4. Auflage 2018 (Neubearbeitung)

© 2010 Wolfgang Baier

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche

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ISBN 9783752890402

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Baier

Inhaltsverzeichnis

1

Dr. Werner Bieler stand wie eine Säule hinter dem Rednerpult auf der Bühne der Aula. Er schaute auf das wogende Meer von Schülerinnen und Schülern, die sich zum Beginn des neuen Schuljahres hier versammelt hatten. So war es immer nach den großen Ferien im Colegio Andino, der Deutschen Schule in Bogotá. Und weil es der erste Tag war, an dem sich alle nach vielen Wochen voller Erlebnisse wiedersahen, wollte sich keine Ruhe einstellen.

Der Scheinwerfer, der den Redner in helles Licht tauchen sollte, war trotz der vielen Reparaturen während der Ferien immer noch nicht ordentlich eingestellt worden. Der Lichtkegel fiel zu steil von der Decke, ließ nur Dr. Bielers Halbglatze als helle Scheibe erstrahlen und den kugelförmigen Bauch, der sich aus dem Jackett hervorwölbte.

Zwanzig Minuten seit dem offiziellen Beginn der Willkommensveranstaltung waren bestimmt schon vergangen, doch noch immer hingen die Schüler schnatternd und gestikulierend wie Kletten aneinander. Das hundertfache Stimmengewirr dachte gar nicht daran zu verstummen. Auch die Lehrer, die ein neues, arbeitsreiches Schuljahr erwartete, waren mehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie dem Bachilleratsleiter Dr. Bieler hilfreich zur Hand gegangen wären. So stand er weiterhin mit seiner mächtigen Gestalt hinter dem Pult, dessen Front ein prächtiges Schulwappen mit einem Eichenblatt als Symbol im Zentrum zierte, und blätterte in seinen Notizen. Die wiederholten höflichen Aufforderungen an Schüler und Lehrer, doch bitte endlich Platz zu nehmen, verhallten ungehört. Ja nicht einmal seine gefürchteten Räusperer, die, durch das Mikrophon zu Höllenlärm verstärkt, bis in die allerletzten Winkel der riesigen Aula drangen, bewirkten etwas.

Diego saß mit seinen Klassenkameraden der zwölften Klasse natürlich in den letzten Reihen der Aula. Das war das Privileg der künftigen Bachilleres. Schließlich hatte man sich an dieser Schule vom Kindergarten in vierzehn langen Jahren bis in diese Ränge hochgearbeitet. Sie nahmen nicht wahr, dass Dr. Bieler erneut um Ruhe bat, auch nicht, als er dies energischer tat.

„Hey, Mauricio, wie war denn dein Betriebspraktikum in Deutschland bei IKEA?“

„Spitze, sag ich dir, super, super cool! Unglaublich interessant. IKEA ist ein riesiger Laden, dann noch in Berlin. Und die lassen dich wirklich was machen. Ich war im Marketing und im Verkauf. Überall nette Leute. Hat echt was gebracht für Betriebswirtschaft in Los Andes. Da hast du einen Eindruck bekommen, was dich im Beruf so ungefähr erwartet. Und du, was hast du gemacht, Diego?“

Diego wollte gerade damit beginnen, von Miami zu erzählen, wo die ganze Familie zu x-ten Mal drei Wochen im eigenen Apartment verbracht hatte, als das Stimmenmeer unerwartet schwächer wurde und nahezu verstummte.

Der Schulleiter hatte das Auditorium betreten.

Seine Mimik und Gestik ließen keinen Zweifel zu. Er forderte seine Kollegen unmissverständlich auf, dem Mitteilungsbedürfnis der Schüler ein Ende zu bereiten und für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Er selbst stellte sich mit dem Rücken zur Bühne und blickte mit strengem, aber nicht unfreundlichem Blick auf die Reihen der Schüler und schwieg, während das Licht im Auditorium langsam erlosch.

Die Zeremonie begann, wie bei solchen feierlichen Anlässen üblich, mit den Hymnen von Kolumbien und Deutschland. Viele sangen mit, verfremdeten mit ihrer ungeordneten Vielstimmigkeit die Melodie, die eine Militärkapelle aus den Lautsprechern vorgab. Bei nicht wenigen aber besiegten die überbordenden Ferienereignisse die besondere Achtung, die dem ersten Schultag – und besonders den Hymnen – gebührt hätte. Sie unterhielten sich munter weiter, zwar hinter vorgehaltener Hand, aber sehr zum Missfallen des Direktors, der mit schulmeisterlichem Blick die Schüler zum Mitsingen ermunterte – oder zum Schweigen.

Dr. Bieler begrüßte Schüler und Lehrer zum ersten Tag des Schuljahres. Die neuen Lehrkräfte kamen auf die Bühne, stellten sich kurz vor und wurden mit freundlichem Beifall willkommen geheißen. Es gab die alljährlichen Ermahnungen, auf Sauberkeit in der Schule und auf eine ordentliche Uniform zu achten, ja grundsätzlich die Schulordnung ernst zu nehmen. Diese wolle man in diesem Jahr mit aller Strenge durchsetzen und Verstöße auf das Schärfste sanktionieren. Er wünschte vor allem den 12. Klassen viel Erfolg in ihrem entscheidenden Schuljahr. Rauschender Applaus begleitete die zukünftigen Bachilleres, die sich ihrer besonderen Stellung wohl bewusst waren. Ehrfurcht und ein klein bisschen Neid waren in den Gesichtern vieler Schüler der Mittelstufe zu lesen. Ihnen blieben noch ein paar Jahre am Andino, bis auch sie in den hinteren Rängen des Auditoriums angekommen sein würden.

Zäh wälzten sich die Schülerschlangen aus der Aula den Klassenzimmern zu, kreuzten einander, verflossen ineinander, um sich an einer Ecke abermals zu trennen. Diego, seine Freunde und der Rest der Klasse 12 b hatten es nicht eilig. Bei den Tischtennisplatten in der großen Halle, von der aus man alle anderen Gebäude der Schule erreichte, legten sie zuerst einmal eine Pause ein. Es werde eh gleich zum Ende der ersten Stunde klingeln, Eile sei daher nicht geboten. Sie machten es sich auf den Tischtennisfeldern, die sich in jeder Pause größter Beliebtheit erfreuten und Schüler aller Klassen anzogen, bequem. Ab sofort galt es, diese Sonderrolle der Zwölfer nach Kräften zu genießen, und zwar vom ersten Tag an. Und genau das taten sie.

„Gabriel, du hast ja richtig Glück gehabt. Du hast die Nachprüfungen in Chemie und Mathe haarscharf mit 6,0 geschafft.“

„Und was habe ich davon, Diego? Fast die ganzen Ferien über musste ich lernen, auch noch einen Privatlehrer musste mein Vater bezahlen. Ich habe Bogotá zwei Monate lang nicht verlassen! Manchmal bin ich in den Club Lagartos zum Golfen gegangen, mit Lucho. Eigentlich hatte ich keine Ferien! Echt blöd war das.“

Julian sah das kritisch.

„Kann auch mal ins Auge gehen. Ich würde mich auf so ein Abenteuer nicht einlassen. Keine Lust, am Ende eines Schuljahres wochenlang weiter zu lernen, irgendwann muss der Mensch sich erholen.“

Diego ließ sich nicht beirren.

„Mach‘s wie ich! Mit dem geringsten Aufwand durchkommen, zwar knapp, aber immerhin. Mir wäre das auch egal gewesen. Ich wäre trotzdem mit meiner Familie nach Miami geflogen, selbst wenn ich eine Nachprüfung hätte machen müssen. Du musst vor den Zeugnissen aktiv werden, nicht erst, wenn es zu spät ist! Das haut fast immer hin, die Lehrer voll bequatschen.“

Diego begann seine Klassenkameraden nachzuäffen, wie sie um die Lehrer herumscharwenzelten und jammerten: „Ah Profe, geben Sie mir noch eine zweite Chance und eine dritte, bitte Profe, seien Sie nicht so hartherzig!“

Die Vorstellung kam gut an bei Diegos Publikum. Alle lachten, denn viele, wenn nicht alle, erkannten sich wieder.

„Du musst lamentieren, den Lehrern sagen, dass du mit deiner Familie in diesem Jahr Stress hättest wie selten zuvor und so. Die Sorgen hätten dich fast aufgefressen, du hättest den Kopf gar nicht frei gehabt fürs Lernen. Einer von denen fällt am Ende immer um und schenkt dir den Punkt, um die Ferien zu genießen.“

Diego grinste breit. Er war in der Tat ein Meister dieser Art von ‚Verhandlungen’. Darin konnte ihm niemand das Wasser reichen. Alle wussten das und alle beneideten ihn darum. Manch einer wunderte sich eher über die Lehrer, die sich geduldig seine Geschichten anhörten. Und wenn alles nichts half, dann schickte Diego seine Mutter. Seine Eltern interessierten sich nicht sonderlich für die Schule. Sie gehörten eher zu jenen, die den Standpunkt vertraten, mit dem monatlichen Scheck gebe man an einer Privatschule auch alle Verantwortung für Bildung und Erziehung ab. Diego zweifelte nie daran, dass seine Eltern vor allem IHM glaubten, wenn es darauf ankam. Das Wenige, das er über die Schule erzählte, war für seinen Vater und seine Mutter wie das Evangelium. So verwunderte nicht, dass das Bild, das sich seine Eltern vom Colegio Andino machten, Diegos Bild war. Es war nicht das Vorteilhafteste.

Gabriel war sauer.

„Behalte deine Weisheiten für dich! Erzähl lieber, wie’s bei dir in Miami war?“

„Ooch …, es ging. Wir müssen ja jedes Jahr dorthin. Eigentlich ist es langweilig, ewig am Strand ´rumliegen und shoppen gehen. Ich hasse das, aber wenigstens bin ich weg aus Bogotá. Die Alten den ganzen Tag um sich haben, das ist nach ein paar Tagen auch anstrengend. Ich bin das von Bogotá gar nicht gewohnt. Da sieht man, dass die Schule zur Unterhaltung doch ganz brauchbar sein kann.“

Manuel, der die ganze Zeit nur zugehört hatte, mischte sich vorsichtig ein.

„Camila war auch in Miami.“

Camila, die mit dem Rücken zu Diego saß, drehte sich um.

„Ich habe meinen Namen gehört. Was ist mit mir?“

„Du seist auch in Miami gewesen, hat uns Manuel gerade stolz berichtet“

Diegos Stimme klang scharf, ja feindselig. Und er grinste breit.

„Ja, war ich! Hab mich nach Universitäten umgesehen. Missis Ordóñez hatte mir ein paar empfohlen. Ich glaube, ich werde mich in der Lynn-University in Boca Ratón einschreiben. Die haben auch eine Frauen-Fußball-Mannschaft. Und wenn ich sehr gut bin und es in die Uni-Mannschaft schaffe, kriege ich vielleicht ein Stipendium. Immerhin wären das tausend Dollar im Monat. Das ist doch was, oder? Ich bin gespannt, was Señor Rodrigo dazu sagt.“

Camila kommentierte stolz den Erfolg ihrer Reise. Sie freute sich auch für ihren Sportlehrer, der viele Jahre ihr Trainer am Andino gewesen war.

„Und wo hat sich denn unser Manuelito in den Ferien überall herumgetrieben? Sicher hat er sich nicht für eine einzige Nachprüfung vorbereiten müssen, oder?“

So war Diego, wie ihn alle kannten, ihn bewunderten und fürchteten. Minderwertigkeitskomplexe waren ihm fremd, Häme nicht. Er fühlte sich als der Star.

Manuel spürte, dass ihm auch dieses Schuljahres keine Wertschätzung zuteilwürde. Dennoch war er froh, überhaupt in die Unterhaltung einbezogen worden zu sein, wenn auch noch so unbedeutend. Schweigen wäre in dieser Situation sicher verhängnisvoller für ihn gewesen.

So erzählte er, wie er mit seinen Eltern und seiner Schwester nach China geflogen sei. Sein Vater habe in Peking beruflich zu tun gehabt auf Einladung der chinesischen Regierung. Sie hätten eben die Reise genutzt, um China ein bisschen kennenzulernen. Natürlich hätten sie die Verbotene Stadt betreten und das Mausoleum von Mao Tse-tung, seien die Große Mauer hinaufgestiegen, hätten die Ming-Gräber bei Peking bestaunt und im Südosten die imposante Landschaft von Guilin mit ihrem riesigen kegelförmigen Kalkbergen. In Thailand sei die Reise mit einem Badeurlaub zu Ende gegangen.

„Unser Manuelito ist der Größte!“

Diego grölte ‚Bravo‘! Die anderen schlugen Manuel anerkennend auf die Schulter. Jeder Schlag tat weh. Manuel spürte, wie ihm die Verlegenheit rot ins Gesicht kroch. Mehr als ein gequältes Lächeln brachte er nicht zustande. Aber wie hätte er sich anders verhalten sollen?

Seine Erleichterung war groß, als Lehrerstimmen die Schüler aufforderten, sich endlich in ihre Klassenräume zu begeben. Ihnen war gar nicht aufgefallen, dass sich die Halle entleert hatte und sie die letzten waren, die sich gegen den Beginn des Schuljahres aufzulehnen versuchten. Für Manuel war dies die Erlösung – für heute jedenfalls.

Carlos Bedón, ihr Philosophie- und Klassenlehrer, stand ungeduldig am Pult. Ihm passte gar nicht, wie die Schüler in den Raum tröpfelten.

„Hola, Carlos!“, schallte es von allen Seiten ihrem Lehrer freundlich entgegen. An der Deutschen Schule war es schon immer Brauch gewesen, die einheimischen Lehrkräfte mit ihren Vornamen und „Sie“ anzusprechen. In den letzten beiden Schuljahren hatte sich dies sogar gegenüber den Lehrern, die für ein paar Jahre aus Deutschland nach Bogotá gekommen waren, durchgesetzt, ohne dass es von deutscher Seite Protest gegeben hätte. Die Zeiten änderten sich.

„Leute, im Gegensatz zu dem uns bekannten Denker Aristoteles, bei dem der Raum objektiv existiert und die Zeit eng mit der Bewegung verbunden ist und damit eine objektive Grundlage besitzt, habt ihr alle ein Raum-Zeit-Problem.“

Das war der Begrüßungssatz von Señor Bedón, der augenzwinkernd seinem Ärger über die Unpünktlichkeit der Klasse auf die ihm eigene Art Luft machte.

„Oder mag es sein, dass die 12 b eher der Auffassung von Leibniz anhängt, nach der Raum und Zeit letzten Endes nur subjektive Wahrnehmungen sind, obgleich sie einer objektiven Ordnung der Dinge in der Welt entsprechen.“

Es herrschte Schweigen. Alle saßen da, sahen sich mit staunenden Gesichtern an. Derartigen Gedanken zu folgen, waren sie um diese Uhrzeit noch nicht in der Lage. Das musste im Kopfe erst sortiert werden.

„Möchte jemand etwas zu seiner, besser zu eurer Entschuldigung vorbringen?“

Das war typisch Bedón. Gedanken zum Philosophieren gleich zur Begrüßung. Scharf, aber gewitzt! Unschlagbar! Und darum liebten sie ihn!

„Können wir nun zum geschäftlichen Teil des ersten Schultages übergehen, Leute?“

Die Anspannung in der Klasse löste sich, zuerst mit leisem Gemurmel, dann mit Aufatmen. Señor Bedón schmunzelte vergnügt.

„Ich wollte euch damit nur ermuntern, dieses Jahr pünktlicher zu sein als im vergangenen, verstanden? Nun zum Stundenplan. Seid ihr schreibbereit? Also, dann wollen wir mal: Montag erste Stunde Deutsch bei Roncancio, López oder Mausberg, zweite Stunde Mathematik bei Señora María Mercedes, dritte Stunde Chemie bei Señora Catalina.“

Und so ging es fort.

Eigentlich wussten alle, dass es von Klasse 11 nach 12 kaum einmal einen Lehrerwechsel gab. Dennoch war dieses Ritual, bei dem der Stundenplan samt Lehrerliste vorgelesen wurde, wie das Salz in der Suppe des Schuljahresbeginns. Diego meinte, in dieser Spannung etwas Masochistisches zu erkennen: Die Lust am Leiden allein durch das Vernehmen der Lehrernamen!

Die Stunde gehörte im Allgemeinen zu einer der kurzweiligen des Schuljahres. Jeder Lehrernamen wurde laut kommentiert, mit Beifall oder Buh-Rufen, Gähnen, Bravos oder einem „Gott sei Dank“ begleitet. Drohten Verdammen und Jubel jedoch zu entgleisen, scheute Señor Bedón auch vor Ordnungsrufen nicht zurück.

„Bitte, meine Damen und Herren, bitte, wir wollen das Prinzip des gegenseitigen Respekts hochhalten!“

Der Dur-Akkord des Gongs erklang zur ersten Pause dieses Schuljahres! Man traf sich auf den sogenannten Inseln. Das waren große Kreise aus demselben roten Tartan-Material, mit dem die Vierhundert-Meter-Bahn belegt war. Sie dienten ganzen Klassen als Liege- und Sitzflächen und waren bei den Schülern der Mittel- und Oberstufe als Kommunikationszentren beliebt. Die äquatoriale Sonne hatte die Inseln vorgewärmt. Bald räkelten sich die Schüler auf ihnen und verglichen eifrig ihre Stundenpläne und vor allem die Lehrer, die ihnen - davon waren sie überzeugt - nun zehn Monate lang das Leben vergällen würden.

Gabriel war sichtlich niedergeschlagen. Ihm schwante, was dieses Schuljahr bedeutete. Er hatte es gerade so in die 12. Klasse geschafft. Wie würde es im Juni des nächsten Jahres aussehen? Die ICFES-Prüfung für die Universität und das deutsche Sprachdiplom kamen noch dazu. Schließlich galt es, auch die Abschlussprüfungen der Deutschen Schule in sage und schreibe zwölf Fächern zu bestehen. Ihm wurde flau im Magen. Wenn er es recht bedachte, erschienen ihm seine Zukunftsperspektiven recht trübe. Mit der Klicke jedes Wochenende in die Disco oder zu Crepes & Waffles? Das musste er sich wohl abschminken. Golf spielen? Daran war noch weniger zu denken.

„Was ist los mit dir, Gabriel? Das packen wir, wirst schon sehen! Noch schlappe zehn Monate!“

Dabei schubste er ihn so heftig, dass er auf Camilas Schoß kippte.

„Mann, Diego, kannst du nirgendwo Ruhe geben?“ Wo immer er war, Diego war der Chef.

„Wer kommt mit eine rauchen? Komm, Gabriel, du brauchst dringend ein Lungenbrötchen. Am ersten Tag funktionieren die Aufsichten noch nicht. Und da der Hausmeister gekündigt hat, gibt es auch noch niemanden, der uns heimlich mit der Videokamera aufnehmen und bei der Schulleitung verpfeifen kann. Das Problem entfällt! Lasst uns in die Montañitas gehen, ganz nach hinten. Bis dorthin schaffen es die Lehrer vielleicht nächste Woche. Du! Manuel! Hau uns bloß nicht in die Pfanne! Verstanden?“

Diego fand sich unbezwinglich.

Die drei schlenderten gemütlich in Richtung der sogenannten Montañitas, der kleinen Berge. Dabei handelte es sich um einen Erdwall, der entlang des Sportplatzes als Zuschauertribüne bei Fußballspielen und Leichtathletikwettkämpfen diente. Die „kleinen Berge“ waren der Ort, der für vieles stand, was in der Schulordnung verboten war.

Manuel blieb bei den anderen und schwieg. Er starrte auf den Boden. Sein rechter Zeigefinger bohrte sich in kleinen Kreisen tiefer und tiefer in den weichen Gummiuntergrund. Wie ferngesteuert. Welche Rolle spiele ich nur in dieser Klasse, überlegte er. Auf Grund der Umstände wurde er, seit er in den Kindergarten eingetreten war, immer bewacht. Das Politikerleben seines Vaters bei den Konservativen und jetzt in der Regierung, dazu in einem gefährlichen Land wie Kolumbien hatte einen permanenten Schutz erforderlich gemacht. Spontan mit anderen Kindern zu spielen, war selten möglich. Das hatte ihn auf eine besondere Art einsam und anders gemacht. Mit Büchern hatte er sich getröstet. Böse Zungen behaupteten, man würde ihn, den Sohn eines Ministers, bevorzugen, wofür es allerdings keinerlei Beweise gab. Mit einem Rabauken wie Diego umzugehen hatte er keine Übung. Gerade das reizte Diego und deshalb provozierte er Manuel unentwegt.

An den Bussteigen der Schule drängelten die Schüler in die blau-gelben Busse des Colegio Andino, die sie in ihre Stadtviertel zurückbringen würden. Heute waren es besonders viele, die nach der neunten Stunde nach Hause wollten, denn am ersten Schultag fanden noch keine Arbeitsgemeinschaften statt.

Diego saß schon auf seinem angestammten Sitzplatz, natürlich in der letzten Reihe, die wegen des darunter liegenden Motors erhöht war. Von dort konnte er den ganzen Bus bis nach vorn zum Chauffeur überblicken.

Als er seine Schwester Laura in den Bus einsteigen sah, winkte er ihr sofort zu.

„Und, wie war´s?“

„Das wird ein ruhiges Schuljahr. Hätte ich gar nicht erwartet. Alle machen einem Angst vor der 9. Klasse. Sie sagen, dass die Neunte eine schwierige Klasse sei, mit mehr Stunden in Bio, Physik und Chemie und dazu noch Informatik.“

Dann erzählte sie weiter, dass sie Luis Gabriel als Klassenlehrer und in Spanisch habe, Nicolás, den einzigen Lehrer mit dem langen Pferdeschwanz, in Mathe und Physik und die Missis in Englisch.

„Und wie sieht es bei dir aus, Bruder?“

„Mausberg, Marcela, Memé, María Cris, Patricia, Catalina, Ana María, Carlos, Juan Manuel und Urs.”

Diego zählte die Lehrer auf, ohne seine Stimme nennenswert zu verändern.

Laura tat so, als sei sie von Entsetzen gepackt und hielt sich die Hände vors Gesicht. Diego sollte ihr Lachen dahinter nicht entdecken. Sie verstand sofort, was die Stunde geschlagen hatte. Alle Genannten waren anerkannte Lehrer und beliebt. Was Diegos Sache nicht war: Sie waren streng, forderten Leistung und verschenkten keine Noten. Dass es so kommen würde, hatte Diego schon Ende des letzten Schuljahres befürchtet. In Miami war das Andino aber weit weg gewesen. Da war es einfach, sich einzureden, dass es mit den Lehrern im 12. Schuljahr wohl so schlimm nicht werden dürfte. Doch nun war es amtlich.

Der Bus der Route 7 hatte sich in die Schlange der neunundzwanzig Schulbusse eingereiht und quälte sich im Schritttempo durch die Schlaglöcher der Calle 218 in Richtung Stadt-Autobahn. Seit Jahren hatte die Verwaltung der Schule versucht, diese fünfhundert Meter lange Zufahrt zusammen mit den anderen Schulen an der 218. ausbessern zu lassen. Dies zu realisieren, schien unmöglich. Dank der Planierraupe aus dem Straßenbauunternehmen eines Schülervaters erhielt die Calle 218 immerhin zweimal im Jahr eine Gratisbehandlung.

Die Busse der Nachbarschulen zwängten sich dazwischen und im ersten Gang zuckelte man im Schneckentempo zur Stadtautobahn. Dort staute sich der Verkehr auf allen drei Spuren! Kleinigkeiten führten üblicherweise zu einem Verkehrschaos: irgendeine läppische Panne, Blechschäden und Regen.

Das wird dauern, dachte Diego. Sein iPod lieferte zum Glück eine Menge Musik für viele Staus. Er rutsche etwas die Sitzbank hinunter, zog beide Knie an, stützte sie bequem gegen die Rückenlehne des Vordersitzes, drückte sich die Stöpsel in die Ohren und wählte die Songs, mit denen er sich die Zeit bis zum Stadtviertel Santa Barbara vertreiben wollte.

Endlich, nach ungefähr einer Stunde bog der Bus von der Séptima in die Calle 112 ab, die die einzige Zufahrt für Busse zu diesem Stadtviertel war, das zu den vornehmen der Stadt Bogotá zählte. An der Pforte zu „Bella Vista“ stiegen Laura und Diego aus. Sie winkten noch kurz den Klassenkameraden zu, die ihnen mit müde Augen nachschauten.

Der Fahrstuhl führte direkt in das Apartment der Familie Castelblanco im achten Stock. Juan Carlos, der jüngere Bruder von Laura und Diego, war schon um halb Zwei mit der ersten Runde der Schulbusse nach Hause gekommen. Er ging seit heute in die dritte Klasse und war ganz scharf darauf zu erzählen, wie es ihm am ersten Schultag ergangen war.

„Warum kommt ihr denn so spät? Es ist fünf Uhr! Die ganze Zeit warte ich schon auf euch!“

„Du weißt doch, die Staus. Wie immer. Aber, erzähl mal, wie ging´s dir, Carlitos.“

„Wir haben lauter neue Lehrer!“

Seine Schwester sah seine Sorgen.

„Das ist doch nicht schlimm. Du musst einfach vom ersten Tag an mitarbeiten, die Hausaufgaben machen, aufpassen, keinen Blödsinn mit deinen Kumpels machen. Dann geht alles gut! Du wirst schon sehen.“