2015-5_Gleichheit

Flüchtlingskrise, Krieg und Sozialismus

Seit 14 Jahren führen die USA und ihre europäischen Verbündeten im Mittleren Osten und Nordafrika ununterbrochen Krieg. Sie und ihre Stellvertreter in der Region haben Afghanistan, Irak, Libyen, Jemen und Syrien weitgehend zerstört. Millionen starben, zig Millionen befinden sich auf der Flucht.

Gerechtfertigt wurden diese Kriege stets mit Lügen: dem Krieg gegen Terror, der Vernichtung von Massenvernichtungswaffen, der Verhinderung eines Völkermords, dem Sturz eines Diktators. Pseudolinke und ehemalige Pazifisten übertrafen sich darin, immer neue Begründungen für »humanitäre Kriege« zu ersinnen. Die UNO erfand eigens eine neue Doktrin, die Responsibility to Protect, um den Abwurf von Bomben auf wehrlose Dörfer und Städte zu rechtfertigen.

Mit den Flüchtlingen, die versuchen, dieser Hölle zu entrinnen, ist die Realität des Krieges nun auch im Zentrum Europas angelangt. Angesichts der Rücksichtlosigkeit und Brutalität, die den Verzweifelten von offizieller Seite entgegenschlägt, ist die Maske der Humanität endgültig zerrissen. Unzählige Menschen sind darüber empört und entsetzt.

Wer die gefährliche Fahrt über das Meer überlebt, durchläuft eine mehrwöchige Tortur: Konzentrationslager ohne minimale hygienische Standards, tagelange Fußmärsche, kafkaeske Behördenwillkür und immer wieder geschlossene Grenzen, Stacheldraht und prügelnde Sicherheitskräfte. Täglich wiederholen sich Szenen, wie man sie in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gesehen hat: Tausende, die in Kälte und Regen marschieren, Familien mit verzweifelten Kleinkindern, die an einer Grenze gestrandet sind und ohne Verpflegung und Schutz im Schlamm stehen.

Auch in den reichen Ländern Westeuropas hört die Qual nicht auf. Großbritannien schottet sich ab und will in den kommenden fünf Jahren 20.000 Flüchtlinge aufnehmen, das sind maximal 4.000 pro Jahr.

Das kriegszerstörte Deutschland hatte zwischen 1945 und 1950 12 bis 14 Millionen Flüchtlinge integriert, knapp die Hälfte davon die damalige DDR. Heute ist es angeblich überfordert, die sechs- bis achthunderttausend Flüchtlinge zu versorgen, die seit Anfang des Jahres ins Land gekommen sind.

In den Aufnahmelagern deutscher Großstädte herrschen katastrophale Zustände. In Hamburg und vielen anderen Städten leben tausende Flüchtlinge in ungeheizten, feuchten und zügigen Zelten. In Berlin müssen sie wochenlang ohne ausreichende Versorgung auf ihre Registrierung warten. Freiwillige Helfer werden von den Behörden systematisch sabotiert.

Die Abwehr und Misshandlung der Flüchtlingen hat Methode. Sie zeigt das wahre Gesicht des Kapitalismus. Eine Gesellschaft, die über Nacht hunderte Milliarden Euro ausgibt, um marode Banken zu retten, und in der die Zahl der Milliardäre ständig wächst, ist angeblich nicht in der Lage, Flüchtlinge aufzunehmen und anständig zu versorgen. In der Zeit des Internets, des weltweiten Flugverkehrs und der globalen Wirtschaft gibt es für Hunderttausende von Menschen keine Verwendung, keine Unterkunft und kein Recht auf Leben mehr.

Führende europäische Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens versuchen systematisch, den Bodensatz der Gesellschaft zu mobilisieren und eine rechte Bewegung aufzubauen, die sich nicht nur gegen Flüchtlinge, sondern auch gegen jede politische und soziale Opposition richtet. Sie schließen die Grenzen und plakatieren Hetzparolen gegen Flüchtlinge (Ungarn-Premier Viktor Orbán), drohen mit außergesetzlichen »Notmaßnahmen« (CSU-Chef Horst Seehofer), beschimpfen Flüchtlinge als anmaßend (Innenminister Thomas de Maizière) und warnen vor der Zerstörung des Fundaments der Gesellschaft durch fremde Kulturen (Humboldt-Professor Jörg Baberowski).

Ihre Rhetorik erinnert an die Flüchtlingskonferenz von Evian, wo sich 1938 Vertreter aus 32 Ländern trafen, um über den Umgang mit aus Nazi-Deutschland fliehenden Juden zu beraten. Sie machten die Grenzen weitgehend dicht und begründeten dies mit Übervölkerung, hoher Arbeitslosigkeit und dem Argument, man wolle kein Rassenproblem importieren (der australische Vertreter). Hunderttausende Juden bezahlten dafür mit ihrem Leben.

Das heutige Schicksal der Flüchtlinge nimmt die Zukunft vorweg, die das kapitalistische System der gesamten arbeitenden Bevölkerung und Jugend zu bieten hat: Unterdrückung, Armut und Krieg. Das hat bereits das brutale Sparprogramm gezeigt, das in den vergangenen Jahren den Lebensstandard der griechischen Arbeiterklasse dezimierte.

Im Sommer letzten Jahres veröffentlichte das Internationale Komitee der Vierten Internationale die Erklärung »Sozialismus und der Kampf gegen imperialistischen Krieg«, die warnte, dass die imperialistischen Mächte ihren Wettlauf um die räuberische Neuaufteilung der Welt seit dem Zusammenbruch des globalen Kapitalismus, der 2008 einsetzte, stark beschleunigt haben. »Immer wieder stellten sie ihre Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid unter Beweis. Jetzt hat die Krise des Imperialismus ein qualitativ neues Stadium erreicht und die Großmächte gehen das Risiko eines Atomkriegs ein.«

»Der Zusammenprall der imperialistischen und nationalstaatlichen Interessen beweist, dass es im Kapitalismus unmöglich ist, die weltweit integrierte Wirtschaft vernünftig zu organisieren und so für eine harmonische Entwicklung der Produktivkräfte zu sorgen«, heißt es weiter in der Erklärung. »Zugleich erzeugen dieselben Widersprüche, die den Imperialismus an den Rand des Abgrunds treiben, die objektiven Triebkräfte für die soziale Revolution. Die Globalisierung der Produktion hat zu einem massiven Wachstum der Arbeiterklasse geführt. Nur diese soziale Kraft, die an keine Nation gebunden ist, kann das Profitsystem und damit die Ursache von Krieg beenden.«

Das Schicksal der Flüchtlinge hat diese Einschätzung bestätigt. Mit ihnen sind die Folgen der imperialistischen Kriege im Mittleren Osten nach Europa gelangt. Die herrschenden Eliten reagieren darauf, indem sie scharf nach rechts rücken und ihre Angriffe auf demokratische und soziale Rechte verschärfen.

Unter diesen Umständen fällt die Verteidigung der Flüchtlinge untrennbar mit dem Kampf gegen Krieg und Kapitalismus zusammen. »Alle großen Probleme der Arbeiterklasse – die wachsende soziale Ungleichheit, die zunehmend autoritären Herrschaftsformen – sind untrennbar mit diesem Kampf verbunden«, heißt es in der Erklärung des IKVI. »Es kann keinen Kampf für Sozialismus ohne Kampf gegen Krieg geben, und umgekehrt keinen Kampf gegen Krieg ohne Kampf für Sozialismus.«

Das Titelbild:

Eine geflüchtete Familie am Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Fotograf: Ludwig Niethammer)

Die Auseinandersetzung über die Flüchtlingspolitik

Der Zustrom mehrerer Hunderttausend Flüchtlinge hat Deutschland politisch polarisiert. Führende Politiker und ­Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens betätigen sich als ­geistige Brandstifter.

CSU-Chef Horst Seehofer droht mit außergesetzlichen »Notmaßnahmen« und solidarisiert sich mit dem ungarischen Premier Viktor Orbán, der Flüchtlinge mit Stacheldraht, Tränengas und Militär bekämpft. Innenminister Thomas de Maizière geifert in den Abendnachrichten des ZDF, Flüchtlinge seien undankbar, anmaßend und hätten »erstaunlicherweise das Geld, um Hunderte von Kilometern mit dem Taxi durch Deutschland zu fahren«.

Humboldt-Professor Jörg Baberowski warnt vor der Zerstörung des Fundaments der Gesellschaft durch fremde Kulturen, Spiegel Online Kolumnist Jan Fleischhauer vor der »Überwindung der Nation durch ungesteuerte Zuwanderung«. Man könnte diese Liste beliebig verlängern.

Die Hetzkampagne gegen Flüchtlinge steht in scharfem Gegensatz zur Stimmung der Bevölkerung, die mehrheitlich von Mitgefühl und Hilfsbereitschaft geprägt ist. Sie ist Wasser auf die Mühlen der äußersten Rechten, die auch von den Medien hofiert wird. Jede Ansammlung von Hohlköpfen, die sich mit ausländerfeindlichen Plakaten vor ein Flüchtlingsheim stellen, erhält große Aufmerksamkeit, während die unzähligen freiwilligen Helfer, die Flüchtlinge unter großen persönlichen Opfern betreuen und versorgen, weitgehend ausgeblendet werden.

Die Flüchtlingsfrage hat zu heftigen Spannungen innerhalb der Regierung geführt. Neben der CSU greifen auch führende CDU-Politiker die Bundeskanzlerin an. Über hundert Parteifunktionäre haben einen Brandbrief unterzeichnet, der Merkels »Politik der offenen Grenzen« kritisiert und die Abweisung aller Flüchtlinge aus »sicheren Drittstaaten« an der Grenze fordert.

Merkel lehnt einen Aufnahmestopp derzeit als unrealistisch ab und wird deshalb von liberalen Medien als »Kanzlerin der Herzen« verklärt. Der Konflikt hat sich derart zugespitzt, dass einige Kommentare die Kanzlerschaft Merkels für gefährdet halten.

Tatsächlich sind die Gegensätze weitgehend taktischer Natur. Das gilt auch für die SPD, die Merkel abwechselnd als zu hart und zu weich kritisiert. In der Praxis arbeitet die gesamte Bundesregierung fieberhaft daran, den Zuzug von Flüchtlingen zu stoppen.

So reist Merkel am Sonntag persönlich in die Türkei, um Präsident Erdogan zu überzeugen, die Grenzen nach Europa abzuschotten. Sie leistet dem autoritären Präsidenten, der mit einer wachsenden Opposition konfrontiert ist, damit zwei Wochen vor der Parlamentswahl wichtige Wahlkampfhilfe.

Mehrere Polizisten kontrollieren die Eingänge zwei eiligst errichteter Zelte auf der Turmstraße. Wochenlang stellte das Land Berlin selbst diese Notüberdachung nicht zur Verfügung.(Fotograf: Ludwig Niethammer)

Fregatten der Bundeswehr stoppen und zerstören im Mittelmeer im Rahmen der Operation »Sophia« Flüchtlingsboote. In Italien, Griechenland und Bulgarien werden auf deutschen Druck riesige Internierungslager gebaut, in denen Flüchtlinge, die es über das Meer schaffen, festgehalten werden. Auch an der deutschen Grenze will die Bundesregierung, zumindest nach dem Willen der Union, solche Konzentrationslager errichten. Und der Bundestag verabschiedet noch in diesem Monat die massivste Verschärfung des Asylrechts seit 23 Jahren.

Vollkommen entlarvt wird die angebliche deutsche »Willkommenskultur« durch die Praxis vor Ort. Hier tun die Behörden alles, um den Flüchtlingen die Lage so unerträglich wie möglich zu machen. Sie schikanieren sie mit einer bürokratischen Rücksichtslosigkeit, die längst viele Todesopfer gefordert hätte, wenn es nicht die selbstlose Hilfe freiwilliger Helfer gäbe.

Obwohl es feucht ist und die nächtlichen Temperaturen vielerorts unter dem Gefrierpunkt liegen, sind laut einem Bericht der Welt alleine in den Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder noch 42.000 Flüchtlinge in ungeheizten Zelten untergebracht, darunter viele Familien mit kleinen Kindern.

Besonders skandalös ist die Lage in Berlin, wo Flüchtlinge oft wochenlang anstehen müssen, um überhaupt registriert zu werden. Bis dahin haben sie weder das Recht auf eine Unterkunft, noch auf Sozialhilfe und medizinische Versorgung. Laut einem Offenen Brief von Flüchtlingsorganisationen an den regierenden Bürgermeister wurden bisher pro Arbeitstag gerade 200 Personen registriert, obwohl allein im September 16.000 Flüchtlinge in Berlin ankamen.

Die Lage ist so verzweifelt, das Hilfsorganisationen am Samstag auf die Straße gehen. Ihr Demoaufruf ist eine empörende Anklage gegen den SPD-CDU-Senat sowie die Grünen und die Linkspartei, die in einigen Berliner Bezirken das Sagen haben.

Bei der Auseinandersetzung um die »Willkommenskultur« geht es nicht um das Schicksal der Flüchtlinge. Hier sind sich alle Parteien einig. Es geht darum Zeit zu gewinnen, um ultrarechte Kräfte zu stärken. Merkel fürchtet zurecht, dass der Widerstand gegen die Politik der Regierung wächst, wenn sie sich allzu offen mit ausländerfeindlichen Parolen identifiziert. Deshalb lässt sie sich mit Flüchtlingen ablichten und wirft sich in die Pose der Mutter Teresa, während sie intensiv an der Abschottung der EU-Außengrenzen und der Verschärfung des Asylrechts arbeitet.

Auch außenpolitische Motive spielen eine Rolle. Die Mehrheit der Regierung fürchtet, dass die Europäische Union auseinanderbricht, wenn sie die Grenzen dicht macht und Flüchtlinge in die Nachbarländer abdrängt. Und sie hofft, dass ihr eine flüchtlingsfreundliche Pose dabei hilft, den deutschen Einfluss im Mittleren Osten zu stärken und dort auch militärisch einzugreifen.

Die systematischen Bemühungen führender Politiker und Medien, den rechten Bodensatz der Gesellschaft zu mobilisieren und eine Atmosphäre der Intoleranz zu schüren, sind ein Warnsignal. Sie richten sich nicht nur gegen Flüchtlinge, sondern auch gegen jede soziale und politische Opposition.

Seit zwei Jahren bemühen sich die herrschenden Eliten intensiv, den deutschen Militarismus wieder zu beleben, und stoßen dabei auf massive Ablehnung. Auch der Widerstand gegen niedrige Löhne, Sozialabbau und Entlassungen wächst, wie die Streiks in den Kitas, bei der Post und in anderen Bereichen gezeigt haben.

Im Ersten Weltkrieg konnte sich die herrschende Klasse auf die Kriegsbegeisterung der Mittelschichten und den Verrat der Sozialdemokratie stützen, um Millionen junger Männer in einen sinnlosen Tod zu schicken. Im Zweiten Weltkrieg brauchte sie dafür die Nazi-Diktatur, die die Arbeiterbewegung zerschlug und jede Opposition brutal verfolgte. Heute bemüht sie sich erneut, eine rechte Bewegung aufzubauen, um Widerstand einzuschüchtern und zu unterdrücken.

Die Verteidigung der Flüchtlinge, der Widerstand gegen Krieg und der Kampf gegen den Kapitalismus fallen unter diesen Umständen untrennbar zusammen.

Die Solidarität mit den Flücht­lingen und der Kampf gegen Krieg

Seit Tagen entwickelt sich in Deutschland und Österreich eine Welle der Solidarität mit Flüchtlingen. Die schrecklichen Bilder von toten Flüchtlingen im Mittelmeer, Erstickten in einem Schlepperfahrzeug und verzweifelten und völlig erschöpften Familien mit Kleinkindern, die vor Stacheldrahtzäunen stehen, in Sammellager gepfercht werden, tagelang ohne ausreichende Verpflegung an Grenzen festgehalten und von Polizeieinheiten mit Schlagstöcken, Blendgranaten und Tränengas attackiert werden, haben viele Menschen zutiefst schockiert.

Als Ende letzter Woche bekannt wurde, dass in Tschechien den Flüchtlingen Registriernummern auf den Unterarm geschrieben wurden, wie es die Nazis mit den KZ-Häftlingen gemacht hatten, erhob sich ein Sturm des Protests.

Seitdem haben sich in vielen Städten und Gemeinden Solidaritätskomitees gebildet, in denen Kleidung, Lebensmittel, Medikamente, Hygieneartikel, Kinderspielzeug und vieles mehr gesammelt wird. Über Internetplattformen wird die Hilfe koordiniert und gesteuert. Ärzte und Krankenschwestern bieten kostenlose Untersuchungen und medizinische Versorgung an. Ein arbeitsloser Lehrer, der auf Facebook Kollegen dazu aufrief, in Eigeninitiative Deutschkurse und andere Lernprogramme für Flüchtlinge zu organisieren, war von den vielen Unterstützern, die sich meldeten, völlig überwältigt. Mittlerweile gibt es auch eine Internet-Wohnungsbörse für Flüchtlinge.

Als am vergangenen Wochenende 20.000 Flüchtlinge nach einer langen Odyssee aus Ungarn über Wien nach München kamen und von dort in andere Orte gebracht wurden, bildeten sich überall Begrüßungskomitees, die Wasserflaschen, Lunchpakete und Kuscheltiere verteilten, aber auch Dolmetscherdienste und andere Unterstützung anboten.

Der einzige Unterschlupf für Neuankömmlinge, wenn sie sich beim LAGeSo registrieren lassen wollen.(Fotograf: Ludwig Niethammer)

Diese Welle der Solidarität steht in schroffem Gegensatz zur Politik der Bundesregierung und hat alle Parteien überrascht. Wochenlang hatten Politiker und Medien versucht, eine feindselige Stimmung gegen Flüchtlinge zu schüren. Rechte Professoren wie Herfried Münkler behaupteten, es gebe eine weit verbreitet Angst vor Flüchtlingen. Münkler forderte deshalb den Abriss »moralischer Verbotsschilder«. Schon im Frühjahr waren die rassistischen Pegida-Demonstrationen durch Medienberichte massiv aufgewertet worden, um ausländerfeindliche Stimmungen anzuheizen.

Die große Hilfsbereitschaft und die beeindruckenden Solidaritätsbekundungen mit den Flüchtlingen machen deutlich, wie tief die Kluft zwischen der Bevölkerung und der herrschenden Elite ist. Das weit verbreitet Gefühl, helfen zu müssen und aktiv Solidarität zu leisten, zeigt, wie lebendig die Geschichte in Europa ist. Viele Menschen haben Flucht und Vertreibung am eigenen Leib erlebt. Es ist nicht vergessen, was in den Dreißiger- und Vierzigerjahren stattfand, als Millionen durch Krieg und Faschismus in die Flucht getrieben, in Konzentrationslager gesperrt und vernichtet wurden.

Als in der vergangenen Woche Flüchtlinge ihre Arme mit Registriernummern vor die Kamera hielten, konnten viele Zuschauer nicht mehr stillhalten. Zu groß war das Entsetzen über eine so unmittelbare Erinnerung an die Verbrechen der Nazis. Auf die Frage, warum sie sich einem Begrüßungskomitee für Flüchtlinge angeschlossen und den ganzen Abend auf die Ankunft der Asylsuchenden gewartet habe, antwortet eine ältere Frau: »Bevor ich vor dem Fernseher in Tränen ausbreche, gehe ich lieber hierher und helfe diesen leidgeplagten Menschen.«

Zwar hat Kanzlerin Merkel in ihrem traditionellen Sommerinterview vor einigen Tagen eine taktische Anpassung an diese Stimmung vollzogen und von einer »Willkommenskultur in Deutschland« gesprochen, doch das ist ein durchsichtiges Manöver. In Wahrheit arbeitet die Bundesregierung intensiv daran, das Asylrecht weiter einzuschränken und einen Großteil der Flüchtlinge so schnell wie möglich abzuschieben. Der ungarische Regierungschef Viktor Orbán sprach für alle Regierungen in Europa, als er am vergangenen Freitag in Brüssel sagte: »Wenn wir den Flüchtlingen den Eindruck vermitteln, sie seien willkommen, dann wäre das eine moralische Niederlage.«

Die Solidarität großer Teile der Bevölkerung mit den Flüchtlingen ist zu begrüßen. Aber es ist notwendig, das elementare Gefühl, helfen zu müssen und Solidarität zu üben, in einen bewussten politischen Kampf zu verwandeln. Das erfordert, dass die politischen Fragen durchdacht werden, die der Flüchtlingskrise zugrunde liegen.

Wie ist es zu erklären, dass 25 Jahre nach dem Ende der DDR und dem Fall des Eisernen Vorhangs erneut Mauern und hohe Grenzzäune in Europa errichtet werden, die mit Stacheldraht und Hundestaffeln gesichert werden? Warum werden 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Faschismus wieder Menschen in die Flucht getrieben, in Sammellager gepfercht und wie KZ-Häftlinge behandelt?

Der Grund dafür ist das kapitalistische Profitsystem mit seinem ständigen Drang nach neuen Absatzmärkten, Rohstoffquellen und billigen Arbeitskräften, das die Weltpolitik bestimmt. In ihrem Drang nach Profit verfolgen alle imperialistischen Staaten eine zunehmend aggressive Kriegspolitik. Mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 fühlten sich die kapitalistischen Regierungen, allen voran die herrschende Elite Amerikas, von allen Hemmungen befreit und setzten ihre Militärmacht ein, um ihre Vorherrschaft über Schlüsselmärkte und Rohstoffe zu sichern. Ihre ersten Opfer waren die energiereichen Regionen des Nahen Ostens und Zentralasiens.

Jahrzehntelange Kriege in Afghanistan und im Irak unter dem Vorwand eines »Kriegs gegen den Terror« haben die Gesellschaften dieser Länder ruiniert und hunderttausende Männer, Frauen und Kinder getötet. Darauf folgte der Krieg der Nato für einen Regimewechsel in Libyen. Er stürzte die Regierung von Muammar Gaddafi und verwandelte das Land in einen »gescheiterten Staat«, der von ständigen Kämpfen zwischen verfeindeten Milizen zerrissen wird. Dann wurde der syrische Bürgerkrieg angestachelt, bewaffnet und finanziert von den imperialistischen Mächten und ihren regionalen Verbündeten mit dem Ziel, Baschar al-Assad zu stürzen und in Damaskus eine fügsamere Marionette des Westens zu installieren.

Die ständige Lebensgefahr und Zerstörung, die Hunderttausende Menschen in eine verzweifelte und lebensgefährliche Flucht treibt, ist das Ergebnis dieser Verbrechen des Imperialismus. Der Aufstieg der Terrormiliz IS und die anhaltenden Bürgerkriege im Irak und in Syrien sind Folgen der Zerstörung des Irak durch die USA und der Unterstützung, die die imperialistischen Mächte und ihre Verbündeten dem IS und ähnlichen islamistischen Milizen in Syrien gewährt haben.

Die Flüchtlingskrise ist nicht nur eine Tragödie, sondern ein Verbrechen.

Zahlreiche pseudolinke Organisation, wie die Linkspartei in Deutschland, die Neue Antikapitalistische Partei in Frankreich oder die International Socialist Organisation in den USA, rechtfertigen die Militärinterventionen in Libyen und Syrien im Namen von »Menschenrechten« und »Demokratie«. Sie tagen damit ein hohes Maß an Mitverantwortung für die dramatische Verschärfung der Flüchtlingskrise.

Eine ernsthafte Verteidigung der Flüchtlinge erfordert den politischen Kampf gegen Imperialismus und Krieg. Die Arbeiterklasse in Europa und weltweit muss sich zusammenschließen und das Schicksal der Gesellschaft selbst in die Hand nehmen. Das erfordert den Kampf für ein internationales sozialistisches Programm und den Aufbau einer neuen revolutionären Partei.

Union will Konzentrationslager für Flüchtlinge an der Grenze errichten

Keine Maßnahme ist den Unionsparteien CDU und CSU zu schäbig, um Flüchtlinge abzuwehren, zu schikanieren und zu drangsalieren. »Es dürfe keine Denkverbote geben« forderte unlängst die CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt.

Die Zelte sind völlig überfüllt. Dicht gedrängt warten Flüchtlinge seit Tagen auf ihre Registrierung.(Fotograf: Ludwig Niethammer)

Die massivste Asylrechtsverschärfung der letzten 23 Jahre, die erhebliche Leistungskürzungen und eine Verlängerung der Internierungsdauer für Flüchtlinge vorsieht, ist noch nicht vom Bundestag verabschiedet, da wird bereits das nächste Gesetzespaket vorbereitet. Damit sollen direkt an den Grenzen Konzentrationslager für Flüchtlinge errichtet werden.

Gegen diese verharmlosend als »Transitzonen« bezeichneten Lager gibt es zwar noch erheblichen Widerstand vom Koalitionspartner SPD, doch das Berliner Innenministerium von Thomas de Maizière (CDU) hat bereits eine Gesetzesvorlage ausgearbeitet, die derzeit zwischen den zuständigen Bundesministerien abgestimmt wird.

Zuvor hatte die bayerische Landesregierung massiv Druck auf die Bundesregierung ausgeübt, den Zuzug von Flüchtlingen zu stoppen. Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) hatte rhetorisch einen »Staatsnotstand« ausgerufen und »Notwehrmaßnahmen« angekündigt.

»Als Notmaßnahme müssen Zurückweisungen von Flüchtlingen unmittelbar an der Grenze erfolgen«, so die Bayerische Staatsregierung. Falls der Bund hier nicht tätig werde, behalte »sich der Freistaat Bayern vor, anlassbezogen eigene Maßnahmen zu ergreifen«. Drohungen, die Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung als »Denkgebäude eines absoluten Staates« bezeichnete. Trotzdem machte sich die CDU mit Kanzlerin Angela Merkel an der Spitze den Plan zu eigen.

Flüchtlinge sollen zukünftig nicht mehr in Erstaufnahmeeinrichtungen gebracht, sondern direkt an der Grenze festgehalten werden, wo analog zum Flughafenverfahren Asylanträge im Schnelldurchgang vorselektiert werden. Die Einreise wird nur denjenigen erlaubt, deren Asylgesuche als glaubwürdig eingeschätzt werden. Allen anderen wird die Einreise und ein ordentliches Asylverfahren verweigert.

Dazu wird die juristische Fiktion geschaffen, die Flüchtlinge hätten an der Grenze noch nicht deutsches Territorium betreten. Die »Transitzonen« werden zum rechtlichen »Niemandsland«, in dem die Flüchtlinge für die Dauer der Verfahren inhaftiert werden. Die Anhörung wird durch eigens geschulte Kräfte der Bundespolizei durchgeführt, die auch für die Bewachung der Lager zuständig ist.

Abgewiesen werden Flüchtlinge, denen widersprüchliche Angaben und »Täuschung der Identität« vorgeworfen wird, weil sie keine Dokumente vorlegen können, Asylsuchende aus sogenannten »sicheren Herkunftsstaaten« und Flüchtlinge, zu deren Aufnahme sich ein »sicherer Drittstaat« innerhalb oder außerhalb der Europäischen Union bereit erklärt hat. Dazu gehören Staaten wie der Kosovo, Marokko, Algerien und zukünftig auch die von bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zerrüttete Türkei.

Diese Kategorien sind dehnbar wie Gummi und können völlig willkürlich auf fast jeden Flüchtling angewendet werden. Zudem werden die Flüchtlinge nur äußerst eingeschränkte Möglichkeiten haben, gegen eine abweisende Entscheidung vor Gericht zu klagen. Zugang zu rechtlichem Beistand und Anwälten wird es praktisch nicht geben.

Um eine lückenlose Überprüfung der Flüchtlinge beim Grenzübertritt sicher zu stellen, müsste die grüne Grenze Deutschlands zu den Nachbarstaaten permanent überwacht werden. Die Errichtung von meterhohen Grenzzäunen nach ungarischem Vorbild ist hier die logische Konsequenz, wodurch das Schengener Abkommen, das die Bundesregierung zurzeit ohnehin ausgesetzt hat, um Grenzkontrollen durchzuführen, völlig ad absurdum geführt würde.

Angesichts von derzeit mehreren tausend Flüchtlingen, die täglich die deutsche Grenze passieren, müssten in diesen Transitzonen riesige Gefängnisanlagen errichtet werden, um sie an einem eigenmächtigen Grenzübertritt zu hindern. An der gesamten deutschen Grenze würden so rasch überfüllte Lager mit internierten Flüchtlingen entstehen.

Die Pläne dafür sind bereits weit fortgeschritten. »Ich glaube, wir werden bis nächste Woche zu einem Ergebnis kommen«, sagte Kanzleramtsminister Peter Altmaier, der seit kurzem auch für die Koordination der Flüchtlingsfrage zuständig ist, am Montag im ZDF-Morgenmagazin.

Altmaier erklärte zudem, dass die Transitzonen keine deutsche Erfindung, sondern in einer EU-Richtlinie vorgesehen seien. EU-Parlament und Ministerrat seien zu dem Schluss gekommen, Transitzonen würden »unter bestimmten Voraussetzungen Sinn machen. Wir setzen das jetzt um.« Der Kanzleramtschef betonte, dass »angesichts des großen Flüchtlingsandrangs keine Möglichkeit ausgeschlossen werden darf, die Asylverfahren zu beschleunigen«.

Ins gleiche Horn stieß Bundeskanzlerin Angela Merkel, die von den Medien zwar als »Mutter Teresa« der Flüchtlinge glorifiziert wird, aber tatsächlich alle Maßnahmen zur Flüchtlingsabwehr voll unterstützt. In der Sitzung der Bundestagsfraktion der Unionsparteien am Dienstag sprach sie sich klar für die Errichtung von »Transitzonen« aus, da diese beim Problem steigender Flüchtlingszahlen in bestimmten Fällen hilfreich seien.

Süddeutschen Zeitung

Die Differenzen der SPD sind vor allem taktischer Natur. Sie fürchtet Wähler abzustoßen, die über die Pläne entsetzt sind und den Flüchtlingen positiv gegenüberstehen. Während sie Konzentrationslager für Flüchtlinge in Deutschland (noch) ablehnt, tritt sie für den Bau solcher Lager an der EU-Außengrenze ein. Denn nichts anderes sind die sogenannten »Hotspots« oder »Aufnahmezentren«, die die Europäische Union auf Druck der Bundesregierung derzeit in Italien, Griechenland und Bulgarien errichtet. In den »Hotspots« soll die europäische Grenzschutzagentur Frontex die Flüchtlinge selektieren und abgelehnte Asylbewerber umgehend wieder abschieben.

Auch die sechs in der Türkei geplanten Flüchtlingslager, die zwei Millionen Menschen beherbergen sollen und von der EU mit einer Milliarde Euro finanziell unterstützt werden, gleichen ihrem Charakter nach Internierungslagern.

Mit den Plänen, Asylsuchende an der deutschen Grenze in Konzentrationslagern festzuhalten, folgt die Bundesregierung dem weltweiten barbarischen Trend im Umgang mit der wachsenden Zahl von Flüchtlingen. Sie werden in den Zustand völliger Rechtlosigkeit versetzt, ohne jede Zukunftsperspektive.

Dazwischen immer wieder kleine Kinder, die seit Stunden auf dem kalten Boden liegen.(Fotograf: Ludwig Niethammer)