Das sind wir alle im Möwenweg

Ich heiße Tara und ich wohne im Möwenweg.

Nicht alleine natürlich – Mama und Papa und Petja und Maus wohnen auch da. Achtjährige Kinder können ja noch nicht alleine wohnen.

Aber ohne Petja und Maus würde ich manchmal ganz gut auskommen. Petja ist nämlich schon zehn und darum will er meistens alles bestimmen. Und Maus geht noch nicht mal in die Schule. Mit dem kann man also noch nicht so furchtbar viel anfangen. Aber wenn wir Großen spielen, kommt er immer angerannt und will mitmachen. Und dabei weiß er meistens gar nicht, wie das geht.

»Nun schimpf mal nicht immer auf deine Brüder«, sagt Mama.

»Du hättest schlimmere erwischen können, finde ich.«

Und das stimmt eigentlich auch. Richtig schrecklich finde ich Petja und Maus nicht. Es ist nur schade, dass sie keine Mädchen sind. Aber dafür können sie ja nichts.

Zum Glück gibt es bei uns im Möwenweg trotzdem genug Mädchen, sogar in unserer Reihenhausreihe. Meine allerbeste Freundin Tieneke zum Beispiel wohnt in Nummer 5c. Das ist aber leider nicht neben uns, darum können wir uns auch nicht einfach hinten durch die Gärten besuchen. Dazwischen wohnen nämlich die unfreundlichen Voisins, die nicht wollen, dass Kinder durch ihren Garten laufen.

Mama sagt, das ist ihr gutes Recht. »Ihr könnt ja wohl den kleinen Umweg vorne durch die Haustür machen«, sagt Mama.

»Ihr habt doch Beine!«

Und das stimmt ja.

Tieneke ist acht, genau wie ich, und in derselben Klasse. Ich finde, das muss bei besten Freundinnen so sein.

Im Haus neben Tieneke wohnen Fritzi und Jul, die sind sieben und zehn und heißen eigentlich Friederike und Julia.

Fritzi und Jul sind auch meine besten Freundinnen, aber vielleicht nicht meine ganz so doll besten wie Tieneke. Eine allerbeste Freundin muss man schließlich haben.

Zum Glück für Petja gibt es bei uns in der Reihe auch noch zwei Jungs. Das sind Vincent und Laurin, die wohnen neben Fritzi und Jul im Endhaus. Aber nur mit ihrer Mutter, weil ihre Eltern geschieden sind.

Manchmal kommt ihr Vater in einem vornehmen Cabrio vorgefahren, um sie zu besuchen. Dann lädt er uns alle zum Eisessen ein. Darum glaube ich, dass Vincent und Laurin die reichsten Kinder in unserer Reihe sind. Vincent ist erst neun, aber er geht trotzdem mit Petja und Jul in eine Klasse. Ich glaube, Vincent ist das schlauste Kind bei uns. Laurin ist vielleicht nicht ganz so schlau. Dafür ist er aber frecher als Vincent. Das gleicht sich dann wieder aus, sagt Petja.

Habe ich jetzt alle Leute vorgestellt, die in unserer Reihe wohnen?

Ich muss vielleicht noch von Puschelchen und Wuschelchen erzählen, das sind die beiden Kaninchen, die Tieneke in diesen Sommerferien gekriegt hat. Richtige Menschen sind sie ja nicht, aber sie sind so niedlich, dass man es kaum aushalten kann. Wenn wir zu ihnen ins Gehege hinten auf Tienekes Rasen steigen, kommen sie angelaufen und schnuppern an unseren Zehen.

Ich hätte auch furchtbar gerne ein Kaninchen. Oder irgendein anderes Tier. Aber Mama sagt, ich habe schließlich Petja und Maus. Und Tieneke ist ein Einzelkind.

Vielleicht hätte ich auch lieber ein Kaninchen als zwei Brüder. Aber ich bin mir nicht sicher. Manchmal ja und manchmal nein. Im anderen Endhaus (in dem, wo Vincent und Laurin nicht wohnen) wohnen Oma und Opa Kleefeld. Natürlich sind sie nicht unsere richtige Oma und unser richtiger Opa (das ginge ja gar nicht bei so vielen Kindern), aber wir müssen trotzdem nicht Herr Kleefeld und Frau Kleefeld zu ihnen sagen. Oma Kleefeld sagt, nun hat das Schicksal es leider nicht so gefügt, dass sie Enkelkinder haben sollten, und da sind sie eigentlich ganz froh, dass sie uns gekriegt haben.

Das können sie auch sein, finde ich. Wir sind nämlich meistens ziemlich nette Kinder.

Kann man merken, dass wir es schön haben in unserer Reihe?

Wir wohnen ja noch nicht mal ein Jahr im Möwenweg, aber trotzdem weiß ich ganz genau, dass es nirgendwo auf der Welt schöner sein kann als bei uns.

Darum will ich immer im Möwenweg wohnen bleiben, sogar wenn ich erwachsen bin. Tieneke will das auch.

Wir haben Wasserbomben und spritzen Opa Kleefeld nass

Der letzte Ferientag ist immer kein so guter Tag, finde ich. Tieneke findet das auch.

Wenn man morgens aufwacht, weiß man ja, dass man nur noch einen Tag Zeit hat, um all die vielen Sachen zu machen, zu denen man Lust hat. Danach muss man wieder jeden Morgen früh aufstehen und jeden Abend früh ins Bett. Und Hausaufgaben muss man auch immer machen.

»Was wollen wir heute tun?«, hat Tieneke mich gefragt, als sie am letzten Sommerferientag morgens bei mir geklingelt hat. Sie hatte nur ihren Badeanzug an, weil es schon morgens so heiß war, dass Puschelchen und Wuschelchen sich in ihrem Gehege unter dem Schattendach verkrochen haben.

Ich hab gesagt, ich zieh mir auch schnell meinen Badeanzug an. Dann haben Tieneke und ich in der Küche an unserem Küchentisch gesessen (draußen war es ja so heiß) und haben gar nichts getan.

»Nanu?«, hat Mama gesagt. Sie war schon ganz früh auf dem Markt gewesen und hatte Pflaumen gekauft. Die hat sie jetzt in den Keller gebracht. »Der letzte Ferientag, und ihr sitzt nur rum? Wisst ihr nichts mit eurer Zeit anzufangen? Dann wird es ja allerhöchste Zeit, dass die Schule wieder losgeht!«

Ich habe ihr erklärt, dass es so viele Sachen gibt, die wir machen wollen. Und wenn wir jetzt eine davon machen, können wir alle anderen nicht machen. Und morgen geht es auch nicht mehr, weil Schule ist. Und das ist so traurig.

»Na, ihr seid mir vielleicht zwei dumme kleine Nasen!«, hat Mama gesagt. »Und ein bisschen im Weg seid ihr mir auch.«

Da hat es zum Glück an der Haustür geklingelt und Fritzi und Jul haben davorgestanden (auch im Badeanzug!) und wollten uns zum Spielen holen.

»Wir haben Wasserbomben!«, hat Fritzi geschrien.

Habe ich schon erzählt, dass der Vater von Fritzi und Jul der netteste von all unseren Nachbarn ist? Er heißt Michael und ist Busfahrer. Gestern Abend war er von der Arbeit nach Hause gekommen, hat Fritzi erzählt, und hatte gesagt, weil das Ferienende immer so traurig ist, sollten seine Töchter am letzten Tag wenigstens noch ein bisschen Spaß haben.

Darum hatte er ihnen Wasserbomben mitgebracht. Fünf Tüten voll! Michael ist wirklich ein netter Vater.

Und bei dem heißen Wetter waren Wasserbomben auch genau das Richtige. Wir sind nach hinten in unseren Garten gegangen und haben alle vier einen von diesen kleinen Ballons an unserem Außenwasserhahn aufgefüllt. Dann hat Jul »Achtung – fertig – los!« geschrien, und dann haben wir geschmissen.

Meine Wasserbombe war grün. Sie ist leider gegen den Zaun geflogen und zerplatzt. Da war sie ja vergeudet. Aber Tieneke und Jul haben beide Fritzi getroffen, und Fritzi hat ganz laut »Mama! Iiih! Mama!« geschrien und hat fast angefangen zu heulen. Dabei ist so eine kleine Abkühlung bei der Hitze doch schön.

Wir mussten Fritzi alle versprechen, dass wir beim nächsten Mal nicht mehr auf sie zielen. Dann haben wir wieder neue Ballons gefüllt und ich hatte richtig so ein ängstliches Ziehen im Bauch. Weil man ja gleichzeitig schmeißen muss und auch aufpassen, dass man nicht getroffen wird. Weil ich beides zusammen nicht so gut konnte, hat Jul mich auch getroffen. Mit einer blauen Wasserbombe. Genau am Nabel! Es hat sich sehr, sehr kalt angefühlt und ich habe auch »Iiih!« geschrien, aber geheult habe ich nicht. Dazu war es viel zu lustig.

Wir haben noch eine ganze Weile immerzu hin und her geschmissen, bis wir alle klitschenass waren. Dann hat Jul gesagt, nun ist es ihr zu schade um die schönen Wasserbomben. Noch nasser können wir ja gar nicht mehr werden. Und außerdem hat sie eine Idee.

Sie hat gesagt, dass wir ganz viele Ballons auf Vorrat füllen sollen. Dann wollten wir sie vorsichtig in einen Wassereimer tun und gucken, wo die Jungs waren.

»Bei so einer Bullenhitze freuen die sich doch über eine kleine Abkühlung!«, hat Jul gesagt. »Sonst kann ich ihnen leider auch nicht helfen.«

Wir haben also zwölf Wasserbomben fertig gemacht und sie alle in unseren neuen Zink-Garteneimer getan. Dann sind wir zum Garagenplatz geschlichen. Da haben die Jungs tatsächlich Fußball gespielt. Bei so einer großen Hitze!

»Jetzt kommt die Abkühlung!«, haben wir geschrien. Dann haben wir nach ihnen geschmissen. Ich habe auf Vincent gezielt und Jul auf Petja und Tieneke auf Laurin. Das hatten wir vorher so abgemacht. Fritzi durfte zielen, auf wen sie wollte.

Und wirklich, Tieneke und ich haben getroffen! Die Jungs waren so verblüfft, dass sie sich gar nicht schnell genug wegducken konnten. Petja hat gebrüllt wie ein Stier.

Danach wussten sie ja Bescheid, und sie sind auf dem Garagenplatz hin und her gehüpft, dass wir keine Chance mehr hatten. Jul hat Petja noch einmal am Bein getroffen, aber sonst sind die Jungs trocken geblieben.

Trotzdem hat Petja ganz laut »Rache!« geschrien. Da hatten wir leider schon keine Wasserbomben mehr, um nach ihnen zu werfen.

Dann sind die Jungs nach Hause gerannt und wir haben die leeren Ballons vom Boden aufgesammelt und in den Eimer getan. Mama findet es nicht schön, wenn ich meinen Abfall überall rumliegen lasse.

»Wetten, Petja holt jetzt seinen Super-Soaker?«, hab ich gesagt.

Das haben die anderen auch geglaubt.

Wir hätten natürlich ganz schnell nach Hause rennen oder uns irgendwo verstecken können, damit die Jungs uns nicht nass spritzen sollten, aber das hätte ja keinen Spaß gemacht. Wir haben uns nur alle zusammen hinter den Schuppen gestellt, in dem unsere Fahrräder aufbewahrt werden.

»Rache!«, hat Petja wieder gebrüllt, als die Jungs zurück auf den Garagenplatz gekommen sind.

Er hatte wirklich seinen Super-Soaker mitgebracht, und hinter ihm kamen Vincent und Laurin mit ihren Spritzelefanten. Ihre Mutter erlaubt ihnen keine Wasserpistolen, weil sie Waffen schrecklich findet. Einen Super-Soaker erlaubt sie erst recht nicht, weil der ja sogar eine noch größere Wasserpistole ist. Darum haben Vincent und Laurin so kleine blaue Elefanten, die spritzen das Wasser aus ihrem Rüssel.

Man konnte richtig sehen, dass es Vincent peinlich war. Schließlich kommt er schon in die 5. Klasse.

Er ist aber trotzdem hinter uns hergerannt und hat »Na wartet!« gebrüllt, und die ganze Zeit hat Petja mit seinem Super-Soaker nach uns gespritzt. Zum Glück waren wir ja sowieso schon pitschenass.

Als die kleinen Elefanten leer waren und der Super-Soaker auch, haben die Jungs gefragt, ob wir uns jetzt ergeben.

Jul hat gesagt, wir denken überhaupt nicht daran. Wenn die Jungs sich das nächste Mal Wasser holen, holen wir uns neue Wasserbomben, und dann sollen sie mal sehen, wer besser trifft. Vincent hat gesagt, das findet er blöde. (Er hat ja natürlich gewusst, dass er mit seinem Elefanten keine Chance gegen uns hat.) »Es macht doch viel mehr Spaß, wenn wir jemand anders nass spritzen«, hat er gesagt.

Da war ich aber überrascht. Vincent ist sonst immer so gut erzogen. Vielleicht hatte die Sonne seinen Kopf zu heiß gemacht. Aber Petja hat natürlich sofort geschrien: »O ja, geil, das machen wir!«, und da sind wir alle zu unseren Wasserhähnen gerannt. Die Jungs haben den Soaker und die Elefanten gefüllt und Tieneke und Jul und Fritzi und ich noch vier Wasserbomben. Mehr wollte Jul nicht rausrücken.

Dann haben wir uns hinter die Garagen gestellt und gewartet, dass jemand vorbeikommen sollte. Ich habe gedacht, dass Mama es bestimmt nicht so gut findet, wenn wir fremde Leute nass spritzen. Aber an so einem heißen Tag ist es vielleicht mal erlaubt. Und wenn die fremden Leute Kinder sind, sowieso. Darum habe ich gehofft, dass gleich ein Kind vorbeikommt.

Das ist aber leider nicht passiert. Der Möwenweg ist ja noch eine Baustraße, darum wohnen nicht so viele Leute bei uns. Die meisten Häuser müssen erst noch gebaut werden. Trotzdem ist plötzlich jemand auf den Garagenplatz gekommen. Wir wollten alle gerade loslegen, da haben wir gesehen, wer es war. Es war Herr Voisin.

Da haben wir gewusst, dass wir ihn nicht nass spritzen dürfen, weil er sich sonst hinterher bestimmt bei unseren Eltern beschwert. Petja hat nur mal ganz kurz mit seinem Super-Soaker gegen die Garagentür gespritzt. Nicht mal eine Sekunde. Und sogar ziemlich weit von Herrn Voisin weg.

Herr Voisin ist auch kein klitzekleines bisschen nass geworden. Aber trotzdem hat er sich blitzschnell umgedreht, und als er uns hinter dem Schuppen entdeckt hat, hat er mit der Faust gedroht.

Vielleicht hat er ja gedacht, dass Petja ihn nass spritzen wollte.

Dabei hat Petja doch mit Absicht danebengezielt.

»Unglaublich!«, hat Herr Voisin gerufen. Da haben wir gewusst, dass er heute Abend bestimmt wieder bei Mama und Papa klingelt.

Als Herr Voisin weggegangen war, ist eine ganze Zeit lang niemand gekommen. Wir wollten gerade aufgeben und doch lieber wieder eine kleine Wasserschlacht machen, da ist Opa Kleefeld um die Ecke gebogen.

»Ergeben Sie sich!«, hat Petja geschrien und ihm mit dem Super-Soaker gegen die Beine gespritzt.

Ich wollte gerade meine Wasserbombe werfen, da hat Vincent ganz laut »Stopp!« gebrüllt. »Der kriegt doch einen Herzschlag!«, hat er geflüstert. »Bei alten Leuten geht so was nicht!«

Und Opa Kleefeld hat auch wirklich ganz erschrocken ausgesehen. Vielleicht sogar ein bisschen böse. Gar nicht so vergnügt wie sonst immer, wenn wir Quatsch mit ihm machen. Opa Kleefeld mag Quatsch nämlich gerne.

»Nein, Kinder, das geht aber wirklich nicht!«, hat er gesagt, als er uns hinter der Garage gesehen hat. »Ihr müsst doch wissen, wo die Grenze ist!«

Da habe ich erst gesehen, dass er eine sehr feine Hose anhatte und ein sehr feines Sakko. Vielleicht wollte er jemanden besuchen.

»Entschuldigen Sie bitte, das war aus Versehen!«, hat Vincent gesagt. Eigentlich hätte das ja Petja sagen müssen.

Opa Kleefeld hat geseufzt. »Nun kann ich mich umziehen«, hat er gesagt. »Seht ihr wenigstens ein, dass es so nicht geht?«

Wir haben alle gesagt, dass wir es einsehen. Es hat auch gestimmt. Einen Netten wie Opa Kleefeld wollten wir ja nicht ärgern.

»Und schwört ihr, dass so was nie wieder passiert?«, hat Opa Kleefeld gefragt.

Wir haben geschworen.

Da hat Opa Kleefeld gesagt, dass er dann dieses Mal Gnade vor Recht ergehen lässt und nicht mit unseren Eltern redet. Aber eine trockene Hose muss er sich anziehen, und nun kommt er vielleicht zu spät zu seinem Arzt-Termin.

Da habe ich mich geschämt, weil wir ja schuld waren. Es war eigentlich schlimmer, als wenn er geschimpft hätte.

Wir sind alle hinter Opa Kleefeld hergegangen. Gerade als er an unserer Pforte vorbeigekommen ist, hat Mama vorne unsere Flurmatte ausgeschüttelt.

»Was ist denn da passiert?«, hat sie ganz erschrocken gefragt und Opa Kleefelds Beine angeguckt. Die Hose war wirklich ziemlich nass. So ein Super-Soaker spritzt ja gut.

Opa Kleefeld hat gelacht. »Kleines Missgeschick, kein Grund zur Sorge!«, hat er gesagt. »Im Winter wäre es schlimmer!«

Dann hat er sich an die Stirn getippt, als ob er eine Mütze aufhätte. Das macht Opa Kleefeld immer.

Man stelle sich vor, er hat uns nicht verpetzt! Wir haben wirklich Glück, dass Oma und Opa Kleefeld so nette Leute sind.

Aber Mama hat natürlich trotzdem unsere Wasserspritzsachen entdeckt.

»Nein!«, hat sie gerufen. »Ihr habt doch wohl nicht Herrn Kleefeld …«

»Nur aus Versehen!«, habe ich ganz schnell gesagt. Ich habe nicht geglaubt, dass Mama es gut findet, wenn wir ihr erzählen, dass wir bei den Garagen auf Leute zum Nassspritzen gewartet haben. »Er war gar nicht böse!«