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ZVONIMIR BERNWALD

Muslime in der Waffen-SS

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Zvonimir Bernwald

Muslime in der
Waffen-SS

Erinnerungen an die bosnische Division Handžar (1943–1945)

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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ISBN 978-3-902732-00-2

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© Copyright by Ares Verlag, Graz 2012

Layout: Ecotext-Verlag, Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein, 1010 Wien
Gesamtherstellung: Druckerei Theiss GmbH, 9431 St. Stefan

Inhalt

Vorwort des Verfassers

KAPITEL 1

Meine Kindheit und Jugendzeit

Eine festgefügte Welt

Exkurs: Die jugoslawische Tragödie

KAPITEL 2

Die Zeit nach dem Balkanfeldzug

KAPITEL 3

Soldat der Waffen-SS: Von Berlin nach Kienschlag

SS-Division Das Reich (Dezember 1942 bis Januar 1943)

SS-Kriegslazarett Dachau (Januar 1943)

Kradschützen-Ersatzbataillon Ellwangen/Jagst (Januar bis März 1943)

SS-Dolmetscherschule der Waffen-SS in Oranienburg/Berlin (März und April 1943)

SS-Hauptamt Berlin, Aufbaustab der 13. SS-Division

Babelsberg – Frankreich – Neuhammer

Abschied von Handžar

KAPITEL 3

Exkurs: Imame der Division Handžar

Imamen-Lehrgang in Guben

KAPITEL 4

Exkurs: Amin el-Husseini: Der Großmufti von Jerusalem

Fragwürdige Veröffentlichungen über den Großmufti

Die Reden des Großmuftis in Babelsberg

Meine Erinnerungen an den Großmufti

KAPITEL 5

Die Meuterei in Villefranche-de-Rouergue

Das Komplott

Der Aufstand

Opfer der Meuterei

Rädelsführer der Meuterei

Exkurs: Die Meuterei im Spiegel der Medien

KAPITEL 6

Neuer Standort Neuhammer am Queis

KAPITEL 7

Einsatz in Bosnien

Angriff

Überquerung der Save

„Unternehmen Maibaum“

Die Schlacht von Šekovići

Operationen der Division von Juni bis August 1944

Das Unglück von Lopare

Aufstellung der zweiten kroatischen SS-Division

„Unternehmen Fliegenfänger“

„Unternehmen Heiderose“

„Unternehmen Rübezahl“ und „Hackfleisch“

KAPITEL 8

Dem Ende entgegen

Auflösungserscheinungen

Die Krise in der Vojvodina

Die Schlacht von Janja

Verlegung der Division nach Kroatien

Einsätze der Division in Ungarn

Rückzug in das Reich

Übergang über die Mur

Die „Reichsschutzstellung“

Die Kapitulation

Die „Befriedungszone“

KAPITEL 9

Mein Schicksal bei Kriegsende

Der Krieg ist aus

Flucht in den Westen

KAPITEL 10

Die Nachkriegszeit

Anhang

Geschichte von Bosnien und Herzegowina

Die Bogomilen und der Islam in Bosnien

Die militärische Laufbahn des Autors im Überblick

Anklageschrift der Staatskommission der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien für Feststellung von Verbrechen gegen den Verfasser vom 10. Dezember 1947

Fragebogen über den Lebenslauf und die politische Einstellung ehemaliger Handžar-Angehöriger

Die Erlebnisse des Handžar-Soldaten Fuad Mujakić: „Imam, umlegen!“

Ausgewählte Faksimiles der Divisionszeitschrift „Handžar“

Handžar, Folge 1, 15. Juli 1943

Handžar, Folge 2, 1. August 1943

Handžar, Folge 3 (ohne Datierung)

Handžar, Folge 5 (ohne Datierung)

Handžar, Folge 7 (ohne Datierung)

Handžar, Folge 8 (ohne Datierung)

Handžar, Folge 9 (ohne Datierung)

Literatur

Namenregister

Vorwort des Verfassers

Die Leser dieses Buches werden sich fragen, warum ich, ein über 80-jähriger Privatier, der sein Leben lang in der Druckindustrie tätig war, in diesem Alter auf die Idee komme, ein Buch über seine militärische Laufbahn und deren begleitende Umstände zu schreiben. Zu diesen begleitenden Umständen gehört die Tatsache, dass ich den Balkanfeldzug 1941 und seine Folgen bis 1945 teilweise persönlich erlebt habe – als Zuschauer und als Teilnehmer.

Die Antwort auf die Eingangsfrage ist einfach: Nach meiner Pensionierung hatte ich endlich Zeit genug, die Jahrestreffen der Truppenkameradschaft (TK) der ehemaligen Division Handžar zu besuchen. Bei einem dieser Treffen lernte ich auch den US-Amerikaner George Lepre kennen, der damals seine Doktorarbeit schrieb und auf der Suche nach Material über die Division Handžar war. Diese Bekanntschaft hatte zur Folge, dass mein Interesse für dieses Thema wachgerufen wurde. Bei der näheren Beschäftigung mit dieser Thematik stieß ich immer wieder auf Widersprüche, was mein Interesse weiter steigerte.

Zunächst versuchte ich George Lepre zu überreden, mit mir nach Bosnien zu fahren, um dort nach den muslimischen Kameraden zu suchen. Ich hielt es für unerlässlich, dass er auch mit den Bosniaken spricht. Man darf nicht vergessen, dass die TK Handžar nur aus reichs- und Volksdeutschen Kameraden bestanden hatte. Die Reichsdeutschen gehörten mehrheitlich der Nachrichtenabteilung an und hatten sowieso kaum Kontakt mit unseren Bosniaken.

George Lepre konnte aus verschiedenen Gründen damals nicht nach Jugoslawien reisen, sondern kehrte in die USA zurück und schrieb sein Buch „Himmler’s Bosnian Division“. Im Herbst des Jahres 1991 brach in Bosnien und Herzegowina der Bürgerkrieg, von der Historikerin Marie-Janine Calic treffend als „Nachfolgekrieg“ bezeichnet, aus. Ein Besuch meinerseits wurde deshalb zunächst unmöglich. Diesen „Nachfolgekrieg“ in Kroatien und Bosnien-Herzegowina verfolgte ich sehr intensiv und informierte mich laufend aus kroatischen, serbischen und bosnischen Zeitungen über die Lage an den Fronten.

Im Jahre 1993 wurde in den kroatischen Zeitungen über eine Sonderbriefmarke der kroatischen Post berichtet, die zum fünfzigsten Jahrestag der Meuterei in Villefranche-de-Rouergue herausgegeben worden war. Im Begleittext dazu waren etliche unzutreffende, augenfällige Behauptungen zu lesen, sodass ich mich entschloss, der Wahrheit, oder was ich dafür hielt, auf den Grund zu gehen. Glücklicherweise traf ich in Nürnberg Džemal Ibrahimovic, unseren letzten, damals in Deutschland lebenden Divisions-Imam. Ich konnte mich sehr gut an ihn vom Imamen-Lehrgang in Babelsberg erinnern. Er gehörte damals zu den jüngeren Imamen, zu denen ich und mein Kamerad Erich Elbling, der auch Dolmetscher beim Aufbaustab war, eine fast freundschaftliche Beziehung unterhielten. Die jüngeren Imame waren nicht viel älter als wir beide und schätzten besonders – wir waren ja sozusagen Landleute – unsere Art des Umgangs mit ihnen.

In den 1990er Jahren besuchte ich mit Džemal einige Meletta-Feiern in Graz, die jedes Jahr vom Österreichischen Heer zur Erinnerung an die tapferen Bosniaken der k. u. k. Armee im Ersten Weltkrieg durchgeführt werden. Außerdem haben wir im März 1996 gemeinsam bei der Südwest 3-Sendung „Bosnier in der Waffen-SS: die Division Handžar“ mitgewirkt. In den vielen Gesprächen mit Džemal erhielt ich manche Hintergrundinformation bezüglich des Islams sowie über dessen Wirken von 1945 bis zu seinem Tode in Deutschland. Auch die Aufklärung der Schicksale mehrerer unserer Divisions-Imame verdanke ich Džemal. „Rahmetul’lahi alejhi!“ – Allah möge seiner Seele gnädig sein!

Lepre beschreibt in seinem Buch vorwiegend die militärische Geschichte der Division Handžar im Verbund mit dem damaligen politischen Umfeld im Dritten Reich. Mir war diese Berichterstattung zu einseitig, fast eingleisig. Deshalb reifte in mir die Idee, mehr über die religiösen, politischen und kulturellen Hintergründe und Lebensumstände unserer muslimischen Handžar-Kameraden und der Division Handžar zu schreiben, habe ich doch einen, wenn auch nur kurzen Abschnitt ihrer schicksalhaften Vergangenheit in diesem Jahrhundert selbst miterlebt.

Bei manchem Aspekt bestand die Gefahr, sich in wissenschaftlichen Abhandlungen zu verlieren, was aus verschiedenen Gründen nicht meine Absicht war. Beim Sichten und Auswählen der vielen unterschiedlichen Unterlagen, vor allem aber beim Abfassen der Kommentare habe ich mich stets von folgenden Gedanken Immanuel Kants leiten lassen:

Es kann sein, dass nicht alles wahr ist, was der Mensch dafür hält; aber in allem, was er sagt (oder schreibt) muss er wahrhaft sein.

Beim kritischen Prüfen der Unterlagen, auch von solchen wissenschaftlicher Institute, stieß ich immer wieder auf unwahre Aussagen. Das Paradebeispiel einer solchen ungenauen Darstellung ist der Begleittext zur Sonderbriefmarke der Kroatischen Post anlässlich des fünfzigjährigen Jahrestages der Meuterei in Villefranche. Den begleitenden Text dazu lieferte das Institut für Zeitgenössische Geschichte in Zagreb. Im Buch wird auch auf diesen Fall näher eingegangen werden.

Das Geschehen um diese Meuterei, der verhängnisvolle Tod ihrer Anführer, das traurige Schicksal und Ende der armen verführten, leichtgläubigen und ahnungslosen jungen Bosniaken, die ganze Ausweglosigkeit, ja Sinnlosigkeit dieses Vorhabens begleiten mich unentwegt bis auf den heutigen Tag. Zwei der Anführer, Matutinović und Vukelić, waren fast so alt wie ich. Unsere Kindheit und Jugendzeit hatten viele Ähnlichkeiten; bis auf den Tag, als bei jedem von uns die schicksalhafte Entscheidung fiel: Links die Kommunisten oder rechts die Faschisten!

In dem Kapitel „Die Meuterei im Spiegel der Medien“ habe ich mancherlei Material zusammengetragen, das in deutscher, französischer und serbisch-kroatisch-bosnischer Sprache gedruckt oder gesendet wurde. Ohne Kenntnisse dieser drei Sprachen wäre es unmöglich, die zahlreichen Quellen unvoreingenommen auszuwerten und mit den Zeitzeugen zu reden.

Ich habe viel Zeit, Geduld und Geld aufgewendet, um nach 1995 einige damals noch lebende Teilnehmer der Meuterei in Bosnien persönlich zu treffen, mit ihnen ausführlich zu reden und ihre Meinung zu den jeweiligen Ereignissen anzuhören. Außerdem habe ich mit dem Kameraden Šemso Alihodžic, der die Meuterei aktiv mitgemacht hat, die jeweiligen Schauplätze in Villefranche-de-Rouergue besucht und mir den Ablauf des Aufstandes erklären lassen. Ich war überrascht, was für ein außergewöhnliches Gedächtnis Šemso hatte. Er starb erst vor einigen Jahren in Olovo, 20 km von seinem Heimatort entfernt, das jetzt zu Republika Srpska gehört, und von wo er vertrieben wurde. Auch hier sei es mir bitte erlaubt, der alten muslimischen Tradition in Bosnien folgend, ihm nachzurufen: Rahmetul’lahi alejhi!

Der andere gute, helfende Geist ist Kamerad Fuad Mujakic, der mir ebenfalls viele nützliche und wichtige Hinweise geliefert hat, zum Beispiel über den zweiten Imamen-Lehrgang in Guben.

Ein Teil der Texte basiert auf der Auswertung der Unterlagen der Bundesarchive Freiburg im Breisgau und Berlin. Für das Kapitel „Einsatz in Bosnien“ habe ich Angaben aus dem Buch von George Lepre –„Himmler’s Bosnian Division“ – und aus dem Kriegstagebuch unseres Divisions-Ia’s Erich Braun übernommen, der mir seine Aufzeichnungen freundlicherweise zur Verfügung stellte.

Große Hilfe bei der Übersetzung der Texte war mir mein Handžar-Kamerad Erich Elbling. Die meisten anderen treuen Helfer sind inzwischen leider verstorben. Das Korrigieren der Manuskripte und deren sprachliche Vervollkommnung erfolgten durch Herrn Manfred Rampp, dem meine besondere Anerkennung gebührt.

Zum besonderen Dank bin ich meiner Lebensgefährtin Frau Franziska Friedrich verpflichtet, die mir durch ihr Verständnis und ihre große Geduld die erforderlichen zeitlichen und räumlichen Voraussetzungen geschaffen hat, dieses Buch zu schreiben.

Dieses Buch über die Handžar-Division schrieb ich zum Andenken an die vielen tapferen bosnischen Kameraden, die für eine in ihren Augen gerechte Sache im Zweiten Weltkrieg an der Seite Deutschlands gekämpft, gehofft und gelitten hatten; viele verloren dabei ihr Leben.

Es bleibt die Hoffnung, dass kommende Geschichtsschreiber über die Geschichte der Handžar-Division so schreiben, wie diese wirklich war. Ich habe mich bemüht, unbeeinflusst von täglichen politischen Strömungen und Meinungen, mit diesem Buch einen bescheidenen, ehrlichen Beitrag zu Wahrheitsfindung zu leisten. Ob mir das gelungen ist, möge der Leser entscheiden.

Dennoch kämpfe ich weiter,
stehend entgegen der Welt:
Kann ich nicht siegen als Held,
will ich doch fallen als Streiter.

Hermann Hesse

Zvonimir Bernwald
im Sommer 2012

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Blick auf Sarajevo (1932)

KAPITEL 1

Meine Kindheit und Jugendzeit

Die Kinder kennen weder Vergangenheit noch Zukunft, und – was uns Erwachsenen kaum passiert – sie genießen die Gegenwart.

Jean de la Bruyère

Es muss wohl ein heißer Sommertag gewesen sein, dieser 8. August des Jahres 1924, als ich in Slavonski Brod geboren wurde. Ich weiß das deshalb besonders gut, weil mir meine Mutter später erzählte, dass sie mit Ungeduld und Verlangen den Eisverkäufer erwartete, der an jedem dieser heißen Tage mit seinem Wägelchen an unserem Haus vorbeikam.

Mein Geburtsort liegt am Grenzfluss Save in der Provinz Slawonien. Auf der anderen Seite ist bereits Bosnien, mit dem wir mit einer Brücke über den Fluss verbunden waren. So erklären sich viele Berührungspunkte, die ich in meinem Leben mit Bosnien und den Bosniaken hatte. Als Kinder schon konnten wir das Minarett der Moschee in Bosanski Brod sehen, und wenn wir Glück hatten, konnten wir auch den Ruf des Muezzins von der anderen Seite hören. Viele muslimische Landfrauen kamen zu uns auf den Wochenmarkt, um zu kaufen und zu verkaufen. Im Gegensatz zu den katholischen Bauersfrauen verkauften sie ihre ausgelassene Butter als „Maslo“. Manche von ihnen waren verschleiert und fast alle hatten die in der damaligen Zeit üblichen, wallenden Pumphosen an. Die strenggläubigen Muslime trugen immer den roten Fez. Mitunter trug einer der Bosniaken ab und zu auch den weißen Turban um den Fez; dann wussten wir, das ist ein Pilger, der in Mekka war.

In unserem Marktflecken gab es zwei römisch-katholische Kirchen, eine davon innerhalb eines alten Franziskaner-Klosters. Im Kloster waren die Räume der Križari („Kreuzler“), einer katholischen Jugendorganisation, untergebracht, deren Mitglied auch ich war. Als Ministrant bin ich dort ein- und ausgegangen; besonders in der Karwoche waren wir Ministranten fleißige Besucher des großen Speisesaals des Klosters.

Da im Kloster nicht alle Zimmer von den Mönchen belegt waren, wohnte darin unter anderem auch unser Lateinlehrer Paul Wellenreiter. Zu Beginn des Latein-Unterrichts begrüßte ihn die Klasse mit erhobener rechter Hand und rief aus voller Kehle „Salve Magister“. Er antwortete, ebenfalls wie römische Imperatoren, mit erhobener Hand und mit dem Ruf: „Salvete pueri.“ Den heute so verrufenen Hitlergruß kannte damals keiner von uns. Die Partisanen haben unseren Lateinlehrer und seltsamen Junggesellen Paul Wellenreiter nach Kriegsende umgebracht.

Einige Jahre war ich als Gymnasialschüler auch Mitglied der Pfadfinder-Bewegung. Die Kenntnis der Bewegung war mir sehr hilfreich, als ich dort auf meiner Flucht im Mai/Juni 1945 durch dortige Pfadfinder versorgt wurde und mit meinen einschlägigen Kenntnissen auftrumpfen konnte.

In Slavonski Brod befanden sich außerdem eine serbisch-orthodoxe Kirche, eine jüdische Synagoge und eine protestantische Kirche. Die Frau des protestantischen Pfarrers namens Hoffmann traf ich in den ersten Tagen meiner Flucht 1945 nach der Kapitulation im östlichen Sudetenland. Die orthodoxe Kirche und die Synagoge wurden kurz nach der Gründung des Unabhängigen Staates Kroatien 1945 dem Boden gleichgemacht. Wer die Täter waren, weiß ich leider nicht mehr. Waren es Bürger aus der Stadt oder waren es Fremde? Heute noch zerbreche ich mir den Kopf, woher diese plötzliche Feindseligkeit und Verrohung rührte.

Den unterschwelligen Hass gegen die Serben kann ich noch verstehen, denn mancher Kroate hatte unter ihrer Herrschaft zu leiden. Aber warum wurden die Juden genauso verfolgt? Meine Mutter kaufte den Barchent, jenen flauschigen Baumwollstoff für unsere Hemden, immer als Meterware beim Juden Gottesmann und mit dem sprach sie dann immer nur Deutsch. Und der Kaufmann König lief an unserem Hause vorbei, um in sein Geschäft in der Stadt zu kommen. Harmlose Bürger, die keinem etwas getan hatten. Und trotzdem wurde die Synagoge zerstört und die Juden verschwanden. Warum?

Doch zurück zu den erfreulicheren Seiten unseres täglichen Lebens jener Tage. An der Form des Grußes konnte man sofort feststellen, welcher Ethnie die betreffende Person angehörte: die Kroaten/Katholiken grüßten meist mit ihrem frommen „Gelobt sei Jesus Christus und Maria“, die Serben sagten kurz ihr „Guten Tag“ und die Muslime deklamierten fast singend das „Selam aleykum“.

Slavonski Brod lag damals im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Später wurde ich immer wieder gefragt, wie ich zu meinem für deutsche Ohren merkwürdigen Vornamen kam. Nun, das kam so: Mein Vater hatte drei Söhne, und diesen seinen Söhnen wollte er die Namen von Kaisern oder Königen geben. Mein ältester Bruder hieß nach dem russischen Zaren Nikolaus; der mittlere bekam den Namen Otto, nach dem österreichischen Kaiser. Ich bekam den Namen des kroatischen Königs Zvonimir, der von 1075 bis 1089 regierte. Als ich im Sommer 1945 im amerikanischen Kriegsgefangenenlager Regensburg mit Tausenden von anderen Gefangenen umherging, kam plötzlich ein Lagerinsasse auf mich zu und rief aus: „Mensch, du bist der mit dem komischen Vornamen!“ Es handelte sich bei ihm um einen Ausbilder aus meiner Rekrutenzeit bei der Leibstandarte (LSSAH) in Berlin.

Mein Vater hatte im Ersten Weltkrieg, zusammen mit vielen Kroaten, Serben und Muslimen, in der k. u. k. Armee gedient. Wir Kinder haben uns oft seine und seiner Kameraden Erlebnisse von der russischen Front an der Dobrudscha und vom italienischen Kriegsschauplatz an der Piave 1918 angehört, die er zusammen mit einem Serben und einem Kroaten in der feuchtfröhlichen Weinrunde erzählte.

Was war der wesentliche Unterschied zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg? Der Erste Weltkrieg bestand, bezogen auf die russische Front, gemäß den Erzählungen und aus der Sicht meines Vaters, aus einer Reihe verbissen geführter Kampfhandlungen, aus denen aber die Menschlichkeit noch nicht ganz verbannt war. Der Zweite Weltkrieg hingegen, den ich selbst miterlebt habe, war erbarmungslos, grausam und unmenschlich.

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Mein Vater 1917 als k. u. k. Soldat

Wenn ich heute, nach mehr als 70 Jahren, über meine Kindheit berichte, kommt mir angesichts des rasanten technischen Fortschritts vieles so vor, als lebte ich damals als Kind um mehr als hundert Jahre früher. Viele meiner Altersgenossen aus Deutschland haben ihre Kindheit zwar ähnlich und ebenfalls sehr bescheiden verbracht. Wir waren aber, im westlichen Teil des Balkans, im technischen Fortschritt noch um eine Stufe zurück. Das soll durch einige Schilderungen aus der damaligen Zeit veranschaulicht werden: Mein Vater war, als kleiner Handwerker und Küfer, gänzlich vom klimatischen Verlauf des jeweiligen Jahres abhängig. War die Witterung im Laufe des Jahres günstig für die Landwirtschaft und konnten die Bauern reichlich Ernte bei Getreide, Obst und Weinen einbringen, dann konnte Vater seine Produkte – Fässer für Wein und Schnaps, Bottiche aller Art und Größen für Weintrauben-Maische, Sauerkraut und Gemüseeinlegen – gut und zu vorteilhaften Preisen verkaufen. Für unsere Mutter und auch für uns Kinder gab es dann so manches Extra. Mutter musste Vater nicht um Geld für gewisse „Extravaganzen“ anbetteln, wie er es nannte.

War das Jahr jedoch schlecht und die Erträge der Landwirtschaft gering, so war es mühsam für ihn, genug Geld für das kommende Jahr zusammenzukratzen. Obwohl wir nicht direkt gehungert haben und weitgehend als Selbstversorger mit eigenen Schweinen für Fleisch und Fett, mit eigenem Gemüse aus dem Garten eingedeckt waren, fehlte in solchen Jahren oft das Geld für Zucker, Gewürze, Öl, Reis, Mehl und andere Lebensmittel des täglichen Bedarfs – und natürlich auch für Schuhe, Socken, Hemden, also Bekleidung aller Art. Mit den Worten „Ich habe kein Geld, um dir das zu kaufen“ waren viele Gespräche für die Beteiligten beendet, und zwar ohne dass gemurrt oder gar gemault wurde. Wir hatten alle vor unseren Eltern, besonders aber vor Vater, zu großen Respekt, eine unmerkliche Achtung und natürlich auch ziemlich Angst. Und dennoch: Wenn ich mir heute so die zahlreichen „sozialen Einrichtungen“ für die Betreuung von Kindern anschaue, wie zum Beispiel „Kitas“ usw., so hatte unsere Kindheit einen großen Vorteil gegenüber heute gehabt: Immer, wenn wir nach Hause kamen, waren unsere Mütter für uns da. Sie hatten Zeit für uns und wir konnten ihnen unser Herz ausschütten.

Als geschickte Schneiderin, ihr Vater war ein Herrenschneider, hatte Mutter oft „Aus Alt mach Neu“ hervorgezaubert. Die Mäntel meines großen Bruders wurden zunächst für meinen mittleren Bruder umgeändert, um sie dann endlich mir anzupassen. Musste ich manchmal den Mantel meines ältesten Bruders umgeändert tragen, waren spöttische Bemerkungen meiner Schulfreude nicht zu überhören: „Der Verstorbene war aber kleiner als du!“

Bohnenkaffee gab es bei uns nur an den wichtigen Feiertagen; sonst wurde Zichorienkaffee1 getrunken; Mutter hat ihn durch eigene geröstete Getreidesorten ergänzt. Zum Frühstück wurde manchmal eine kräftige Einbrennsuppe serviert oder es wurde Milchkaffee getrunken – in den schlechten Jahren mit Polenta, das jedoch nur aus Maismehl gekocht wurde, denn der Maisgrieß war zu teuer.

Meine Mutter kochte aus reifen Tomaten einen dicken Saft, den sie in Literflaschen abfüllte, mit Schweinedarm verschloss und einige Tage in der späten Herbstsonne konservieren ließ. Das gab dann im Winter eine unübertroffene Tomatencremesuppe. Als Einlage wurden entweder selbst gemachte dünne Suppennudeln oder Reis dargereicht. Neben selbst eingemachtem Sauerkraut wurden jedes Jahr auch die nicht mehr ganz reifen Tomaten, Gurken und Rüben mit allerlei Küchengewürzen, wieder Eigenbau aus dem Garten, ins Salzwasser eingelegt. Diese wurden im Winter als Salat gegessen. An Obst gab es im Winter neben Äpfeln und Walnüssen manchmal auch Orangen und Feigen, die aus Dalmatien kamen. Konserven, Hartkäse, feine Schokolade, Salami und andere kulinarische Köstlichkeiten gab es in den „feinen Delikatessläden“ für reiche Leute. Wir waren als Kinder auch ohne diese Leckereien mehrheitlich zufrieden, denn die Sorgen um das tägliche Tun unserer Eltern und ihre körperliche Arbeit haben wir alle hautnah miterlebt.

Es gab bei uns sowohl orthodoxe als auch katholische Lehrlinge. Eines Tages kam sogar ein „Türke“ zu uns. So nennen Serben noch heute vielfach bosnische Muslime. Dieser neue Lehrling namens Alija wurde von uns Kindern freudig, jedoch mit einer gewissen Skepsis empfangen: Ob er wohl einen Fez tragen und fünf Mal am Tag seine Gebete verrichten würde?

Bei uns aß man weiterhin ausgiebig Schweinefleisch, ohne auf den jungen „Türken“ Rücksicht zu nehmen. So nach und nach aber gewöhnte er sich an den Kochtopf seiner Meisterin, besuchte mit anderen Lehrlingen sonntags die katholische Messe und feierte mit uns Weihnachten und Ostern.

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Auszug aus dem Register der Eheschließungen der katholischen Kirche im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen im Jahre 1919. Man beachte die Bezeichnung „Königreich Kroatien“ und die Schreibweise der Familiennamen.

So vergaß er allmählich auch den Fastenmonat Ramadan, den Kurban Bajram und andere moslemische Feste. Keinem Nachbarn fiel auf, dass Alija ein Moslem war; sein Name verriet, dass er kein Christ war. Das jedoch störte keinen Menschen. Man war in vieler Hinsicht tolerant.

Nach Abschluss seiner Küferlehre beschloss Alija, Katholik zu werden. Zu seinen fernen Verwandten hatte er die ganzen Jahre hindurch kaum Verbindung. Von bezahlten Ferien stand damals im Lehrvertrag wohl nicht viel. Alija fühlte sich als Christ und nicht als Moslem und wollte deshalb getauft werden.

Nun war zu jener Zeit der Übertritt eines Moslems zum katholischen Glauben, zumal in einer christlich geprägten Kleinstadt, kein alltägliches Ereignis. Normalerweise blieb ein jeder Mensch sein Leben lang seinem Glauben treu, ob nun Christ, Jude oder Muslim. Damals lebte in unserem Städtchen ein päpstlicher Legat, der natürlich beachtliches Ansehen in der Bevölkerung genoss und der es vermutlich als sein besonderes Verdienst ansah, einen Muslim in den Schoß der katholischen Kirche aufzunehmen.

Nach entsprechendem Unterricht und wochenlangen Unterweisungen in die Praktiken und Mysterien der Lehre der katholischen Kirche war es dann soweit. An einem Pfingstsonntag fand dann seine feierliche Taufe auf den Namen Emil statt. Diesen Rufnamen wählte er vermutlich deshalb, weil ich zu jener Zeit Erich Kästners Buch „Emil und die Detektive“ las; die Hauptperson Emil gefiel ihm ganz besonders gut.

Nach einigen Jahren verließ dann der Handwerksgeselle die Lehrmeisterfamilie und ging, wie es damals so üblich war, auf die Wanderschaft. Kurze Zeit danach erreichte dann der Zweite Weltkrieg den Balkan und den jungen Küfer im Süden Ungarns. Hier gedeihen dank guten Bodens und kräftiger Sonne ausgezeichnete Weine und ein fleißiger Küfer wird hierzulande nicht arbeitslos. In der Zwischenzeit hatte unser Emil dort auch ein ehrenhaftes und fleißiges Mädchen gefunden, das er zu heiraten beabsichtigte. Als er diese Absicht dann auch dem ungarischen Standesbeamten offenbarte, sagte dieser zu ihm: „Wenn du eine Ungarin heiraten und hier bleiben willst, musst du dich von deinem jugoslawischen Familiennamen trennen und dir einen ungarischen zulegen!“

Dem Bosnier Alija Kopić und Jungkatholiken Emil blieb also nichts anderes übrig, als seinen bosnischen Familiennamen abzulegen. So verwandelte sich der Moslem Alija Kopić in den Ungarn Emil Rodnay. Ihm war das wahrscheinlich auch gleichgültig; wichtig war nur, dass der Heirat mit seiner lieben Juliška nichts mehr im Wege stand.

Eine festgefügte Welt

Manchmal frage ich mich, ob die „gute alte Zeit“ wirklich so „gut“ war? Wir lebten damals in einer festen Weltordnung: Es gab Reiche und Arme. Aber wir „Armen“ waren trotzdem manchmal viel glücklicher als die „Reichen“. Wir durften spielen, wie wir wollten und wo wir wollten. In unseren verschmutzten und manchmal zerrissenen Kleidern gehörte uns die Welt. Wir konnten uns frei und ungebunden in unserer Umgebung entwickeln; hohe materielle Ansprüche waren uns unbekannt.

So ging es fast allen Nachbarskindern und später auch den Mitschülern im Gymnasium. Dabei waren auch Kinder von reichen Bauern, die jeden Tag, im Sommer wie im Winter, mit dem Zug zur Schule fahren mussten. An ihren Kleidern konnte man zwar feststellen, dass es Bauernkinder waren. Obwohl sie durchwegs die intelligentesten und fleißigsten Schüler waren, ließ einmal ein Lehrer die Bemerkung fallen: „Bei denen riecht man den Opanken.“ (Opanken waren seinerzeit das typische Schuhwerk slawonischer Bauern.)

In der vierten Klasse des Realgymnasiums hatte nur ein Schüler eine Kodak-Retina und zwei andere hatten Fahrräder. Uns allen ging es damals ähnlich; Neid kannten wir nicht. Wir waren alle gleich arm, aber trotzdem froh und gelassen. Skiferien waren seinerzeit für uns ein Fremdwort.

Einmal durfte ich als kleiner Bub bei einer kroatischen Bauernfamilie Weihnachten verbringen. Nach dem Besuch der Mitternachtsmette, den wir selbstverständlich zu Fuß in der tief verschneiten Landschaft absolviert hatten, ging es in die gute warme Stube. Viele Bauern legten ihre große Wohnstube mit Stroh aus, wodurch eine heimelige Wärme entstand. Nach dem üppigen Mitternachtsmahl schliefen wir Kinder selig im wärmenden Stroh ein.

Gerne erinnere ich mich an die vielen kroatischen Bäuerinnen in ihren Volkstrachten, die den Samstagmarkt besucht hatten. Dazu mussten sie einen Weg von bis zu acht Kilometern zu Fuß zurücklegen. Auf dem Kopf und in den beiden Händen trugen sie die vollen Körbe mit Erzeugnissen ihrer Höfe: Gemüse, Obst, Eier, Rahm, Butter, frisches Geflügelfleisch, Geräuchertes, auch selbst gebrannter Slibowitz war dabei.

Für die Schulverpflegung, die Volksschule war etwa eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt, bekam ich immer nur eine dicke Scheibe des selbst gebackenen Brotes mit reichlich Schweineschmalz mit; geschmeckt hat es immer. Übrigens: Das Schlachtfest dauerte zwei Tage und es wurden fast immer drei große Schweine mit je 100 bis 120 kg geschlachtet. Die schweren Speckseiten und Schinken wurden zunächst mit Pökelsalzlake behandelt und in große Fässer eingelegt, bevor sie in der eigenen Räucherkammer geräuchert wurden. Mein Vater überwachte mit besonderem Interesse höchstpersönlich das Räuchern dieser Schlachterzeugnisse. Die Zusammenstellung des Sägemehls, mit Tannenholz vermischt, die Temperatur des Rauchs und die Dauer der Behandlung waren sein streng gehütetes Geheimnis.

In mageren Jahren gab es im Winter am Montag Sauerkraut, am Dienstag Kernbohnengemüse, am Mittwoch den Rest vom Sauerkraut und vom Kernbohnengemüse. Das übliche Weizenweißbrot wurde mit Maismehl und Kartoffeln gestreckt. Das Brot wurde einmal wöchentlich im großen Backofen gebacken. Heute gelten solche Brotsorten als Besonderheit, damals war es die Nahrung der armen Leute.

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Ein Ausflug ins Grüne im Jahre 1933

Zu Weihnachten lagen hauptsächlich Hemden, genäht von meiner Mutter, und Socken, ebenfalls gestrickt von ihr, unter dem Christbaum. Wie sie das wohl alles bewerkstelligt hatte, ist mir bis heute ein Rätsel. Denn sie musste meinen Vater, drei Söhne, einen Lehrling und einen Gesellen dreimal täglich mit kräftigem Essen versorgen. Der Beruf eines Küfers war damals körperlich sehr anstrengend und erforderte sättigende Nahrung. Als Dank dafür konnte sie sich am Sonntagnachmittag mit einigen Nachbarinnen ein kleines, gemütliches Schwätzchen erlauben. Zweimal im Jahr hatte sie sonntags den ganzen Tag frei: einmal zur Feier des hl. Florian, zu der die Frauen der Feuerwehrmänner mit einem alten LKW zur Festwiese gefahren wurden. Mein Vater war Fahnenträger bei der Feuerwehr. Dort gab es Spanferkel, junge Zwiebeln, frisches Brot und genug Wein Marke Eigenbau. Der zweite Ausflug war der jährliche Besuch der bischöflichen Kathedrale in Djakovo mit dem katholischen Frauengesangsverein, bei dem meine Mutter indes nur Passivmitglied war.

Mein ältester Bruder Nikola musste den Besuch des Gymnasiums aufgeben, weil seine Noten schlecht waren und mein Vater keine Mittel für das Schulgeld mehr hatte. Zuerst mussten Steuern und dann die Zinsen für den Kredit fürs Daubenholz bei der Gewerbebank bezahlt werden. Dazu kamen weitere Verpflichtungen.

Meine Schulferien habe ich meistens bei meinen Großeltern mütterlicherseits im Dorf Batajnica, nahe dem Belgrader Stadtteil Zemun, verbracht. Damals lebten in diesem Dorf nur noch zwei katholische, deutschstämmige schwäbische Familien; nämlich mein Großvater, der eigentlich Brüstel hieß, und eine Familie namens Hartmann. Alle anderen Einwohner waren Serben, also Orthodoxe oder „Pravoslawen“, wie man die Serben im Allgemeinen nannte.

Gut im Gedächtnis ist mir aus dieser Zeit die Erzählung meines Großvaters über seine wechselhafte Beziehung zum orthodoxen Popen im Dorf. Als 1914 im Rahmen der Truppenbewegung der Österreicher k. u. k. Soldaten durch Batajnica marschierten, bekam es der Pope mit der Furcht zu tun und bat meinen Großvater, ihn die ersten Tage bei sich auf dem Dachboden zu verstecken. Glücklicherweise war die Angst des Popen unbegründet, denn es geschah während des Krieges nichts Besonderes im Dorf.

Als Ende 1918 serbische Truppen, die an der berühmten Soluner Front (Saloniki-Front) kämpften, siegreich durch Batajnica marschierten, fürchtete sich mein Großvater als Schwabe vor den serbischen Truppen. Also ging er zum orthodoxen Popen und bat diesen, ihn bei sich im Pfarrhaus zu verstecken. Der Pope tat dies und der gegenseitige Handel war erledigt.

Mein Großvater ging, obwohl Katholik, sonntags regelmäßig in die nahe orthodoxe Kirche. Ich durfte als kleiner Bub anfangs mit, wobei mir meine Großmutter immer einen Fetzen einer sauberen Einkaufstüte mitgab. Nach dem Gottesdienst verteilte nämlich der Pope an die Messebesucher das traditionelle Koljivo, eine Art gekochten Weizenbrei, mit Honig gesüßt. Fast alle meine Onkel und Tanten haben später im Übrigen orthodoxe Partner geheiratet, was damals keinen Menschen störte. Zur Herkunft meiner Großeltern mütterlicherseits ist zu sagen, dass Großmutter von ihrer Großmutter zu erzählen wusste, dass sie „Schlesien verlassen habe, weil es dort immer Kriege gab“.

An dieser Stelle sei noch auf ein bezeichnendes Einzelschicksal eingegangen: In Batajnica wurde zu Beginn des Ersten Weltkrieges auch ein junger Serbe eingezogen; bekanntlich mussten alle Staatsbürger der k. u. k. Monarchie Kriegsdienst leisten, egal ob Serbe, Bosniake, Kroate oder Tscheche. Leider fiel der Serbe gleich zu Beginn des Krieges und seine noch sehr junge Witwe bekam vom österreichischen Staat eine bescheidene Witwenrente in Forint. Als nach dem 1. Dezember 1918 Batajnica in das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen eingegliedert wurde, erhielt die junge Witwe ihre Rente aus Wien weiter, nun allerdings in jugoslawischen Dinar. Im Frühjahr 1941, nach dem Balkanfeldzug, kam Batajnica zum Unabhängigen Staat Kroatien. Ihre Witwenrente wurde ihr jetzt in der neuen Währung, Kuna, ausbezahlt. 1945 wurde dann die Föderative Sozialistische Republik Jugoslawien gegründet. Jetzt bekam die Witwe ihre Rente wieder in jugoslawischen Dinar. In der Folge verstarben alle näheren Verwandten und die alte Frau stand allein da. Da besann sich meine in Düsseldorf lebende Cousine ihrer Tante und nahm sie zu sich nach Deutschland. Jetzt bekam die fast Hundertjährige ihre österreichische Rente in D-Mark ausbezahlt. Ihre Lebensgeschichte erzählte sie mir persönlich. Man fühlt sich an Schopenhauers Bonmot „Das Schicksal mischt die Karten, und wir spielen mit.“ erinnert.

Die Erschießung von kroatischen Bauern im Jahre 1934 durch die jugoslawische Gendarmerie ist mir noch im Gedächtnis. Sie war eine Art Polizei des Belgrader Innenministeriums und hatte fast die gleichen Uniformen wie die regulären Soldaten. Nach einer Protestversammlung, die durch die Gendarmerie gewaltsam aufgelöst wurde, flüchteten die Bauern panikartig in ihre Dörfer zurück. Einige der Demonstranten wurden während ihrer Flucht in unserer Straße angeschossen, wo sie auch verbluteten. Eine schlichte Tafel auf dem Friedhof von Slavonski Brod erinnert an diese Toten. Solche Ereignisse erinnern mich immer wieder an die unrühmliche Zeit des jugoslawischen Staates.

Exkurs: Die jugoslawische Tragödie

Bereits mit der Gründung Jugoslawiens im Jahre 1918 begann das, was man als jugoslawische Tragödie bezeichnen könnte. Die Schwierigkeiten des Zusammenwachsens der verschiedenen südslawischen Volksgruppen/ Stämme im neuen Staat waren immens groß. Da gab es drei große Religionsgemeinschaften, nämlich die römisch-katholische Kirche, die serbischorthodoxe Kirche sowie die Muslime, die Islamische Gemeinschaft. Das Verhängnis ist allerdings, dass man die Religion mit der ethnischen Zugehörigkeit gleichsetzt. Das bedeutet, dass ein Katholik gleichzeitig ein Kroate ist, obwohl er möglicherweise in Serbien wohnt. Und ein Orthodoxer ist gleichzeitig ein Serbe, wenn er auch in Bosnien wohnt. Mit den Muslimen wird der Vergleich etwas schwieriger.

Uns Schulkindern war diese Regelung nur recht, denn wir feierten immer zwei Feiertage; zum Beispiel das katholische und das orthodoxe Weihnachtsfest. Das Gleiche galt für das Neujahr, das Osterfest und andere christliche Feiertage. Die muslimischen Schüler profitierten von dieser Regelung, denn sie konnten die Feiertage beider Konfessionen genießen. Übrigens: Es waren ganz wenige muslimische Gymnasialschüler bei uns, obwohl bereits auf der anderen Seite der Save Bosnien und das Städtchen Bosanski Brod waren. Kurz nach dem Ende des Bürgerkrieges, um 1995, haben die Serben den jahrhundertealten Namen in Srpski Brod/Serbisch Brod umgetauft, was inzwischen wieder rückgängig gemacht worden ist.

Es gab zu dieser Zeit zwei unterschiedliche Schriften, die lateinische und die kyrillische, und damit auch zwei verschiedene Kalender, nämlich den gregorianischen und den julianischen. Die Probleme des Zusammenwachsens wurden außerdem durch die zahlreichen Minderheiten mit ihren verschiedenen historischen Herkünften noch erhöht; zu nennen wären hier zum Beispiel Italiener, Deutsche, Magyaren, Slowaken, Rumänen, Kosovo-Albaner und Bulgaren.

Als Folge der Gründung des jugoslawischen Staates im Jahre 1918 wurden alle deutschen, aber auch magyarischen/ungarischen Familiennamen der slawischen Schreibweise angepasst: So wurde aus Brüstel, dem Familiennamen meiner Mutter, Pristel, und aus Göerky wurde – serbokroatisiert – Ðerki. Mein Großvater väterlicherseits hieß ursprünglich Bärenwald; sein Familienname wurde in Bernvald slawisiert.

Die treibende Kraft im neuen Staat war der immer stärker werdende Machthunger der Serben. Sie, die mit den Siegern gekämpft hatten und mit rund 40 Prozent die stärkste Bevölkerungsgruppe stellten, wollten mit keiner anderen Ethnie die Macht teilen. Belgrad war serbisches Machtzentrum und blieb es bis zum Ende des jugoslawischen Staates.

In Slavonski Brod, obwohl in Kroatien liegend und mit 80 Prozent der Bevölkerung ausgesprochen kroatisch/katholisch geprägt, waren in den 1930er Jahren der Chef der Polizei und des Postamtes, der Bahnhofvorstand, der Direktor des Gymnasiums sowie der Kommandant der Garnison Serben aus Serbien. Das Vorgehen der serbischen Verwaltung war dabei sehr einfach: Ein Kroate in einer staatlichen Dienststelle wurde oft gegen seinen Willen nach Serbien versetzt; an seine Stelle kam ein Serbe, der sich in der Regel dauerhaft hier niederließ.

Das Kyrillische, die Schrift der serbisch-orthodoxen Kirche, trat an die erste Stelle, wie auf meinem Zeugnis der 4. Klasse Volksschule aus dem Jahre 1935 ersichtlich ist. Erst im Jahre 1939 wurde dies geändert und die kyrillische Schrift verschwand aus den Schulzeugnissen gänzlich.

In Deutschland kam 1933 die NSDAP an die Macht. Diese Tatsache beunruhigte natürlich auch die jugoslawische Führung. Deshalb fuhr König Alexander I. 1934 nach Frankreich, das immer noch eine unauffällige, stillschweigende Schutzmacht Serbiens war, um die neue politische Lage auszuloten. Am 9. Oktober 1934 landete er mit einem Kriegsschiff in Marseille, wo er von dem damaligen französischen Außenminister Louis Barthou empfangen wurde. Auf der Fahrt durch die Stadt wurden der König und der Außenminister von dem mazedonischen Nationalisten Vlado Georgiev, genannt Cernozemski, erschossen. Der Attentäter wurde daraufhin von einem Oberstleutnant getötet. Dieses Attentat hatte der spätere Führer des Unabhängigen Staates Kroatien, Ante Pavelic, organisiert.

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Das Zeugnis der 4. Klasse der Volksschule im Jahre 1935, zweisprachig und mit jugoslawischem Staatswappen. Fünf Jahre später hatten die Kroaten auf der Stempelmarke ihr eigenes Wappen und im Text die lateinische Schreibweise durchgesetzt.

Nach dem Tode Alexanders I. bestieg sein ältester Sohn als Peter II. den jugoslawischen Thron. Da Peter II. noch minderjährig war, wurde ein Regentschaftsrat unter der Führung von Prinzregent Pavle Karadordevic eingesetzt. Prinzregent Pavle (Paul) war Vetter vom Alexander I. Er studierte in Oxford und war Träger des englischen Hosenbandordens. Nach dem Balkanfeldzug 1941 flohen die Mitglieder des Königshauses übrigens über Griechenland nach England.

Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im Jahre 1938 hatte für Kroatien zur Folge, dass es dadurch weitgehende politische Rechte und Freiheiten bekam. In den letzten Augusttagen 1939 wurde, nach langen Verhandlungen, der Sporazum, der Verständigungspakt zwischen der kroatischen Führung und der Regierung in Belgrad, unterzeichnet; in der Folge wurden fünf Kroaten Minister in der Belgrader Regierung.

Ende 1940 drängte Hitler Jugoslawien, dem Dreimächtepakt beizutreten. Die damalige jugoslawische Regierung gab dem Drängen Hitlers schließlich nach. Regierungschef Cvetkovic und Außenminister Cincar-Markovic unterzeichneten am 25. März 1941 in Wien feierlich den Eintritt Jugoslawiens zum Dreierpakt.

Die Tinte der Unterschriften war noch nicht trocken, als am 27. März 1941 als Reaktion auf die Zustimmung der Regierung zum Dreimächtepakt einige hohe serbische Offiziere unter Draža Mihailovic in Belgrad putschten und den noch minderjährigen Thronfolger zum neuen König Peter II. ausriefen. Das Ziel der Revolte war eigentlich eine gewisse Neutralität Jugoslawiens, die jedoch angesichts der politischen und militärischen Verhältnisse auf dem Balkan illusorisch war. Es wurde die Mobilisierung der jugoslawischen Armee angeordnet. Außerdem waren einige englische Generalstabsoffiziere und Verbindungsmänner bei der jugoslawischen Armee in Belgrad eingetroffen. Im Gegenzug dazu wurden einige jugoslawische Generalstabsoffiziere nach Griechenland zu den dort operierenden englischen Streitkräften entsandt. Das alles blieb der Reichsregierung natürlich nicht verborgen.

Jugoslawische Kommunisten und serbische Tschetniks (serb. Cetnici) organisierten als Reaktion auf den Pakt mit dem Deutschen Reich im ganzen Lande zahlreiche Demonstrationen mit dem Ruf: „Bolje rat nego pakt“ – auf Deutsch: Besser Krieg als Pakt.

Als Antwort auf den Wortbruch der jugoslawischen Regierung befahl Hitler den Angriff auf Jugoslawien. Am 6. April 1941, an einem Palmsonntag, bombardierten deutsche Stukas Belgrad und der Balkanfeldzug begann. Unter uns Gymnasialschülern wurde dieses Ereignis beim obligaten Besuch der Sonntagsmesse noch nicht besonders ausführlich diskutiert. Die Nachricht vom Krieg hatte sich damals nur sehr langsam durchs Radio verbreitet. Wer aber hatte schon ein Radio! Wir waren verpflichtet, die Sonntagsmesse zu besuchen. Die Bescheinigung darüber wurde von Frater Karlo im Kloster unterschrieben und am Montag in der Schule abgegeben. Direktor unseres Gymnasiums war nicht mehr der Serbe Lazar Celap, der aus Serbien nach Brod kam und nun wieder nach Belgrad ging, sondern Monsignore Dr. Stjepan Guncevic, ein erklärter Gegner der Kommunisten. Er wurde nach Kriegsende mit einigen anderen katholischen Würdenträgern von den Tito-Partisanen grausam ermordet.

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Die Aufteilung jugoslawiens nach dem Ende des Balkanfeldzugs im April 1941

Der Balkanfeldzug wurde am 17. April 1941 durch die bedingungslose Kapitulation der jugoslawischen Armee beendet. Mein ältester Bruder Nikolaus diente seinerzeit auch in der jugoslawischen Armee und kam in Dalmatien in italienische Kriegsgefangenschaft. Sonst hatten wir von diesem Krieg zu keinem Zeitpunkt etwas gemerkt. Als Schüler hatten wir zwangsweise einige Wochen Ferien.

Am 10. April 1941 proklamierte der ehemalige k. u. k. Oberstleutnant Slavko Kvaternik in Zagreb den Unabhängigen Staat Kroatien. Am 15. April erkannten die Reichsregierung und die Italiener diesen Unabhängigen Staat unter der Führung von Dr. Ante Pavelic an. Hitler hätte lieber den gemäßigten kroatischen Politiker und Führer der Kroatischen Bauernpartei, Dr. Vlatko Macek, als ersten Staatschef Kroatiens gesehen. Dieser winkte jedoch ab. Die Mehrheit der kroatischen Bevölkerung nahm dieses Ereignis eher teilnahmslos als begeistert auf. Die Menschen wollten nichts als Frieden.2

Bis dahin kannten wir Schüler der einst so fröhlichen und sorglosen 6. Klasse des Realgymnasiums in Slavonski Brod weder nationale noch politische Differenzen; von nun an aber gingen wir verschiedene Wege.

Der neue Staatschef Dr. Ante Pavelic und seine Ustascha-Bewegung, extreme kroatische Nationalisten, waren den meisten Menschen unbekannt; deren Teilnahme am Königsattentat von 1934 längst vergessen. Die Mehrheit der serbischen Schulfreunde flüchtete nach und nach, meist mit ihren Eltern, nach Serbien zurück. Einige blieben bei ihren Verwandten, besonders wenn sie einen unauffälligen Namen hatten; Mischehen gab es in Hülle und Fülle. Für die neuen Machthaber, die Ustascha (kroat. Ustaša), entschieden sich viele Kroaten; andere blieben neutral. Ein Teil von ihnen sympathisierte weiterhin heimlich mit den Kommunisten, einige davon gingen später in den Wald. Ein Cousin von mir hatte es in der Tito-Armee bis zum General gebracht. Mein Bruder Nikola wurde auch ein „Genosse Drucker“, sprich Mitglied der KPJ und ein Partisan.

Nun begann die Rache der Kroaten an der serbischen Bevölkerung. Dies war die späte Vergeltung der Kroaten für das Unrecht, das ihnen seit 1918 durch die Serben angetan wurde. Es hat aber auch rühmliche Ausnahmen gegeben: In der Stadt Tuzla in Bosnien, bekannt durch weit verbreitete Toleranz, besuchten serbische Schüler auch weiterhin das Gymnasium. Bei uns in Slavonski Brod dagegen gab es zu Beginn des neuen Schuljahres keine serbischen Schüler mehr.

Zunächst aber hatten wir noch Schulferien. Ich konnte zum ersten Male den Soldaten einer Panzer-Aufklärungsabteilung der LSSAH beim Reinigen ihrer Waffen und beim täglichen Dienst zuschauen. Sie hatten auf der Rückkehr aus Griechenland bei uns in Slavonski Brod Halt gemacht. Die Ortsgruppe der deutschen Volksgruppe in Kroatien organisierte Abendveranstaltungen und Treffen mit den deutschen Soldaten. Da reifte bei mir, dem Siebzehnjährigen, der Gedanke: „Bei einer solchen Truppe möchte ich auch dabei sein.“ Die Möglichkeit dazu ergab sich dann schneller, als ich dachte …

An dieser Stelle noch ein kurzer Einschub: In verschiedenen nachfolgenden Kapiteln wird von Ustascha (Ustaša), Tschetniks (Cetnici) und Partisanen (Tito-Partisanen) berichtet. Um den Lesern einen besseren Einblick zu vermitteln, werden diese drei Begriffe in bestimmten Zusammenhängen näher erläutert.

Die Ustascha-Bewegung