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Christine Schirrmacher

Islamismus

Wenn Religion zur Politik wird

Christine Schirrmacher

Islamismus

Wenn Religion zur Politik wird

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Bestell-Nr. 395.259

ISBN 978-3-7751-7022-2 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-5259-4 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:

Fischer, Knoblauch & Co. Medienproduktionsgesellschaft mbH, 80801 München

SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de

E-Mail: info@scm-haenssler.de

Umschlaggestaltung: Jens Vogelsang, Aachen

Titelbild: fotolia.com

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in Germany

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:

Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer

Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Kurz und bündig

Geht es Ihnen nicht auch so? Über manch einen Themenbereich würde man gerne als Normalbürger Bescheid wissen (oder muss es vielleicht sogar). Doch was die Fachleute schreiben, ist im Normalfall zu kompliziert und zu umfangreich. Wer hat schon Zeit, sich in jedes Thema wochenlang einzuarbeiten!? Hier wollen wir Hilfestellung leisten. In Hänssler kurz und bündig geben Fachleute, die sich mit einem Thema schon seit Jahren intensiv beschäftigen, kurz und verständlich einen Überblick über das, was man wissen muss, wenn man Bescheid wissen will und mitreden können möchte.

Dabei enthält jeder Band der Reihe Hänssler kurz und bündig die folgenden Elemente:

•  Fakten und Basisinformationen

•  die Diskussion kontroverser Fragen

•  praktische Hilfen und Hinweise zum Weiterarbeiten

All das ist so angelegt, dass der Leser sich in zwei bis drei Stunden (also etwa statt des Abendkrimis oder auf einer Zugfahrt) ein Thema in seinen Grundlagen aneignen kann. Die Anwendung im Leben oder das anschließende Gespräch mit anderen wird dann aber sicher etwas länger dauern …

Ich würde mir wünschen, dass dieser kleine Band Ihren Horizont erweitern kann und die Informationen liefert, die Sie suchen.

Thomas Schirrmacher

Vorwort des Herausgebers

Der Islam ist heute unübersehbar eine der größten Herausforderungen für Kirche, Gesellschaft und Politik. Für Gesellschaft und Politik deshalb, weil der Islam nicht nur als Religion existiert, sondern auch zahlreiche Regeln für das Zusammenleben in der Gesellschaft kennt, ja nach Meinung vieler Muslime – längst nicht aller! – auch Leitlinien für eine islamisch begründete Politik liefert. Diese Richtung des Islam – der Islamismus – möchte das Vorbild Muhammads heute in allen Bereichen umfassend durchgesetzt sehen. Islamisten glauben, dass die islamisch geprägten Länder endlich eine Führungsrolle in der Welt einnehmen würden, wenn sie denn den Islam »ganzheitlich« umsetzen würden. Dazu gehört dann auch die ganze Befolgung der Scharia, des islamischen Gesetzes im Ehe- und Familienrecht sowie im Strafrecht mit seinen drakonischen Körperstrafen – darüber berichtete der letzte Band der Autorin in kurz und bündig ›Die Scharia‹.

Dabei hat der Islamismus – im Gegensatz zum Extremismus oder Terrorismus – zunächst einmal nicht unbedingt etwas mit Gewalt zu tun. Im Gegenteil, der größte Teil der islamistischen Bewegung hat sich heute längst von der offensiven Gewaltausübung abgewandt und versucht stattdessen, gewaltlos politischen und gesellschaftlichen Einfluss zu gewinnen. Die Vertreter des Islamismus sind gut geschulte Politstrategen, die in Anzug und Krawatte entschlossene Lobbyarbeit zur Forderung der Durchsetzung einer islamischen Gesellschaft machen, und dies über den organisierten Islam und seine Verbände auch in Europa.

Die Autorin gibt einen differenzierten Überblick über Entstehungsgeschichte, Weltverständnis und Ziele dieser globalen Bewegung, die im Wesentlichen erst im 20. Jahrhundert entstand. Der Leser erhält darüber hinaus einen aufschlussreichen Einblick in die Bewegung der Muslimbruderschaft, der ersten institutionalisierten Form des Islamismus. Sie ist heute die weltweit am stärksten vernetzte und erfolgreichste Bewegung, die auch in Deutschland fest verwurzelt ist.

Gerade wer differenzieren will und wer nicht alle Muslime in einen Topf werfen möchte, ja schon gar nicht seinen muslimischen Nachbarn für Dinge in Haft nehmen will, die dieser gar nicht befürwortet, tut gut daran, sich zu informieren, was der Islamismus im Gegensatz zum Islam allgemein vertritt.

Thomas Schirrmacher

Einleitung

Was versteht man unter Islamismus, dem politischen Islam? Müssen Islam und Islamismus unterschieden werden oder ist beides deckungsgleich? Ist der Islam nicht von seiner Entstehung und seinen Grundsätzen her eigentlich eine politische Religion, sodass eine Abgrenzung von Islam und Islamismus künstlich erscheinen muss? Gibt es überhaupt Muslime, die ihre Religion von der Politik trennen und ihren Glauben in unpolitischer Form praktizieren?

Tatsächlich ist unbestritten, dass der Gründer und Stifter des Islam, Muhammad, etwa ab dem Jahr 610 n. Chr. mit dem Anspruch auftrat, Gesandter Gottes zu sein, spätestens jedoch mit seiner Übersiedlung nach Medina 622 n. Chr. auch der Gesetzgeber seiner ersten Gemeinde sowie Heerführer wurde. Der Koran – und noch stärker die etwa bis zum 10. Jahrhundert schriftlich niedergelegte islamische Überlieferung (arab. hadith)1 – enthalten nicht nur Vorschriften zur Religionsausübung oder Ethik, sondern auch zahlreiche gesellschaftliche Regelungen sowie die an Muhammads Anhänger gerichteten Anweisungen zum Kampf gegen die Feinde der ersten islamischen Gemeinde.

Mit dem Tod Muhammads, der für sich und seine Anhängerschaft Verteidigung wie Angriffskriege als legitime, ja von Gott verordnete Mittel zur Durchsetzung seines Führungsanspruchs betrachtete, endet der Koran. Um den Koran von jeglicher Befürwortung von Krieg und Politik im Namen des Glaubens grundsätzlich freisprechen zu können, fehlt dem Koran sozusagen ein »Neues Testament«, in dem politische Handlungsanweisungen aus Muhammads Lebenszeit entpolitisiert worden wären, ähnlich der Aufrufe Jesu zur Trennung des geistlichen und weltlichen Bereichs (vgl. Matthäus 22,21) oder der Mahnung des Paulus, das Gewaltmonopol dem Staat allein zu überlassen (Römer 13,1). Diese Lücke einer möglichen unpolitischen Interpretation des Korans, die er selbst zurücklässt, schloss auch nicht die klassisch-islamische Theologie in den ersten Jahrhunderten, zumal sich die weitgespannten islamischen Eroberungen unter den Nachfolgern Muhammads, den Kalifen, fortsetzten. Ja, bis heute hat die islamische Gelehrsamkeit an etablierten theologischen Institutionen und Universitäten noch keinen anerkannten Reformansatz zur generell unpolitischen Interpretation der »Schwertverse« des Korans gefunden. Wohl gibt es die progressiv, modernistisch oder liberal denkenden muslimischen Intellektuellen, die Vorkämpfer für Freiheit und Menschenrechte, für Aufklärung und Frauenrechte, die ernsthaften Befürworter einer Trennung von Staat und Religion, die sich entschieden gegen die Vereinnahmung des Islams durch die Politik aussprechen und eine unpolitische Neubewertung der Quellen fordern. Allerdings werden ihre unorthodoxen Auffassungen vom religiösen und politischen Establishment noch immer an den Rand ihrer Gesellschaften gedrängt, sodass ihre Positionen den offiziellen Diskurs wenig beeinflussen. Prinzipiell unpolitisch sind darüber hinaus auch die zahlreichen mystischen Bewegungen, deren Anhänger ihren Glauben durch eine nach innen gewandte Gottsuche und Versenkung in meditative Anbetungsformen praktizieren, aber auch sie sind nicht diejenigen, die einen Wechsel des theologischen Kurses an Universitäten und Moscheen einleiten könnten.

Es gibt sie zwar, die Advokaten eines unpolitischen Islam, die Befürworter einer Trennung von politischer und religiöser Sphäre, Theologen und Intellektuelle, die sich für eine Trennung des Islam als Religion von der politischen Botschaft der Herrschaft und des Jihad in der Moderne aussprechen. Und es gibt viel mehr Muslime – oder allgemeiner: Menschen aus islamisch geprägten Ländern und Familien – die den Islam mehr oder weniger intensiv praktizieren, aber ihn als spirituelle bzw. ethische Botschaft auffassen. Dies können außer den genannten Mystikern (Sufis) auch traditionalistische oder sogar orthodox gläubige Muslime sein, die dennoch nicht für eine Vermischung von Politik und Religion eintreten. Wer also behauptet, es gäbe ohnehin nur »einen Islam« – seinen politischen Zweig, den Islamismus bzw. den gewaltbereiten Jihadismus – und Muslime, die sich nicht dazu bekannten, führten ihre Gesprächspartner bewusst in die Irre – der hat sich selbst der einseitig politischen Sichtweise des Islamismus angeschlossen, der gleichermaßen vertritt, dass es nur einen einzigen »wahren« Islam gibt.

Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, dass das 20. und 21. Jahrhundert eine nie gesehene Expansion und Machtdemonstration des politischen Islam erlebt haben, der die Deutungshoheit über die muslimische Gemeinschaft weltweit beansprucht. Zum politischen Islam gehören all diejenigen Bewegungen, die den Islam als Einheit von Glaube, Politik und Gesellschaftsordnung betrachten und dieses allumfassende System mit Gewalt oder durch Teilhabe an politischer Machtausübung durchsetzen möchten. Der politische Islam reklamiert nicht, eine unter mehreren möglichen Deutungen der koranischen Texte zu vertreten, sondern die einzig zulässige Interpretation der Texte zu verkünden, ja, den einzig wahren Islam zu propagieren. Dass es beim Islamismus in seinem Kern um Politik mit religiöser Begründung geht, macht ihn gefährlich, denn »gerade das gewaltlose politische Handeln wird in seiner Bedeutung und in seinen Wirkungen in Europa, und besonders auch in Deutschland, sträflich vernachlässigt.«2

Im Gegensatz zum Islamismus, der gerade im letzten Jahrzehnt teilweise der Gewalt in öffentlichen Bekenntnissen nachdrücklich abgeschworen hat, spricht sich der Extremismus oder Jihadismus eindeutig für die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung dieses ganzheitlichen Islam und zur Aufrichtung eines Kalifats aus. Aus den Koran- und Überlieferungstexten erkennt der Jihadismus unmittelbare Rechtfertigungen für den bewaffneten Kampf heute, für den »Einsatz für die Sache Gottes«, den Jihad mit Waffengewalt.

I.  Was versteht man unter Islamismus?

a) Nicht unbedingt Gewaltausübung …

Gewalt stand nicht am Beginn der Bewegung des Islamismus und Gewaltausübung ist nicht sein vorrangiges Ziel. Die Ideologie des Islamismus ist nicht explizit auf Gewaltaufrufe oder die Rechtfertigung von Gewalt ausgerichtet. Auf der anderen Seite erteilt der Islamismus etwaiger Gewaltausübung – insbesondere mit der Rechtfertigung der »Verteidigung« des Islam gegen seine Feinde bzw. im Dienste der Aufrichtung der islamischen Ordnung in einer Gesellschaft – aber auch keine generelle Absage und wendet sich selten gegen diejenigen in Wort oder Tat, die Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele einsetzen. Mehr noch: Mit der Berufung auf das Vorbild Muhammads und dessen Nachahmung in religiöser, gesellschaftlicher und politischer Hinsicht bereitet der Islamismus der Gewaltausübung ideologisch den Boden, da diese ganzheitliche Nachahmung auch die koranischen Berichte über die Kriegszüge Muhammads gegen seine Feinde mit einschließt. Da das Anliegen des Islamismus ein sehr grundsätzliches ist, sollte man nicht vorschnell urteilen, dass eine Bewegung, deren vorrangiges Anliegen Strategie und Politik und nicht die Gewaltausübung ist, daher weniger gefährlich sei.

b) Nicht unbedingt eine besonders »strenggläubige« Form des Islam …

Irreführend wäre auch die Annahme, dass der Begriff des Islamismus eine theologische Kategorie meint, also den Bereichdes Islam, der durch konservative oder traditionelle Auffassungen gekennzeichnet ist. Weder werden – ganz allgemein gesprochen – zwischen Tunis und Jakarta von den Predigtkanzeln der Moscheen und den Kathedern der Universitäten liberale Auffassungen im eigentlichen Sinn gelehrt, von denen sich Islamisten nun mit einer Betonung der zeitlosen Gültigkeit des Korans abgrenzen würden, noch halten Islamisten intensiver am Islam als Religion fest als andere Muslime. Zwar gibt es nach islamistischer Auffassung nur eine einzige »richtige« Islaminterpretation – ihre eigene – und daher sind sie in der Vergangenheit auch häufiger als »Fundamentalisten« bezeichnet worden. Dieser Begriff ist jedoch mindestens unscharf, ja im Grunde unzutreffend, da es, wie gesagt, beim Islamismus nicht um eine theologische Standortbestimmung geht, sondern um eine ideologische Begründung des Islam als Religion, Gesellschaftsordnung und Politik.

Zudem sind die Führungspersönlichkeiten islamistischer Bewegungen kaum je Theologen gewesen, im Gegenteil: ein großer Anteil sind theologische Laien (häufig Angehörige naturwissenschaftlicher Berufe sowie Lehrer, Journalisten und Publizisten) oder aber Autodidakten auf dem Gebiet der Theologie. So war bereits Hassan al-Banna’, der Gründer der ersten und bedeutsamsten islamistischen Bewegung, der Muslimbruderschaft, Dorfschullehrer ohne besondere theologische Ausbildung. Ungeachtet dieser Tatsache reklamieren Islamisten ebenso wie Jihadisten die Deutungshoheit über den Islam, indem sie definieren, was der »einzig wahre Islam« sei und worin der Unglaube bestehe.

Auf der anderen Seite neigen konservative oder traditionell denkende Muslime keineswegs automatisch oder eher dem Islamismus oder radikalen Ideen zu. Eine intensive Religionspraxis oder traditionelle Frömmigkeit ist kein automatischer Wegbereiter für politisch motivierte Islamauffassungen oder Gewaltausübung; hier müssen weitere Faktoren hinzukommen. Von daher ist es nicht hilfreich, Muslimen, die allein nach den ethischen Regeln des Islam leben, Fundamentalismus oder sogar Extremismus zu unterstellen. Wenn es tatsächlich wahr wäre, dass eine Zugehörigkeit zum Islam automatisch zu Gewaltausübung führen würde, gäbe es auf der Welt nicht nur die Terroristen von al-Qaida und einiger anderer Bewegungen, sondern Hunderte, ja Tausende weiterer Gruppierungen und unsere Welt läge in Trümmern.

c) … aber eine politische Ideologie