Rausch & Freiheit

Sönke & Wotan Wilke Möhring

Rausch & Freiheit

Über das Leben, die Nacht und das Brüdersein

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über Wotan Wilke Möhring / Sönke Möhring

Wotan Wilke Möhring, geb. 1967, ist Schauspieler und Musiker. Eine seiner ersten großen Rollen übernahm er im Psychothriller »Das Experiment«. Seitdem ist er aus dem deutschen Kino und Fernsehfilm nicht mehr wegzudenken. Neben etwa den Filmen »Das perfekte Geheimnis«, »25 km/h« und »Männerherzen« spielt er als Kommissar Thorsten Falke im Tatort.

Sönke Möhring, geb. 1972, ist Schauspieler und Hörspielsprecher. Er gab 2003 sein Kinodebüt im Film »Anatomie 2« und hat seitdem in diversen deutschen Fernseh- und Kinoproduktionen mitgewirkt, u. a. in »Der Junge muss an die frische Luft«, »Zweiohrküken« sowie »Koslowski & Haferkamp«. 2009 stand er unter der Regie von Quentin Tarantino in »Inglourious Basterds« vor der Kamera.

Unseren Eltern.

Anker

Dezember 2004, Hamburg. Vor uns der weite schwarze Himmel über der Außenalster, hinter uns das hell erleuchtete weiße Schloss des Hotel Atlantic, wo gerade die Premierenfeier von »Cowgirl« tobte – dem ersten großen Kinofilm, in dem ich eine richtige Rolle spielte. Und das erste Projekt, bei dem ich zusammen mit meinem Bruder Wotan vor der Kamera gestanden hatte. Der saß jetzt neben mir. Auf einer Parkbank in der Kälte und sagte: »Ich hab ein Geschenk für dich.«

»Ein Geschenk?«

Ich war überrascht. Auch ich hatte vor der Premiere noch darüber nachgedacht, Wotan zur Feier unserer gemeinsamen Filmpremiere etwas zu schenken, letztlich aber nicht mehr geschafft, es zu besorgen. Ich musste schmunzeln. In Anbetracht der Tatsache, dass wir in unserer Kindheit und Jugend vergleichsweise wenig miteinander zu tun gehabt hatten, weil sich unsere sechs Jahre Altersunterschied doch bemerkbar machten, war es erstaunlich, wie ähnlich wir uns im Laufe der letzten 15 Jahre in vielen Belangen geworden waren – auch wenn wir noch immer grundverschieden blieben.

Der Dreh zu »Cowgirl« war ein gutes Beispiel für unsere Unterschiedlichkeit. Für mich, einen Neuling im Filmgeschäft, war er ein kleiner Kulturschock: auf der einen Seite die hoch professionelle Maschinerie einer großen Kinoproduktion, auf der anderen hoffnungslos chaotische Schauspielerkollegen, die sich schon vor Drehbeginn volllaufen ließen, Supermarkttüten voller Cannabis übers Set schleppten und sich vor laufender Kamera erst mal einen Joint genehmigten. Auch wenn mir solche Dinge aus dem Privatleben nicht fremd waren, kamen sie in einem solch professionellen Umfeld doch sehr unerwartet. Wotan dagegen, der schon viel mehr Erfahrung mit Filmdrehs hatte, beantwortete mein Befremden nur mit dem trockenen Kommentar: »Mach dir keinen Kopf darüber. Irrenhaus. Achte einfach nicht auf die anderen und konzentriere dich umso mehr auf dein Ding.«

So war es meistens bei uns. Wo ich zweifelte, war Wotan entschlossen, wo ich zögerte, handelte er, wo ich eher emotional reagierte, zeigte er sich praktisch. Aber jetzt saß er hier neben mir, auf dieser Parkbank an der Alster, wohin wir uns von der aus dem Ruder laufenden Premierenfeier geflüchtet hatten, und übergab mir ganz andächtig mein Geschenk: eine kleine Schatzkiste aus Holz, deren Deckel ein goldfarbener Anker zierte.

»Soll dich an die Zeit hier in Hamburg erinnern, an unseren ersten gemeinsamen Dreh«, sagte er und steckte sich eine Zigarette an. »Ein Symbol ist es natürlich auch. Anker, du verstehst schon.«

Klar, ich verstand. Und sagte »Danke«. Etwas Besseres fiel mir in diesem Moment nicht ein.

»Ich find’s toll, dass du das mit der Schauspielerei jetzt auch machst«, sagte Wotan. Und nach einer kurzen Pause: »Bin stolz auf dich. Nicht nur wegen des Films. Wegen allem. War ’ne coole Zeit bis hierher.«

Ich nickte. Und lächelte. Während Wotan an seiner Zigarette zog und den Rauch in die kalte Dezembernacht über der Alster hinauspustete, schien mir für einen kurzen Augenblick alles wieder greifbar: der grenzenlose Freiheitsrausch unserer unvergesslichen Zeit in New York, die rastlose Aufbruchsstimmung unserer Kommunenjahre in Berlin, die Euphorie, die wir im Laufe der Jahre miteinander erlebt hatten, aber auch die stillen Momente, in denen wir uns inzwischen ohne Worte verstanden. Gedankenverloren zeichnete ich mit dem Zeigefinger die Umrisse des Ankers auf der Holzkiste nach, dann nahm ich meinen Bruder fest in den Arm. Er hatte recht. Wir hatten eine coole Zeit hinter uns. Aber auch eine wilde.

Freiheit

Aufwachen

Um ehrlich zu sein: Als ich den Prolog-Text zum ersten Mal gelesen habe, konnte ich mich anfangs nicht dran erinnern, dass ich Zeze (wie Sönke zu diesem Spitznamen – den man wie das »ZZ« von ZZ Top auspricht – gekommen ist, dazu später mehr) diese Anker-Kiste geschenkt habe. Blöd eigentlich, denn das ist ja eine echt schöne Geste. Als ich das nächste Mal mit ihm telefonierte, gab ich zu, dass mir die Geschichte entfallen war. Da sagte er »Fuck you« und klang ein wenig enttäuscht. Meine blöde Direktheit tat mir sofort leid. In solchen Dingen bin ich leider etwas stoffelig, wenn auch ehrlich. Bei unserem nächsten Treffen brachte er die Kiste dann mit. Schönes Teil. Dunkles Holz, goldener Anker obenauf, Klappschloss aus Messing, und auf der Innenseite des Deckels steht in meiner Handschrift »Cowgirl, 2004«. Als ich das sah, fiel mir die Nacht an der Alster natürlich doch wieder ein. Manchmal brauchst du etwas zum Anfassen, um dich an Dinge zu erinnern. Überhaupt ist es interessant, wie unterschiedlich und individuell Erinnerungen funktionieren. Aber das ist hier nicht der Punkt. Hier geht es darum, dass der Anker das perfekte Symbol für das Verhältnis zwischen meinem Bruder und mir ist. Zeze mag sich an andere Dinge erinnern als ich, wir haben unsere eigenen Leben und eigenen Herausforderungen, aber letztendlich sind wir immer füreinander da, halten den anderen fest, wenn er abtreibt, lassen aber auch los, wenn er Freiraum braucht. Das ist unser Prinzip. Darum geht’s. Wie bei einem Anker.

Bei Drehbüchern heißt es immer: Du musst die Geschichte in möglichst ein bis zwei Sätzen zusammenfassen können. Ich versuch das mal für dieses Buch: Es ist ein Brüderbuch – die Geschichte zweier ungleicher Brüder, die, jeder auf seine Art, ihre eigenen Grenzen ausloten und dabei den Wert des anderen erkennen – der weit über ein gewöhnliches Brüderverhältnis hinausgeht. So in der Art. Oder vielleicht auch ganz anders.

Etwas unkomplizierter könnte ich auch sagen: Es geht um Liebe. Nicht um besitzergreifende oder zielgerichtete Liebe im romantischen Sinne des Wortes, sondern um eine archaische, universelle Form menschlicher Verbundenheit, bei der Status und Alter keine Rolle spielen. Damit meine ich auch nicht den dahergesagten Blut-ist-dicker-als-Wasser-Quatsch, auch wenn da durchaus etwas dran sein kann. Es ist auch kein Brüderbuch im Sinne eines Männerbuchs, das feiert, was wir gemeinhin als maskuline Werte verstehen. Eher geht es darum, all diese Schubladen zu ignorieren, zu hinterfragen oder sie einfach gar nicht erst zu öffnen. Und es geht um die Offenheit, die daraus erwächst. Um das, was danach kommt. Was dann wiederum sehr viel mit dem Titel des Buches zu tun hat: Rausch und Freiheit sind begrifflich mindestens genauso vielschichtig wie die Liebe. Es sind die Worte, in denen sich diese Liebe offenbart.

 

Manchmal brauchst du ein Gegenüber, um Dinge richtig zu begreifen. Das kann eben auch der jüngere Bruder sein. Begonnen hat der Weg zu dieser Erkenntnis erstaunlicherweise nicht in unserer Kindheit, nicht in unserem Elternhaus in Herne, wo wir aufgewachsen sind. Er begann 6000 Kilometer davon entfernt. In New York. Deshalb spielt diese Stadt in diesem Buch eine wichtige Rolle – ein Ort, der mehr für uns ist als eine geografische Koordinate oder berühmte Metropole. New York ist ein Gefühl, eine Haltung, vielleicht ein Rausch an sich. Und ein Teil von uns beiden. Für immer.

Als ich 1986 zum ersten Mal nach New York kam, war ich 19, Punk und brannte innerlich lichterloh. Ich hatte die letzten Jahre meines Lebens damit verbracht, in Proberäumen rumzubrüllen, in Clubs Pogo zu tanzen und leidenschaftlich dagegen zu sein. Der stinkende, stickige, lärmende Moloch, der diese Stadt damals noch war, passte perfekt zu dieser Haltung. New York schien nur auf mich gewartet zu haben. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich auch nur eine Sekunde überfordert gewesen wäre von dem unablässigen Gehupe, Gedränge und Sirenengeheul, das mich, den Jungen aus dem Ruhrgebiet, bei meiner Ankunft empfing. Eher war das Getöse ein Spiegel meines Innern, das Chaos, das ich seit Jahren sowieso lebte und suchte.

Damals dachte ich noch, dass diese Unruhe mein ureigenes Ding war und es nichts mit meiner Herkunft und Familie zu tun hatte. Das stimmte natürlich nicht. Familie trägt man immer auf irgendeine Weise mit sich herum, ob man will oder nicht. Doch meine kam mir zum damaligen Zeitpunkt sehr weit weg vor. Das fand ich gut so. Ich wäre in diesem Augenblick nie auf die Idee gekommen, sie auch nur gedanklich über den Atlantik zu holen. Fünf Jahre später begegnete ich ihr trotzdem inmitten des New Yorker Molochs. In Gestalt meines Bruders Sönke.

In der Kindheit und Schulzeit hatte ich ein Verhältnis zu Sönke gehabt, wie man es eben mit einem fast sechs Jahre Jüngeren hat. Die Gemeinsamkeiten lagen so weit auseinander wie unsere Entwicklung und Interessen. Aber in New York wandelte er sich von meinem kleinen Bruder, der noch nach unserer Schwester geboren worden war, zu dem einzigartigen Menschen, der er heute für mich ist. Das klingt jetzt wahrscheinlich geheimnisvoller, als es war, aber eine gewisse Magie steckte tatsächlich drin, jene Magie, von der auch dieses Buch handelt. Doch ich fange lieber mal ganz von vorne an.

Es gibt viele Menschen, die haben gerne eine Anleitung fürs Leben. Die ziehen Befriedigung daraus, in einem eher überschaubaren vorgegebenen Rahmen ihren Aufgaben gerecht zu werden, und haben keine Lust, alles selbst zu entdecken und zu entscheiden. Vielleicht sind solche Menschen sogar in der Mehrzahl und am Ende glücklicher, trotzdem gehörte ich nie dazu. Laut meiner Mutter war das erste Wort, das ich als Kleinkind sprechen konnte, »Selva«. Nicht »Mama«, nicht »Papa«, sondern »Selva«. Damit meinte ich wohl »selber«, was meine Eltern als Sinnbild dafür empfanden, dass ich schon als Kind immer alles selbst machen wollte. Soweit ich mich erinnere, bin ich mir darin treu geblieben.

Nach meiner Geburt in Augustdorf bei Detmold und einer Zwischenstation in Unna, wo ich in den Kindergarten und später die Schule kam und wo Sönke geboren wurde, zogen wir nach Herne, in ein etwas abgelegenes altes Fachwerkhaus, das erst als Bauernhof und dann als Gutshaus gedient hatte, und jetzt ein Wohnhaus war. Da war viel Platz, rundherum Freiheit, keine Nachbarn – ein Glückslos und endlich ein eigenes Zimmer. Ich war beim Umzug schon zwölf, trotzdem liegt dort meine gefühlte Heimat, oder zumindest der Ort, den ich angebe, wenn ich gefragt werde, wo ich herkomme. Das hatte mit dem Haus zu tun, in das wir zogen. Wenn du vor die Tür tratst, warst du direkt im Wald. Nah dran an den Elementen, dem Wetter, den Jahreszeiten, dem Kreislauf des Lebens. Das hat mich geprägt. Für immer. Ich hatte früh den Ort gefunden, der meinem tiefsten Innern am meisten entsprach. Das habe ich stets als Privileg empfunden und bin meinen Eltern unendlich dankbar, dass sie es gewagt haben, mit vier Kindern die drohende Spießigkeit des Reihenhauses, das damals der Arbeitgeber meines Vaters zur Verfügung gestellt hatte, zu verlassen und in die Natur zu ziehen.

Als Jugendlicher ging ich im Sommer viel mit einem unserer großen Hunde, einem Irischen Wolfshund, in den Wald, legte mich auf die Wiese oben am Feld, den Kopf auf dem Hund abgestützt, und las stundenlang. Lauter Bücher, die man in dem Alter halt so verschlingt: »Narziss und Goldmund«, »Die große Flatter«, »Der Fänger im Roggen« und andere Young-Adult-Klassiker. Wenn ich einmal angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören zu lesen. Dann war ich nicht mehr auf der Wiese, dann war ich unterwegs. Ein gutes Buch ist wie eine Reise. Nicht nur in die Welt der Romane, auch ins eigene Innere. Hatte ich die Geschichte ausgelesen, war das wie ein Aufwachen in einem anderen Leben. Ich kam zu mir, legte das Buch weg und merkte auf einmal, dass die Sonne weitergewandert und die Luft kühler geworden war, das Licht sich verändert hatte und ich das alles gar nicht selbst erlebt hatte. Dann ging ich durch den aufziehenden Abendnebel mit dem Hund zurück nach Hause und dachte darüber nach, was alles möglich war im Leben. Und wie weit die Welt war. Obwohl ich ein gutes, liebevolles, traumhaft mitten im Wald gelegenes Elternhaus hatte, ahnte ich, dass mir das nicht reichen würde. Ich musste diese große Welt sehen.

In der Schule lernte ich einerseits, was uns gemäß Lehrplan beigebracht wurde. Aber auch dort wurde ich immer ermutigt, meine eigene Sicht der Dinge zu entwickeln. Mich trieb schon damals ein eher impulsiver Wissensdrang an. Aus jeder Antwort auf das Warum ergaben sich weitere Fragen. Ich lernte gerne, schnell und bekam selten genug. Was kommt danach? Und danach? Und so weiter … Dass ich keine schulischen Probleme hatte, hieß also nicht, dass ich mich in der Schule gelangweilt hätte. Wenn ich etwas nicht verstand, fragte ich die Lehrer.

Meinen eigenen Kindern sage ich heute immer: »Frag so lange, bis du es verstehst.« Manchmal antworten sie mir dann, dass sie lieber den Mund halten, als sich mit einer peinlichen Frage lächerlich zu machen. Ich versuche trotzdem, sie zum Fragen zu ermutigen, denn ich habe nie verstanden, warum das peinlich sein soll. Das sind höchstens die Antworten. Mir ist aber auch klar, dass ich mit meinen Lehrern und Eltern Glück hatte. Sie ergänzten sich gut. Vielleicht, gerade weil sie auf den ersten Blick nicht zueinanderpassten. Es war eine eher ungewöhnliche Konstellation, dass ausgerechnet wir, die Kinder einer Hausfrau und eines ehemaligen Berufssoldaten, alle vier auf die Hiberniaschule gingen, eine Waldorfschule. Bei uns zu Hause waren weder Fernsehen noch Spielzeugrevolver tabu, aber in der Schule wurden wir ganz im Geiste der Anthroposophie unterrichtet.

Die Idee der Waldorfschule kam von meiner Mutter. Sie schätzte die freiheitlichen Aspekte der anthroposophischen Lehre, bei der es eben nicht nur um die Entwicklung des Denkens ging, sondern darum, jeden Einzelnen in seiner Gesamtheit zu fördern. Der Mensch ist mehr als nur sein Kopf. Sie hatte in der Küche sogar ein ausgerissenes Rudolf-Steiner-Zitat an die Wand gepinnt. Es lautete: »Leben in der Liebe zum Handeln und leben lassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime des freien Menschen.« Mit anderen Worten: Freiheit ist auch immer die Anerkenntnis der Freiheit anderer. Daran orientierte sich wohl auch mein Vater. Jedenfalls war er aufgeschlossen genug, die anthroposophische Pädagogik zu akzeptieren und die Entscheidung, seine Kinder auf die Waldorfschule zu schicken, mitzutragen. Im Hinblick auf seine eigene Kindheit und Schulzeit und seine sonst sehr konservativen Ansichten war das nicht unbedingt selbstverständlich. Eine mutige Entscheidung.

Diese Freiheitsgedanken machte ich mit 17 zum Treibstoff meiner ganz persönlichen Rebellion. Über einen Freund aus der Schule lernte ich die Punk-Band Störaktion kennen. Die hatte einen Probenraum im Keller unter einer Kirche, weil eins der Mitglieder der Sohn des Pfarrers war. Dort gingen mein Freund und ich jetzt regelmäßig hin. Zum Abhängen, Rumbrüllen und Pogen, für den ersten Bierrausch und die ersten Zigaretten. In der Punkmusik erkannte ich jene Wildheit wieder, die für mich schon immer wesentlich gewesen war. Endlich ein Ventil für die Mischung aus Krach, Aufruhr und Leidenschaft in mir. Das hatte nichts mit den Gammel-, Siff- und Bettel-Punks aus der Fußgängerzone zu tun, die ich nie so richtig verstanden habe. Ein System zu verachten und gleichzeitig um dessen Brotkrumen zu betteln, fand ich absurd. Aber die Gesellschaft und sich selbst immer wieder aktiv infrage zu stellen und das auch jedem zu zeigen, trieb mich um. Warum sind wir, wie wir sind? Warum ist die Gesellschaft so, wie sie ist? Warum soll man bestimmte Wege gehen und andere nicht? Nachdem ich mich mit den Bandmitgliedern angefreundet hatte, brüllte ich irgendwann auch bei ein paar Songs ins Mikro und fuhr mit Störaktion zu Konzerten bis nach Holland, Italien und natürlich zu all den Orten im Pott. Ernsthafte musikalisch-künstlerische Ambitionen hatten wir dabei allerdings nicht wirklich. Es ging nur darum, sich voll und ganz in dieser Energie aufzulösen und gleichzeitig wiederzufinden.

Meinen Eltern bereitete mein Feldzug gegen die Gesellschaft dann doch irgendwann Kummer. Über meine blauen Haare, zerrissenen Klamotten und programmatischen Provokationen sahen sie hinweg, verstanden sie anfangs als Abnabelungsprozess. Doch als meine Mutter zur Krisensitzung in die Schule beordert wurde, in der sie auch noch im Büro gearbeitet hat und überall sehr geschätzt wurde, weil ihr Zweitgeborener wegen Prügeleien, geknackter Autos und Hehlerei in der Schule aufgefallen war, war selbst ihr Gleichmut erschöpft. Sie sorgte sich sehr in dieser Zeit, was mir rückblickend sehr leidtut. Zur Strafe wurde ich sogar mal eine Woche vom Unterricht zwangsbeurlaubt. Auf einer Waldorfschule! Das musst du erst mal hinkriegen. Es gab allerdings immer ein paar Lehrer, die mich nicht aufgaben und meiner Mutter gut zuredeten. Sie ahnten, dass ich einfach zu viel Energie hatte, die irgendwie rausmusste, weil sie sonst nicht genutzt wurde, und appellierten geschickt an mein Gewissen. Trotz allem vertrauten mir mein Vater und meine Mutter irgendwie, und ich wusste stets, dass ich mit allem zu ihnen kommen konnte. Nachdem ich mich eine Weile abreagiert hatte, wirkte diese Haltung positiv auf mich. Verbiegen ließ ich mich trotzdem nie. Das war auch von meinen Eltern gewollt.

Am Ende erkannte ich, dass mein Weg nicht dahin führte, wo ich hinwollte, und ich meinen eigenen Grundsätzen von Solidarität, Gleichheit und Respekt zuwiderhandelte. Denn für mich ging es beim Punk auch darum, Dinge besser zu machen. Aber wie? Während ich über diese Frage nachdachte, beschäftigte ich mich viel mit Anarchismus, den philosophischen Grundlagen der Herrschaftsfreiheit. Überhaupt faszinierte mich Philosophie von da an, ich stellte mir die ganz großen Fragen: Was ist Sinn? Was Wahrheit? Was ist wirklich richtig? Entscheidet letztlich nur der Standpunkt über den Blick auf die Dinge? Hat wirklich alles zwei Seiten? So waren wir Punks zum Beispiel aus Prinzip gegen Polizisten, aber nachdem wir natürlich ein paarmal mit welchen zu tun gehabt hatten, musste zumindest ich mir eingestehen, dass es auch bei denen welche gab, die okay waren. Umgekehrt fiel mir auf, dass in der Punkszene ein paar Gestalten rumliefen, die irgendwann ihren eigenen Leuten Kleidungs- und Sprachvorgaben machen oder den Kontakt zu den aus ihrer Sicht falschen Personen unterbinden wollten. So etwas erschien mir als das genaue Gegenteil meiner Weltverbesserungs- und Freiheitsgedanken. Was sollte das? Waren wir doch nicht besser, sondern standen einfach nur auf der anderen Seite?

Das Ergebnis meiner inneren Diskussion solcher Fragen war eine schlichte Erkenntnis, die mir bis heute hilft: Es geht nicht darum, was ein Mensch für einen Beruf hat, ob er bei der Polizei, in einer Bank, der Politik oder am Fließband arbeitet, wo er herkommt, geboren ist, wie er sich kleidet oder woran er glaubt. Es geht einzig und allein darum, ob er ein Arschloch ist oder nicht. Nur weil du Soziologie studierst, bist du noch lange kein guter Mensch, und wenn ich mich zwischen einem reaktionären Soziologen und einem liberalen Polizisten entscheiden müsste, würde ich mich jetzt wahrscheinlich für den Polizisten entscheiden. Genau das habe ich inzwischen ja irgendwie sogar getan mit der Rolle des Hauptkommissars Thorsten Falke im »Tatort« – bei dessen Entwicklung als Figur ich tatsächlich prägende Momente meiner Punk-Zeit habe einfließen lassen.

Bevor das jetzt aber missverständlich rüberkommt: Ich bin von meinen Punk-Idealen im Grunde nie abgerückt. Einige frühere Bekannte wurden später totale Spießer und sagten, Punk sei für sie nur eine Phase gewesen. Das habe ich nie verstanden. Für mich ist Punk eine Haltung, hinter der ich bis heute stehe. Zwar habe ich nicht mehr das Gefühl, sie durch dauernde Provokationen unterstreichen zu müssen, aber Nonkonformismus, Anarchismus und das ständige Hinterfragen von gegebenen Strukturen sind für mich immer noch relevant. Und dieses unvergleichliche Gefühl, mich der Energie von Punkmusik hinzugeben und mit ihr verglühen zu wollen, werde ich sowieso bis ans Ende meiner Tage in mir tragen. Die werden sie alle bei meiner Beerdigung ertragen müssen. Wer einmal brennt, brennt immer.

 

Und dann kam Amerika. An der Hiberniaschule gab es die Besonderheit, dass die Schüler nach der Mittleren Reife eine zweijährige Lehre machten, und erst danach in zwei weiteren Schuljahren das Abitur. Insgesamt gab es also vierzehn Schuljahre. Bei der Lehre, die mit einem Gesellenbrief endete, konnten wir aus fünf verschiedenen Berufen wählen: Schlosser, Tischler, Elektriker, Schneider, Kinderpfleger. Ich entschied mich für Elektriker. Das kannst du immer gebrauchen, dachte ich. Stimmt auch.

Die Voraussetzung, um an unserer Schule zum Abitur zugelassen zu werden, war neben der Mittleren Reife und eben dieser abgeschlossenen Lehre, dass wir ein Praktikum in einer sozialen Einrichtung machen mussten. Eine Liste empfahl uns verschiedene Stellen, die meisten lagen in der Umgebung – Marienkrankenhaus Gelsenkirchen, Altenpflegeheim Castrop-Rauxel, Lebenshilfe Recklinghausen und so weiter. Aber es standen dort auch ein paar Einsatzorte im Ausland. Einer davon war Camphill Village, eine Art anthroposophisches Selbstversorgerdorf, wo Co-Worker und Menschen mit sogenannten Einschränkungen zusammen in Familien lebten und arbeiteten. Das Village lag in Copake, einer Kleinstadt am Fuße der Catskill Mountains, Columbia County, im Bundesstaat New York. Dort wollte ich mein Praktikum machen. Und zwar nur dort! Das tat ich.

Von den Ereignissen und Erfahrungen dieser Reise im Sommer 1986 zu erzählen, würde zu weit vom Thema dieses Buches wegführen – der besonderen Zeit dieser zwei Brüder, die noch fünf Jahre entfernt lag. Trotzdem stellte meine erste Amerikareise die Weichen für Zezes und meine Begegnung in New York. Ohne dass ich es damals auch nur im Geringsten geahnt hätte.