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ISBN 978-3-7751-7111-3 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5361-4 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2012
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Umschlaggestaltung: Kathrin Retter, Weil im Schönbuch
Titelbild: shutterstock.com
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg

Prolog

»Mach doch was!«, keuchte Anna. Malcolm schwitzte. Was sollte er denn tun? Ruhig bleiben, er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Er hupte erneut. Doch der Laster, der sich weiter oben auf spiegelglatter Fahrbahn quergestellt hatte, löste sich dadurch nicht in Wohlgefallen auf.

Anna stemmte ihre Beine mit aller Kraft unter das Handschuhfach, um sich auf eine weitere Wehe zu konzentrieren. Schlimmer konnten die Schmerzen nun nicht mehr werden. Doch das hatte sie schon vor einer Stunde gedacht, als sie sich auf den Weg gemacht hatten, und es war mit jeder Wehe schlimmer geworden. Es war ein Fehler gewesen, zur Klinik zu fahren. Sie hätten zu Hause bleiben und eine Hebamme rufen sollen.

Anna wollte Malcolm gerade sagen, dass sie jetzt aussteigen und das Kind direkt hier neben dem Auto auf dem gefrorenen Bürgersteig vor den Augen aller anderen Fahrer gebären würde, als ihr eine neue Wehe den Atem raubte. Die Wehen kamen jetzt regelmäßig in kurzen Abständen. Was in aller Welt sollte sie tun? Sie schob ihren Sitz noch weiter nach hinten, bis zum Anschlag. Aber jetzt hatte sie keinen Widerstand an den Beinen mehr.

Sie heulte fast.

Es war der schlechteste Zeitpunkt, um in dieser Stadt ins Krankenhaus zu fahren. Vor eineinhalb Stunden hatte ein heftiger Eisregen eingesetzt, und die Straßen waren unvermittelt spiegelglatt geworden. Derart glatte Straßen hatte es in Nordengland das letzte Mal vor vierzehn Jahren gegeben. Niemand war auf so etwas vorbereitet. Fast gleichzeitig, um 22 Uhr, war das Fußballspiel gegen Manchester United im St. James' Park zu Ende gewesen. Und ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt war ihre Fruchtblase geplatzt.

Die Barrack Road war wegen einer Baustelle zurzeit nur in Richtung Stadt befahrbar, und so hatte sich die Autoschlange der aufbrechenden Fans in Richtung A 167 über die Great Northern Road in Bewegung gesetzt. Somit schien sich die ganze Welt zusammen mit Anna und Malcolm in der Claremont Road eingefunden zu haben, die jedoch – sie hatten es kaum glauben können – zu allem Überfluss ebenfalls einseitig abgesperrt war. »Warum um alles in der Welt verlegen die an den wichtigsten Straßen gleichzeitig Rohre, und das auch noch während eines Fußballspiels?« Malcolm schrie fast. Und jetzt schrie auch Anna vor Schmerzen.

»Wenn wir nur zurückstoßen könnten bis zur King's Road!«, sagte Malcolm heiser. »Anna, es sind nur noch ein paar Meter bis zur Queen Victoria Road, kannst du nicht zu Fuß gehen?« Als Antwort bäumte sich Anna hoch in ihrem Sitz auf.

»Ich trage dich dorthin!«, sagte er fast flehentlich. Dabei war ihm klar, dass man eine Gebärende nirgends hintragen konnte, auch wenn das Krankenhaus nur einen Katzensprung entfernt lag.

Ohne etwas zu sagen, riss Malcolm die Tür auf und stieg aus. Er holt Hilfe aus dem Krankenhaus, dachte Anna erleichtert. Doch Malcolm schien andere Pläne zu haben. Anna bekam zwischen zwei Wehen gerade noch mit, wie er wild gestikulierend auf den Fahrer des ersten Autos einredete. Er rannte zum nächsten Auto, während der erste Fahrer schon begann, das Auto umständlich vor- und zurückzurangieren. Es würde Zeit brauchen, bis die eng aneinander stehenden Autos eine Gasse gebildet hatten. Zeit, die Anna nicht hatte. Im Rückspiegel sah sie Malcolm von Fahrer zu Fahrer rennen, sein Bestes gebend. Da spürte sie, dass sie pressen musste. Oh Gott, hilf mir. Sie wiederholte den Satz immer wieder, unfähig, irgendetwas anderes zu denken. Während ihr Mann sich immer weiter die Straße hinunter zu entfernen schien, schob sich Anna mit letzter Kraft ihre Hose bis zu den Knien, schrie und presste.

Als Malcolm ihr Auto wieder erreichte, lag das blutige Menschlein zwischen Annas Beinen. Es war ein Junge.

Malcolm riss die Augen auf. Ihm fehlten die Worte.

Das Kind schrie nicht. Lebte es überhaupt? Panik erfasste Anna. »Malcolm, er atmet nicht!« Malcolm starrte nur. »Malcolm, schnell, dein Taschenmesser. Schneid die Nabelschnur durch und renn mit ihm zur Kinderklinik. Schnell!«

Malcolm fingerte hektisch in seiner Jacke herum, fand das Messer und durchschnitt zitternd die Nabelschnur. Ohne wirklich zu begreifen, was er tat, wickelte er das Kind in seine Jacke und rannte los. Er wusste nicht, wie er es schaffte, in Rekordzeit in die Queen Victoria Road einzubiegen, ohne auf dem Eis auszurutschen, aber ehe er wieder klar denken konnte, befand er sich im Eingangsbereich der Kinderklinik.

Anna fühlte sich wie betäubt. Gerade noch hatte sie voll funktioniert, ein Kind alleine auf die Welt gebracht und dann auch noch geistesgegenwärtig Anweisungen gegeben, und jetzt kam ihr alles unwirklich vor. Sie war erschöpft. Sie fühlte nichts. Alles, was sie wusste, war, dass sie nun alleine war. Sie spürte das warme Blut unter ihr und zwischen ihr, sie spürte ihren Herzschlag. Es war vorbei. Diese schrecklichen Schmerzen waren vorbei. Doch, da zog sich wieder etwas in ihr zusammen. Vor heute Abend hätte sie den Schmerz als furchtbar bezeichnet, doch nach dieser Erfahrung war er nicht einmal mehr der Rede wert.

Ihr Kind war weg. Und sie war noch nicht einmal fähig, Angst zu verspüren. Alles schien von ihr gewichen, ihre Kräfte, ihr Verstand, ihre Gefühle. Malcolm würde sich schon um das Baby kümmern. Er war sicherlich schon längst bei den Ärzten. Ihr Kind war in der Kinderklinik in den guten Händen der Ärzte.

Wo um alles in der Welt steckte Dr. Jones nur? Der junge Pfleger ließ das Telefon weiter klingeln. Keine Antwort. Schwester Janet legte das Neugeborene auf den gepolsterten Untersuchungstisch. »Pamela, schalt den Apparat ein!«, rief sie. Sie wischte grob Schmiere und Blut von der Haut des Neugeborenen. Seine Haut schimmerte bläulich. Doch das kleine Herz schlug noch. »Peter, ruf sofort einen der Ärzte«, sagte sie zu dem jungen Pfleger, während sie das Kind in die Fußsohlen kniff, um die Atmung zu stimulieren.

»Hab ich doch schon. Dr. Jones antwortet nicht!«

»Was ist denn mit den anderen?«

»Dr. Morris pumpt gerade dem Selbstmordversuch den Magen aus, und Dr. Higgins wurde auf Station zu einem Notfall gerufen.«

»Dann bring Dr. Jones bei, Himmel noch mal!«, rief Janet.

»Ich habe ihn schon zwei Mal angepiepst! Er antwortet nicht.«

»Dann versuche es weiter!«

Peter hantierte umständlich mit seinem Telefon herum.

»Geh ihn suchen, los, beeil dich!«, sagte Janet.

Die beiden Schwestern schoben einen Schlauch in den Mund des Säuglings. Warum war denn jetzt kein Arzt da! Was konnte denn dieser Dr. Jones im Moment so Wichtiges zu tun haben? Er hatte Dienst, verdammt noch mal!

Es schien zu funktionieren. Das Kind tat einen schnellen Atemzug. Dann stockte die Atmung wieder.

»Komm, atme, atme!«, flüsterte Pamela, die jüngere der beiden. Keine sagte es, doch beide wussten, dass sie ohne einen Arzt, der einen Tubus legte, nicht weiterkamen.

Schwester Janet rieb dem Baby kräftig an der Wirbelsäule entlang.

»Soll ich bebeuteln?«, fragte Pamela nervös, »weiß denn niemand etwas über die Farbe des Fruchtwassers?« Es war riskant, dem Kind mit dem Ambubeutel Sauerstoff in die Lungen zu pumpen, solange sie nicht wussten, ob sich Mekonium in der Lunge befand.

Pamela nahm den Ambubeutel zur Hand.

»Ich rufe jetzt jemanden von der Gyn«, sagte Janet. Sie drückte auf ihrem Telefon herum, um die Nummer aufzurufen. Währenddessen begann Pamela, dem bläulich schimmernden Kind Sauerstoff in die Lungen zu pumpen. Sie sprach dabei ein Gebet und verfluchte Dr. Will Jones.

1

Es grenzte an ein Wunder, um diese Zeit einen Sitzplatz in der Linie 15 zu ergattern. Anna blickte sich kurz um, um sicherzugehen, dass sie den Platz keiner alten Lady streitig machen würde. Doch sie war nur von jüngeren Anzugträgern umgeben, wie man sie hier überall in der City von London antraf. In der Sitzreihe, in der man mit dem Rücken zum Fenster saß, war noch ein Platz frei. Anna quetschte sich auf den freien Platz zwischen die Plastikabtrennung und das übergewichtige Teenagermädchen, über dessen gewaltigem Busen ein Namensschild mit der Aufschrift Rebecca Hurst prangte. Während Anna ihre neue, weichlederne Handtasche auf ihrem Schoß platzierte, streifte ihr Blick über den Ärmel ihres Kostüms. »Das darf doch nicht wahr sein!«, sagte sie leise auf Deutsch. Auf Höhe ihres Handgelenks war der Stoff mehrere Zentimeter eingerissen. Brauner Futterstoff quoll aus dem Riss hervor. Mit ihren Fingern klammerte sie die Stoffteile zusammen, um abzuschätzen, ob man den Ärmel noch einmal nähen konnte. Frustriert ließ sie den Stoff los.

Warum tat Jack ihr das an? Das Kostüm war ihr bestes, ihr einziges Businesskostüm! Sie würde sich nicht so schnell ein weiteres leisten können!

Aber vielleicht benötigte sie sowieso kein weiteres. Es hing alles von der nächsten halben Stunde ab.

Die Sekretärin von Mr Galliani hatte sie tatsächlich angerufen. Nach zwei anstrengenden Vorstellungsgesprächen bei Galliani, Hughes & Derry war sie erneut eine Runde weiter gekommen. Jetzt nicht an Jack denken.

Mit dem Rücken zum Fenster sitzend betrachtete sie auf der anderen Seite die St. Paul's Cathedral; alte und neue Gebäude schaukelten am Fenster vorbei. Und hier begann auch schon die Fleet Street. Noch eine Haltestelle.

Sie versuchte, so würdevoll wie möglich aus dem Bus zu steigen und sich dadurch innerlich auf ihren Auftritt in der Kanzlei einzustimmen, als sie einen Stoß in die Rippen verspürte und, um ihr Gleichgewicht ringend, mit ihrem hochhackigen Schuh in eine Pfütze trat. Dreckwasser verteilte sich auf ihrer Strumpfhose. Die Türen des Busses schlossen sich zischend hinter ihr, und der rote Bus setzte sich in Bewegung. Oh nein, sie hatte ihren Schirm auf ihrem Sitz liegen lassen! Wie ärgerlich. Dabei hatte sie sich die Kordel des Schirms doch extra ums Handgelenk gehängt, damit sie ihn auf keinen Fall liegen lassen würde. Sie musste wohl durch den Riss in ihrem Ärmel abgelenkt gewesen sein. Der Schirm hatte zehn Pfund gekostet. Missgestimmt hob sie ihr Gesicht gen Himmel und stellte fest, dass schon diese Bewegung ein Fehler gewesen war. Ihr Make-up würde bald aussehen wie eines von Keiras Wasserfarbkunstwerken. Der Regen prasselte, und sie hatte noch einige Meter Fußweg vor sich.

Ihr langes, hellbraunes Haar klebte in welligen Strähnen an ihrem Kopf, als sie über den glänzenden Marmorboden der Eingangshalle von Galliani, Hughes & Derry schritt und dabei eine kleine Tropfenspur hinterließ. Sie bemühte sich, kleinere Schritte als gewöhnlich zu machen. Orla zog sie immer wegen ihres federnden Ganges auf, der so gar nicht feminin wirkte und sie normalerweise in ihren tief sitzenden, weit geschnitten Lieblingsjeans wie ein rebellisches Teenagermädchen wirken ließ. Für dieses Gespräch hatte sie sich wie eine erfolgreiche Juristin gekleidet und fühlte sich wie eine Hochstaplerin, die jederzeit anhand ihrer Bewegungen entlarvt werden konnte. Sie strich mit der Hand über ihren zerrissenen Ärmel.

So selbstbewusst wie möglich ging Anna auf die Empfangsdame zu, die hinter dem glänzenden Tresen in der Halle aussah wie eine Außerirdische im Raumschiff im endlosen All. Die Dame musterte sie kurz und nahm dabei das nasse Haar zur Kenntnis, weiterhin professionell lächelnd. Mit geübter Freundlichkeit teilte sie Anna mit, dass Mr Galliani sie mit fünfzehnminütiger Verspätung empfangen würde.

»Kann ich mich irgendwo frisch machen?«, fragte Anna und lächelte angestrengt. Die Dame wies ihr die Richtung zu den Damentoiletten.

Ein blasses Gespenst mit Vampir-Mascara blickte Anna aus dem Spiegel entgegen. Nervös holte sie ein eingepacktes Abschminktuch aus ihrer Handtasche und riss die Verpackung auf. Wie funktionierten diese Dinger? Mit fahrigen Bewegungen faltete sie das Tuch in der Mitte und fuhr sich damit im Gesicht herum. Es machte alles noch schlimmer. Sie faltete das Tuch erneut, sodass wieder eine saubere Fläche entstand, und rubbelte weiter. Unsicher betrachtete sie sich im Spiegel. Sie puderte sich das Gesicht und trug neue Mascara auf. Konnte man es so lassen? War das zu viel des Guten, zu wenig? Sie blickte auf die Uhr und wusch sich schnell die Hände. Dann eilte sie zum Aufzug.

Während Anna auf der Kante von einem der Lederstühle vor Gallianis Büro saß und wartete, hatte sich ihr Herzschlag wie von selbst beschleunigt. Sie schwitzte und fror gleichzeitig. Sicherlich waren ihre Lippen in der Zwischenzeit schon blau angelaufen, sodass sie nicht gerade mit Frische und Ausstrahlungskraft würde punkten können. Und schon gar nicht bei einem Amerikaner italienischer Herkunft. Aber er war ja sowieso ein seltsamer Kauz.

Sie vernahm gedämpfte Schritte, drehte sich um und strahlte Mr Galliani an. Der Seniorpartner der Kanzlei entschuldigte sich für die Verspätung und bat sie in sein Büro. Galliani war ein kleiner, gedrungener Mann Anfang fünfzig mit sichtbar gefärbtem Haar, der ständig lächelte. Es war ein unheimliches Lächeln ohne Lachfältchen, das sein Gesicht verzog wie bei einem alternden amerikanischen Schauspieler, der an den falschen Schönheitschirurgen geraten war. Anna schalt sich dafür, dass sie auf dem Stuhl hin und her rutschte. Mr Galliani hatte sich ihr gegenüber hinter seinem glänzenden Schreibtisch verschanzt, beugte sich nun vor und faltete die Hände. »Mrs Dylan, ich habe Sie hergebeten, um Ihnen zu sagen, dass ich Sie nicht einstellen kann.«

Anna blickte ihn an. Deshalb hatte er sie hierhergebeten? Wofür gab es denn die üblichen Standard-Absagebriefe? »Ich verstehe nicht ganz, Mr Galliani.«

Er lehnte sich selbstzufrieden zurück, sodass das Leder seines Stuhles knarzte. Ein Lächeln flog über sein Gesicht. Diesmal gruben sich tatsächlich Lachfältchen in die Haut um seine Augen. Anna war auf der Hut.

»Mrs Dylan, durch die bisherigen Bewerbungsgespräche habe ich ja einiges über Sie erfahren und … nun, ich will es geradeheraus sagen: Der Grund, warum ich Sie nicht für mich arbeiten lassen kann, ist der, dass ich befürchte, ich könnte mich zu sehr durch Sie von der Arbeit ablenken lassen. Und deshalb will ich als Alternative lieber gleich hier und jetzt um Ihre Hand anhalten.«

Anna starrte ihn eine Sekunde lang an. Tausend Gedanken bestürmten sie. War das ein Test? Musste man eine bestimmte Art von Humor an den Tag legen, um ins Team zu passen? Hatte er nicht mehr alle Tassen im Schrank? War das etwas Kulturelles, das sie nicht verstand? Vielleicht eine amerikanische Redewendung, die etwas ganz anderes bedeutete?

»Nun, Mr Galliani«, sagte sie lächelnd mit ihrem perfekten britischen Akzent, »ich fürchte, ich habe leider keine Zeit, Sie zu heiraten, denn ich werde in nächster Zeit damit beschäftigt sein, meine Klage gegen Sie wegen Diskriminierung attraktiver Frauen auszuarbeiten.«

Sie konnte kaum glauben, dass sie sich selbst gerade als attraktiv bezeichnet hatte.

Er lachte mit einem befremdlichen Glucksen. »Ich gebe Ihnen gleich einen Vertrag zum Unterschreiben, aber ich kann Sie beruhigen, es handelt sich nicht um einen Ehevertrag, sondern um einen Arbeitsvertrag. Wenn Sie möchten, können wir gleich damit beginnen, die Details auszuhandeln.«

»Das heißt, Sie stellen mich ein.«

»Das heißt, ich stelle Sie ein.«

Anna war sich nach alldem nicht mehr sicher, ob sie tatsächlich für Rob Galliani arbeiten wollte. Als er seinen Computer hochfuhr, um den Vertrag zu bearbeiten, durchfuhr sie ein kurzes Schaudern.

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»Spinnst du? Ich wäre ruckzuck rausmarschiert!«

Anna entfernte den Hörer ein paar Zentimeter von ihrem Ohr, doch Orlas Stimme schepperte immer noch viel zu laut aus dem Hörer. »Du willst doch nicht für so einen abgedrehten Kerl arbeiten!«

»Für diesen Job würde ich sogar bei dem Kerl einziehen! Und der Job hat sogar was mit meiner Ausbildung zu tun. Sag mir also nicht, ich soll ihn mir durch die Lappen gehen lassen.«

Orla schwieg einen Moment. »Okay, alles hat seine Vor- und Nachteile«, sagte sie dann.

Anna erwiderte: »Aber du hast schon recht, der Typ hat mindestens eine Schraube locker. Als Amerikaner und Anwalt muss ihm doch klar sein, dass er aufgrund einer solchen Bemerkung wegen sexueller Belästigung verklagt werden kann.« Sie schüttelte halb lächelnd den Kopf, obwohl Orla sie gar nicht sehen konnte.

»Halt ihn dir einfach vom Leib!«, sagte Orla.

»Das werde ich. – Ich muss dort mindestens ein Jahr überleben, dann habe ich wenigstens den Wiedereinstieg in eine juristische Laufbahn in meinem Lebenslauf vorzuweisen. Wobei man das wohl eher Ersteinstieg nennen müsste.« Und das mit 33 Jahren, dachte Anna.

»Anna, du schaffst das. Mach einfach deine Arbeit. Du bist schlau und kompetent.«

»Danke, vielleicht kannst du mir das in der nächsten Zeit noch öfter sagen? Ich fürchte, ich werde es brauchen können.«

»Klar. Jetzt kommt gerade jemand, ich muss Schluss machen, mach's gut!« Orla legte auf.

Anna ging nachdenklich in die enge Küche, einen kleinen, schlauchförmigen Gang, in dem außer einer schmalen Küchenzeile kein Möbelstück Platz fand. Der Schlauch mündete in eine Tür, die auf einen schäbigen Zwei-Quadratmeter-Balkon führte. Die kleinen Balkone waren der einzige Luxus in diesem städtischen Wohnungsbaublock, auch wenn die Betonplatten im Laufe der Jahre schwarz angelaufen waren. Anna blieb vor der halbblinden Glastür stehen und blickte nachdenklich zu den traurigen Backsteinblocks hinüber, die den Wohnblock rechts und links flankierten. Wie ihr Haus waren sie ein Produkt der städtischen Restrukturierungsmaßnahmen, die irgendwann nach dem Krieg begonnen worden waren, um die East-End-Slums loszuwerden. Die Wohnblocks waren verbunden durch geteerte Wege, die wie ein grobes Spinnennetz die große freie Rasenfläche durchzogen. Die Stadtverwaltung hatte absichtlich kein Gebüsch pflanzen lassen, zum Schutz vor Überfällen. Hinter einem der Blocks öffnete sich ein geteerter Hinterhof, auf den jemand seinen Sperrmüll geworfen hatte. Neben einer alten Matratze und zerschlissenen Müllsäcken bewegten sich grau verwaschene T-Shirts an einer durchhängenden Leine leicht im Wind. Die Sonne verschwand hinter dem gegenüberliegenden Wohnblock, und Schatten legte sich über den gesamten Hof.

Es war nicht so, dass Anna kein Geld hatte, um Stepney zu verlassen und in ein Londoner Viertel zu ziehen, das angesagter war. Das nahegelegene Wapping, wo ihre Freundin Heike wohnte, wäre schön. Es war zwar auch ein Teil des Londoner Bezirks Tower Hamlets, zu dem auch ihr Wohngebiet gehörte, zog aber immer mehr junge aufstrebende Karrieremenschen an. Doch Annas Geld war nicht für Wapping bestimmt. Sie würde niemals wagen, das Geld für ihre Bedürfnisse anzurühren oder es für Alltäglichkeiten aufzubrauchen. Es gehörte Jack. Es war das Geld von der Versicherung des Krankenhauses, und Jack würde es später brauchen. Anna schaltete den Wasserkocher ein und griff nach einem Teebeutel und einem Becher mit einem verblassten Freiburger Münster darauf.

Nun würde sie endlich etwas verdienen! Es war ein Geschenk des Himmels, dass sie diese Stelle bekommen hatte. Jetzt kam es darauf an, dass sie sich dort irgendwie behauptete, sodass Galliani nicht merkte, dass er die Falsche eingestellt hatte. Neun Jahre lag ihr Universitätsabschluss in internationalem Handelsrecht an der Universität Newcastle nun schon zurück. Neun lange Jahre ohne einschlägige Berufserfahrung. Alle würden merken, dass sie aus der Übung war. Wenn sie denn jemals irgendeine Ahnung gehabt hatte. Ihr förmliches Deutsch ließ ebenfalls zu wünschen übrig, doch gerade wegen ihrer fließenden Deutschkenntnisse war sie eingestellt worden. Die Kanzlei Galliani, Hughes & Derry hatte sich auf internationale Klientel spezialisiert. Anna war für die Betreuung der deutschsprachigen Mandanten eingestellt worden. Sie sollte für Firmen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die Geschäfte im Vereinigten Königreich tätigten und keine firmeneigene Rechtsabteilung besaßen oder sich im britischen Recht nicht auskannten, Verträge aushandeln und sie in verschiedenen Bereichen juristisch vertreten. Zwar hatte sie immer Wert auf die deutsche Sprache gelegt und zu Hause mit den Kindern fast ausschließlich Deutsch gesprochen, aber das war schließlich etwas anderes, das war Alltagssprache. Das verschachtelte juristische Beamtendeutsch war ihr fremd. Wann hätte sie sich das auch aneignen können? Schließlich war sie schon nach der zehnten Klasse nach England gekommen. Damals hatte es geheißen, es sei nur für zwei Jahre, bis sie ihr internationales Abitur auf dem Internat in Kent gemacht hatte. Es war ein Abenteuer gewesen. Ihr Vater und ihre Mutter waren zu Hause in Freiburg geblieben, und sie hatte sich gefreut auf ihre neue Unabhängigkeit und die Chancen, die sich ihr auftaten. Es hatte sich jedoch nicht alles als Zuckerschlecken erwiesen. Die englischen Klassenkameraden hatten Witze über sie gemacht, die sie nicht verstanden hatte, alle Aufsätze und Klassenarbeiten hatte sie halbfertig abgeben müssen, und ihre Zimmergenossin hatte sich Körperhaare ausgerissen, Mitesser ausgedrückt und Fudge gegessen, bis sie sich übergeben musste, und das alles um vier Uhr morgens. Anfangs hatte Anna die Tage gezählt, bis sie nach Freiburg zurückkehren konnte, doch mit der Zeit hatte sie die Vorzüge von Ohropax und Augenmasken kennengelernt. Sie hatte begonnen, mehr auf Englisch als auf Deutsch zu denken und über den seltsamen Humor von Monty Python zu lächeln. In den Ferien zu Hause hatte sie immer hämmernde Kopfschmerzen bekommen – ein Symptom von Schwarztee-Entzug, wie sich später herausstellte – und es machte ihr plötzlich tatsächlich etwas aus, sechzehn Folgen von East-Enders zu verpassen. Zurück in England begann sie, ihr Geld für Ausflüge nach London und heimliche Abstecher in den Pub mit ihren Freundinnen auszugeben, sodass für die kostspieligen Telefonate nach Freiburg weniger übrig blieb. Der Kontinent, wie die Engländer den Rest von Europa nannten, hatte sich schließlich immer weiter entfernt. Aus den zwei Jahren waren sechzehn Jahre geworden. Übrig geblieben waren zwei Kinder und kein Mann.

Gott sei Dank kein Mann.

Es war fünf nach vier. Sie musste los und Jack von der Therapie abholen.

Anna wartete in dem silbernen Golf, den Heike ihr für die Zeit ihrer Abwesenheit überlassen hatte, vor der Poliklinik. Als sie Jack aus der Tür kommen sah, stieg sie aus, um ihm die Stufen, die zur Tür hinaufführten, entgegenzugehen.

Er wirkte so schutzbedürftig. Dabei war er für seine fast elf Jahre recht groß. Jacks Gesicht hellte sich auf, als er sie erblickte. Was für ein hübscher Kerl er doch ist, dachte Anna. Wie Malcolm es war.

Jack schwankte zum Treppengeländer und hielt sich mit einer Hand fest, während er die andere Hand zum Gruß erhob.

»Hallo, Jack! Wie geht's?«, fragte sie lächelnd.

»Hallo, Mama!« Es war recht flüssig über seine Lippen gekommen. »G-gut!«

Entgegen dem Impuls, ihrem kleinen Sohn zu helfen, blieb sie vor dem Treppenabsatz stehen und wartete, bis er die Treppe hinabgestiegen war, immer mit zwei Füßen auf einer Stufe verweilend, bevor er den nächsten Schritt wagte. Er umarmte sie kurz und bewegte sich in Richtung Auto. Bei jedem Schritt knickte das belastete Bein ein wie eine Sprungfeder, während das andere Bein nahezu steif hinterhergezogen wurde. Sein Oberkörper wankte dabei weit ausholend nach rechts und links, wie ein hin- und herhüpfender Springteufel, ein Jack-in-the-box, wie die Engländer sagten. Als hätten wir es gewusst, als wir damals seinen Namen aussuchten, dachte Anna. Doch sofort schalt sie sich für ihre Gedanken. Zumindest kam er ohne Krücken und Rollstuhl zurecht. Das war schließlich nicht selbstverständlich.

2

Jack humpelte angestrengt hinter Thomas und Rajib her. Sie standen bereits auf der Rolltreppe und warfen sich lachend Worte an den Kopf, die Jack nicht verstehen konnte, weil er zu weit zurückgefallen war. Mittlerweile hatten die beiden schon die Hälfte der Rolltreppe zurückgelegt, während er noch mindestens zwanzig Meter bis zum Treppenabsatz vor sich hatte. Er durfte sie nicht aus den Augen verlieren, das wäre wirklich ärgerlich. Endlich erreichte er die Treppe und legte schnell seine Finger auf das schwarze Gummi des Handlaufbandes. Er spürte, wie das Gummi unter seinen Handflächen entlangrieb.

Er blieb eine Weile dort stehen, wo er war, ließ das Band unter seiner Haut weiterfahren, bis sie warm wurde, und blickte konzentriert auf die vorübergleitenden Stufen. Jetzt. Als sich die nächste Stufe hervorschob, stampfte er mit seinem rechten Bein darauf, als wolle er eine Fliege zertreten. Und genau jetzt musste er das andere Bein hinterherziehen.

Gut, er stand. Das wäre geschafft. Ängstlich hob er den Blick, darauf hoffend, seine zwei Schulkameraden zu sehen. Mist, sie waren weg und er wusste nicht, ob sie am Ende der Rolltreppe nach rechts oder links gegangen waren. Es war das erste Mal, dass er mit ihnen unterwegs war. Thomas und Rajib hatten Glück, ihren Eltern machte es nichts aus, wenn sie nach der Schule nicht auf direktem Wege nach Hause kamen. Er hatte die beiden schon oft reden hören über all die neuen Playstation-Spiele, die man hier ausprobieren konnte. Natürlich kauften sie nie eines, dafür hatten sie kein Geld. Aber sie kannten fast alle Spiele. Und heute hatte er mitkommen dürfen! Er konnte sein Glück noch gar nicht fassen. Obwohl dieser Ausflug natürlich ein Risiko war. Denn wenn herauskam, dass sie schwänzten, würde es bestimmt Strafarbeiten hageln. Jetzt noch vier Stufen, bis seine Stufe verschwinden würde, noch drei, noch zwei … und einen Schritt machen und gleichzeitig den Schub nach vorne abfangen. Geschafft.

Jack sah sich um. Farben sprangen ihm entgegen, bunte Aufschriften, Ständer mit schrillen Werbepostern, Menschen, die sich durch die DVD-Gänge schoben.

Da hinten waren sie. Ungelenk bewegte sich Jack auf sie zu. Die beiden standen vor einem großen Monitor, Thomas hatte in jeder Hand einen Controller. Auf dem Bildschirm vor ihnen spielte sich ein Boxkampf ab. Thomas hob den rechten Arm, der linke Boxer auf dem Bildschirm hob den rechten Arm. Thomas bewegte seinen Controller von oben nach unten. Der Boxer hieb seinem Kontrahenten auf den Kopf.

Jack stellte sich dazu. Weder Thomas noch Rajib beachteten ihn. Der Kampf auf dem Bildschirm nahm seinen Lauf. Nach ein paar Minuten schlug Thomas' Boxer seinen Gegner k. o.

»Jetzt ich«, sagte Rajib.

Jack stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn er auch mal durfte.

Thomas händigte Rajib die beiden Controller aus, und Rajib begann, damit herumzufuchteln. Der Boxer auf dem Bildschirm schlug auf seinen Widersacher ein, bis dieser zu Boden ging. Das Spiel war zu Ende. Jetzt könnte er fragen. Aber Thomas und Rajib hatten bereits eine andere freie Playstation entdeckt und drückten Jack im Gehen die Controller in die Hand. »Räum mal auf!«, hörte er sie noch sagen.

»Wartet!«, wollte er hinter ihnen her rufen, doch seine Zunge gehorchte ihm nicht. Die Lippen gespitzt, versuchte er es erneut, dann gab er auf. Sie waren mittlerweile sowieso außer Hörweite. Er wandte sich wieder der Station zu. Er brauchte eine Weile, bis er es geschafft hatte, die beiden Fernbedienungen in die Halter zu stecken. Als er sich nach Thomas und Rajib umdrehte, sah er gerade noch, wie ihre Köpfe auf der Rolltreppe nach unten verschwanden.

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»Hi, Mum, ich bin zurück!«, rief Keira freudig und ließ die Wohnungstür hinter sich ins Schloss fallen.

Anna klappte ihr Buch über International Business zu. Ihre Augen streiften kurz suchend durchs Zimmer. Das Buch durfte auf keinen Fall zerrissen werden, denn es würde ein Vermögen kosten, der Bibliothek den dicken Band zu ersetzen. Sie legte es behutsam hinter ein paar Wörterbücher ins Regal. Vorsichtshalber legte sie noch einen Stapel alter Romane oben drauf. Sie ging in den kleinen Flur und begrüßte ihre neunjährige Tochter. »Hallo, Schatz, wie war's in der Schule?«

Keira warf ihr langes blondes Haar zurück und zuckte mit den Schultern. »Gut, wie immer«, sagte sie, während sie ihren rosa Anorak abstreifte und sich an ihrer Mutter vorbei in Richtung Küche schob.

»Erst Händewaschen! Wie oft muss ich das noch sagen? – Wo ist Jack?«, fragte Anna.

»Er hat sich mal wieder angestellt«, antwortete Keira aus der Küche.

»Und was heißt das genau?« Anna betrat die Küche.

»Er hat sich auf die Bank im Schulhof gesetzt und mit niemandem mehr geredet. In den Bus ist er auch nicht eingestiegen.«

Annas Herz tat einen Sprung, obwohl sie sich nach so vielen Jahren eigentlich an Jacks Verhalten gewöhnt haben sollte. Sie atmete kurz durch. »Gut, dann muss er halt selbst irgendwie nach Hause kommen«, hörte sie sich schließlich sagen. Am liebsten hätte sie auf der Stelle die Wohnung verlassen und sich auf die Suche nach ihrem behinderten Sohn gemacht.

»Und du weißt nicht, was mit ihm los ist?«, bohrte Anna schließlich weiter und ärgerte sich sofort darüber.

Keiras Kopf steckte im Kühlschrank. »Mum, wir haben nur noch eine Flasche Milch.«

»Ich weiß«, sagte Anna. Sie fügte nicht hinzu, dass sie erst wieder in drei Tagen einkaufen würde, wenn wieder etwas Geld auf dem Konto war.

Keira schenkte sich ein Glas Milch ein. »Ich habe gehört, wie Thomas Baker und Rajib Lashmar ein paar anderen zugerufen haben, dass sie sicherlich nicht auf Spastigeburtstagspartys gehen würden.«

Da war es wieder, das Messer im Bauch. »Aha«, sagte Anna, mehr brachte sie nicht heraus. Sie verließ die Küche, damit Keira ihre Tränen nicht sehen konnte.

Jack hatte sich solche Mühe gegeben mit seinen Geburtstagseinladungen! Voll kindlicher Vorfreude war er heute Morgen losgezogen, um sie an die drei Jungs zu verteilen. Und sie hatte sich den Kopf lediglich darüber zerbrochen, wie sie möglichst preisgünstig eine Jungengeburtstagsparty veranstalten könnte.

Wie gemein kann man sein, ein benachteiligtes Kind zu hänseln und seine Geburtstagseinladungen auszuschlagen! Am liebsten hätte sie diesen Thomas und diesen Rajib am Kragen gepackt und ihnen die Luft abgedrückt! Und Jack in den Arm genommen und ihn nie mehr aus dem Haus gelassen, um ihn vor dieser Welt da draußen zu schützen!

Anna saß an dem kleinen klapprigen Plastiktisch am Ende des engen Flurs, den Kopf in ihre Hände gestützt. Sie hatte den Computer eingeschaltet, sodass es aussah, als arbeite sie an etwas.

Es war ein großer Fehler gewesen, ihn auf eine normale Schule zu schicken! Aber sie hatte ja nur gehofft, dass er dort wie ein normales Kind aufwachsen würde. Es hatte doch zu seinem Besten sein sollen.

Es war so schwierig, die richtigen Entscheidungen zu treffen! Ohne sich darüber mit jemandem auszutauschen.

Die Tränen liefen nun in Strömen.

Okay, hör auf mit dieser Selfpity-Party, sagte sie zu sich selbst. Das hilft niemandem. Sie legte ihre Hände vor sich auf den Tisch, streckte ihre Finger aus und starrte eine Weile auf ihre Nägel. Sie war nun mal eine alleinerziehende Mutter und musste das Beste daraus machen. Rumheulen half nichts.

Wäre ihr Leben ein Film wie Bridget Jones, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, um den Song All by myself einzuspielen. Aber ihr Leben war nicht Hollywood. Und sie hasste den Namen Jones, dem man hierzulande zu allem Überfluss auch noch begegnete wie Maier oder Müller in Deutschland! Sie presste ihre Hände kraftvoll auf die Tischoberfläche.

Sie würde stark sein. Für sich selbst und für ihre Kinder. Sie würde diesen Job behalten und immer Milch auf Vorrat im Kühlschrank haben! Sie würde Jack alle zusätzlichen Therapien finanzieren, die er brauchte!

Und sie würde ihre Kinder schützen vor Verletzungen durch andere!

Sie erhob sich, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und ging zurück zu Keira in die Küche.

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Anna sammelte die Schriftstücke ein, die auf dem Konferenztisch verteilt waren, und legte sie ordentlich in die Mappe mit der Aufschrift SANVENT. Sie blickte Mr Harrington fest in die Augen und sagte: »Ich werde morgen mit Ihrem Headquarter in Basel telefonieren und Ihnen den Vertragsentwurf am Freitag zukommen lassen.« Der hagere Mann mit der riesigen Brille, die noch aus den neunziger Jahren stammen musste, lächelte und nickte. »Danke, Mrs Dylan. Bitte schicken Sie auch eine Kopie nach Basel.«

»Ja, natürlich, Mr Harrington.«

Anna nickte ihm und den anderen drei zum Abschied zu und trat aus dem lichtdurchfluteten Raum in den Flur. Ihre Wangen glühten. Ihr erster Mandant und gleich eine solche Sache! Ein kleiner Start-up aus Glasgow hatte dem Pharmaproduzenten SANVENT ein Patent angeboten. Es war nicht irgendeine neue Medizin, sondern ein Wirkstoff, der das gefürchtete H5N1-Virus bei der Teilung hemmte, also eine direkte Alternative zu den wenigen existierenden Grippemitteln, die von allen Regierungen der Industrieländer in Mengen gekauft und eingelagert wurden – für den Fall der Fälle, den die gesamte Menschheit fürchtete, nämlich den Ausbruch der tödlichen Grippe-Pandemie. Falls SANVENT das Patent kaufte und hier in London produzierte, könnte die britische Regierung versuchen, im Falle eines nationalen Ausnahmezustandes – also beim Ausbruch einer Pandemie – einen Anspruch auf die Produktion anzumelden und Teile von SANVENT zu beschlagnahmen. Dieser Deal war also brisant und würde einen langen juristischen Rattenschwanz hinter sich herziehen. Es wurde dadurch kompliziert, dass SANVENT UK eine Filiale eines mittelgroßen Schweizer Pharmaherstellers war und somit internationales Handelsrecht mit all seinen Facetten angewendet werden musste. Da kam eine Menge Arbeit auf sie zu. Es war wichtig, dass im Vertragsentwurf alle möglichen Eventualitäten bedacht wurden.

Anna wurde es ganz schwindlig, als sie daran dachte, wie viele verschiedene Interessen sich dabei in die Quere kommen würden. Wenn Galliani gewusst hätte, um was für einen großen Deal es sich hier handelte, hätte er niemals sie als Anfängerin darauf angesetzt. Er hatte wahrscheinlich nur Schweiz gelesen, und damit war für ihn klar gewesen, wer zuständig war. Das Dümmste, was nun passieren konnte, war, dass sich die Schweizer einen anderen Anwalt nahmen oder gar eine eigene Rechtsabteilung aufbauten. Sie musste auf jeden Fall einen kompetenten Eindruck machen. Am besten wäre es, wenn sie als Team auftraten. Allerdings lief sie dann Gefahr, von ihren Kollegen in den Schatten gestellt zu werden, und genau das musste sie unbedingt vermeiden, vor allem in den ersten paar Monaten.

Ihre Absätze klapperten auf dem Industrieparkett, als sie in Richtung Treppenhaus ging. Hoffentlich hatte sich Jack an ihre Abmachung gehalten und wartete vor dem Tor auf sie.

Sie nickte dem rundgesichtigen Pförtner in dem Häuschen an der Einfahrt zu und sagte freundlich: »Bis nächste Woche!« Er schien sich zu freuen, dass sie Notiz von ihm nahm. Sie blickte nach rechts und links, als sie durch das Tor auf den Bürgersteig trat. Jack war nicht da.

Warum konnte er nicht einfach das tun, was man ihm sagte? Die Besprechung war doch nicht viel länger gegangen als geplant.

Es war eine Schnapsidee gewesen, ihn zu einem Geschäftstermin mitzunehmen!

Er hatte sich vorgestern, als er schließlich nach zwei Stunden irgendwie nach Hause gefunden hatte, in sein Zimmer verkrochen und weder mit ihr noch mit Keira geredet. Am Abend hatte Keira dann ihre Lieblingsbarbie mit kahlem Schopf in der Toilette versenkt gefunden. Das Geschrei hatte man sicherlich wieder im ganzen Haus gehört. Gestern hatte Jack zwar zur gewohnten Zeit das Haus verlassen, war aber nicht in der Schule erschienen, wie ihr Mrs Bagum, die Lehrerin, am Abend am Telefon mitgeteilt hatte. Anna hatte die Gelegenheit genutzt und mit ihr ein Elterngespräch vereinbart. Um sicherzugehen, dass Jack heute nicht auch die Schule schwänzen würde, hatte ihn Anna heute Morgen persönlich zur Schule gebracht und gewartet, bis er das Schulhaus auch betreten hatte. Um 15 Uhr hatte sie ihn wieder abgeholt und direkt hierher nach Bethnal Green mitgenommen, weil es zu kompliziert gewesen war, ihn vor ihrem Termin um 15.30 Uhr noch irgendwo unterzubringen.

Sie hatte ihn absichtlich nicht im Auto sitzen lassen, weil der Wagen Heike gehörte und Jack auf keinen Fall irgendetwas in dem Auto kaputt machen durfte. Anna setzte sich in Bewegung und betete ein kurzes Stoßgebet, dass er irgendwo beim Auto wartete. Und dass er nicht aus irgendeiner Laune heraus den Wagen von außen verkratzt hatte. Das Auto hatte sie ein paar Blocks weiter an einer Hauptverkehrsstraße geparkt. Während sie zum Auto ging, hielt sie Ausschau nach Jack. Die Gegend war städtisches Mischgebiet. Auf der gegenüberliegenden Seite der Sackgasse, in der sich das Areal von SANVENT befand, waren die unteren Stockwerke der Gebäude mit schäbigen Büros belegt, während sich in den oberen Stockwerken offensichtlich Wohnungen befanden. Direkt gegenüber von SANVENT war ein kleiner Hof in einer Schlucht zwischen zwei hohen, alten Häusern, voll geparkt mit Bussen und Vans mit der Aufschrift Hopper Coaches. Ein dreckiger, asphaltierter Fußweg zwischen zwei Höfen führte zur lauten Hauptverkehrsstraße. Sie erreichte die Straße und ging an den kleinen Ladengeschäften entlang. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite reihten sich rote Backsteinwohnblocks aneinander. In der Ferne erhob sich ein riesiger Gaszylinder.

Sie erreichte Heikes Auto. Jack war nirgends zu sehen. So ein Mist! Sie kramte ihr Handy hervor und wählte die Nummer von Jacks Notfallhandy. Der gewünschte Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar. Sie hatte ihm zwar aufgetragen, das Handy nur im Notfall zu benutzen, aber – verdammt noch mal – dies war ein Notfall! Was sollte sie denn tun? Ohne ihn nach Hause fahren? Sie verstaute ihre Aktentasche im Kofferraum, schloss ab und ging wieder zurück in Richtung SANVENT. Sie fragte den Pförtner, ob er einen Jungen mit Gehbehinderung gesehen hätte. Er verneinte.

Anna verließ die Einfahrt und bog diesmal nach rechts ab, in die andere Richtung. Das Firmengelände war groß, und als sie sich nach dreihundert Metern dem Ende der weißgetünchten Mauern näherte, vernahm sie Kindergeschrei. Den sauberen Mauern schloss sich ein halbkaputter Drahtzaun an, der um ein großes Eckgrundstück lief. Auf dem ungepflegten Grundstück befand sich ein gelb-grau gestrichener Flachbau, der an eine Schule erinnerte. Doch für eine Schule wirkte alles zu bunt und durcheinander. Auf dem asphaltierten Hof vor dem Haus spielten Jugendliche Basketball. Und da sah sie auch Jack. Er stand mitten im Spielfeld. Sie blieb stehen und beobachtete die Szene. Die Jugendlichen waren alle älter und größer als Jack, die meisten mit dunklerer Hautfarbe. Ein Erwachsener spielte mit. Kurz blitzte etwas in ihrer Magengegend auf, etwas, das mit diesem Mann zu tun hatte. Es war einer dieser flüchtigen Funken, die jedoch stets vom Verstand erstickt wurden, bevor sie sich entzünden konnten. Es gab nun mal keinen Mann auf dieser Welt, der sie auch nur im Geringsten interessieren konnte. Es gab nur Betrüger. Oder Idioten, so wie diesen Hugh-Jackman-Typ hier, der gerade im Begriff war, ihrem Sohn den Ball zuzuwerfen. Oh nein, bitte nicht! Sah dieser Kerl denn nicht, dass das Kind spastisch gelähmt war? Dass es nicht fangen konnte, weil irgendein idiotischer Arzt in der Nacht, als es geboren wurde, seinen Rausch ausgeschlafen hatte?

Anna hielt die Luft an, als der Ball in hohem Bogen zu Jack flog. Es würde schiefgehen, und sie würde heute Abend wieder Jacks Frustration ausbaden müssen! Jack schleuderte ungelenk mit seinen Armen und verfehlte den Ball. Der Ball rollte auf seine Füße und von dort in Richtung eines der Spieler. Der hob ihn geschickt auf und warf ihn direkt in den Korb. Das Spiel ging weiter. Jack stand weiterhin mitten im Feld. Schon wieder warf dieser erwachsene Trottel den Ball in seine Richtung! Nun reichte es aber.

Anna setzte sich in Bewegung und ging am Zaun entlang, bis sie die belebte Straße erreichte, an die das Eckgrundstück grenzte. Das Tor stand weit offen. An der Vorderseite war das Gebäude bis zum Dach mit Graffiti besprüht. In der Auffahrt spielten ein paar Kinder in Jacks und Keiras Alter ein Spiel mit Stelzen. Sie machte einen Bogen um ein Einrad, das mitten auf dem Weg lag, und näherte sich den Basketballspielern. Sie war noch gute dreißig Meter entfernt, als einer der Jugendlichen beim Dribbeln Jack anrempelte. Jack fiel zu Boden und landete auf allen Vieren. Das Spiel ging weiter, als sei nichts geschehen. Sie wusste, dass Jack nicht alleine würde aufstehen können. Sie wollte ihm gerade zu Hilfe eilen, als einer der Jugendlichen ihm im Vorbeigehen aufhalf. Anna betrat das Spielfeld, ohne auf irgendjemanden Rücksicht zu nehmen, und näherte sich Jack von hinten. Die Jugendlichen hielten gespannt inne und sahen sie neugierig an. Auch die Augen des großen Mannes richteten sich auf sie.

Jack hatte sich mittlerweile zu ihr umgedreht.

»Ich habe dir doch gesagt, dass du auf mich warten sollst!«, sagte sie auf Englisch.

»Sorry, Mum!«

Sie hatte alle möglichen Reaktionen erwartet, nur nicht diese. Entwaffnet sagte sie: »Okay, gehen wir.«

Sie blickte ein letztes Mal zu dem Mann. Er zwinkerte Jack beim Gehen zu.

Und ihr Sohn lächelte.

3

Sie würde die Einladung bei Ned ablehnen. Sie musste schließlich den Vertragsentwurf fertigstellen. Heikes Mann Ned, ein Engländer mit indischem Vater, war für zwei Wochen mit seinen Töchtern alleine.