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Der Druck, perfekt zu sein, ist der Feind von Mädchen weltweit! Reshma Saujani kandidierte 2010 für einen Platz im US-Kongress. Schon lange hatte sie sich gewünscht, ein politisches Amt zu bekleiden, jedoch nie den Mut aufgebracht, sich zur Wahl zu stellen. Dann wagte sie den Schritt und scheiterte. Ihre Kandidatur endete in einer grandiosen Niederlage – und mit einer kathartischen Erfahrung: Egal wie peinlich und unangenehm ihr Scheitern war, das Leben ging weiter. Seit ihrer Kindheit hatte sie nichts anderes getan als Risiken zu vermeiden. Nun wurde ihr klar, wie sehr die Angst sie eingeschränkt hatte und wie typisch ihre Vermeidungstaktik für Frauen war. Deshalb möchte sie mit diesem Buch allen Frauen Mut machen, die Angst vor dem Scheitern zu überwinden.

»Ich liebe dieses Buch! Eine zeitgemäße Botschaft für Mädchen und Frauen jeden Alters: Perfektion ist nicht nur unmöglich, sondern, schlimmer noch, heimtückisch.«

ANGELA DUCKWORTH, AUTORIN UND PROFESSORIN FÜR PSYCHOLOGIE

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© Adrian Kinloch

Reshma Saujani ist Gründerin und CEO von Girls Who Code, einer gemeinnützigen Organisation, die daran arbeitet, den Gendergap im Bereich des Programmierens zu schließen. Saujani war die erste indisch-amerikanische Frau, die für den US-Kongress kandidierte. Sie ist die Autorin des New-York-Times-Bestsellers ›Girls Who Code‹. Auch ihr Buch ›Mutig, nicht perfekt‹, zu dessen Thema sie einen TED Talk hielt, wurde in den USA ein Bestseller. Reshma Saujani lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in New York.

Susanne Rudloff arbeitet seit 1984 in der Buchbranche. Seit 1990 ist sie zudem freiberuflich als Lektorin und Übersetzerin aus dem Englischen tätig. Sie lebt und arbeitet in Amsterdam.

Reshma Saujani

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Warum Jungen scheitern dürfen und Mädchen alles richtig machen müssen

Aus dem Englischen
von Susanne Rudloff

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eBook 2020

www.dumont-buchverlag.de

Für all die »perfekten« Mädchen und Frauen:
Ihr seid mutiger, als ihr glaubt.

Einleitung

Das Undenkbare wagen

Im Jahr 2010 tat ich etwas eigentlich Undenkbares. Im Alter von dreiunddreißig Jahren kandidierte ich für den US-amerikanischen Kongress, ohne je vorher ein gewähltes Amt innegehabt zu haben. Obwohl ich schon mit dreizehn davon geträumt hatte, in die Politik zu gehen und echte Veränderungen zu erreichen, hatte ich mich bis dahin immer von Politik ferngehalten. Ich hatte einen äußerst anstrengenden Job in einer großen Investmentfirma, hoch dotiert und sehr prestigeträchtig, den ich verabscheute und nur deshalb nicht kündigte, weil ich glaubte, bestimmten Erwartungen entsprechen zu müssen. Abends und wann immer ich am Wochenende Zeit fand, arbeitete ich als Fundraiser und Organisatorin; das war sinnvoll, und ich konnte etwas damit bewegen, aber tief in meinem Herzen wollte ich mehr Einfluss nehmen können und Größeres erreichen. In meinem Job wurde ich von Tag zu Tag unglücklicher und verzweifelter, und irgendwann war mir klar, dass sich sofort etwas ändern musste.

In den politischen Kreisen New Yorks munkelte man, dass die amtierende Kongressabgeordnete nach achtzehn Jahren ihr Amt niederlegen und für den Senat kandidieren würde. Das war meine Chance. Ich traf mich mit ein paar einflussreichen Leuten, fragte sie nach ihrer Meinung, und sie alle ermunterten mich begeistert, es zu versuchen. Ich wusste, wie man Gelder beschafft, ich hatte ein gutes politisches Konzept, und mein biografischer Hintergrund war interessant. Zwar hatte ich keine eigene Erfahrung mit politischen Ämtern, aber alles andere war da. Zum ersten Mal seit ewiger Zeit brannte ich wieder für etwas. Endlich war es so weit, ich lebte meinen Traum, ich war nicht mehr aufzuhalten.

Und dann beschloss die Kongressabgeordnete, ihren Sitz doch nicht aufzugeben, was bedeutete, dass ich gegen sie kandidieren musste, wenn ich das Amt wollte. Und all die Menschen, die mich vorher unterstützt und ermuntert hatten, erklärten nun, mein Vorhaben sei zum Scheitern verurteilt. Die Gegenkandidatin war eine gestandene Politikerin mit Einfluss und Macht, und nach Ansicht der Leute hatte ich nicht die geringste Chance gegen sie. Ich verlor nicht nur die Unterstützung der weiblichen Parteielite – mehr noch, man teilte mir unverblümt mit, ich sei nicht an der Reihe und solle mich wieder zurückziehen.

Aber zu diesem Zeitpunkt war ich bereits viel zu sehr involviert, um aufzugeben. Das Amt schien mir zum Greifen nah. Ich wollte es viel zu sehr, um einen Rückzieher zu machen. Sie können mir glauben, immer wieder dachte ich: Ich bin doch wahnsinnig. Und dennoch blieb ich dran. Ich wusste einfach, ich würde es für den Rest meines Lebens bereuen, wenn ich diese Chance nicht ergriffe.

Überraschenderweise – und außer mir waren noch eine Menge anderer Leute erstaunt – bekam mein Wahlkampf viel Aufmerksamkeit. Ich war eine junge Aufsteigerin mit südasiatischen Wurzeln, ohne Erfahrung mit öffentlichen Ämtern, aber die Menschen hörten mir zu, und die Wahlkampfspenden flossen. Selbst der New York Observer und die Daily News waren mir wohlgesonnen. Aus zaghafter Hoffnung wurde Siegesgewissheit, nachdem auf den Titelseiten dieser überregionalen Tageszeitungen über mich berichtet worden war und der Nachrichtensender CNBC meinen Wahlkampf zum spannendsten des Landes erklärt hatte.

Aber als es ernst wurde, zeigte sich, dass die Wähler*innen an meiner fehlenden Erfahrung doch mehr Anstoß nahmen als erwartet. Ich verlor nicht nur, sondern ich wurde vernichtend geschlagen, mit 19 Prozent der Stimmen gegenüber den 81 Prozent meiner Gegenkandidatin.

Bemerkenswert an dieser Geschichte ist nicht, dass ich für den Kongress kandidierte. Oder wie vernichtend und spektakulär ich schließlich verlor, nicht einmal wie ich mich nach dieser öffentlichen und demütigenden Niederlage wieder aufrappelte. Was diese Geschichte erzählenswert macht, ist die Tatsache, dass ich im Alter von dreiunddreißig Jahren mit meiner Kandidatur für ein öffentliches Amt tatsächlich zum ersten Mal in meinem ganzen Erwachsenenleben etwas wirklich Mutiges getan hatte.

Wer meinen Werdegang bis zu diesem Zeitpunkt anschaute – Yale Law School, danach eine Reihe prestigeträchtiger Jobs in großen Unternehmen –, hielt mich wahrscheinlich für eine unerschrockene Karrierefrau. Aber Karriere zu machen bedeutet nicht notwendigerweise, dass man auch unerschrocken ist. Mich trieb der Wunsch nach einem perfekten Lebenslauf auf die Yale Law School (trotz sage und schreibe dreier Ablehnungen), nicht etwa mein Mut. Es waren weder eine echte Leidenschaft für Jura oder für das Big Business, was mich motiviert hatte, einen Job bei einer der erfolgreichsten Anwaltskanzleien und später in einer der führenden Firmen für Vermögensverwaltung anzustreben. Ich tat es meinem einst aus Indien eingewanderten Vater zuliebe, um die Träume, die er für mich hatte, zu erfüllen. Schon als kleines Mädchen wollte ich immer die Beste sein. Was ich auch tat, es ging mir immer darum, klug und kompetent zu wirken und auf diese Weise Jobs zu bekommen, die mich ebenfalls klug und kompetent erscheinen ließen. Jedes Mal entschied ich mich wieder für einen weiteren Schritt in Richtung »perfektes Ich«, weil ich glaubte, auf diese Weise auch mein Leben zu perfektionieren.

Vielleicht sieht es von außen betrachtet anders aus, aber bis dahin war keine meiner Lebensentscheidungen wirklich mutig gewesen, und zwar deshalb, weil nie wirklich etwas auf dem Spiel gestanden hatte.

Doch jetzt verließ ich zum ersten Mal in meinem Leben den vorgezeichneten Weg, um etwas zu tun, was mir persönlich wirklich wichtig war. Zum allerersten Mal hatte ich ein Ziel vor Augen, von dem ich nicht 100 Prozent sicher war, dass ich es erreichen würde. Die Gefahr bestand, dass ich, falls ich scheiterte, weit mehr verlieren würde als nur eine Wahl. Mein Ansehen, mein Ruf standen auf dem Spiel – und mein Selbstvertrauen. Das hier könnte mir einen richtigen Schlag versetzen. Würde ich mich davon je wieder erholen?

Nicht nur ich habe mein Erwachsenenleben damit verbracht, mich nur um solche Aufträge zu bemühen oder solche Positionen anzustreben, von denen ich wusste, dass ich sie problemlos meistern würde. Die meisten Frauen stellen sich nur Aufgaben, von denen sie sicher wissen, dass sie sie bewältigen werden, und wagen sich nur selten ins Ungewisse. Das höre ich wieder und wieder von Frauen, denen ich auf meinen Reisen durchs Land begegne, egal welcher ethnischen Gruppe sie angehören, wie alt sie sind oder welchen finanziellen Hintergrund sie haben. Da war die vierundzwanzigjährige Hundebetreuerin, mit der ich bei Starbucks ins Gespräch kam, die eine großartige Idee hatte, um ihren Service völlig umzukrempeln. Doch sie ließ es bleiben, weil sie sich nicht vorstellen konnte, das hinzukriegen, sie habe »es nicht so mit Zahlen«. Oder die achtundfünfzigjährige Zeitungsredakteurin, neben der ich bei einer Benefizveranstaltung saß, die mir erzählte, dass sie völlig ausgebrannt und unglücklich sei, aber ihren Job nicht aufgeben wolle, obwohl sie es sich finanziell erlauben könne. Warum nicht? Sie zuckte mit den Achseln: »Weil es das ist, worin ich gut bin.« Das gleiche Verhaltensmuster beobachte ich auch als Geschäftsführerin der gemeinnützigen Organisation Girls Who Code (GWC; dt.: Mädchen, die programmieren) bei unseren jungen weiblichen Angestellten, die sich nicht für Projekte in Bereichen melden, in denen sie noch keine Erfahrungen gesammelt haben, während die Männer, ohne zu zögern, unbekanntes Terrain betreten und sich keinen Deut darum scheren, dass sie versagen oder sich lächerlich machen könnten.

Es gibt einen Grund, dass wir Frauen uns so fühlen und uns so verhalten. Und er hat nichts mit Biologie zu tun, sondern ausschließlich mit unserer Konditionierung. Mädchen werden von klein auf dazu erzogen, keine Risiken einzugehen. Wir sollen zur Freude unserer Eltern und Lehrer nach Bestnoten streben. Am Klettergerüst sollen wir uns nicht zu hoch hinaufwagen, weil wir sonst fallen und uns wehtun könnten. Wir sollen still sitzen und artig sein, hübsch aussehen, liebenswürdig und beliebt sein. Es ist durchaus gut gemeint, wenn Eltern und Lehrer*innen unsere Interessen so lenken, dass wir glänzen können, und wenn sie uns von Aktivitäten fernhalten, die uns nicht so liegen. Sie wollen uns Enttäuschungen und mittelmäßige Noten ersparen. Meist geschieht das in bester Absicht. Niemand will, dass sich die eigene Tochter verletzt, dass sie enttäuscht wird oder entmutigt. Eine Luftpolsterfolie aus Liebe und Fürsorge umschließt uns wie ein Kokon. Daher merkt auch niemand, dass wir auf diese Weise nicht lernen, Risiken einzugehen und später im Leben unsere Träume zu verfolgen.

Jungen dagegen bekommen etwas ganz anderes beigebracht. Sie sollen Dinge erforschen, richtig rangehen, hoch schaukeln und sich an der Kletterwand bis ganz nach oben trauen – und sie dürfen ruhig auch einmal herunterfallen. Sie werden dazu ermutigt, Neues zu wagen, Geräte und Werkzeuge auszuprobieren und nach einer Niederlage einfach wieder aufzustehen und weiterzumachen. Von klein auf lernen Jungen, Risiken einzugehen. Untersuchungen belegen, dass ihnen mehr Freiheit gelassen wird, um Dinge auszuprobieren, und dass sie – mit deutlich weniger Vorgaben und Hilfestellung durch die Eltern – zu riskanteren körperlichen Aktivitäten ermuntert werden. Wenn Jungen dann im Teenageralter jemanden um ein Date bitten oder als junge Erwachsene über eine Gehaltserhöhung verhandeln, sind sie bereits regelrecht darin geübt, ein Risiko nach dem anderen einzugehen – und meistens durch Niederlagen nicht zu beeindrucken. Anders als Mädchen erfahren sie Zustimmung und Lob für die Wagnisse, denen sie sich stellen, egal wie sie ausgehen.

Anders gesagt, man erzieht Jungen dazu, mutig zu sein, und Mädchen dazu, perfekt zu sein.

Weil wir von Kindesbeinen an für Perfektion belohnt werden, werden wir zu Frauen, die Angst vorm Scheitern haben. Wir gehen weder beruflich noch privat Risiken ein, denn wir haben Angst vor Verurteilung, Blamage, Rufschädigung, Ausgrenzung oder Entlassung. Die Angst vor Schmerz und Scham führt dazu, dass wir uns bewusst und unbewusst nicht erlauben, etwas Neues auszuprobieren, es sei denn, wir sind uns sicher, dass wir es perfekt umsetzen. Wir stellen uns nur Aufgaben, von denen wir sicher wissen, dass wir sie erfüllen oder die in uns gesetzten Erwartungen sogar übertreffen können.

Männer dagegen springen in unbekannte Gewässer – mit deutlich weniger Zögern und Furcht vor dem, was passieren könnte, wenn es schiefgeht. Paradebeispiel: die inzwischen recht berühmte Untersuchung, die feststellte, dass Männer sich bereits auf Jobs bewerben, wenn sie über lediglich 60 Prozent der erwarteten Qualifikationen verfügen, Frauen dagegen bewerben sich erst, wenn sie nahezu 100 Prozent erfüllen. Unser Perfektionsanspruch greift schon, bevor wir eine Sache überhaupt ausprobieren.

Dieses Bedürfnis, perfekt sein zu müssen, bremst uns auf vielerlei Art und Weise aus. In unserem Innersten wissen wir, dass es falsch ist, aber wir halten uns mit unserer Meinung zurück, weil wir nicht für penetrant, zickig oder auch nur unsympathisch gehalten werden wollen. Äußern wir uns doch einmal kritisch, dann zerbrechen wir uns vorher den Kopf und überlegen genau, was wir sagen, um das richtige Maß an Bestimmtheit zu treffen, ohne dabei rechthaberisch oder aggressiv zu wirken. Fast wie besessen analysieren wir, überlegen, diskutieren und wägen jede noch so kleine Facette unserer Entscheidung ab. Und machen wir dann doch einen Fehler – was der Himmel verhüten möge –, fühlt es sich an wie ein Weltuntergang.

Doch wenn wir uns aus Angst zurücknehmen, weil es sein könnte, dass wir nicht gut genug sind oder dass man uns abweist, dann begraben wir unsere Träume und engen unsere Welt ein – und verspielen viele Chancen auf Erfüllung und Glück. Wie oft haben wir Gelegenheiten verstreichen lassen, uns gegen neue Erfahrungen entschieden, weil wir Angst hatten? Wie viele großartige Ideen haben wir ziehen lassen, von wie vielen persönlichen Zielen haben wir uns verabschiedet, weil wir Angst hatten, es nicht gut hinzukriegen? Wie oft haben wir eine Führungsposition abgelehnt, weil wir dachten: »Das kann ich einfach nicht gut genug.« Meiner Meinung nach ist diese »Perfekt oder gar nicht«-Haltung zu großen Teilen mit dafür verantwortlich, dass Frauen auf Vorstandsebenen, in Sitzungsräumen und in Plenarsälen unterrepräsentiert sind – und das eigentlich fast überall auf der Welt.

Auch unser Wohlbefinden leidet durch unseren Perfektionsdrang, denn das Grübeln über kleinste Fehler und die Sorge, dass etwas, das wir gesagt oder getan haben, jemand anderen verärgert haben könnte, beschert uns schlaflose Nächte. Wir sind dazu erzogen, hilfsbereit und zuvorkommend zu sein, und deshalb geben wir alles und enden erschöpft, ausgelaugt, werden manchmal sogar krank, weil wir so viel von unserer Energie und Zeit für andere verwenden.

Auch unsere Selbstachtung leidet, wenn wir den Mund nicht aufmachen, obwohl wir wissen, dass es richtig wäre, oder wenn wir Ja sagen, obwohl wir eigentlich Nein hätten sagen wollen. Und das alles aus Angst, nicht gemocht zu werden. Unsere Seele und unsere Beziehungen nehmen Schaden hinter der strahlenden Fassade aus Perfektion: Sie mag verhindern, dass andere unsere Fehler und Schwächen erkennen, aber sie trennt uns von den Menschen, die wir lieben, und sie macht entscheidende und wahrhaftige Beziehungen unmöglich.

Stellen Sie sich ein Leben ohne Versagensängste und ohne Erwartungsdruck vor. Wenn Sie keine Gedanken unterdrücken und das, was Sie wirklich sagen wollen, nicht herunterschlucken müssten, nur um anderen zu gefallen oder sie zufriedenzustellen. Wenn Sie mit sich selber nicht wegen irgendwelcher völlig menschlicher Fehler gnadenlos ins Gericht gehen müssten, wenn Sie keine Schuldgefühle hätten und nicht diesen die Luft abschnürenden Druck fühlten, perfekt sein zu müssen – wenn Sie einfach nur atmen könnten. Wie wäre es, wenn Sie bei jeder anstehenden Entscheidung die mutige Option wählen oder sich für den gewagteren Weg entscheiden würden? Wären Sie glücklicher? Könnten Sie Dinge erreichen, von denen Sie bisher nur geträumt haben? Ich glaube, die Antwort auf beide Fragen lautet: Ja.

Ich habe Mutig, nicht perfekt geschrieben, weil mich mein Streben nach Perfektion viel zu viele Jahre ausgebremst hat. Mit dreiunddreißig Jahren traf ich erstmals eine mutige berufliche Entscheidung, und dadurch lernte ich, auch in meinem Privatleben mutig zu sein. Seitdem trainiere ich meinen Mut-Muskel jeden Tag. Leicht war es nicht, sich nach drei niederschmetternden Fehlgeburten für eine künstliche Befruchtung zu entscheiden, oder ein IT-Start-up zu gründen, ohne irgendeine Ahnung vom Programmieren zu haben (oder auch nur von Start-ups). Aber weil ich diese Dinge getan habe, bin ich heute die überglückliche Mutter eines kleinen Jungen und kann in dieser Welt etwas bewegen, so, wie ich es mir immer gewünscht habe.

Wenn wir dieses anstrengende Bedürfnis nach Perfektion aufgeben – oder genauer gesagt, wenn wir uns von der Angst frei machen, nicht perfekt zu sein –, erwarten uns Freiheit und Glück, und unser Leben wird reicher. Wir sollten nicht länger schon vor dem ersten Versuch aufgeben. Denn wenn wir nichts von dem ausprobieren, was uns herausfordernd erscheint oder schwerfällt, erstarren wir in Unzufriedenheit, und das macht uns kaputt. Wir halten an schmerzhaften Beziehungen fest, lassen zu, dass andere uns abwerten, und bleiben in Jobs, die uns unglücklich machen. Wir lassen unsere guten Ideen verkümmern oder, schlimmer noch, wir sehen voller Schrecken dabei zu, wie andere genau das erreichen, was wir selber hätten verfolgen sollen. Weil wir Angst haben, etwas Neues auszuprobieren oder einfach das zu verlangen, was wir haben wollen; weil wir Angst haben, Fehler zu machen und, ja, auch manchmal Angst, uns lächerlich zu machen: Aus Angst verwerfen wir unsere brillanten Ideen, verdrängen wir unsere Träume, und ein Leben lang begleitet uns ein Gefühl des Bedauerns.

Wenn Perfektion unser Maßstab ist, dann wird es für uns niemals »Erfolg« geben können, denn dann wird nichts, was wir tun, jemals ausreichen.

Was wäre, wenn wir sagten: Scheiß drauf! Ich sag’ jetzt einfach, was ich denke, auch wenn es denen nicht gefällt. Oder: Ich bewerbe mich für die Stelle, die mir zu anspruchsvoll vorkommt. Oder: Ich verändere jetzt mein Leben, so wie ich es mir immer erträumt habe, ohne mir Sorgen zu machen, was danach kommt. Wie sähe unser Leben dann aus?

Die Angst vor Unvollkommenheit loszulassen, ist leichter, als Sie denken. Eigentlich müssen Sie nur Ihren Mut-Muskel trainieren – und jedes Mal wächst er ein kleines bisschen mehr. Darum geht es in diesem Buch. Es zeigt, wie wir einst darauf konditioniert wurden, nach Perfektion zu streben und Niederlagen um jeden Preis zu vermeiden, und wie diese Konditionierung aus unserer Kindheit bis heute unser Leben bestimmt. Vor allem aber geht es um eine Gegenkonditionierung. Wenn wir unseren Perfektionsdrang loslassen und uns darin üben, mutig zu sein, kann jede von uns ihre eigene Version des Undenkbaren leben. Dafür ist es nie zu spät.

Warum ich?

Wie wurde aus der gescheiterten Kongress-Kandidatin eine Aktivistin für Frauen und für Unerschrockenheit?

Nachdem ich mich von meiner vernichtenden Niederlage erholt hatte, atmete ich einmal tief durch und fragte mich: Und was jetzt? Ich ging in mich und dachte an meine vielen Wahlkampfauftritte überall in der Stadt. An zahlreichen Schulen hatte ich den Programmier- und Robotik-Unterricht besucht: Klassenräume voller Jungen. Und mir fiel wieder ein, dass ich eigentlich unaufhörlich an jene Kinder dachte, die ich nicht zu sehen bekommen hatte. Wo waren die Mädchen? Mir wurde klar, dass die Geschlechterkluft im Technologiebereich nur zu schließen war, indem man Mädchen schon sehr früh mit einbezog. Ziemlich schnell wusste ich, dass dies die nächste Herausforderung sein würde, durch die ich gesellschaftlich Einfluss nehmen könnte, so, wie ich es mir immer gewünscht hatte. 2012 gründete ich Girls Who Code (GWC), inzwischen eine landesweite Bewegung mit mehr als neunzigtausend teilnehmenden Mädchen in fünfzig Bundesstaaten.

Ursprünglich sollte Girls Who Code einem Trend entgegenwirken: dass Mädchen zwischen dreizehn und siebzehn das Interesse an den MINT-Fächern verlieren, also an Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Unser Ziel war es, ihren Anteil an den 1, 4 Millionen Jobs im IT-Bereich, die das Amt für Arbeitsstatistik (The Bureau of Labor Statistics) für 2020 in den USA prognostiziert hatte, deutlich zu steigern. Zu dieser Zeit waren gerade mal 3 Prozent der in diesen Berufen arbeitenden Menschen weiblich – eine Quote, die deutlich zu steigern war. Aber nachdem GWC einmal auf den Weg gebracht war, wurde mir klar, dass wir diese Mädchen nicht nur auf zukünftige Jobs vorbereiteten. Wir brachten ihnen das Programmieren bei und lehrten sie gleichzeitig, mutig zu sein.

Programmieren ist ein langwieriger Prozess des Herumprobierens, und manchmal entscheidet lediglich ein Semikolon über Erfolg oder Misserfolg. Der Code kann abbrechen oder abstürzen, und oft braucht man viele, viele Versuche bis zu dem magischen Moment, in dem das, was man erschaffen wollte, plötzlich funktioniert. Dazu braucht es Beharrlichkeit und die Bereitschaft, auch das Unperfekte aushalten zu können.

Im Februar 2016 beschrieb ich in einem TED-Vortrag meine Beobachtungen über den Zusammenhang von Mädchen, Perfektion und Mut. In einem glühenden Appell forderte ich, dass wir unsere Mädchen endlich anders sozialisieren – und dass Frauen ermutigt werden, es nicht mehr allen recht zu machen, ihren Perfektionismus abzulegen und Mitsprache, Respekt und Einfluss zurückzuverlangen.

Zu meiner Überraschung traf der Vortrag einen empfindlichen Nerv. Ich wusste ja, dass mir selbst das Thema sehr am Herzen lag, aber nun pflichteten mir Tausende Mädchen und Frauen im ganzen Land bei. Innerhalb weniger Tage erreichte mich eine Flut von E-Mails. Manche Frauen schrieben mir, dass sie sich selbst in meiner Rede wiedererkannt hatten. »Ich habe geweint, als ich Ihren Vortrag hörte«, schrieb eine. »Mir wurde bewusst, wie stark ich mich selbst beschränke«, schrieb eine andere. Zahllose Frauen erzählten mir, dass sie ihre Chancen nicht nutzten, aus Angst, sie könnten sich lächerlich machen, versagen oder ihrem eigenen unerreichbaren Perfektionsanspruch nicht genügen.

Manche E-Mails berührten mich sehr, etwa wenn ich las, wie Mädchen und Frauen von ihrem Perfektionsanspruch gequält werden. »Wenn ich einen Fehler mache oder jemanden enttäusche, dann werfe ich mir das tagelang vor«, schrieb eine Frau, »ich kann dann an nichts anderes mehr denken.« Eine andere schrieb: »Jeder denkt, dass ich alles im Griff habe … wenn die wüssten, wie sehr ich mich anstrengen muss, um so zu wirken, und wieviel Angst ich habe, dass sie herausfinden, was für eine Chaotin ich in Wirklichkeit bin.«

Andere Mails machten mich unglaublich stolz. Eine Studentin berichtete, dass sie ihren Perfektionsanspruch endlich aufgegeben habe, nachdem sie jahrelang vor Erschöpfung weinend über ihren Arbeiten gesessen hatte – nicht in der Lage dazu, jemanden um Hilfe zu bitten, aus Angst, für dumm gehalten zu werden. Sie hatte sich an der Uni durch ihren Perfektionismus selbst isoliert. »Es hat mir großen Schub gegeben«, schrieb sie. »Jetzt stelle ich meine Fragen. Sollen die Leute doch denken, ich wäre dumm, weil ich nachfrage. Und wenn schon. Hier geht es nur um mich und meine Ausbildung.«

Eltern von Kindergartenkindern berichteten beunruhigt von ihren überbesorgten fünfjährigen Töchtern, die alles exakt »richtig« machen wollen, und Erzieherinnen erzählten mir, dass sie in Rundschreiben oder Newslettern Eltern dazu ermuntert hatten, sich meinen Vortrag zusammen mit der Familie anzusehen.

Die Botschaft von »Mutig, nicht perfekt« verbreitete sich durch Blogger, in den sozialen Medien und über Fernsehinterviews immer weiter. Bis heute wurde der TED-Talk fast vier Millionen Mal angesehen. Ich hatte die Ehre, auf der Versammlung der Fortune Most Powerful Women zu sprechen und die frühere First Lady Michelle Obama in Washington D.C. zu treffen.

All das war aufregend und schön, aber am schönsten finde ich, dass die Botschaft von »Mutig, nicht perfekt« sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft etwas verändert. Jede Woche besuche ich mindestens ein bis zwei Städte und spreche auf Konferenzen, an Schulen und in Firmen, und jedes Mal bin ich wieder überwältigt und gerührt, wenn ich sehe, dass mein Vortrag Frauen und Mädchen dazu inspiriert hat, etwas Neues oder Herausforderndes auszuprobieren. Dass sie Fragen stellen oder Antworten geben, selbst wenn sie befürchten, für dumm gehalten zu werden. Dass sie eine »sichere« Laufbahn aufgeben für eine, von der sie immer geträumt haben, selbst wenn andere sie für verrückt erklären. Dass sie den Schritt ins Ungewisse gewagt haben, selbst auf die Gefahr hin, Tiefschläge zu erleiden – und dass sie lernen, die Welt geht nicht unter, wenn sie scheitern.

Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich glaube, dass jede von uns genug Mut in sich finden kann, um ihre kühnsten Träume zu verwirklichen. Sei es der Wunsch, Multimillionärin zu werden, den Mount Everest zu besteigen oder einfach nur ohne die ständige Angst vor Verurteilung zu leben, alles wird möglich, wenn wir unsere Programmierung zum Perfect Girl überschreiben und das Mutigsein üben.

Wir werden nicht länger schweigen und uns zurückhalten, und wir werden das auch unseren Töchtern nicht mehr beibringen. Es wird Zeit, dieses Denkmuster zu überwinden. Und falls Sie glauben sollten, dass dieser Mut eigentlich ein den Reichen vorbehaltener Luxus ist, dann lassen Sie mich Ihnen versichern: Ich habe mit Frauen unterschiedlichster Herkunft und wirtschaftlicher Lebensumstände gesprochen, dieses Problem betrifft uns alle. Ich wünsche mir eine starke Bewegung, die alle Frauen dazu inspiriert, ihre Unvollkommenheit zu akzeptieren, auf dass ihr Leben reicher und unsere Welt besser werden möge. Lassen wir Chancen nicht mehr ungenutzt verstreichen, stellen wir unser Licht nicht länger unter den Scheffel und hören wir auf, unsere Träume aufzuschieben! Lasst uns nicht länger nach Perfektion streben, sondern uns unseren Herausforderungen stellen.

Anaïs Nin schrieb: »Ob unser Leben kleiner wird oder größer, steht in direktem Verhältnis zu unserem Mut.« Wenn das stimmt – und ich bin davon überzeugt –, dann ist Mut die Voraussetzung für ein erfülltes Leben. Ich schreibe dieses Buch, weil ich daran glaube, dass jede Frau die Chance haben sollte, sich aus dem Würgegriff des Perfektionismus zu befreien und das freudvolle und couragierte Leben zu leben, das ihr zusteht.

Erster Teil

Wie Mädchen Perfektionismus antrainiert wird

1

Sugar and Spice and Everything Nice – brave kleine Mädchen

Die sechzehnjährige Erica ist eine Überfliegerin. Beide Eltern sind bekannte Professoren, sie selbst ist stellvertretende Klassensprecherin und hat hervorragende Zensuren. In ihren Zeugnissen überschlagen sich die Lehrer*innen mit Lob für ihren Fleiß und betonen, was für eine Freude es sei, sie zu unterrichten. Zweimal im Monat arbeitet sie ehrenamtlich in einem örtlichen Krankenhaus. Am Ende des 10. Schuljahres bekam Erica von ihren Klassenkameraden die Auszeichnung »Schönstes Lächeln« verliehen, und ihre Freund*innen halten sie für die netteste Person überhaupt.

Hinter diesem hübschen Lächeln sieht es allerdings nicht ganz so rosig aus. In Ericas Tagebuch kann man lesen, dass sie unter dem Gefühl leidet, allzeit perfekt sein und alle anderen glücklich machen zu müssen. Hier klagt sie auch, dass sie jeden Abend und am Wochenende bis zur Erschöpfung lernt, um Einsen zu schreiben und Eltern wie Lehrer*innen glücklich zu machen; auf keinen Fall will sie sie enttäuschen, das wäre so ungefähr das Schlimmste, was sich Erica vorstellen kann. Einmal hatte sie den Termin für einen Debatten-Wettkampf in der Schule falsch notiert und konnte nicht hingehen, denn zu gleicher Zeit fand eine Reise ihrer Kirchengemeinde statt, zu der sie ihre Teilnahme als freiwillige Helferin zugesagt hatte; sie war außer sich vor Sorge, dass ihr Lehrer »total wütend« auf sie sein würde, und wurde krank.

Erika hasst die ehrenamtliche Arbeit im Krankenhaus (man sollte sie auf keinen Fall nach den Bettpfannen fragen, die sie ausleeren muss), aber sie bleibt trotzdem dabei, weil ihr Beratungslehrer findet, dass es sich gut macht in ihrer Collegebewerbung. Eigentlich würde sie sich sehr gerne für das Cheerleading-Team bewerben, weil sie glaubt, dass das viel Spaß machen könnte. Aber sie tut es nicht, weil sie von Freundinnen gehört hat, dass einige Sprünge sehr schwer zu erlernen sind, und auf keinen Fall möchte sie sich lächerlich machen. Außerdem mag sie die meisten ihrer Freundinnen nicht einmal, denn die können sehr gemein und gehässig sein, aber Erica hat viel zu viel Angst, das zu kritisieren.

Wie so viele Mädchen will Erica es unbedingt allen recht machen, immer auf Nummer sicher gehen und auf keinen Fall versagen.

Ich weiß das so genau, weil Erica heute zweiundvierzig Jahre alt und eine gute Freundin von mir ist. Sie ist immer noch supernett und hat ein bezauberndes Lächeln – und sie ist immer noch gefangen in ihrem eigenen Perfektionismus. Sie ist Politikberaterin, hat keine Kinder und arbeitet fast jeden Tag bis weit nach Mitternacht, um ihre Kolleg*innen zu beeindrucken und die Erwartungen ihrer Klient*innen zu übertreffen. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, sieht sie fantastisch aus; als Freundin findet sie immer genau die richtigen Worte, wählt immer das passende Geschenk mit der passenden Karte, und immer ist sie pünktlich. Aber genau wie die Sechzehnjährige von damals lässt Erica auch heute nur im vertrauten Gespräch durchblicken, dass ihr dieser pausenlose Drang, es allen recht zu machen, geradezu die Luft abschnürt. Neulich fragte ich sie, was sie eigentlich tun würde, wenn ihr egal wäre, was andere darüber dächten. Wie aus der Pistole geschossen ratterte sie eine Liste von Zielen und Wünschen herunter, die umzusetzen sie sich jedoch niemals trauen würde, egal ob es darum geht, ihrem größten Klienten auszureden, sein Büro an den Stadtrand zu verlegen, oder alleine ein Kind großzuziehen.

Unsere Kultur hat Generationen perfekter Mädchen wie Erica hervorgebracht, die als erwachsene Frauen Angst vor dem Risiko haben. Sie haben Angst, ihre Meinung zu äußern, Entscheidungen zu treffen, stolz auf ihre Leistung zu sein, Angst, ein selbstbestimmtes Leben ohne Bestätigung von außen zu führen. Mit anderen Worten: Sie haben Angst, sie selbst zu sein.

Schon als Baby absorbieren Mädchen täglich auf hundertfache Weise die Botschaft, dass sie nett sein sollen, höflich und adrett. Verzückte Eltern kleiden sie in süße, farblich abgestimmte Outfits (mit passenden Haarschleifen) und sagen ihnen, wie hübsch sie seien. Man überschüttet sie mit Lob, wenn sie gute Noten schreiben, hilfsbereit sind, höflich und zuvorkommend, und man tadelt sie, wenn sie unordentlich sind oder laut und zu selbstbewusst auftreten.

Eltern und Lehrer meinen es gut, wenn sie die Interessen von Mädchen auf Aufgaben und Tätigkeiten lenken, die sie gut meistern können, damit sie Erfolgserlebnisse haben. Zugleich hält man Mädchen von Aktivitäten fern, die frustrierend sein könnten, oder schlimmer noch, bei denen sie versagen könnten. Das ist verständlich, denn Mädchen gelten als verletzbar und schwach, und instinktiv wollen wir sie vor Schmerz und Verurteilung schützen.

Unsere Jungen hingegen dürfen sich ausprobieren, die Welt erkunden, sich dreckig machen, hinfallen und, genau, sie dürfen auch scheitern – weil man ihnen schon möglichst früh beibringen will, wie man »ein Mann wird«. Zwar hat sich unsere Gesellschaft in vielem weiterentwickelt, aber die meisten Menschen finden es auch heute noch irritierend, wenn ein Junge zu zögerlich ist, zu zurückhaltend oder zu ängstlich – geschweige denn, wenn er weint. Das beobachte ich sogar bei meinem Ehemann, ein Feminist des 21. Jahrhunderts, der regelmäßig mit unserem Sohn herumtobt, um ihn »abzuhärten«, und der mir sagt, dass ich ihn weinen lassen soll, wenn er nachts einmal wach wird. Ich habe ihn einmal gefragt, ob er das alles genauso machen würde, wenn Shaan ein Mädchen wäre, und seine prompte Antwort war: »Natürlich nicht«.

fehlt