Copyright: © 2020 Michael Keßler

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Lektorat: Birte S. Kraft

Der Autor hat dieses Buch nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben. Er hat alle vorgestellten Übungen und Empfehlungen selbst ausgeführt. Die Einflussfaktoren auf die Sicherheit einer Motorradfahrt sind jedoch derart vielfältig, dass auch bei sorgfältiger Durchführung ein Sturz nicht ausgeschlossen werden kann.

Michael Keßler

Silgestraße 28

67067 Ludwigshafen am Rhein

Deutschland

www.motorrad-fahrtechnik.de

© 2020

Herstellung und Verlag:

Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783750488878

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Herzlichen Glückwunsch zum Erwerb dieses Handbuchs über Motorrad-Fahrtechnik. Offensichtlich bis Du ein verantwortungsbewusster Fahrer, der weiß, wie wichtig es ist, immer wieder dazu zu lernen. Solltest Du Anfänger oder Wiedereinsteiger sein, wirst Du mit diesem Buch die typischen Motorrad Anfängerfehler erkennen und vermeiden können.

Ein Motorrad ist ein Sportgerät, dessen Beherrschung geübt werden muss. Motorradfahren kann wie jeder Sport viel Spaß machen, aber bei mangelnder Fertigkeit auch zum Risiko werden. In diesem Buch lernst Du, den Spaß zu erhöhen und zugleich das Risiko zu vermindern. Du lernst, souverän und sicher Motorrad zu fahren.

Zunächst wirst Du alles Wichtige über die Fahrphysik eines Motorrads erfahren. Begriffe wie Kreiselkräfte, Kammscher Kreis oder Lenkimpuls werden ausführlich erklärt.

Dann werden wir über den Mindset sprechen, der für souveränes Motorrad fahren nötig ist. Und Du wirst etwas über die Technik der Antizipation lernen, ohne die kein Sportler auskommt. Außerdem ist ein ausführlicher Fitness-Teil mit Übungsvorschlägen sowie Tipps für die richtige Ernährung während einer Motorradtour vorhanden.

Schließlich wirst Du viele praktische Motorrad-Fahrtipps bekommen, zum Beispiel zu Kurventechniken wie dem Legen, dem Drücken und dem Knieschleifen. Du wirst erfahren, wie man richtig schaltet, lenkt, bremst und Gas gibt und was eine Ideallinie ist. Und Du wirst Einiges über das Serpentinenfahren mit dem Motorrad lernen, und was das mit der Blickführung zu tun hat.

Natürlich werde ich auch die 1,5 Stürze erwähnen, die ich hatte. Ich werde erklären, wie sie zustande kamen und welche leicht vermeidbaren Fehler ich gemacht hatte.

Nun möchte ich mich gerne vorstellen

Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich etwas von dem, was ich mir an Wissen und Können bei der Motorrad-Fahrtechnik erarbeitet habe, weitergeben möchte. Ich will mithelfen, Unfälle zu vermeiden. Ich will meinen Teil dazu beitragen, dass Menschen, die Spaß am Leben und am Motorradfahren haben, nicht plötzlich im Krankenhaus aufwachen und merken, dass sie querschnittgelähmt sind. Oder gar nicht mehr aufwachen. Ich will zeigen, wie Motorradfahren mehr Spaß machen und zugleich sicherer sein kann.

Ich habe sehr viele Stunden im Sattel unterschiedlichster Maschinen zugebracht. Es waren Supersportler dabei, naked Bikes, Reiseenduros und echte Enduros. Es gab Zeiten, in denen ich mich nicht entscheiden konnte, welche Art Motorrad am meisten Spaß macht. Dann standen mehrere in meiner Garage.

Neben vielen Reisen habe ich auch immer wieder die unterschiedlichsten Trainings mitgemacht. Es waren Renntrainings auf der Nürburgring-Nordschleife dabei, Enduro-Trainings in Motocross-Gruben und Offroad-Touren in Spanien, Sardinen, Korsika und der Türkei. Das Allerwichtigste war aber, dass ich jede einzelne Fahrt als ein kleines Training angesehen habe. Egal, ob es um eine Besorgung ging oder um die Runde auf der Hausstrecke.

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches besitze ich eine B-Trainer-Lizenz des Deutschen Olympischen Sportbundes. Dadurch sind mir die Grundlagen der Didaktik, der pädagogischen Methodik und der Sportwissenschaft bekannt, was mir beim Schreiben sehr geholfen hat.

Irgendwann fängt jeder mal an und niemand weiß alles

Wie jeder habe auch ich irgendwann einmal angefangen und war derjenige, der den Freunden hinterherfuhr. Dabei hatte ich öfter das Gefühl, schneller unterwegs zu sein als mir guttat. Durch das Lesen von Fachliteratur, durch meine Trainings und meine Fahrübungen, die ich fast immer machte, wenn ich auf einem Motorrad saß, entwickelte ich mich Schritt für Schritt weiter. Bis ich immer häufiger derjenige war, dem die Anderen hinterherfuhren. Obwohl sie oft stärkere Maschinen hatten. Irgendwann war es dann soweit, dass mich andere um Tipps baten, wie man so perfekt Motorradfahren lernen kann. Später bekam ich auf einer Grillparty zufällig mit, dass einer meiner Freunde, der etwas abseits stand und sich mit einem mir unbekannten Anderen unterhielt, auf mich zeigte und sagte: „Der da, das ist ein richtiger Motorradgott“.

Ich erwähne das, um deutlich zu machen, dass Du mit diesem Handbuch zur Motorrad Fahrtechnik wirklich guten Inhalt erwarten kannst. Inhalt, der Dich weiter bringen wird. Jeder fängt einmal an. Aber jeder Anfänger wird ganz automatisch immer besser, wenn er oft genug das Richtige übt. Und auch jemand mit Fahr-Erfahrung muss sich nicht schämen, wenn er zugibt, noch nicht alles zu wissen und noch nicht alles zu können.

Auch Du wirst souverän und sicher Motorrad fahren, wenn Du dieses Buch ernst nimmst und seinen Inhalt umsetzt.

Ach ja, bevor ich es vergesse:

Ich hoffe, das „Du“ ist in Ordnung für Dich. Ich setze das einfach mal voraus, weil es unter uns Motorradfahrern so üblich ist.

Und selbstverständlich sind immer auch alle Fahrerinnen gemeint.

Mission impossible

Zur Einstimmung möchte ich Dir bewusst machen, was wir Motorradfahrer leisten. Vielleicht hast Du Dir schon mal Gedanken darüber gemacht, vielleicht auch nicht. Wahrscheinlich eher nicht; denn das Motorradfahren erscheint uns so selbstverständlich wie das Gehen. Schaut man es sich aber genauer an, ist man hinterher überrascht, dass es überhaupt funktioniert.

Lass uns damit beginnen, die nötigen Bedienelemente zu beschreiben. Du kennst sie an Deiner Maschine natürlich ganz genau. Du weißt, dass die Vorderradbremse mit dem Handhebel am rechten Lenkerende bedient wird und die Hinterradbremse mit dem rechten Fußhebel. Du weißt, dass die Kupplung auf den Handhebel am linken Lenkerende reagiert und dass die Gangschaltung an der linken Fußraste montiert ist. Selbstverständlich kennst Du auch den Drehgriff, mit dem man die Gasmenge und damit die Motordrehzahl reguliert. Du weißt, wo die Blinker geschaltet werden und wo sich die Knöpfe für die Lichthupe und die akustische Hupe befinden. Das Fahrlicht haben die meisten inzwischen permanent eingeschaltet, sodass wir diesen Schalter hier außen vor lassen können. Und den Knopf für den Anlasser sowieso, weil man den während der Fahrt nicht braucht.

Bist Du einmal losgefahren, weißt Du, dass man das Motorrad ausbalancieren muss. Aber vielleicht weißt schon nicht mehr so ganz genau, dass dies in Abhängigkeit von seiner Geschwindigkeit auf verschiedene Arten geschieht. Du machst das zwar instinktiv richtig, aber es ist sicherlich ein Vorteil, wenn Du weißt, warum es richtig ist und welche verschiedenen Fahrzustände es gibt. Wahrscheinlich weißt Du auch, dass sich die Lenkmanöver unterscheiden, je nachdem, ob Du eine langgezogene weite Landstraßenkurve durchfährst oder einem Auto ausweichen musst, das Dir gerade die Vorfahrt genommen hat. Mit Sicherheit weißt Du aber, dass man beim Bremsen auf die Art des Straßenbelags achten muss. Und natürlich auf Nässe auf der Fahrbahn. Und auf die Temperatur. Und den Reifentyp, den Du gerade aufgezogen hast. Und auf die aktuelle Fahrsituation. Hast Du beispielsweise auf der Autobahn das Stauende verschlafen, musst Du völlig anders reagieren als beim Anbremsen einer Serpentinenkurve bei Bergabfahrt. Oder wenn die Fahrbahn nass ist und die Lufttemperatur nur 5°C beträgt, muss das Bremsverhalten anders sein als bei trockener Fahrbahn und 20°C.

Merkst Du, worauf ich hinaus will? Mir ist wichtig, dass Du Dir zu Beginn dieses Buches bewusst machst, wie komplex das Motorradfahren eigentlich ist, und wie viele Einflussfaktoren von außen auf die Fahrsicherheit einwirken. Um alle diese Faktoren angemessen zu berücksichtigen, erfordert das Fahren eines Motorrads manchmal mehrere Bedienaktionen gleichzeitig. Zur Veranschaulichung möchte ich gemeinsam mit Dir eine Standardsituation im Stadtverkehr detailliert analysieren:

Nehmen wir an, Du stehst an einer roten Ampel. Du hast den Leerlauf eingelegt und beide Füße am Boden. Es wird wohl noch ein paar Sekunden bis zum Grün dauern. Die rechte Hand hat leicht den Handbremshebel gezogen, weil die Straße ein wenig abschüssig ist.

Jetzt springt die Ampel auf Gelb. Die linke Hand greift ebenfalls zum Lenker. Du verlagerst Dein Gewicht auf den rechten Fuß und hebst den linken auf die Fußraste. Wenn Du eine schwere Maschine hast oder vielleicht zu zweit fährst, musst Du diese Gewichtsverlagerung millimetergenau dosieren. Kippst Du die Maschine auch nur ein klein wenig zu weit nach rechts, kann es schon ziemlich schwer werden, sie aufrecht zu halten. Die linke Hand zieht jetzt den Kupplungshebel ganz an den Lenker, während der linke Fuß den Ganghebel nach unten drückt, um den ersten Gang einzulegen.

Jetzt zeigt die Ampel grün. Die rechte Hand lässt den Bremshebel los und dreht zugleich leicht am Gasgriff. Die linke lockert den Griff um den Kupplungshebel. Aber nur soweit, dass die Kupplung im richtigen Maß greift. In Abhängigkeit vom Geschehen vor Dir und der Beschaffenheit der Straße ist das richtige Kupplungsmaß sehr unterschiedlich. Hast Du beispielsweise einen langsam anfahrenden LKW vor Dir, musst Du anders einkuppeln, als wenn Du freie Bahn hast. Oder wenn die Straße bergauf führt, ist das Anfahrmanöver ein anderes, als wenn sie waagrecht weitergeht oder gar bergabwärts.

Nehmen wir für die weitere Analyse an, Du hättest tatsächlich einen LKW vor Dir und die Straße würde bergauf führen.

Du hast das Anfahren im Griff und Deine Maschine rollt mit der richtigen Beschleunigung an. Du nimmst sofort den rechten Fuß auf die Raste und lässt ihn nicht etwa neben der Maschine baumeln, wie ich es schon manches Mal beobachtet habe. Den Kupplungshebel hast Du inzwischen losgelassen. Der Laster vor Dir beschleunigt nun doch schneller als gedacht, wahrscheinlich ist er nicht beladen. Also musst Du die Gasgriffstellung anpassen. Du befindest Dich wegen der niedrigen Geschwindigkeit noch im instabilen Fahrzustand und musst aktiv balancieren.

Jetzt wäre der zweite Gang dran. Also schließt Du den Gasgriff wieder mit der rechten Hand, während Du gleichzeitig mit der linken Hand den Kupplungshebel ziehst und ebenfalls gleichzeitig mit dem linken Fuß den Ganghebel nach oben drückst. Die linke Hand lässt den Kupplungshebel jetzt viel schneller los als beim Anfahren, aber doch dosiert. Die rechte Hand dreht den Gasgriff wieder auf, und zwar genau so weit, dass die Motordrehzahl zur momentanen Drehzahl der Kardanwelle passt.

Die Geschwindigkeit ist jetzt so groß geworden, dass Dein Motorrad vom instabilen in den teilstabilen Fahrzustand gekommen ist und Du weniger ausbalancieren musst. Aber es ist noch nicht im selbst stabilisierenden Zustand. Ein wenig musst Du noch mitarbeiten.

Jetzt kommt gleich die Abzweigung, bei der Du nach rechts abbiegen willst. Du setzt mit einem Daumen den Blinker. Da es eine enge Kurve ist, bremst Du ein wenig ab, indem Du mit der rechten Hand den Gasgriff schließt und gleichzeitig ganz leicht den Bremshebel für die Vorderradbremse ziehst. Zusätzlich drückt Dein rechter Fuß ein wenig den Bremshebel für die Hinterradbremse. Das wäre vielleicht in diesem Moment nicht unbedingt nötig, aber Du hast Dir irgendwann einmal angewöhnt, mit nur wenigen Ausnahmen immer beide Räder zu bremsen.

Jetzt bist Du kurz vor der Kurve. Du bist jetzt wieder so langsam geworden, dass Du Dich wieder im instabilen Fahrzustand befindest und aktiv ausbalancieren musst. Und Du musst wieder in den ersten Gang schalten. Das machst Du gleichzeitig während des Bremsvorgangs, indem Du neben rechter Hand und rechtem Fuß nun auch die linke Hand und den linken Fuß aktivierst, um die Kupplung zu ziehen und den ersten Gang einzulegen.

Die Kurve ist jetzt da. Die Abzweigung von der bergaufwärts führenden Straße geht, wie meistens in solchen Situationen, waagrecht weiter. Du lässt die Kupplung und beide Bremsen los, gibst den Einlenkimpuls für die Rechtskurve und öffnest gleichzeitig das Gas exakt soweit, dass für diese innerstädtische enge Kurve beim gerade gewählten Gang die richtige Kurvengeschwindigkeit entsteht …

Das Beispiel schildert eine Fahrsituation, die ständig vorkommt: Anfahren, wieder abbremsen, eine langsame Kurve nehmen. Die Fahrstrecke beträgt vielleicht 500 Meter. Zeitweise musst Du beide Hände und beide Füße gleichzeitig zur Bedienung einsetzen und zusätzlich das Gleichgewicht halten. Wenn Du auf einer Landstraße unterwegs bist, sind neben der Fahrzeugbedienung noch Störeinflüsse wie unterschiedliche Straßenbeläge, plötzlich auftauchende Hindernisse, Seitenwindböen und Ähnliches mehr zu beachten.

Nimmt man eine ganz normale Motorradfahrt so auseinander, kann man sich kaum vorstellen, dass es überhaupt machbar ist. Motorradfahren ist scheinbar tatsächlich eine „mission impossible“!

Ich will mit dieser Einführung auf zwei Dinge aufmerksam machen:

Erstens will ich zeigen, dass all die „ganz normalen“ Motorradfahrer wirklich Einiges leisten. Es ist definitiv nicht einfach und gelingt nicht jedem ausreichend gut, wie die Unfallzahlen leider immer wieder belegen.

Und zweitens will ich allen, die gerade mit dem Motorradfahren angefangen haben oder nach Jahren wieder eingestiegen sind, sagen, dass sie sich keine Sorgen machen müssen, wenn noch nicht alles perfekt klappt. Motorrad fahren muss über längere Zeit geübt werden, bis man einen gewissen Grad an Fertigkeit erreicht hat. Wichtig ist einzig, das eigene Können richtig einzuschätzen und die Notwendigkeit zum Üben zu akzeptieren. Und zu verstehen, dass es einiges zu lernen gibt, und dass mit ein paar Fahrten zur Eisdiele oder zum Motorradtreff noch nicht alles erledigt ist.

Macht nicht gerade die Schwierigkeit den Reiz aus?

Wenn es einfach wäre, wäre es doch langweilig!

Kapitel 1
Fahrphysik und technische Grundlagen

Lass uns mit der Fahrphysik und den technischen Grundlagen beginnen, weil diese Dinge die Basis für souveränes und sicheres Motorradfahren sind. Wenn Du verstanden hast, warum etwas so funktioniert, wie es das tut, kannst Du gezielt gewünschte Effekte erreichen und unerwünschte vermeiden.

Wenn Du weißt, wie der Lenkimpuls funktioniert oder was der Kammsche Kreis aussagt, wirst Du effektiver lenken und bremsen als ohne dieses Wissen. Du wirst Hindernissen sicherer ausweichen, schneller zum Stehen kommen oder einen Sturz vermeiden können, der ohne dieses Wissen geschehen wäre.

Wenn Dir klar ist, welche Faktoren Deine Schräglage beeinflussen, wirst Du die vorhandene Schräglagenfreiheit viel leichter nutzen können, um eine Kurve doch noch zu packen.

Außerdem werden wir in diesem Kapitel die Funktionsweise der Federung und der Dämpfung besprechen, wir werden intensiv auf die Theorie des Bremsens eingehen, und wir werden untersuchen, welchen Einfluss die Reifen auf das souveräne und sichere Motorradfahren haben.

Warum bleibt ein Motorrad aufrecht?

Wieso fällt ein Motorrad nicht einfach um? Schließlich hat es als Einspurfahrzeug nur zwei relativ kleine Aufstandsflächen. Jeder weiß, dass beispielsweise ein Hocker mindestens drei Beine haben muss, wenn er alleine stehen bleiben soll.

Du hast natürlich sofort eine Antwort parat: Wenn das Motorrad stillsteht, fällt es um, sobald es nicht mehr festgehalten wird. Das ändert sich, wenn es sich in Fahrt befindet. Wir alle kennen diesen Effekt mehr oder weniger bewusst vom Radfahren. Aber jeder, der je auf einem Fahrrad saß, weiß auch, dass das nur ab einer gewissen Mindestgeschwindigkeit gilt. Das sehr langsame Radfahren ist im Vergleich zum etwas schnelleren Tempo nicht so einfach.

Hast Du schon mal einem Kind das Fahrradfahren beigebracht? Wenn ja, weißt Du, dass es zuerst seine Angst vorm Hinfallen überwinden muss. Üblicherweise erreicht man das, indem man dem Kind bei den ersten Fahrversuchen hinterher läuft und dabei sein Fahrrädchen am Gepäckträger oder am hinteren Sattelende festhält. Man darf das Kind nicht direkt berühren. Es darf die haltende Hand nicht spüren, sonst verlässt es sich zu sehr darauf. Zunächst ist es sehr vorsichtig. Aber wenn es ein paar Mal beim Straucheln gehalten wurde, fasst es Vertrauen und tritt kräftiger in die Pedale. Sobald das klappt, hält man es zunächst nur für kurze Augenblicke nicht mehr fest, dann nach und nach immer länger. Man muss das Kind jeweils anschließend darüber informieren und es loben und ermutigen. Würde man ihm nicht sagen, dass es gerade ein Stück alleine gefahren ist, würde es beim nächsten Straucheln erschrecken. Wenn es aber weiß, dass es etwas Neues geschafft hat, ist es auf seine Leistung stolz. Es gewinnt mehr und mehr Selbstvertrauen und plötzlich fährt es allein. Das funktioniert nahezu spontan.

Das Kind kann jetzt eine kurze Strecke geradeaus fahren. Aber in diesem Stadium kann es noch keine Kurven und noch nicht langsam fahren, denn beides erfordert ein besonderes Gleichgewichtstraining.

Mache Dir bewusst, dass Du nicht nur auf einem Fahrrad oder Motorrad Gleichgewichtsarbeit leisten musst, sondern auch Deinen Körper ständig ausbalancierst. Du musst mit permanenter Muskelaktivität dafür sorgen, dass sich der Schwerpunkt Deines Körpers immer über den Aufstandsflächen Deiner Füße befindet. Nach aktuellem Stand der Wissenschaft gehen wir und unsere entwicklungsgeschichtlichen Vorfahren seit über 3 Millionen Jahren aufrecht. Zeit genug, um uns körperlich und geistig darauf einzustellen. Die dafür nötigen Organe wie das Gleichgewichtsorgan im Innenohr und die Sensoren an den Muskel- und Sehnenansätzen, welche die Stellung des Körpers im Raum erfassen, sind von Geburt an vorhanden, wenn auch noch nicht sofort hundertprozentig einsatzfähig. Sie stellen sozusagen die Hardware dar. Die nötige Software zur Verarbeitung der Informationen hat das Gehirn ebenfalls mitbekommen. Aber dieses Programm muss durch Übung zuerst aktiviert und kalibriert werden.

Nur weil wir diese Fähigkeit besitzen, können wir nach einiger Übung auf einem Bein stehen, einen Gegenstand balancieren oder andere artistische Kunststücke machen. Wie zum Beispiel Motorrad fahren.

Beim sehr langsamen Fahrrad- oder Motorradfahren kippt das Gefährt ständig von einer Seite auf die andere. Das muss durch aktive Lenkbewegungen und Gewichtsverlagerung ausgeglichen werden. Durch das eingelenkte Vorderrad fährt man eine kleine Kurve, und nach der Korrektur durch Lenker und Gewichtsverlagerung eine nächste kleine Kurve in die andere Richtung. Die Geradeausfahrt mit einem Einspurfahrzeug ist eine ständige Abfolge solcher wechselnder Kurven, eine Slalomfahrt. Es ist nicht möglich, mit einem derartigen Fahrzeug auf einer geraden Linie zu fahren.

Mit beginnender Fahrt bis zu ca. 20 km/h befindet sich ein Motorrad in der instabilen Phase. Bei zunehmender Geschwindigkeit werden die Kurvenausschläge immer geringer. Bis zu ca. 40 km/h spricht man von der teilstabilen Phase. Ab ca. 40 km/h beginnt die selbststabile Phase. Die Übergänge zwischen den einzelnen Phasen sind fließend. Je höher die Geschwindigkeit wird, desto größer wird die Stabilität. Ursächlich für die zunehmende Stabilität sind die Kreiselkräfte, die von den rotierenden Rädern erzeugt werden.

Die Kreiselkräfte entstehen dadurch, dass sich die beschleunigte Masse nicht in gerader Richtung weiter bewegen kann, sondern auf eine Kreisbahn gezwungen ist. Um das besser verstehen zu können, stelle Dir das Reifenventil eines Rades vor. Nimm an, Du hättest es ausgebaut in der Hand. Du würdest kräftig ausholen, Deinen Arm schwingen und das Ventil loslassen. Was würde passieren? Das Ventil würde geradeaus wegfliegen. Stelle Dir jetzt vor, das Ventil wäre wieder am Rad montiert und Du würdest es mit der gleichen Kraft beschleunigen. Jetzt könnte es sich nicht mehr in gerader Linie bewegen, sondern wäre auf eine Kreisbahn rund um die Radachse gezwungen.

Einer der sich hieraus ergebenden Effekte ist die Fliehkraft. Sie wirkt radial nach außen, also in der Ebene, in der sich auch das aufrecht stehende Motorrad befindet. Das verleiht uns einerseits Stabilität. Da die Fliehkräfte mit zunehmender Geschwindigkeit immer größer werden, wird unser Balancespielchen mit steigendem Tempo immer einfacher und das Motorrad wird stabil aufrecht gehalten. Andererseits bewirkt es, dass das Lenken erschwert wird.

Ein anderer Effekt ist die Kreiselpräzession. Sie leistet einen weiteren Beitrag zur Fahrstabilität. Sie ist ebenfalls umso wirkungsvoller, je schneller sich der Kreisel dreht, beziehungsweise das Motorrad fährt. Dieser Effekt ist nicht einfach zu erklären. Ich will deshalb nur seine Wirkung beschreiben und ableiten, was das für das Motorradfahren bedeutet:

Eine Kraft, die auf einen rotierenden Kreisel senkrecht zur Drehebene einwirkt, macht sich um 90° in Drehrichtung versetzt bemerkbar.

Schau Dir zur Verdeutlichung die Fotos unten an:

Links siehst Du den Versuchsaufbau: Ein Körner ist mit der Spitze nach oben senkrecht in einen Schraubstock gespannt. Der Deckel eines Torten-Containers wird zentriert auf die Körner-Spitze gesetzt. Mit einer auf den Mittelpunkt des Deckels aufgesetzten Bohrmaschine wird dieser in eine schnelle Rotation gebracht.

Auf dem Foto rechts ist der rotierende Container-Deckel mit einem Uhren-Ziffernblatt und einem Pfeil gekennzeichnet. Der Pfeil zeigt die Rotationsrichtung.

Wenn Du den rotierenden Deckel auf 12 Uhr kurz und kräftig von oben anpustest, neigt er sich bei 3 Uhr nach unten. Wenn Du ihn bei 6 Uhr anpustest, neigt er sich bei 9 Uhr nach unten.

Jetzt lass uns das auf das Vorderrad eines fahrenden Motorrades übersetzen: Wir schauen uns das Rad von rechts an. Die Oberseite des Rades sei 12 Uhr, die Unterseite 6 Uhr, die Vorderseite 3 Uhr und die Seite, die in Richtung Motor schaut, sei 9 Uhr. Die Laufrichtung des Rades wäre also im Uhrzeigersinn. Kippt das Motorrad auf die rechte Seite (im Schaubild die Drehung 1 an der Z-Achse), entspricht das einer Krafteinwirkung nach rechts, die bei 12 Uhr am größten ist. Die Wirkung dieser Kraft setzt um 90° versetzt bei 3 Uhr ein, an der Vorderseite des Vorderrades. Wenn an dieser Stelle eine Kraft nach rechts drückt, dreht sich das Rad in der Lenkachse nach rechts (im Schaubild die Drehung 2 an der Y-Achse).

Kippt das Motorrad auf eine Seite, lenkt das Vorderrad also aufgrund der Kreiselkräfte in dieselbe Richtung ein.

Genau das passiert auch beim Geradeausfahrt-Slalom: Das Motorrad kippt auf eine Seite, das Vorderrad lenkt in dieselbe Richtung und es wird eine kleine Kurve eingeleitet. Dadurch entsteht eine Fliehkraft in Richtung der Kurvenaußenseite, die das Motorrad wieder aufrichtet und es auf die andere Seite kippen lässt. Das Vorderrad dreht sich wieder in Richtung der Kippung und der Vorgang wiederholt sich. Diese Kräfte gleichen sich gegenseitig aus, sodass das System selbststabilisierend ist. Je schneller man fährt, desto größer ist dieser Stabilisierungseffekt.

Schließlich trägt auch der Nachlauf zum Aufrechthalten des Motorrades bei. Als Nachlauf bezeichnet man am Vorderrad die Strecke zwischen Radaufstandspunkt und Lenkachse. Er ist umso größer, je größer der Lenkkopfwinkel ist. Bei einem Lenkausschlag bewirkt der Nachlauf ein Rückstellmoment auf die Lenkung. Je größer der Nachlauf, desto größer das Rückstellmoment.

Je größer das Rückstellmoment, desto stabiler der Geradeauslauf und desto größer die erforderliche Kraft zur Einleitung einer Kurve. Je kleiner der Nachlauf, desto weniger stabil ist der Geradeauslauf und desto agiler ist das Einlenkverhalten.

Wenn Du bis hierher alles verstanden hast, weißt Du schon mehr als die meisten Motorradfahrer. Ich bin zwar aus physikalischer Sicht sehr oberflächlich geblieben, aber wenn ich tiefer eingestiegen wäre, hätte ich mein Versprechen, einfach und verständlich zu bleiben, nicht halten können. Und dieses Buch sollte schließlich kein Physik-Lehrbuch werden.

Aus diesen physikalischen Grundlagen kannst Du auch ableiten, warum ein klassischer Motorroller zwar gut für die Stadt geeignet ist, aber nicht so gut für längere und schnellere Landstraßenfahrten: Ein solcher Roller hat kleine Räder und einen steilen Lenkkopfwinkel. Daraus ergeben sich geringere Fliehkräfte und ein geringeres Rückstellmoment. Beides begünstigt ein leichtes Einlenken. Ein Roller lässt sich deshalb einfach um enge Ecken „werfen“, wie sie häufig in der Stadt vorkommen. Der Nachteil ist eine geringere Stabilität. Man muss erheblich mehr korrigieren, um auf Kurs zu bleiben. Bei höherer Geschwindigkeit haut einem jedes Schlagloch in den Lenker.

Größere Räder erzeugen mehr Fliehkräfte und mehr Stabilität, lassen sich dafür aber schwerer einlenken. Über kleinere Fahrbahnunebenheiten rollen sie einfacher hinweg. Das Fahrverhalten wird mit größeren Rädern also ruhiger.

Moderne Motorräder sind sehr schnell. Geschwindigkeiten von 200 km/h und mehr sind nichts Besonderes. Die Konstrukteure suchten deshalb einen Kompromiss zwischen Stabilität und Lenkbarkeit: Die Räder schneller Maschinen sind kleiner als früher, während die Räder moderner Roller größer geworden sind.

Ein Motorrad bleibt aufrecht, weil

Der Lenkimpuls oder die paradoxe Lenkbewegung

Spätestens jetzt müssen wir uns damit beschäftigen, wie wir dieses stabile Gebilde eines fahrenden Motorrades dazu bringen, um eine Kurve zu fahren. Ab und zu lässt sich das schließlich nicht vermeiden, und Kurven sind das Spannendste am Motorradfahren. Vielleicht hast Du die Stichworte aus der Überschrift schon einmal gehört und wusstest nicht so recht, was es damit auf sich hat.