aller Dinge besteht, der in das einzelne Ding hineingeflossen ist, hat man unter Erkennen die Fähigkeit zu verstehen, das Unendliche im Endlichen, den Schöpfer im Geschöpf wahrzunehmen. Steiner scheint sich für diese zweite Variante entschieden zu haben.

So sprechen die Grundlinien einer Erkenntnistheorie (1886) vom »Weltengrund«, der sich in die Welt »vollständig ausgegossen« hat.11 »Das Denken des Menschen« ist die »höchste Erscheinungsform« dieses Weltengrundes. Ein Weltengrund wird also vorausgesetzt, der sich ausgießen kann, und diese Ausgießung soll vollständig sein, d.h.: es ist nichts von diesem Weltengrund »außerhalb« der Welt übriggeblieben.

In den einzelnen Naturreichen nimmt der »Weltengrund« Formen an, in denen er sein Wesen verhüllt. Verhüllt ist das Wesen für die sinnliche Wahrnehmung des Menschen, offenbar wird es einem Denken, das sich gegenüber der Wahrnehmung wie ein »Dolmetsch«, ein Übersetzer verhält: »Das Denken ist der Dolmetsch, der die Gebärden der Erfahrung deutet«.12 Der Dolmetsch, der Gebärden deutet, ist der Übersetzer einer stummen Sprache. Die Gebärden dieser stummen Sprache, die im Buch der Natur aufgezeichnet sind, das in einer zunächst unverständlichen Sprache geschrieben ist, vermag der menschliche Geist zu übersetzen.13

Zugleich wird das Erkennen aber auch als Spiegel beschrieben, in dem sich der Urgrund der Welt selbst bespiegelt oder der Urgrund als Spiegel, in dem sich der menschliche Geist spiegelt. »Der Inhalt der Wirklichkeit ist nur das Spiegelbild des Inhaltes unseres Geistes«, heißt es in den Grundlinien. »Freilich müssen wir die Kraft in uns haben, uns als die Erzeuger dieses Inhaltes zu erkennen, sonst sehen wir ewig nur das Spiegelbild, nie unseren Geist, der sich spiegelt. Auch der sich in einem faktischen Spiegel sieht, muss sich ja selbst als Persönlichkeit erkennen, um sich im Bilde wieder zu erkennen«.14

Wenn also der Mensch die Wirklichkeit erkennt, dann gelangt in ihm der Weltengrund zur Selbsterkenntnis, letzterer erkennt sich selbst im Erkennen des Menschen wieder. Der Mensch, der sich selbst als Persönlichkeit erkennt, vermag auch das

Abbild oder Urbild seiner Persönlichkeit im Weltengrund zu erkennen. Die Beziehung zwischen dem erkennenden Geist des Menschen und dem Weltengrund, der in die Natur ausgegossen ist, ist ein Prozess, ein Lebensprozess, durch den das göttliche Leben sich im Menschen entwickelt. Der Spiegel ist lebendig, er ist nicht nur Bild Gottes, sondern er besitzt Leben, Bewusstsein, Selbstbewusstsein, er bildet das Gespiegelte fort, er vollendet den Weltprozess. Daher weisen die Grundlinien dem menschlichen Erkennen die Aufgabe zu, den »Weltprozess« abzuschließen und die »letzte wahre Gestalt der Wirklichkeit« zur Erscheinung zu bringen: »die Wissenschaft ist der Abschluss des Schöpfungswerkes«, heißt es wörtlich.15 Insofern ist jeder einzelne Mensch aufgerufen oder berufen, an der Hervorbringung der künftigen Gestalt Gottes mitzuwirken. Der Weltengrund geht durch den Menschen hindurch, um aus ihm in neuer Gestalt hervorzugehen.

In diesen philosophischen Gedankenformen sind die Ideen der Anthromorphose – der Menschwerdung Gottes –, der Inkarnation, des Opfers und der Auferstehung enthalten. Statt von »Ausgießung« des Weltengrundes könnte man auch von »Opferung« oder von »Inkarnation« sprechen: der Weltengrund hat sich in der Schöpfung, in der Welt inkarniert. Indem er sich inkarniert, opfert er seine Universalität, seine Singularität, er zerstückelt sich in die unendliche Vielheit der Einzelwesen. Wenn der zerstückelte Weltengrund im erkennenden Menschen aufersteht, wird die Seele des Menschen durch dieses Göttliche, das in ihr erscheint, transsubstantiiert, transformiert. Aber ebenso wird das Göttliche durch den Menschen transformiert.

Ähnlich heißt es im ebenfalls 1886 verfassten Sendschreiben an Marie Eugenie delle Grazie Die Natur und unsere Ideale: »Wir sollten endlich zugeben, dass der Gott, den eine abgelebte Menschheit in den Wolken wähnte, in unserem Herzen, in unserem Geiste wohnt. Er hat sich in voller Selbstentäußerung ganz in die Menschheit ausgegossen. Er hat für sich nichts zu wollen übrig behalten, denn er wollte ein Geschlecht, das frei über sich selbst waltet. Er ist in die Welt aufgegangen. Des Menschen Wille ist sein Wille, des Menschen Ziele seine Ziele [Kursivsetzung L.R.].«16 Ja, mehr noch: indem er sich in voller Selbstentäußerung in die Welt – um ihrer Göttlichkeit willen – und »in die Menschheit« – um ihrer Freiheit willen – ausgegossen hat, hat er seine eigene (gesonderte) Existenz aufgegeben! So fährt Steiner fort: »Indem er den Menschen seine ganze Wesenheit eingepflanzt hat, hat er seine eigene Existenz aufgegeben. Es gibt einen ›Gott in der Geschichte‹ nicht; er hat aufgehört zu sein um der Freiheit des Menschen willen, um der Göttlichkeit der Welt willen. Wir haben die höchste Potenz des Daseins in uns aufgenommen [Kursivsetzung L.R.].«17

Im Gegensatz zu den Grundlinien ... heißt es 1887 im zweiten Band der Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften in moralphilosophischem Kontext: »Die erhabenste Gottesidee bleibt doch immer die, welche annimmt, dass Gott sich nach der Schöpfung des Menschen ganz von der Welt zurückgezogen und den letzteren ganz sich selbst überlassen habe«.18

Also nicht: ganz ausgegossen, sondern ganz zurückgezogen. Diese Formulierung setzt voraus, dass der Schöpfer unabhängig und unterscheidbar von der Schöpfung fortexistiert – wenn er sich von der Welt zurückgezogen hat, kann er sich natürlich nicht vollständig in sie ausgegossen haben, sonst wäre ja nichts übriggeblieben, das sich hätte zurückziehen können.

Aber im selben Band der Einleitungen von 1887 heißt es etwas später: »Der Weltlenker hat sich seiner Macht begeben, hat alles an den Menschen abgegeben, mit Vernichtung seines Sonderdaseins und dem Menschen die Aufgabe zuerteilt: wirke weiter«19 – also nicht zurückgezogen hat sich der Weltenlenker, um jenseits der Schöpfung fortzuexistieren, sondern er hat sein gesondertes Dasein vollständig aufgegeben, so wie dies auch das Sendschreiben 1886 formulierte.

An einer anderen Stelle im Text heißt es: »Was die Philosophen das Absolute, das ewige Sein, den Weltengrund, was die Religionen Gott nennen, das nennen wir [...] die Idee«20 und von dieser Idee wird gesagt: »Der gesamte Seinsgrund ist in der Idee aufgegangen, hat sich in sie ergossen, rückhaltlos, so dass wir ihn nirgends als in ihr zu suchen haben. In der Idee haben wir nicht ein Bild von dem, was wir zu den Dingen suchen; wir haben dieses Gesuchte selbst«21 und »wenn sich das Denken der Idee bemächtigt«, dann »verschmilzt« es »mit dem Urgrunde des Weltendaseins«, mit dem es »auf seiner höchsten Potenz eins« wird.22

Nach Steiners Auffassung ist das »Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit [...] die wahre Kommunion des Menschen«.23 Nun bezeichnet ja der Ausdruck »Kommunion« die Vereinigung des Menschen mit dem Göttlichen und die Verwendung dieses Ausdrucks ist sicher nicht zufällig, – als ehemaliger Ministrant war sich der Verfasser der dogmatischen Bedeutung dieses Begriffs zweifellos bewusst. Steiner will sagen, dass sich das erkennende Bewusstsein in seinem Erkennen mit dem »Göttlichen«, dem »Kern der Welt« tatsächlich vereinigt. Daher heißt es an einer anderen Stelle auch: »jedes Stück Welterkenntnis ist ein Stück Gotteserkenntnis« und das Erkennen auf seiner höchsten Stufe wird als »ein Zusammengehen mit der Gottheit« bezeichnet.24

Nun setzen sowohl das Einswerden als auch das Verschmelzen die Existenz eines Wesens voraus, mit dem man Eins werden oder verschmelzen kann. Aber unabhängig davon, ob der Weltengrund sich nun »vollständig, rückhaltlos ausgegossen«, »von der Welt zurückgezogen« oder »sein Sonderdasein aufgegeben« hat, zieht er jedenfalls als Prinzip des Seins und des Erkennens in das Bewusstsein des Menschen ein.

Der erste Satz des Credos »der Einzelne und das All«, das in dieser Zeit entstanden ist, lautet: »Die Ideenwelt ist der Urquell und das Prinzip des Seins«25 und in der Ende 1891 verfassten Vorrede zur Buchausgabe seiner Prolegomena zur Verständigung des philosophierenden Bewusstseins mit sich selbst wird der Mensch durch sein Erkennen der »tätige Mitschöpfer des Weltprozesses«.26 Sein Erkennen ist das »vollendetste Glied im Organismus des Universums«27. In ihm lebt sich der »innerste Kern der Welt« aus.28

1893, in der Philosophie der Freiheit sieht der Mensch in seinem Denken eine »schlechthin absolute Kraft zum Dasein kommen«, allerdings lernt er diese Kraft nicht bei ihrem Ausströmen aus dem Zentrum der Welt kennen, sondern »in einem Punkt der Peripherie«. Indem der Mensch denkt, ist er »das alleine Wesen, das alles durchdringt«,29 in seinem Denken ergreift er das »gemeinsame Urwesen, das alle Menschen durchdringt«, und »das mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit ist zugleich das Leben in Gott«.30

Also auch hier wieder: eine absolute Kraft, die der Mensch nicht in ihrem Zentrum, sondern an ihrer Peripherie erfasst, ein gemeinsames Urwesen, das unabhängig vom einzelnen Menschen existiert, aber zugleich ein Urwesen, mit dem sich der Mensch erkennend vereinigt.

1897, in Goethes Weltanschauung schließlich, spricht Steiner davon, dass die Dinge durch den erkennenden Menschengeist »aus ihrer Verzauberung erlöst«31 werden, denn im Geist des Menschen »lebt das, was in der Natur selbst tätig ist«, »die Wirkungskraft, durch welche die Natur das All schafft«.32


9 Joseph Kürschner (Hrsg.), Deutsche National-Litteratur. Historisch kritische Ausgabe, Band 114, Goethes Werke XXXIII, Naturwissenschaftliche Schriften, Erster Band, herausgegeben von Rudolf Steiner, Berlin und Stuttgart, 1883, S. LVII. = Rudolf Steiner, Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften, GA 1, Dornach 1987, S. 78.

10 Ebenda (GA 1), S. LVII.

11 Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller, Berlin und Stuttgart 1886, S. 83 f. = GA 2, Dornach 2003, S. 125. Das Kapitel dieses Buches über die menschliche Freiheit enthält die Quintessenz des an die Sufimystik und Spinoza angelehnten Goetheschen Panentheismus, wie er in seinen Gedichten Prooemium und Epirrehma zum Ausdruck kommt: »Was wär’ ein Gott, der nur von außen stieße, / Im Kreis das All am Finger laufen ließe! / Ihm ziemt’s, die Welt imInnern zu bewegen, / Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen, / So dass, was in Ihm lebt und webt und ist, / Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermisst«, sowie: »Müsset im Naturbetrachten / Immer eins wie alles achten. / Nichts ist drinnen, nichts ist draußen; / Denn was innen, das ist außen. / So ergreifet ohne Säumnis / Heilig öffentlich Geheimnis!«.

12 Grundlinien, 1886, S. 40; 2003, S. 66.

13 Nach der Jahrhundertwende wird Steiner diese stumme Sprache und ihre Deutung als »Inspiration« bezeichnen.

14 Grundlinien, 1886, S. 41; 2003, S. 67.

15 Grundlinien, 1886, S. 76; 2003, S. 115.

16 Rudolf Steiner, Methodische Grundlagen der Anthroposophie, GA 30, Dornach 1989, S. 237-239.

17 GA 30, Dornach 1989, S. 237-239. Der von Steiner verwendete Begriff der »Potenz« wurde von Schelling geprägt. Siehe dazu weiter unten, S. 37.

18 Joseph Kürschner (Hrsg.), Deutsche National-Litteratur. Historisch kritische Ausgabe, Band 115, Goethes Werke XXXIV, Naturwissenschaftliche Schriften, Zweiter Band, herausgegeben von Rudolf Steiner, Berlin und Stuttgart, 1887, S. IV. = Rudolf Steiner, Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften, GA 1, Dornach 1987, S. 125

19 Einleitungen, 1887, S. XLVI; 1987, S. 200.

20 Einleitungen, 1887, S. XXV; 1987, S. 162.

21 Einleitungen, 1887, S. XXXIII f.; 1987, S. 177.

22 Einleitungen, 1887, S. IV; 1987, S. 126.

23 Einleitungen, ebd. Kursiv R. Steiner.

24 »Gott hat jede eigene Existenz aufgegeben; außer der Welt ist er nirgends. Wir müssen ihn aber da aufsuchen, wo er ist. Jedes eigentliche Wissen muss also so beschaffen sein, dass es uns in jedem Stücke Welterkenntnis ein Stück Gotteserkenntnis [kurs. L.R.] überliefert. Das Erkennen auf seiner höchsten Stufe ist also ein Zusammengehen mit der Gottheit. Wir nennen es da anschauliches Wissen. Wir erkennen die Dinge ›sub specie aeternitatis‹, d.h. als Ausflüsse der Gottheit. Die Gesetze, die unser Geist in der Natur erkennt, sind also Gott in seiner Wesenheit, nicht nur von ihm gemacht«. Einleitungen, Bd. II 1887, S. LV f., GA 1, S. 217 f. Diese Passage schließt sich an Ausführungen über Spinoza an, ihr gehen die Sätze voraus: »Das menschliche Wesen kann also nur bezwecken, sich in die Welt zu vertiefen, um Gott zu erkennen [kurs. L.R.]. Jeder andere Weg, zu Gott zu gelangen, muss für einen konsequent im Sinne des Spinozismus denkenden Menschen unmöglich erscheinen«.

25 Rudolf Steiner, Wahrspruchworte, GA 40, Dornach 2005, S. 15. Zu den Datierungshypothesen siehe die Hinweise der Herausgeber auf S. 394 dieses Bandes.

26 Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichte’s Wissenschaftslehre. Prolegomena zur Verständigung des philosophierenden Bewusstseins mit sich selbst. Rostock 1891. 1892 unter dem Titel Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer »Philosophie der Freiheit« in Weimar erschienen. S. X. = Wahrheit und Wissenschaft, GA 3, Dornach 2011, S.12.

27 Wahrheit und Wissenschaft, 1892, ebd.; 2011, ebd.

28 In der ebenfalls im Dezember 1891 verfassten Praktischen Schlussbetrachtung, 1892, S. 73; 2011, S. 97.

29 Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, Berlin 1894, S. 93; GA 4, Dornach 1995, S. 91. Das Buch erschien am 14. November 1983, wies aber im Impressum 1894 als Erscheinungsjahr aus.

30 Die Philosophie der Freiheit, 1893/94, S. 261; 1995, S. 250. Den Satz: »Die Welt ist Gott.«, der sich an die Worte »... ist zugleich das Leben in Gott« anschloss, strich der Verfasser 1918.

31 Rudolf Steiner, Goethes Weltanschauung, Weimar 1897, S. 47; GA 6, Dornach 1990, S. 65.

32 Goethes Weltanschauung, Weimar 1897, S. 77-78; 1990, S. 93.

DIE MYSTIK IM AUFGANG – 1901

Steiners Mystik im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens (1901) knüpft unmittelbar an diese Motive der philosophischen Schriften an. Man könnte sagen, das gesamte Werk sei eine Sammlung von Variationen zum Thema »das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen«.

Im Vorwort zur ersten Auflage betont Steiner, dass die Ideenwelt der Mystik bereits in der Philosophie der Freiheit enthalten sei. Um aber diese Ideenwelt so darstellen zu können, wie er es in der Mystik getan habe, dazu sei ein jahrelanger »intimer Umgang« mit dieser Ideenwelt erforderlich gewesen.

Von diesem intimen Umgang mit Ideen ist bereits im ersten Kapitel der Philosophie der Freiheit 1893 die Rede: »Alle wirklichen Philosophen waren Begriffskünstler. Für sie wurden die menschlichen Ideen zum Kunstmateriale und die wissenschaftliche Methode zur künstlerischen Technik. Das abstrakte Denken gewinnt dadurch konkretes, individuelles Leben. Die Ideen werden Lebensmächte. Wir haben dann nicht bloß ein Wissen von den Dingen, sondern wir haben das Wissen zum realen, sich selbst beherrschenden Organismus gemacht ...«.33

Ganz ähnlich heißt es 1897 in Goethes Weltanschauung: »Wer von der Kälte der Ideenwelt spricht, der kann Ideen nur denken, nicht erleben. Wer das wahrhafte Leben in der Ideenwelt lebt, der fühlt in sich das Wesen der Welt in einer Wärme wirken, die mit nichts zu vergleichen ist. Er fühlt das Feuer des Weltgeheimnisses in sich auflodern«.34

Das Buch über die Mystik, das Steiner in seinem 41. Lebensjahr verfasst, zeugt davon, wie die Ideen in seinem Bewusstsein durch die jahrelange Meditation zu Lebensmächten geworden sind. Ein zentrales Motiv dieses Buches ist die Gotteserkenntnis in der Selbsterkenntnis, – auch hier geht es also um die Immanenz der Transzendenz.

Dieses Motiv bringt ein Eckhart-Zitat zum Ausdruck: »Das Auge, durch das ich Gott sehe, das ist das gleiche Auge, mit dem Gott mich sieht. Mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Empfinden«.35

Das erste Kapitel der Mystik setzt mit Hegel, Plotin und Proklus – also mit drei großen Platonikern – ein. Hegel wird als Gedankenmystiker beschrieben, der in seinem Denken ähnliche spirituelle Erfahrungen wie Meister Eckhart und Valentin Weigel durchlebt habe. In die Reihe philosophischer Mystiker gehört laut Steiner auch Johann Gottlieb Fichte.

Was ist die Grundlage der gedankenmystischen Erfahrung dieser Denker? Die Beobachtung der eigenen Denktätigkeit! Durch diese Beobachtung gelangen sie zu einer höheren Form des Bewusstseins, zu einem »neuen Sinn«, einem »höheren« Sinnesorgan, durch sie geht eine »innere Sonne« in ihnen auf, die alle bisherigen Erfahrungen in einem neuen Licht erscheinen lässt.

Bei jeder anderen Art von Erkenntnis liegt der Gegenstand außerhalb von uns, bei der Selbsterkenntnis hingegen stehen wir innerhalb des Gegenstandes, den wir erkennen. Die übrigen Gegenstände treten uns »fertig« gegenüber, in unserem Selbst hingegen sind wir »Schaffende«, die das, was sie selbst erzeugen, in seinem Entstehen beobachten. Ein äußeres Ding wiederum ist erst dann »ganz erkannt«, wenn es seine »geistige Wiedergeburt« durch die Selbsterkenntnis im Menschen erlangt hat.

Dieses höhere Bewusstsein, das Steiner im einführenden Kapitel der Mystik beschreibt, ist das Bewusstsein des »Ausnahmezustandes«, von dem die Philosophie der Freiheit spricht, das Bewusstsein, das durch die »Beobachtung des Denkens« entsteht: Der Mensch erkennt sich im »Ausnahmezustand« als den Hervorbringer seiner Begriffe und Ideen, als den Hervorbringer seines Denkens. Er durchschaut, dass die Erkenntnis eine Schöpfung seines Geistes ist, dass die Wahrnehmungswelt, die von ihm denkend durchdrungen wird, in geistiger Form in ihm aufersteht. Nach Auffassung des Autors ist diese Erfahrung der Auferweckung und der Wiedergeburt der Dinge im Erkennen eine Erfahrung, die jedem Menschen zugänglich ist – nicht der exklusive Besitz weniger Auserwählter. Jeder Mensch kann sie bei »gutem Willen« erreichen.36

Für das menschliche Erkennen eröffnet sich auf dem Weg der »inneren Erfahrung« eine »unendliche Perspektive«, heißt es in der Mystik.37 Aber diese Perspektive ist schon der Philosophie der Freiheit vertraut, wenn sie die Existenz von Erkenntnisgrenzen aus prinzipiellen Grün-den verneint.

In der Mystik heißt es: »In uns offenbart sich die ganze Welt. Sie enthüllt uns ihren eigenen Zusammenhang; und sie enthüllt uns, wie wir selbst als Individuum mit ihr zusammenhängen. Aus der Selbsterkenntnis heraus wird die Welterkenntnis geboren. Und unser eigenes beschränktes Individuum stellt sich geistig in den großen Weltzusammenhang hinein, weil in ihm etwas auflebt, was übergreifend ist über dieses Individuum, was alles das mit umfasst, dessen Glied dieses Individuum ist«.38

Steiner verweist an dieser Stelle der Mystik explizit auf seine Philosophie der Freiheit: bereits in diesem Werk habe er von eben dieser »Urtatsache des Innenlebens« gesprochen. Sie zeige, dass das Weltgeschehen sich im menschlichen Erkennen »sein geistiges Wesen« gegenüberstelle.

Die Philosophie der Freiheit schildert diesen Sachverhalt so: »Ich bin eingeschlossen in das Gebiet, das ich als das meiner

Persönlichkeit wahrnehme, aber ich bin Träger einer Tätigkeit, die von einer höheren Sphäre aus mein begrenztes Dasein bestimmt. Unser Denken ist nicht individuell, wie unser Empfinden und Fühlen. Es ist universell«.39

Auf dieser Stufe der Erkenntnis, heißt es in der Mystik, ist kein Unterschied mehr zwischen mir und Plato, »das in uns wirkende Allgemeine ist ein und dasselbe«. Bereits Goethe habe diese »Aufhebung« des menschlichen Ich im »All-Ich« als das »Ur-Mysterium des Lebens« betrachtet.40

Aber Steiner fährt in der Mystik fort: wenn man das Höchste, das dem Menschen erreichbar ist, das »Göttliche« nenne, dann müsse man sagen: »dass dieses Göttliche nicht als ein Äußeres vorhanden ist, um bildlich im Menschengeist wiederholt zu werden, sondern dass dieses Göttliche im Menschen erweckt wird.«41

»Als geistiger Inhalt« – so die Mystik – die nun fast wörtlich die Grundlinien oder die Einleitungen zitiert – »kommt der innerste Kern der Welt in der Selbsterkenntnis zum Leben. Das Erleben der Selbsterkenntnis bedeutet für den Menschen Weben und Wirken innerhalb des Weltenkernes«.42

In den folgenden Kapiteln setzt sich Steiner mit Autoren der christlichen Mystik und Esoterik auseinander, die eine analoge Erfahrung wie die von ihm beschriebene in den Vorstellungen ihrer Zeit zum Ausdruck gebracht haben, – d.h. in der anbrechenden Neuzeit zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert.

Er bezieht sich auf diese Autoren nicht, um aus ihnen einen Erkenntnisinhalt zu schöpfen, der ihm selbst nicht zugänglich wäre, er zieht sie heran, um mit Hilfe dieser »Quellen« eine ihm selbst vertraute Erfahrung zu erläutern.43

Von Meister Eckhart sagt er, dieser sei von der Empfindung

»durchglüht« gewesen, dass im Geist des Menschen die Dinge »als höhere Wesenheiten wiedergeboren« werden.44 Wenn der christliche Meister Gott und das erkennende Ich im Erkennen für eins erklärt, dann liegt dieser Auffassung laut Steiner jene Erfahrung des Denkens zugrunde, die er im Einleitungskapitel der Mystik beschrieben hat. Aufgrund dieser Erfahrung kann Eckhart von der Geburt des Sohnes im Menschen sprechen: »Der himmlische Vater gebiert seinen eingebornen Sohn in sich und in mir«. Zustimmend zitiert Steiner Meister Eckhart: »Gott ist Mensch geworden, dass ich Gott werde«.45

Wenn Eckhart die »Erleuchtung«, die mit der Erweckung und Tätigkeit des höheren Sinns einhergeht, als den Einzug Gottes in die Seele des Menschen bezeichnet, dann ist dies laut Steiner ein Ausdruck der Erfahrung der Selbsterkenntnis. »Gott erkennen und von Gott erkannt werden« ist für den Menschen, der den höheren Sinn entwickelt hat, ein und dasselbe.46

Es gehört zur »Vollendung des Urwesens«, dass es sich in der menschlichen Seele findet. Es wäre »unfertig«, wenn es nicht im Menschen zur Erscheinung käme.47 Der Mensch vollendet also, wie die Grundlinien oder die anderen philosophischen Schriften sagen, durch sein Erkennen den Weltprozess, er bringt das Schöpfungswerk zum Abschluss, indem er den treibenden Grund, der ohne sein Erkennen verborgen bliebe, zur Erscheinung bringt.

Die Seele des Menschen muss sich allerdings erst entwickeln, umwandeln, damit diese Erscheinung Gottes, diese Theophanie in ihr zustande kommen kann, der Mensch darf nicht glauben, seine sinnliche, »persönliche« Seele sei mit dem Urwesen immer schon »einerlei«. Vielmehr muss er erst die »höhere« Seele, die Geistseele, den Geist in sich erwecken, um dieses Urwesen erkennen zu können.

In den Grundlinien wird diese höhere Seele oder Geistseele als »reines Ich« bezeichnet und die Aufgabe, dieses reine Ich zu erforschen, wird einer »wahren Psychologie« zugeschrieben. Die Methode dieser Wissenschaft ist die »Selbsterfassung« des Geistes.48 Was Steiner in den Grundlinien im Zusammenhang mit der »wahren« Psychologie beschreibt, ist die Erweckung der Geistseele: und diese Erweckung bezeichnet Meister Eckhart als »Entwerdung«, wie es in der Mystik heißt.49

Man könnte diese Analyse durch die folgenden Kapitel fortsetzen, und würde doch nur auf viele weitere erstaunliche Parallelen stoßen, die belegen, wie der »intime« Umgang des philosophischen Begriffskünstlers mit Ideen – sein Ideenerleben – in eine mystische Erfahrung übergegangen ist. Ein Gesichtspunkt allerdings bedarf noch der Erwähnung. Im Kapitel über Nikolaus von Kues kritisiert Steiner den »einseitigen Erkenntnisbegriff« der Scholastik50: diese Kritik wirft auch ein Licht auf seinen Gottesbegriff zu dieser Zeit.

Erkenntnis war für die Scholastiker das »bloße Abbilden« einer Wirklichkeit, die außerhalb des Erkennens bereits vorhanden ist. Für das Naturerkennen, d.h. die Sinneswahrnehmung, hat diese Auffassung laut Steiner sogar eine gewisse Berechtigung, weil wir nur Bilder der Sinneswahrnehmungen in unser Bewusstsein aufnehmen können. Aber für das Geisterkennen ist sie schlichtweg falsch. Hätten die Scholastiker ihre auf das Göttliche bezüglichen Gedanken richtig verstanden, dann hätten sie erkannt, dass diese Gedanken nicht bloß Bilder sind, dass sich »der Gott« im Innern des Menschen nicht bloß abbildet, »sondern, dass er darin lebt, wesenhaft gegenwärtig ist«. Sie hätten erkannt, dass in ihnen »das göttliche Leben pulsiert« und dass »ihr eigenes Leben Gottes Leben ist«.51

Aber an dieser Erkenntnis wurden die Scholastiker durch den dogmatischen Lehrgehalt der Theologie gehindert: »Gott durfte nicht in den Menschen einziehen und aus ihm sprechen«, sondern er musste als etwas Äußeres, über den Menschen weit Erhabenes gedacht werden, das sich ihm nur durch Offenbarung, d.h. von außen mitteilen konnte. In Wahrheit aber, fährt Steiner fort, »stammen alle Glaubensinhalte aus einmal gemachten menschlichen Erfahrungen«. In den ersten Jahrhunderten des Christentums entstand der »gesamte Lehrinhalt der Theologie« »Stück für Stück durch Aufnahme innerer Erlebnisse«. Dieser Charakter des inneren Erlebnisses ging im Verlauf der Jahrhunderte verloren und der alte Lehrinhalt wurde zum Inhalt einer äußeren, übernatürlichen Offenbarung umgedeutet.52 Dieses Motiv der Umdeutung wird uns im Christentum als mystische Tatsache an zentraler Stelle wieder begegnen.

In seinen Ausführungen über Nikolaus von Kues kommt Steiner erneut auf die innere Erfahrung zu sprechen, in der sich die Essenz der Welt kundgibt. Auch hier ist von der Selbsterkenntnis die Rede, und in den Kernsätzen dieser Ausführungen wechselt der Autor in die erste Person Präsens. Der Mensch gelange durch die Vertiefung seiner Selbsterkenntnis zur »unwiderleglichen inneren Erfahrung«, dass sich in seinem Inneren das Wesen der Welt ausspreche. Daher könne er, also der Mensch, sagen: »Mein ›Ich‹ ist die Form, das Organ, in dem sich die Dinge über sich selbst aussprechen [...] in mir und durch mich spricht sich die Allwesenheit selbst aus, mit anderen Worten, sie erkennt sich selbst [...] ich kann mich nur mehr als eine Form fühlen, in der das All-Wesen sich auslebt ...«.53 Aber »der Mensch« ist zugleich Autor dieser Zeilen.

Wenn der Mensch dieses Erlebnis hat, dann, so Steiner weiter, »verwandelt er sich selbst von einem Ding unter Dingen, zu einer Form des Allwesens«. Wenn das Allwesen im »Seelengrund» des Einzelmenschen aufleuchtet, dann erhebt er sich auf eine neue Entwicklungsstufe. »Die Entwicklung [...] bewegt sich ins Unermessliche«. Das Erkennen, das den geistigen Inhalt der Natur bloß »nachschafft«, ist nur der Anfang eines spirituellen Entwicklungsprozesses. Der Mensch »gebiert in sich den Geist; und dieser Geist schreitet von da an fort von Entwicklungsstufe zu Entwicklungsstufe«, wie die Natur fortschreitet.54

Der Geist beginnt einen »Naturprozess auf höherer Stufe« und aus dem menschlichen Erkennen geht schließlich eine künftige Gestalt des Göttlichen hervor, eine Theophanie, die aus der neugeborenen Natur des Menschen emporwächst. Die gewordene Welt aufersteht im menschlichen Erkennen und die Gestalt dieser auferstehenden Welt ist ebensosehr geistig, wie die gewordene Welt sinnlich war.

Von einer Gestalt des Göttlichen, die nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft liegt, ist die Rede – das machen folgende Sätze der Mystik deutlich: »Die Erkenntnis kann nicht aus einem fertigen Gotte die Welt ableiten; sie kann nur aus einem Keime sich in der Richtung nach einem Gotte entwickeln. Der Mensch, der das begriffen hat, will nicht Gott betrachten wie etwas, das außer ihm ist; er will Gott behandeln wie ein Wesen, welches mit ihm wandelt zu einem Ziel, das im Anfang so unbekannt ist, wie dem Fisch die Natur des Säugetiers unbekannt ist«.55


33 Die Philosophie der Freiheit, 1894, S. 7; GA 4, Dornach 1995, S. 270.

34 Goethes Weltanschauung, 1897, S. 61; 1990, S. 77.

35 Rudolf Steiner, Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zu modernen Weltanschauungen, Berlin 1901, S. 37 = Die Mystik im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung [geänderter Titel], GA 7, Dornach 1987, S. 55.

36 Die Beobachtung des Denkens, und damit der Eintritt in die spirituelle Erfahrung, setzt laut Philosophie der Freiheit nichts als »guten Willen« voraus: »Für jeden ..., der die Fähigkeit hat, das Denken zu beobachten – und bei gutem Willen hat sie jeder normal organisierte Mensch –, ist diese Beobachtung die allerwichtigste, die er machen kann. Denn er beobachtet etwas, dessen Hervorbringer er selbst ist; er sieht sich nicht einem zunächst fremden Gegenstande, sondern seiner eigenen Tätigkeit gegenüber«. Philosophie der Freiheit, 1893, S. 42; 1995, S. 46.

37 Die Mystik, 1901, S. 11; 1987, S. 27.

38 Die Mystik, 1901, S. 11-12; 1987, S. 27.

39 Die Philosophie der Freiheit, 1894, S. 88; GA 4, Dornach 1995, S. 90.

40 Die Mystik, 1901, S. 15; 1987, S. 31; 1901, S. 18; 1987, S. 34.

41 Die Mystik, 1901, S. 18; 1987, S. 34.

42 Die Mystik, 1901, S. 18; 1987, S. 35.

43 Auf die Frage, inwieweit Steiner mit seinen Interpretationen den von ihm behandelten Autoren gerecht geworden ist, kann hier nicht eingegangen werden, das wäre ein Thema für sich.

44 Die Mystik, 1901, S. 22; 1987, S. 39.

45 Die Mystik, 1901, S. 24-25; 1987, S. 41-42.

46 Die Mystik, 1901, S. 29; 1987, S. 47.

47 Die Mystik, 1901, S. 30; 1987, S. 48.

48 Grundlinien, 1886, S. 79 f.; 2003, S. 119 f.

49 Die Mystik, 1901, S. 31; 1987, S. 49. Eckhart schreibt »Entwerden«.

50 Die Mystik, 1901, S. 60 f.; 1987, S. 80 f.

51 Die Mystik, 1901, S. 66-62; 1987, S. 82.

52 Die Mystik, 1901, S. 63-64; 1987, S. 84-85.

53 Die Mystik, 1901, S. 68-69; 1987, S. 90.

54 Die Mystik, 1901, S. 41; 1987, S. 60.

55 Die Mystik, 1901, S. 46; 1987, S. 65.

DAS CHRISTENTUM ALS MYSTISCHE TATSACHE

Gehen wir zum Christentum als mystische Tatsache 1902 über: Die Vorträge, die dem Buch zugrunde liegen, wurden zwischen Oktober 1901 und April 1902 gehalten, das Buch erschien im September 1902. Auch in diesem Werk oszilliert der Autor fortwährend zwischen den Gesichtspunkten der Transzendenz und Immanenz hin und her.

Das Christentum wird als historischer Gipfelpunkt einer langen Mysterienentwicklung dargestellt. Jesus Christus erscheint in dieser Entwicklungsreihe als »einzig-großer Initiierter« – aber mit der Vorstellung dieser Einzigartigkeit ist laut Steiner zugleich ein folgenschwerer historischer Irrtum verbunden.