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LUDWIG GÜTTLER

MIT MUSIK
BERGE VERSETZEN

ALEXANDRA GERLACH

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IMPRESSUM

© 2011 Edel Germany GmbH, Hamburg

www.edel.com

1. Auflage 2011

Projektkoordination: Dr. Marten Brandt

Redaktion: Judith Schneiberg

Layout, Herstellung und Satz:

Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg | www.glcons.de

Umschlagabbildung: Juiliane Güttler-Njankouo

Umschlaggestaltung: Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg | www.glcons.de

Konvertierung: Datagrafix Inc.

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung

des jeweiligen Rechteinhabers wieder gegeben werden.

eISBN 9783841902177

»Die Welt sehen, wie sie ist, und sie dann lieben,
das ist die größte Kunst.« (Romain Rolland)

INHALT

KAPITEL 1
WER IST LUDWIG GÜTTLER?
Die Wurzeln – Kindheit in Sosa im Erzgebirge
Die künstlerische Laufbahn
Wie Güttler in den Westen kam
KAPITEL 2
ENDE DER DDR UND AUFBRUCH ZUR FREIHEIT
KAPITEL 3
DIE AKTE
Im Visier der Staatssicherheit
Anschuldigungen
KAPITEL 4
DAS WUNDER VON DRESDEN
Vom Herzen und Geist dazu tun
Die Mühen der Ebene
Wahre Wunder
KAPITEL 5
EIN LEBEN FÜR DIE MUSIK
Glaube und Musik
Ludwig Güttler und seine Trompete
Der Solist
Weggefährten
Der Schatzgräber
Musik ohne Grenzen
Der Preis des Erfolgs
ANHANG
Nachwort Ludwig Güttler
Danksagung Alexandra Gerlach
Kapitel 1

Das Schlimmste sei für ihn das »Autofahren mit Menschen, die meinen, dass sie auf dem Gaspedal stehen, und in Wirklichkeit stehen sie auf der Bremse«, sagt Güttler und trommelt dabei mit den Fingern auf der Tischplatte. Dann zieht er tief Luft ein und denkt nach. Hier, im Nebenraum eines bäuerlichen Gasthauses oberhalb der Elbe, kann er sich sammeln, sein Leben Revue passieren lassen.

Viele Stunden wird er mit der Chronistin in den kommenden Monaten an diesem Ort verbringen, um über Stationen seines Lebens zu sprechen. Allein die Terminfestlegung in seinem dicht gefüllten Kalender erfordert großes Geschick. Denn obwohl er sich in seinem Alter getrost zur Ruhe setzen könnte, arbeitet er ohne Unterlass. Unermüdlich ist er unterwegs, eingebunden in mehrere Ensembles und Projekte, mit einem langen Konzertkalender, der jeweils zwei Jahre im Voraus gebucht wird. Rastlos und immer noch bereit, sich von neuen Zielen faszinieren zu lassen. Da ist vor allem die Musik, da sind die Instrumente und die Noten. Er sucht alte Partituren, die längst vergessen sind oder unentdeckt blieben. Eine Aufgabe, der er sich verschrieben hat: die Ausgrabung von Kompositionen alter sächsischer Meister. Es geht um einen Schatz, der noch gehoben werden will.

Um all das zu schaffen und die verschiedenen Aktivitäten unter einen Hut zu bringen, muss Ludwig Güttler seine Zeit gut einteilen. Und deshalb hasst er Zeitdiebe. Menschen, die ihn warten lassen, Behörden, die ihm unnötige Arbeit machen, Entscheider, die Wochen für eine Antwort brauchen. Zeit ist sein kostbarstes Gut, deshalb hütet er sie wie seinen Augapfel. Er ist perfekt organisiert und hält auf Disziplin. »Verschieberitis« ist seine Sache nicht. Anders wäre sein Weg zum Virtuosen und Spitzenmusiker wohl kaum denkbar. Er arbeitet hart und hat das Lachen dennoch nicht verlernt. Ludwig Güttler ist ein Ausnahmemusiker, der nicht ans Aufhören denkt. Rege im Geist und hartnäckig, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Manchmal zu schnell für seine Mitmenschen, und manchmal zu direkt. Ein sächsisches Original mit Ecken und Kanten. Einer, der sich mit jahrelangem unermüdlichem Einwerben von Spenden für den Wiederaufbau der Frauenkirche ein Denkmal gesetzt hat. Bei über 1500 Konzerten in 16 Jahren hat er für den Wiederaufbau dieses Gotteshauses geworben, und am Tag der Weihe nicht gewusst, ob es ihm – aus emotionalen Gründen – möglich sein würde, die Trompete selbst zu spielen. Auch das ist Ludwig Güttler. Ein Mann aus dem Erzgebirge, der seine Wurzeln nicht vergessen hat, der genau weiß, dass der liebe Gott vor die Früchte der Arbeit den Schweiß gesetzt hat. Wer die Geschichte Ludwig Güttlers verstehen will, der muss auch auf diese Wurzeln schauen. Sie sind der Schlüssel zu seinem herausragenden Lebensweg als Musiker und Wegbereiter für den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche.

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Archiv Ludwig Güttler

DIE WURZELN – KINDHEIT IN SOSA IM ERZGEBIRGE

DER FAMILIENBETRIEB

Bei einem Treffen in Sosa, seinem Geburts- und Heimatort, bittet Ludwig Güttler die Chronistin auf eine große Wiese, weit oberhalb der kleinen Ortschaft. Er liebt die Natur und den weiten Blick über die waldigen Hügel. Sosa, 1453 erstmals urkundlich erwähnt, liegt im Schatten des Erzgebirgskamms, nahe der sächsisch-böhmischen Grenze. Im Sommer eine reizvolle Gegend für Wanderer und Ruhesuchende, im Winter bitterkalt und kahl. Eine arme Gegend mit rauem Klima und dürftigen Böden, die nur geringe Ernten zulassen. Das ist heute so wie damals.

Hier hat Ludwig Güttler seine Kinder- und Jugendjahre verlebt, hier ist er geprägt worden. Sein Geburtshaus steht auf dem ehemaligen Gelände der Baufirma seines Großvaters, Richard Hermann Frölich, geboren 1884 in Sosa. Von dessen »Kinderstube«, in der Nähe des Pfarrplatzes, ist es nur ein Steinwurf zur kleinen Dorfkirche, in der er später häufig musizieren wird. Die Baufirma des Großvaters hat schon 1943, als Ludwig Güttler das Licht der Welt erblickt, eine lange Tradition. Seit dem Bauernkrieg ist sie in Sosa nachgewiesen.

Das Bauen sei für alle Familienmitglieder eine Selbstverständlichkeit gewesen, erzählt Güttler. Man habe alles unter dem Gesichtspunkt betrachtet, wann ist das entstanden, wie hat es sich gehalten, was ist zu verbessern, wo ist eine Schwachstelle, was muss erweitert oder umgebaut, welche Fehler korrigiert werden, etc. Früh wird der Sprössling in den täglichen Arbeitsbetrieb eingebunden, zunächst noch spielerisch. Im Alter von vier Jahren bekommt er seine erste Aufgabe vom Großvater zugeteilt. Mit einer aufgeklappten Brotkapsel um den Hals soll er den Bauplatz nach krummen und verrosteten Nägeln absuchen, sie einsammeln und später unter Aufsicht mit einem Hammer gerade klopfen. Das erfordert große Geschicklichkeit. Außerdem fühlt sich der Vierjährige dadurch gebraucht.

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Archiv Ludwig Güttler

Der Geburtsort Sosa im Erzgebirge

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Ludwig Güttler als Kind

Mit zunehmendem Alter werden die Aufgaben anspruchsvoller, und Güttler erinnert sich gut, dass es bei seinen Einsätzen im großväterlichen Betrieb grundsätzlich weniger ums »Wollen« als vielmehr ums »Müssen« ging. Ein schulfreier Nachmittag oder Tag bedeutete keineswegs Freizeit. Zu Hause wird jede Unterstützung gebraucht. Jeder – auch der Schüler – wird eingeplant, sei es zum Sandschaufeln oder um die Werkstatt sauber zu machen, einen Schleifstein zu drehen oder Ziegel aufzuschichten. Mit 14 Jahren geht er in den Schulferien mit auf die Baustellen. Dort arbeitet er – ganz wie ein Lehrling – an der Seite von Maurern und Zimmermannsleuten. 51 Pfennig verdient er pro Stunde, mehr darf der Großvater dem Ungelernten nicht zahlen.

Früh erfährt er, unter welchen Schwierigkeiten der Großvater sein privates Bauunternehmen in der DDR führt. Die Steuerlast für den Handwerksunternehmer beträgt 92 Prozent. Immer wieder versagt die Materialversorgung, ständig gibt es Probleme mit den Behörden und deren Vorschriften. Man hatte es darauf angelegt, diese Privatbetriebe kaputtzumachen, sagt Güttler heute und klingt bitter. Ihn erinnern diese gegen das private Unternehmertum gerichteten Maßnahmen in der DDR an die Vernichtung der Kulaken in der ehemaligen Sowjetunion. Dort sind Millionen Bauern verhungert, nachdem man ihnen ein zu hohes Abgabesoll auferlegt und schließlich alle Produktionsmittel beschlagnahmt hat. Ganz ähnlich sei das in der DDR gelaufen, doch der Großvater habe sich davon nicht entmutigen lassen und mit Blick auf das Wirtschaftsleben des Landes nur gegrummelt: »Länger als drei Wochen können die sich nicht halten.«

Der Großvater ist streng, stellt hohe Disziplinansprüche an sich und andere. Am Morgen ist er der Erste auf der Baustelle und am Abend der Letzte. Er verfügt über umfassende Kenntnisse verschiedenster Gewerke und kann allen Arbeiten vorstehen. Wird etwas nicht so ausgeführt, wie er es geplant und gewünscht hat, zögert er nicht, es einzureißen und neu aufbauen zu lassen. Sein Perfektionsanspruch ist hoch und wird dem Enkel in die Wiege gelegt. Für den ist der Großvater eine unbestrittene Autorität. Ein Vorbild, nach dem er sich richtet, denn sein Wille zu lernen ist groß. Eine weitere Grundregel lernt er früh: Angesichts der drastischen Material- und Geldknappheit in der Nachkriegszeit gilt es, Fehlversuche zu vermeiden, gerade auf dem Bau, und verantwortlich mit den Materialien umzugehen. Das kleinteilige Disponieren und Planen ist eine Lektion, die Güttlers Leben prägen wird, vor allem in Bezug auf die Ressource »Zeit«.

ERSTE BERUFSWÜNSCHE

Ludwig Güttler will Baumeister und Architekt werden, das ist sehr früh klar. Was denn sonst? – Es scheint ihm selbstverständlich, das zu machen, was er von der Pike auf im Familienbetrieb gelernt hat. »Qualität herstellen, und das mit großer Verantwortung«, das hielt er nicht nur für selbstverständlich, sondern auch »für gar nicht anders möglich«. Doch natürlich gab es auch andere Berufsbilder, die ihn faszinierten. Der Beruf des Försters etwa.

Der Großvater geht oft mit ihm in den Wald und zeigt ihm, wie man sich leise zwischen den Bäumen bewegt, um das Wild nicht zu verschrecken. Er lehrt ihn, welche Beeren und frischen Triebe man essen kann und wo man sie findet. Bis heute ist dem Musiker die Liebe zur Natur und zum Wald geblieben, war und ist ihm Kraftquelle. Als Schüler jobbt er oftmals in der Landwirtschaft, hilft bei Bauern in der Erntezeit aus. Voller Anerkennung spricht der Musiker noch heute von ihnen, von dem, was sie alles wissen müssen, wenn sie gut wirtschaften und davon leben wollen. Es gebe nur wenige Berufe, die so viele Qualifikationsanforderungen haben, sagt er. Und wer sich anders äußere, der zeige, dass er »keine Ahnung von Ackerbau und Viehzucht«1 habe. »Da, wo ich hineingeboren wurde«, sagt er, »war die Landwirtschaft sehr arbeitsintensiv, sehr hart, und nach dem Krieg haben sich alle, mehr oder weniger, an die Landwirtschaft Betreibenden, an die Bauern, die Kleinbauern, halten müssen, schlicht um etwas zu beißen zu haben.« Glücklich war, wer einen Schrebergarten sein eigen nennen oder ein paar Hühner, Enten, Kaninchen oder Schafe halten konnte. In der kargen Nachkriegszeit ist dies wertvoller als ein Goldstück. Arbeit gibt es bei den Bauern genug, ob es um das Kartoffelnlegen ging, um das Mithelfen beim Heumachen, bei der Getreide-, bei der Rübenernte. Die bergige Gegend fordert selbst den Kleingärtnern hohen Einsatz ab, überall werden helfende Hände, manchmal auch ein Pferd gebraucht, um einen Wagen den Berg hinaufzuziehen. Auch der kleine Ludwig hilft mit. Er sei, so sagt er in der Rückschau, sehr hineingewachsen in diese Situation, in diese Notwendigkeiten, an das Angebundensein, an die Regularien und an die Abhängigkeit voneinander, um bestehen zu können. Früh lernt er, dass der Mensch die Geschicke gerade in der Landwirtschaft nicht allein beeinflussen und lenken kann, dass das Wetter unberechenbar und vernichtend sein kann für einen Bauern. Hier wird der Grundstein für seinen Glauben an Gott gelegt.

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Archiv Ludwig Güttler

Ludwig Güttler als Konfirmand 1957

Grundsätzlich gibt es nichts, was den jungen Güttler nicht interessiert. Nach dem Besuch einer Fabrik etwa begeistert er sich für Drehbänke und die Mechanisierung der Arbeit. Die Ferien verbringt er weitestgehend auf dem Bau und lernt dort, wie man Säge, Axt und Hammer führt, wie man Beton ansetzt und Putz- oder Mauermörtel anrührt. Das könne er noch heute, sagt er, und freut sich diebisch.

Seine Lieblingsschulfächer sind Biologie und Deutsch. Biologie ist auch sein Hobby, in der achten Klasse schreibt er seine Abschlussarbeit über Pferdezucht. Und er liest alles, was ihm zwischen die Finger kommt. Die Geschichten seien Fluchtpunkt Nummer eins für ihn gewesen, sagt er heute. Sie führen ihn hinein in die Welten der Grimm’schen Märchen ebenso wie in die von Seidel, Andersen-Nexö, Wilhelm Hauff. Er liest Wilhelm Busch rauf und runter. Sein Lieblingsmärchen ist die Geschichte von »Hans im Glück«, er »hat aus jeder Situation, ohne es berechnend zu verstehen, das Beste gemacht und sich darüber gefreut«. Stets habe Hans im Glück, ganz egal, was man ihm weggenommen hatte, das Gefühl gehabt, etwas zu bekommen, das hat Güttler nachhaltig beeindruckt. Die Geschichte von Hänsel und Gretel hingegen mag er gar nicht, »weil am Anfang der Verrat steht und später dann der absichtsvolle Betrug«, erläutert der Märchenfreund.

Gustav Schwab, die deutschen Volksbücher und die Sagen, Dietrich von Bern, die Gudrunsage, die Nibelungen entdeckt er für sich. Besonders beeindruckt ihn die Sage von den Haimonskindern, »weil die ein so starkes Pferd hatten, dass sie zu viert mit Rüstung darauf passten«.

Im Alter von zwölf Jahren stößt Güttler auf Schillers Dramen und liest sie alle. Außerdem interessieren ihn Abenteuerberichte über Expeditionen im Allgemeinen, besonders aber über Afrika. Die Geschichten führen den Schüler weit aus seiner realen Situation heraus, lassen ihn gedanklich reisen, lenken ab von der Enge seines Dorfes und familiären Umfeldes im Erzgebirge.

Neben all diesen Nebenbeschäftigungen muss er beim Großvater hart arbeiten, als Zimmermann, Maurer, Betonfacharbeiter, Hilfsarbeiter, je nachdem was gerade gebraucht wird. Langeweile kennt er nicht.

VOM ERSTEN INSTRUMENT ZUR TROMPETE

Dass Güttler letztlich doch nicht Baumeister wird, hat vielleicht mit seiner Großmutter mütterlicherseits, Frieda Frölich, geborene Hermann, zu tun. Die Großmutter stammt ebenfalls aus Sosa. Als sie 1950 stirbt, ist ihr Enkel Ludwig sieben Jahre alt. Nie hat er ein besonders inniges Verhältnis zu ihr entwickeln können. Sie blieb ihm Zeit ihres Lebens fremd.

Frieda und Hermann Frölich haben sieben Kinder, sechs Mädchen und einen Jungen. Ludwigs Mutter ist die Fünfte. Sie ist auffallend anders als ihre Geschwister und dies wirkt sich auch auf das Verhältnis der Großmutter zu ihrem Enkel Ludwig aus. Es ist keineswegs herzlich gewesen. Eher reserviert und unterkühlt sei sie ihm gegenüber aufgetreten, erinnert sich Güttler, Abneigung sei zu spüren gewesen. Offenbar sei es ihr ein Dorn im Auge gewesen, dass sich der kleine Ludwig schon so jung für das Baugeschäft interessiert und eingebracht habe, wohingegen ihr einziger Sohn, von dem sie sich wünschte, dass er den Betrieb übernimmt, nicht sehr viel Interesse daran zeigte. So folgert Ludwig Güttler heute, und vermutet, dass sie ihm und seinem wenige Wochen jüngeren Cousin deshalb zu Weihnachten 1948 eine Ziehharmonika schenkte. Sie habe ihn vielleicht damit aus dem Betrieb fortlocken wollen, mutmaßt Güttler augenzwinkernd. Was die Großmutter damals wohl kaum geahnt haben wird: Mit diesem Weihnachtsgeschenk stellt sie eine entscheidende Weiche. Die Ziehharmonika ist das erste eigene Instrument, das Ludwig erlernen wird. Der Einstieg in die Musik ist getan. Ludwig Güttler ist fünf Jahre alt.

Schon am Tag nach Heiligabend zieht er los zu seinem Nachbarn Martin, der Eisengießer ist und Ziehharmonika spielt. Der Knirps kann zwar keine Noten lesen, dafür aber singen. Gemeinsam entwickeln die beiden eine eigene Notenschrift. Mit einem Zimmermannsbleistift schreibt der Nachbar Zahlen von 1 bis 10 auf die Druckknöpfe der Ziehharmonika. Diese Zahlen und weitere Symbole zeigen im Übungsheft an, wann die Ziehharmonika auseinanderzuziehen und wann sie zusammenzudrücken ist. »Rhythmus kennst du selber, weißt ja, wie es geht, brauchen wir nichts hinschreiben. Links und rechts sind zwei Knöpfe für die Bässe, guckst du einfach, was passt«, gibt er seinem Schüler mit auf den Weg. Dieser lernt schnell, nach wenigen Tagen kann er bereits mehrere Weihnachtslieder spielen.

Bald reizt ihn das Instrument jedoch nicht mehr sonderlich. Güttler will mehr und träumt von einem »Schifferklavier«, einem Akkordeon, das zunächst unerschwinglich scheint. Als er erfährt, dass der Onkel eines Mitschülers ein beschädigtes Akkordeon auf dem Dachboden hütet, an dem einiges zu reparieren ist, ist ihm das kein Hindernis. Trotz der Materialknappheit gelingt es ihm, das desolate Stück mit dünnem Kalbsleder wieder dicht zu machen. Der Einsatz lohnt sich, das Instrument wird bespielbar. Güttler braucht nun Unterricht. Einen Lehrer findet er in Hans Einsiedel, einem Mann aus Sosa, der sein Brot als Alleinunterhalter im nahe gelegenen Johann-Georgenstadt verdient. Für 3,50 Mark die Stunde ist er bereit, dem jungen Eleven Unterricht auf dem Akkordeon zu geben. Die große Liebe wird es nicht zwischen Güttler und dem Akkordeon. Schon bald fragt er die Kantorin der pittoresken kleinen Dorfkirche in Sosa, ob er nicht Orgelunterricht nehmen dürfe. Voraussetzung dafür ist jedoch das Klavierspiel, dem er sich zunächst widmen muss. Geduld kennt er nicht, selbst heute nicht, wenn er auch treuherzig versichert »… ich lern’ es noch«.

All dieser intensiven Aktivitäten zum Trotz bleibt Musik vorerst Nebensache für den Schüler. Für ihn ist als Teenager völlig klar, dass er Bauingenieur oder Architekt werden wird.

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Archiv Ludwig Güttler

von links: Ludwig Güttler, Diethelm Modersohn, Dankwart Kirchner

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Der Posaunenchor. Obere Reihe rechts: Ludwig Güttler

Mit dem Wechsel auf die zwölfklassige, allgemeinbildende, polytechnische Oberschule und dort im mathematisch-physikalischen Zug scheint alles klar auf die Zukunft ausgerichtet. Das Klavierspielen gerät immer wieder in den Hintergrund, was den jungen Güttler ärgert, weil es bedeutet, viel aufholen zu müssen. Dann plötzlich ein neuer Wunsch, der ihm diesmal zur Leidenschaft werden wird: ein Blechblasinstrument spielen! Wieder sucht er einen Mann im Ort auf, von dem er weiß, dass dieser ein Instrument besitzt. Der bläst jetzt Posaune, heißt Edgar Drechsel und gibt dem Schüler seine alte Trompete. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Güttler übt und nimmt Unterricht, zumindest für ein viertel Jahr. Bläser und Instrument harmonieren, das Gespann macht Fortschritte. Zügig spielt Güttler nach einigen Monaten in Oratorien mit, beschließt, sich um richtigen Unterricht zu kümmern. Einen Lehrer findet er in dem Trompeter des Kreiskulturorchesters Aue, Hans-Joachim Große. Der setzt sich für den sichtlich talentierten Oberschüler ein und wird zum Fürsprecher des inzwischen 15 Jahre alten Güttlers, als es um die Aufnahme in die Kreismusikschule in Aue geht. Eigentlich hätte er nur geringe Chancen gehabt, dort angenommen zu werden, sagt Güttler heute, seine Familie habe »den falschen ideologischen Ausweis gehabt«. Es habe bis dahin für die selbstständige Unternehmerfamilie weder eine Begutachtung noch eine Förderung gegeben. Selbst auf die Oberschule sei er nur wegen »irgendeiner Quote« gelangt, »man ist wohl nicht an ihm vorbei gekommen«, kommentiert er süffisant.

Der Autodidakt auf der Trompete beginnt die Musik wichtig zu nehmen, »das ist ein Automatismus gewesen«, sagt er. Er habe nicht gewusst, warum ihm plötzlich die Trompete und dazu noch das Klavier spielen so wichtig wurde. Er spielt im Posaunenchor der Kirche zu Sosa, ist aktiv in der Jungen Gemeinde, singt im Kirchenchor und steht zudem jeden Morgen um 4.45 Uhr auf, um rechtzeitig in die Oberschule nach Aue zu gelangen. Dort findet sich auf dem Dachboden ein altes, schwarz-braunes, relativ großes, sogenanntes »böhmisches« Cello aus dem ehemaligen Schulorchester. Dieser Fund veranlasst den Schüler, wieder einmal einen erfahrenen Musiker zu suchen, der bereit ist, ihn zu unterrichten. Dieses Mal ist es Herr Böhnisch, der wie sein Trompetenlehrer im Kreiskulturorchester spielt. Böhnisch, der aus Breslau stammt, ist bereit, privaten Cello-Unterricht zu geben, im Tausch gegen wöchentlich zu liefernde, frische Hühnereier. Wenige Monate später spielt der Cello-Anfänger Güttler in einem Kammertrio der Oberschule mit. An seiner Seite ist der Geiger Reinhard Zellner, der später im Gewandhaus Leipzig engagiert wird. Parallel dazu gründet sich an der Schule eine Bläsergruppe, mit Trompeten, Posaunen und Hörnern. Geleitet wird diese von Musiklehrer Gottfried Stock. Bis heute lässt Stock es sich nicht nehmen, Konzerte seines einstigen Schützlings Ludwig aufzusuchen. Und dieser spricht voller Respekt von »seinem Musiklehrer«. Auch Jahrzehnte später hat Ludwig Güttler all diese Namen parat, erinnert sich genau an Daten, Fakten und Zitate.

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Mit Musiker-Kollegen in Sosa

Oberschüler Güttler streckt bald die Fühler aus und sucht Kontakt zu anderen Amateurmusikern. Bald darf er als Trompeter im Collegium Musicum Schwarzenberg mitspielen, eine Laiengruppe, die von Gerhard Schäfer, dem Schwarzenberger Kantor, geleitet wird. Güttler ist »beseelt von dem Wunsch, sich über seine Trompete zum Klingen zu bringen«. Im Collegium Musicum trifft er auf Volker Kress, einen »in seiner beruflichen Bestimmtheit scheinbar schon fertigen, sympathischen, jungen Menschen«, der Violoncello spielt. Es ist eine schicksalhafte Begegnung. Immer wieder werden sich ihre Wege im Lauf der nächsten vier Jahrzehnte kreuzen. Noch ahnt keiner von beiden, dass sie sich später gemeinsam für den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche einsetzen werden.

Kress, ein gelernter Industriekaufmann, der ebenso wie Güttler aus einem Unternehmerhaushalt stammt, ist von seinem Betrieb für zwei Jahre ins Erzgebirge »verschickt« worden, um zu studieren, wie die Arbeitsweise in einem VEB, einem volkseigenen Betrieb, funktioniert. Er verbringt die Jahre von 1960 bis 62 in einem Dorf namens Beierfeld, nahe Schwarzenberg. Hier erfährt er einen tiefgreifenden Wandel in seinem Leben. Rückblickend sagt Kress, dass das viele Musizieren in der Kirche den Wunsch in ihm habe reifen lassen, Pfarrer zu werden. Der Glaube ist plötzlich wichtiger, als das, was er in Dresden gelernt und zurückgelassen hat. So entscheidet sich Kress, nicht in den Betrieb zurückzukehren, sondern zum Entsetzen der Mutter sowie der ganzen Familie nach Leipzig zu gehen, um dort Theologie zu studieren. In Leipzig werden Güttler und Kress Jahre später an die freundschaftliche Begegnung im Collegium Musicum Schwarzenberg anknüpfen.

FAMILIENGESCHICHTEN

Die Musik und seine Leidenschaft für die Entdeckung weiterer Instrumente verschaffen dem jungen Güttler Freiraum in der häuslichen Enge. Mit seiner Mutter, Hilde Marianne Frölich, geboren 1917, hat er ein vertrauensvolles und enges Verhältnis. Dass sie anders ist als ihre Geschwister, bemerkt der kleine Ludwig durchaus. Warum das so ist, kann er sich nicht erklären, und selbst heute, als erwachsener Mann, sagt Güttler: »Woher sie genau kommt, dafür gibt es allenfalls Indizien«, und lacht verschmitzt. Er hat sie geliebt und bewundert für ihre Unabhängigkeit und ihren Freiheitswillen. Erzgebirgisch habe sie nie gesprochen, keine Mundart, sondern Hochdeutsch, und sie mochte es auch nicht, wenn ihre Kinder sächselten. Sie habe auch ein anderes Aussehen gehabt, erinnert sich Güttler. Während alle anderen schütteres Haar gehabt hätten, hatte sie volles, trugen die anderen ihres mittelblond, waren ihre rabenschwarz. Ihr Teint unterschied sich von dem der anderen und auch ihre Ansichten, sagt Güttler, »ihre Zielsetzungen waren in jedem Punkt anders als die der Umgebung«. Sie trug einen Turban und selbst im Dorf Stöckelschuhe. Als einzige Frau hatte sie den Führerschein gemacht und fuhr mit dem Auto.

Dass ihr das Erzgebirge zu eng erscheint, dass sie sich hier nicht wohlfühlt, gibt sie sich gar nicht Mühe, zu verbergen. Ihr Anderssein trägt ihr schon in der Grundschule den Spott der Mitschüler ein. Bis zur dritten Klasse spricht sie kein Wort in der Schule, weil die anderen Kinder sie für ihr Hochdeutsch auslachen. Später zeigt sie in ihren schriftlichen Arbeiten, dass sie begabt ist. Die Lehrer stellen ihr hervorragende Zeugnisse aus und drängen bei den Eltern darauf, ihrer Tochter unbedingt eine weitergehende Schulbildung zu ermöglichen. Sie sei eine »Führernatur«, wird ihr bescheinigt, doch das alles nützt ihr zunächst nichts. Sehr schnell begreift sie selbst, dass es nur einen Weg aus der Enge gibt, und dass dieser über die Bildung führt. Das Leben im Erzgebirge bedrückt sie, doch auch sie scheint sich in Geduld üben zu müssen, ebenso wie einst ihr Vater. Auch ihm blieb eine höhere Schulbildung versagt, obwohl er sehr talentiert und fleißig in der Schule war. Denn sein Vater – also Ludwig Güttlers Urgroßvater – wiederum war Invalide, vom Krieg 1870/71 fürs Leben gezeichnet, die Mutter gelähmt, und dennoch waren acht Kinder zu versorgen. Die Familie sah keine Möglichkeit, das Schulgeld für den Jungen aufzubringen. Stattdessen musste er schon früh ins Berufsleben einsteigen, mit 16 Jahren seinen Meister vorzeitig machen und dann als selbstständiger Unternehmer sein Glück versuchen, um seine Existenz zu sichern. Damit er überhaupt so früh antreten kann, müssen insgesamt zehn Baumeister aus den Ortskreisen Annaberg bis Plauen für ihn bürgen, was sie anstandslos tun, obwohl sie bei Verfehlungen seinerseits für ihn in Haftung hätten gehen müssen.

Ludwig Güttlers Großvater, Richard Hermann Frölich, ist ein tüchtiger, tief gläubiger Mann. Einer, dessen Ratschlag man sucht. Der Enkel erinnert sich, dass häufig Leute mit klingenden Titeln und Namen zu Besuch in Sosa waren, dass der Großvater immer wieder lange Vieraugengespräche mit ihnen führte, an denen er auch manchmal teilnehmen durfte. Bis er eines Tages seinen Großvater darauf aufmerksam machte, dass er einen Sachverhalt am Anfang des Gesprächs ganz anders dargestellt habe als am Ende. Was denn nun richtig sei, wollte der Enkel vom verdutzten Opa wissen, der daraufhin nur noch sagte: »Schaffe ihn schnell in die Schule.« Da war Ludwig fünf Jahre alt.

Abgesehen von derartigen Anekdoten sind seine Kindheitserinnerungen an das heimatliche, gesellschaftliche Umfeld eher düster. Die Umgebung war geprägt von dem Bewusstsein, »dass viele, viele Männer aus dem Krieg nicht wiedergekommen sind und dass viele Frauen während und nach dem Krieg zu Hause ihren Mann gestanden haben. Sie haben sich dann teilweise von ihren wenigen zurückkehrenden Männern nicht mehr das Heft aus der Hand nehmen lassen.« Güttler erinnert sich an Männer, die »gedemütigt und moralisch verschlissen, demotiviert, überreizt und traurig« heimgekehrt seien. Später habe er das auch auf alten Konfirmationsbildern gesehen, auf die Frage: »Wo sind die denn?«, habe man ihm gesagt, dass sie gefallen sind. So auf dem Konfirmationsbild seiner Mutter. Nur zwei der dort abgebildeten Jungen waren noch am Leben. Der eine als Sohn des Sägewerkbesitzers, der während des Krieges Munitionskisten bauen musste, der andere, der nicht kriegstauglich und deshalb Zivilist geblieben war. Alle anderen waren gefallen. Güttler wird ganz leise und nachdenklich, wenn er davon erzählt.

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Die Mutter

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Der Vater als Student

Auch er hat die hässliche Fratze des Krieges gesehen, und zu Hause als kleiner Junge hautnah mitbekommen, was es heißt, wenn der Vater als seelischer und physischer Krüppel aus dem Krieg zurückkehrt. Das Bild, das sich am nachhaltigsten in sein Gedächtnis eingebrannt hat, ist der Vater, der apathisch auf dem Sofa liegt. Auch zwei Jahre nach Kriegsende ändert sich daran nichts. Der Vater, Helmut Gottfried Güttler, ist leicht reizbar, unleidlich und verbittert. Er ist 28 Jahre alt, als er Ende 1943, Anfang 1944 bei einem Partisanenüberfall in Russland schwer verwundet wird. Freischärler stellen ihn an die Wand und versetzen ihm einen Genick- und einen Schläfenschuss. Da es unwahrscheinlich ist, dass jemand diese Hinrichtung überleben könnte, kümmert sich keiner weiter um den Deutschen. Dem gelingt es jedoch, schwer verletzt und blind auf allen Vieren zu den rund zwei Kilometer entfernten deutschen Stellungen zurückzukriechen. Von dort wird er nach München gebracht und operiert. Er habe ausgesehen wie der israelische Generalstabschef Moshe Dajan, sagt Güttler, der sich noch eindrücklich an die schwarze Augenbinde des Vaters erinnert.

Arbeit gibt es für Helmut Güttler erst wieder, als die deutsch-sowjetische Aktiengesellschaft WISMUT ihre Uranminen im Erzgebirge auch und absichtsvoll für Deutsche öffnet. Doch schon vorher, mit steifem Bein und am Stock, wird er nach einem Arbeitsunfall in der WISMUT zum Totalinvaliden. Er droht an seiner Lage zu verzweifeln. Ein junger Mensch, dem alle Lebenschancen genommen sind. Er ist verbittert und tief enttäuscht. Für Sohn Ludwig ist es kaum möglich, eine normale Beziehung zu seinem Vater aufzubauen. Er habe »ein schwieriges Verhältnis« zu ihm gehabt, sagt er heute. Noch schlechter gelingt es seinem jüngeren Bruder, sich auf den Vater einzustellen, und so bleibt die Lage schwierig für die Söhne, während der Vater mehr Nähe zu seinen Töchtern hat. Fragen an die Mutter bringen die Erkenntnis, dass der Vater seit der Rückkehr aus dem Krieg ein anderer Mensch ist als vorher. Auch für sie ist die Lage niederschmetternd. Sie sei böse auf den Vater gewesen, weiß Güttler, weil er sich frühzeitig der Idee des Dritten Reiches verschrieben hatte, außerdem war sie enttäuscht. Ihr Traum, über die Ehe mit ihrem Mann der Enge des Erzgebirges zu entkommen, war zunichte. Mit diesem körperlich schwer geschädigten, traumatisierten Mannes war kein Neustart denkbar. Sein junges Leben war vom Krieg ruiniert. Und dennoch hat er bis zu seinem Tod 1978 nicht von seinen braunen Überzeugungen gelassen. Warum dies so gewesen ist, beschäftigt Ludwig Güttler bis heute. Zu Lebzeiten des Vaters hat er nicht mit ihm darüber reden können, und eine tiefe Traurigkeit ist deswegen beim Sohn geblieben.

Während die junge Familie Güttler in der DDR durch die Nazivergangenheit und Anhängerschaft des Vaters immer stigmatisiert bleibt, kommt sie Ludwig Güttler einmal doch zugute. Indirekt verdankt er sein Abitur der Hitlerjugend. Der Oberschüler ist seinem Schuldirektor in Aue durch sein starkes Engagement in der evangelisch-lutherischen Kirche zu Sosa ein Dorn im Auge. Die Lage eskaliert, als ein Diakon aus Moritzburg nach Sosa kommt, um im Rahmen einer Jugendevangelisation Abend für Abend Veranstaltungen in der Kirche durchzuführen, die sehr gut von den Jugendlichen des Ortes besucht werden. Güttler hat zusammen mit anderen dafür kräftig geworben. Die DDR hat ihre eigene Taktik, damit umzugehen, indem sie eine andere Veranstaltung, die sich großer Popularität erfreute, dagegensetzte. In diesem Fall war es der sogenannte »Treff Olympia«, mit dem Goldmedaillen-Gewinner im Skifliegen, Helmut Recknagel. Doch die Finte verfängt nicht, der Saal bleibt leer, trotz des populären Spitzensportlers. Die Jugend von Sosa trifft sich hingegen in der Dorfkirche. Am folgenden Tag versucht der Schuldirektor, seinen Schüler Güttler, der als Rädelsführer denunziert wurde, öffentlich vorzuführen. Er will von ihm wissen, ob die Junge Gemeinde am Vorabend die letzten Beschlüsse des ZK der SED durchgearbeitet habe. Güttler entgegnet, dass dies so wahrscheinlich sei, »wie die Beendigung seiner letzten Parteiversammlung mit dem Vater Unser«. Die Aula johlt, der Eklat ist perfekt. Der Direktor ringt erst nach Luft und schreit dann mit rotem Kopf: »Sie fliegen!«.

Als Ludwig Güttlers Vater davon erfährt, beschließt dieser, dem Direktor am nächsten Tag einen Besuch abzustatten. Den Direktor kennt er aus Jugendtagen. Er weiß, wo er ihn packen kann, um ihn zum Einlenken zu bringen. Er hat ein Foto mitgenommen, grüßt vertraut den alten Spielkameraden »Karl-Heinz«, zeigt ihm das Bild und fragt keck: »Kennst du mich noch? Schau mal hier, wir beide, 1936. Kannst du das Transparent lesen? ›Führer, wir folgen Dir‹. Links bist du, rechts bin ich. Wenn das in deiner Kaderakte stünde, wärest du nicht Direktor.« Mehr muss nicht gesagt werden – entweder Güttlers Sohn Ludwig fliegt und der Direktor mit, oder beide bleiben. »Mach’s gut«, ruft der Vater dem Direktor zum Abschied locker zu. Die Sache ist entschieden. In dieser Geschichte sind sich Vater und Sohn einmal nähergekommen, es bleibt die Ausnahme in ihrem ansonsten recht schwierigen Verhältnis.

Dem Großvater kommt umso mehr die Vaterrolle zu. Heute sagt Güttler: »Er hat den Vater ersetzt, er war die Bezugsperson, die ich brauchte. Von ihm habe ich vieles bekommen. Er hat mir erzählt, und was ich ihn gefragt habe, hat er mir beantwortet.« Denn schon der Urgroßvater war politisch sehr aktiv. Er war Mitbegründer der Sozialdemokraten in Sachsen, Befürworter der unabhängigen Sozialdemokratie und später Mitglied des kommunistischen Spartakusbundes. Mit den negativen Auswirkungen dieser »politischen Arbeit« konfrontiert, muss Großvater Richard seiner gelähmten Mutter auf dem Sterbebett schwören, sich niemals politisch zu betätigen. Doch dass Wahrheit und Propaganda zwei unterschiedliche Paar Stiefel sind, hat er gelernt und vermittelt es seinem Enkel.

DAS ERSTE EIGENE GELD

Güttler lernt früh, dass Geld ein kostbares Gut ist. Schon mit knapp sechs Jahren überträgt ihm der Großvater die verantwortungsvolle Aufgabe, allwöchentlich die Lohntüten zu den Arbeitern nach Hause zu bringen. Annehmen darf er als Gegenleistung nichts. Der Großvater ist streng und betont, wie sehr seine Mitarbeiter jeden Pfennig ihres Lohnes für sich und ihre Familien brauchen. Allenfalls einen Apfel nimmt der Junge hie und da entgegen. Manchmal wird er vom Großvater mit 20 oder 50 Pfennig, die er in seine Spardose steckt, belohnt, wenn ihm andere Arbeiten besonders gelingen.

Schon bald, nachdem Güttler die Trompete für sich entdeckt hat, wächst der Wunsch nach einem eigenen Instrument. Kein gebrauchtes, sondern ein brandneues will er haben – wenn schon, denn schon. Als er diesen Wunsch seiner Mutter vorträgt, macht sie einen Vorschlag. Sollte es Ludwig gelingen, die Hälfte des Kaufpreises selbst aufzubringen, würden die Eltern die andere Hälfte finanzieren. Der Junge ruft in Marktneukirchen an. Im traditionsreichen Musikwinkel Sachsens hat die Firma Hermann Heinel ihren Sitz. Der Instrumentenmacher hat einen guten Ruf, er übernimmt für viele Posaunenchöre qualitätsvolle Reparaturen und baut auch neue Instrumente. Am Apparat meldet sich eine Frauenstimme mit fränkischem Vogtland-Dialekt und fragt nach den Wünschen. Güttler möchte keinen anderen als den Chef persönlich sprechen. Das gelingt ihm zwar nicht, eine präzise Preisauskunft erhält er trotzdem. Er will wissen, was eine Trompete kostet. »Ja …, Kölner Modell, Goldmessing mit Etui, 214 Mark Endverkaufspreis«, teilt die Frauenstimme aus dem Vogtland mit.

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Archiv Ludwig Güttler

Mit Großvater Frölich und Bruder Hartmut

Der ambitionierte Jungtrompeter überlegt sofort, wie er neben all den anderen Arbeiten, die er tagtäglich zu verrichten hat, Geld verdienen könnte, ohne den familiären Etat zu belasten. Seine ersten Ideen, Heidelbeeren oder Pilze zu sammeln, verwirft er bald. Erstens findet er nicht jeden Tag Zeit, um in den Wald zu gehen, und zweitens kommen die Einheimischen ihm zuvor. Auch sie wissen, wo die guten Pilze stehen. Dann erregt ein Aufruf in einem Prospekt seine Aufmerksamkeit. Darin sucht die »Pharmazeutische Fabrik Altenburg, Ortsteil Meuselwitz«, Heilkräuter und getrocknetes Birkenlaub. Der Doppelzentner wird mit 120 Mark entlohnt.

Güttler fackelt nicht lange, sucht sich die passende Ausrüstung zusammen und schwärmt ab sofort allabendlich in den Wald aus, um Birkenlaub »zu ernten«. Auf dem Rücken trägt er einen großen Rucksack, der voll beladen ziemlich schwer wird. Zu Hause wuchtet er die Lasten zum Trocknen auf den Dachboden. So geht das einen ganzen Sommer lang. Als der Boden bis zu den Dachsparren voller Birkenlaub ist, bestellt er die Kippe. Doch da weicht die freudige Erwartung auch schon der Ernüchterung. Das getrocknete Laub ist federleicht und bringt fast gar nichts auf die Waage. Letztlich kommt gerade mal ein halber Doppelzentner zusammen, das ergibt 68 Mark für einen ganzen Sommer voller Arbeit. Güttler ist frustriert. Sein Traum von einer eigenen und vor allem nagelneuen Trompete rückt in weite Ferne.

Gemeinsam mit seinem Bruder verlegt er sich nun auf das Sammeln von Pfandflaschen, die die beiden Jungen auf den großen Müllhalden – im Erzgebirge heißen sie »Bingen« – finden. Doch die Flaschen müssen vor Abgabe mit heißem Wasser ausgewaschen werden. Feuerholz für den Ofen im Waschhaus müssen sie sich selbst organisieren, von zu Hause gibt es nichts. 16 Mark bringt das am Ende und doch nicht wirklich weiter.

Eine andere Idee muss her. Güttler findet sie in einer irrwitzigen Besonderheit der sozialistischen Planwirtschaft. In der DDR wurden beispielsweise Kaninchenfleisch und Eier vom Konsum und HO-Laden zu einem höheren Preis aufgekauft, als sie später wieder verkauft wurden. Man muss die selbst angelieferten Eier (teilweise) zurückkaufen und sie kurz darauf einem weiteren Geschäft wieder verkaufen, schon hat man einen Gewinn. Dieses Modell lässt sich zwar nur einmal im zweiten Laden im Ort wiederholen, doch daraus entwickelt der junge Güttler eine Geschäftsidee. Er wird zum Eierfabrikanten. In Absprache mit seiner Mutter darf der Junge fortan mit fünf hauseigenen Hühnern Eier produzieren, und es geht bergauf mit seinem Gewinn. Diese zusätzliche Aktion ebnet den Weg zur ersten eigenen Trompete.

Was außerdem bleibt, ist die Erkenntnis, dass ohne diesen Erfindungsreichtum und die ständige Aktivität nur ein Sprichwort seine Gültigkeit behält, nämlich: »Von nichts kommt auch nichts!«. Die ständige Arbeit und die positive Haltung zum fast pausenlosen Schaffen werden sich wie ein roter Faden durch das Leben Ludwig Güttlers ziehen. Er kennt es gar nicht anders, es ist von Anfang an ein Bestandteil seines Lebens.

DIE KÜNSTLERISCHE LAUFBAHN

STUDIUM IN LEIPZIG

1963 stirbt der Großvater. Da ist Ludwig Güttler »schon raus« aus dem Erzgebirge und dem Kokon der Familie und studiert in Leipzig – zum Bedauern seiner engsten Verwandten. Als ideelles Vermächtnis bleibt dem Enkel die prägende, innere Haltung des Großvaters, sein Grundsatz »unter den gegebenen Umstäö«üüü»öäß«