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Friedrich Christian Delius

Mein Jahr als Mörder

Roman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Friedrich Christian Delius

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, in Hessen aufgewachsen, lebt heute in Berlin. Mit seinen zeitkritischen Romanen und Erzählungen, aber auch als Lyriker wurde Delius zu einem der wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren. Seine Bücher wurden in 18 Sprachen übersetzt. Bereits vielfach ausgezeichnet, erhielt Delius zuletzt den Fontane-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis sowie den Georg-Büchner-Preis 2011.

Im Februar 2013, aus Anlass des 70. Geburtstags des Autors, hat der Rowohlt Verlag eine Werkausgabe in Einzelbänden begonnen.

 

Weitere Veröffentlichungen:

Kerbholz

Ein Held der inneren Sicherheit

Himmelfahrt eines Staatsfeindes

Selbstporträt mit Luftbrücke

Amerikahaus und der Tanz um die Frauen

Deutscher Herbst

Die Birnen von Ribbeck

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus

Die Flatterzunge

Der Königsmacher

Warum ich schon immer Recht hatte – und andere Irrtümer

Die Minute mit Paul McCartney

Bildnis der Mutter als junge Frau

Die Frau, für die ich den Computer erfand

Über dieses Buch

Ein Roman über deutsche Kriegs- und Nachkriegsgeschichte: ernsthaft, engagiert, bewegend.

 

Am Nikolaustag 1968 hört ein Berliner Student im Radio, dass Hans-Joachim Rehse, Richter an Freislers Volksgerichtshof, freigesprochen wurde. Noch während die Nachrichten laufen, beschließt er, ein Zeichen zu setzen: Er wird diesen Mann umbringen. Auch aus persönlichen Gründen, denn Rehse hat den Vater seines besten Freundes zum Tode verurteilt, Georg Groscurth – Arzt von Rudolf Heß und zugleich als Widerstandskämpfer aktiv.

Die Tatbereitschaft des jungen Mannes wächst, je mehr er sich mit der Familiengeschichte beschäftigt. Besonders empört ihn das Schicksal von Groscurths Witwe Anneliese, die nach 1945 zwischen die Fronten des Kalten Krieges geriet. Dass ein ehemaliger Nazi ungeschoren davonkommt, während die Witwe seines Opfers als kommunistische Hexe juristisch verfolgt wird, ruft nach Vergeltung. Ohne Rücksicht mehr auf Studium, auf pazifistische Ideale oder seine Freundin Catherine setzt er Schritt für Schritt einen ausgeklügelten Plan um …

 

«Unbedingt lesen!» (Sigrid Löffler, Literaturen)

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Februar 2013

Copyright © 2004 by Rowohlt • Berlin Verlag GmbH, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Walter Hellmann

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-25995-1 (1. Auflage 2013)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-11371-8

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-11371-8

Das wirklich Irrationale und tatsächlich Unerklärbare ist nicht das Böse, im Gegenteil: es ist das Gute.

 

Imre Kertész

Eine freie Stimme der freien Welt

Es war an einem Nikolausabend, in der Dämmerstunde, als ich den Auftrag erhielt, ein Mörder zu werden. Von einer Minute auf die andere war ich, wenn auch flatternden Leichtsinns, einverstanden. Eine feste männliche Stimme aus der Luft, aus dem unendlichen Äther, stiftete mich an, kein Teufel, kein Gott, sondern ein Nachrichtensprecher, der seine Meldungen ablas und, wie auf einer zweiten Tonspur, mir die Aufforderung ins Ohr blies, den Mörder R. zu ermorden. Eine Stimme aus dem RIAS, dem Rundfunk im amerikanischen Sektor, noch dazu am Tag des heiligen Nikolaus – ich verstehe jeden, der mich oder den, der ich damals war, für verrückt hält, wenn ich heute den längst verjährten Mordanschlag gestehe.

Mein Geheimnis kennt niemand, die Polizei hat von den verborgenen kriminellen Trieben so wenig bemerkt wie meine besten Freunde, und da ich als stiller und friedlicher Mensch gelte, ist mein Schweigen beim Thema Mord und Gewalt nie verdächtig gewesen. Jetzt darf ich sprechen, das Geständnis ist fällig. Allmählich wächst die Lust, die Geisterbahn der Erinnerung anzuwerfen und in die kleine Wohnung im Souterrain hinabzusteigen, wo ein Student das Radio anstellt, den Kachelofen mit Eierkohlen füttert, Wasser für Pulverkaffee kochen lässt und dem Duft der Pfeffernüsse aus dem Adventspäckchen der Mutter nicht widerstehen kann.

Weil mir niemand so schnell den Mörder glauben wird, muss ich etwas ausholen, auch Ofen und Gebäck gehören in die Indizienkette des Erzählens. Solange ich nicht ausschließen kann, dass die Pfeffernüsse meine Mordlust stimuliert haben, darf ich sie im schriftlichen Geständnis nicht übergehen. Mein Verhör muss ich mit mir selbst führen. Das ist das Pech, wenn man nicht erwischt worden ist. Wie in jedem besseren Krimi können die Motive, Umstände und Peinlichkeiten der Tat erst nach und nach enthüllt werden.

Es kamen die Nachrichten, gewöhnliche Sätze im gewöhnlichen Nachrichtendeutsch, ich hörte nicht richtig zu, in mir die verschleppte Müdigkeit des grauen, nassen Dezembers. Das Zimmer war noch kühl, ein Kachelofen braucht seine Zeit, ich ließ mich wärmen von der Stimme des Sprechers, von dem vertrauten Bass, der sich im Stundentakt zur freien Stimme der freien Welt erhob. Die Pfeffernüsse waren hart und schmeckten nach einer ärmlichen Süße, ich wartete auf die Wetteraussichten und dann auf Mozart oder Beethoven zum Abschalten.

Wie alle Sender in Berlin war auch der amerikanische RIAS nicht frei von Propaganda, aber er hatte die besten Sprecher mit suggestiven, tief schwingenden Stimmen, männlich, schützend und entschieden wie die Schutzmacht selbst. Ich hörte mehr auf die markante Modulation des Basses als auf die Neuigkeiten, bis die routiniert dahingesprochene Meldung kam: Das Schwurgericht am Berliner Landgericht hat den früheren Richter am Volksgerichtshof, Hans-Joachim Rehse, vom Vorwurf des Mordes in sieben Fällen freigesprochen.

Die Nachricht hatte nichts Sensationelles, nichts Unerwartetes, auch damals nicht. Jedes andere Urteil wäre eine Überraschung gewesen. Juristen werden von Juristen nicht verurteilt, Nazijuristen, auch wenn sie über zweihundert Todesurteile produziert haben, sowieso nicht. Ein Klischee wurde bestätigt, und doch lauerte hinter dieser Nachricht eine andere, eine geflüsterte Neuigkeit. Wie in einem dritten Ohr, im Labyrinth des Innenohrs, wo die Widersprüche hängen bleiben, hörte ich in den Silben aus dem Äther die Schwingungen einer geheimen Botschaft, die deutliche Aufforderung: Einer wird ein Zeichen setzen und diesen Mörder umbringen, und das wirst du sein.

Nein, ich hatte nichts getrunken, stand nicht unter Drogen, war nicht aus dem Bett einer Freundin getaumelt. Völlig nüchtern war ich, nur etwas müde, als der Satz mich traf: Einer wird ein Zeichen setzen und diesen Mörder umbringen, und das wirst du sein!

Der Sprecher kündigte das Wetter für das Wochenende an, während meine Phantasie vorwärts schoss: Ich mit Pistole, ein Knall, ein Mann kippt um, so einfach ist das, die logische Fortsetzung der Nachrichten. Es hätte mich nicht gewundert, aus dem Radio die Eilmeldung zu hören: Wie wir soeben erfahren, hat ein Berliner Student den Entschluss gefasst, den Richter R. umzubringen.

Du spinnst! Ausgerechnet du! Vergiss es! So versuchte ich die Phantasie zu stoppen. Es war nicht einmal komisch, es war nur lächerlich, blöde, keinen halben Gedanken wert. Schluss!

Denn ich hatte ja nicht einmal den Mut, einen Pflasterstein in die Hand zu nehmen, geschweige denn zu werfen. Ich als Täter, als Mörder, diese Vorstellung war mehr als tollkühn, sie war unmöglich, irre, bekloppt. Aber gerade wegen ihrer Absurdität, vermute ich heute, schlug sie Funken und entzündete die empfindliche Einbildungskraft, die sofort die passenden Bilder lieferte:

Ich lehnte am Hauseingang irgendwo in der Witzlebenstraße vor dem Kammergericht, ich hatte die Hauptrolle und wartete auf den Justizmörder. Nicht lange, dann trat er, ein unauffälliger älterer Herr, aus dem Portal, wenige Stufen hinab und lief zu seinem Auto, wo ich ihn, nach kurzem Zielblick über Kimme und Korn, mit drei Schüssen niederstreckte und ruhigen Schritts Richtung Lietzensee entschwand, von allen Passanten erkannt und doch nicht aufgehalten in meinem selbstbewussten, stolzen Gang: junger Mann, ca. 20 bis 25 Jahre, ca. 180 cm, schlank, blond, bekleidet mit dunkelblauer Windjacke und blauen Jeans – bis die Sirenen vom Kaiserdamm her meine feierliche Festnahme verkündeten und die Filmrolle riss.

Ein simpler Kurzfilm: ein Schuft, ein Kerl, ein Schuss. Ein B-Movie, das war klar, aber ich spürte sofort die stimulierende Wirkung: das Glück, für einige Minuten ein Held zu sein, der Rächer der Gerechten.

Es war zu spät, ich hatte keine Wahl. Denn das alles geschah, das kommt erschwerend hinzu, im Jahr neunzehnhundertachtundsechzig.

Der Mörder des Vaters des Freundes

Die Erinnerung setzt Stunden später wieder ein, als ich neben Catherine lag, die sich befriedigt zur Seite gedreht und ihren Schlaf gefunden hatte. Nein, keine Französin, sondern eine ziemlich gute Fotografin, aus Marktredwitz nach Berlin geflohen, die ihren Vornamen Katharina der Mode der Zeit entsprechend französisch veredelt hatte und auf den lang gezogenen, ins eigene Echo mündenden i-Laut am Ende den größten Wert legte. Mit ihr ging ich auf die Straße und ins Bett, eine Liebe, die, wenn ich mich nicht täusche, ohne das Wort Liebe auskam. Wir führten die üblichen politischen und ästhetischen Debatten, aber von meiner Karriere als Mörder sollte sie nie ein Wort erfahren.

Ich beneidete Catherine um ihren Schlaf, und mit dem Neid erwachten die Stimmen und Halluzinationen des frühen Abends. Wie in den Phasen vor umzitterten Entscheidungen, Prüfungen und Abenteuern legte sich das Gehirn nicht einfach schlafen. Im Auf und Ab wechselnder Gefühle quälte ich mich mit monologischen Ausflügen. Da spielt dir jemand einen Streich, sagte ich mir, das ist eine Falle. Wer wird sich heute noch über alte Nazis aufregen? Das kannst du den allzeit bereiten Pfadfindern der Empörung überlassen. Die werden mit müden, heiseren Stimmen gegen das Urteil protestieren, sollen sie, das ist in Ordnung, auch wenn es sinnlos ist. Sie werden ihre Ausrufungszeichen in die Luft malen, wie immer beleidigt und hilflos, die letzten Aufrechten, und dann nach Hause gehen, bis zum nächsten Fall, sie werden nicht lange warten müssen, bis irgendwo wieder ein Nazimörder freigesprochen wird.

Catherine atmete gleichmäßig, ich berührte vorsichtig ihre Schulter, roch den begehrten Körper und versuchte mich zu beruhigen: Schlaf ein, schlaf ein, es gibt Besseres zu tun, als die Feinde von vorgestern zu verprügeln oder umzubringen, irgendeinen von hunderttausend frei herumlaufenden Verbrechern. Sollen die alten Hakenkreuzmänner sich weiter in ihre Ämter chauffieren lassen, sollen die Rentner ihre Spazierrunden drehen und sonntags die Messer vor dampfenden Schweinebraten wetzen, was geht es mich an!

Da lässt sich nichts ändern, sagte ich mir, die kann man nicht alle einsperren. Es sind zu viele, sie sitzen überall, in Verwaltungen und Gerichten, in Konzernen und Universitäten, das ist kein Geheimnis. Eine banale Wahrheit, eine alltägliche Obszönität, ein lästiger Gemeinplatz, vergiss das. Nichts für dich, halt dich da raus. Sie haben teil an der Macht oder zehren von ihrer früheren Macht, sie dämmern in Chefsesseln, Polstergarnituren, Altersheimbetten dem Tod entgegen oder machen gute Geschäfte wie Hermann Josef Abs und wie Catherines Vater als Fachhändler für Haushaltswaren, der ein fleißiger Nazi-Bürgermeister gewesen ist irgendwo in der Oberpfalz. Sei ihm dankbar für seine schöne, kluge Tochter und vergiss ihn, vergiss diese Leute!

Du strengst dich an zu vergessen, doch das Gegenteil geschieht. Diesen simplen Mechanismus kannte ich in jener Nacht noch nicht. Ich lenkte mich ab, suchte Schlaf, vergaß, sank weg – prompt schoss mir das entscheidende Bild in den Kopf: mein Freund Axel am Tisch der Mensa, neben uns die Zeitung, aufgeschlagen die Seite mit einer Überschrift zum beginnenden Prozess gegen diesen Richter, der am Volksgerichtshof mindestens 230 Todesurteile gefällt hatte. Sogleich stellte sich der Ton zu diesem Bild ein, der bittere, verächtliche Satz, den Axel hatte fallen lassen und der mich erst jetzt, im Bett, wie eine böse Erleuchtung traf: Der hat das Urteil für meinen Vater fabriziert, der und der Freisler.

Die dunkle Geschichte von Axels Vater, den die Nazis umgebracht hatten, weil er gegen die Nazis kämpfte, war schon durch meine kindliche Seele gegeistert. Der Vater, das wusste ich inzwischen, hatte mit Robert Havemann und anderen eine Widerstandsgruppe gebildet und war dafür 1944, noch vor dem 20. Juli, hingerichtet worden.

Nun erst, tief in der Nikolausnacht, begriff ich: Der war es, der Georg Groscurth hatte köpfen lassen! Den Vater meines besten Freundes! Hand in Hand mit Roland Freisler! Und kommt ohne Strafe davon!

Jetzt erst lehnte sich das Kind in mir auf, könnte ich heute behaupten – und alles Weitere den Psychologen überlassen. Hellwach mit aufgerissenen Augen in der Dunkelheit ahnte ich, warum der Richter mich nicht losließ. Warum der mir wie ein Teufel auf dem Buckel saß. Warum das Flüstern mich verfolgte und zur Tat drängte.

Nun hörte ich nicht mehr die Stimme des Nachrichtensprechers, sondern meine eigne: Einer wird diesen Mörder ermorden, und das werd ich sein.

Kein besonders abwegiger Gedanke am Ende des Jahres, in dem Martin Luther King und Robert Kennedy ermordet wurden und beinah auch Rudi Dutschke, im Jahr der großen Massaker in Vietnam und Mexiko, im Jahr des Aufstands in Paris und des Widerstands in Prag gegen die russischen Panzer. Jeden Monat neue Verletzungen des Gerechtigkeitssinns, jeden Monat Wut und Erregung. Jedes dieser Dramen bestätigte den Wunsch nach Veränderung, Rebellion, Freiheit. Die Macht ist korrupt, ob in Moskau oder Washington oder Bonn oder Paris, die Repression richtet sich gnadenlos gegen jeden, der die schlichten Grundrechte verlangt. So einfach das Weltbild, so kompliziert war die Frage: Man muss sich wehren, aber wie?

Ich wurde ruhiger und versuchte mir einzureden, dass eine solche Tat, wenn ich sie beginge, nichts weiter als eine gute Tat sei, ein kleiner Beitrag zur Aufklärung, zur Demokratie, zur Gerechtigkeit. Ähnlich wie die Tat der Beate Klarsfeld, die den Bundeskanzler geohrfeigt hatte, direkt vor der versammelten CDU-Mannschaft, vier Wochen zuvor.

Auch das habe ich noch einmal überprüft: Am 7. November 1968 gab es die berühmte Ohrfeige, und ich erzähle von der Nacht des 6. auf den 7. Dezember. Selbst auf die Gefahr hin, als Nachahmungstäter zu gelten, ich will nicht der Feigheit vor den Fakten bezichtigt werden.

Also die Klarsfeld, so das Märchen aus uralten Zeiten, mit einem Presseausweis zum Parteitag, der Kanzler gibt Autogramme, sie geht von hinten heran, nicht von vorn, damit er nicht ausweichen kann, und schlägt, als Kiesinger sich umdreht, kräftig zu und ruft: Nazi, Nazi! Am Nachmittag ein Schnellverfahren wegen Körperverletzung und vorsätzlicher Beleidigung, weil man ein ehemaliges Mitglied der NSDAP und einen für Zensur und Auslands-Propaganda zuständigen Mann im Auswärtigen Amt nicht Nazi nennen darf. Ein Jahr Gefängnis ohne Bewährung – und was ist der Effekt? Beifall aus aller Welt, eine Heldin, über die man spricht, eine Frau, die man nicht vergessen wird, ein überall fotografierter, interviewter, geliebter und gehasster Star.

Ich hörte leises Schnarchen neben mir, legte behutsam eine Hand auf Catherines Hüfte und kämpfte gegen die aufsteigende Lust, die Schlafende zärtlich zu wecken, noch einmal zu verführen und endlich den ganzen Quatsch zu vergessen. Sie war im Tiefschlaf, sie hätte mir jede Annäherung übel genommen. Da erschreckte mich die Frage, was Catherine zu meiner fixen Idee sagen würde. Die Antwort wäre eindeutig gewesen. Ich beschloss, sie nie zu fragen, nie einzuweihen.

In jenen Jahren traute ich den Intuitionen der Frauen noch nicht und dachte wie Soldaten und Westernhelden: Ein Mann trifft seine schwierigen Entscheidungen allein, die Frau wirft ihr Herz ins Spiel und macht alles nur kompliziert. Was mich wirklich beunruhigte, war die Frage: Wie viele Jahre Gefängnis werden genügen, um unsere Liebe zu zerstören? Zwei, fünf, acht? Oder ein halbes?

Wenn ich schon die halbe Nacht zum Grübeln verdammt war, wollte ich lieber über konkrete Dinge spekulieren, zum Beispiel über das passende Mordwerkzeug. An Pistolen, Gift, Knüppel, Messer dachte ich, aber meine Phantasie war dürftig wie die eines Laien, eines Anfängers, ich hatte keine kriminelle Erfahrung, nicht mal ein Faible für Kriminalromane. Ich spielte viele Möglichkeiten durch, stellte mir den Täter in verschiedenen Posen vor, ich und die Pistole, ich und die Giftflasche, ich und der Knüppel, ich und das Messer. Nichts sah überzeugend aus, alles wirkte unbeholfen wie in Stummfilmen oder Karikaturen, und ich vertagte die Fragen der praktischen Ausführung. All die schönen Mordpläne verebbten, ich passte meinen Atemtakt dem der Freundin an und muss dann bald in die sanften Wellen des Schlafs gesunken sein.

Axel verdanke ich übrigens die Gewohnheit, den Namen R. abzukürzen. Wer meinem Vater den Kopf abschlagen lässt, hatte er gesagt, dem schlage ich wenigstens ein paar Buchstaben von seinem Ehrennamen ab, auch wenn es lächerlich ist. Axel studierte Psychologie, also leuchtete mir das Argument ein.

Die Weisheit der Mülltonnen

Die Zeitungen, die Catherine und ich beim Frühstück am Samstagmorgen lasen, kommentierten das Urteil in ungewohnter Schärfe. Was die Presse am meisten in Wallung brachte, war die Begründung des Schwurgerichts. Über Kaffeetassen und Marmeladenbrötchen lasen wir uns die Zitate aus dem Tagesspiegel, der Frankfurter Rundschau und der B. Z. vor. Der Vorsitzende hatte argumentiert, die Urteile des Volksgerichtshofs seien aus damaliger Sicht nicht zu beanstanden, der Richter R. habe bei der Mitwirkung an den Todesurteilen das Recht nicht gebeugt. Die Urteile seien aus heutiger Sicht unmenschlich, aber jeder Staat habe gerade in Krisenzeiten und Kriegen das Recht zur Abwendung von Gefahren, wozu auch Feindbegünstigung und Wehrkraftzersetzung gehörten, deswegen kann man einem Richter heute keine Vorwürfe machen. Sogar die Springer-Presse zog mit: Ein schwarzer Tag für die deutsche Justiz und zitierte die erste Urteilskritik: Ein Freispruch für Freisler.

Catherines Abscheu und die Kommentare der Zeitungen beruhigten mich. Ich war nicht allein mit meinem Entsetzen. Der Freispruch war so skandalös, der Widerspruch so laut, die Empörung der Journalisten so deutlich, dass ich mich nicht in den Vordergrund drängen musste. Beglückt von der allgemeinen Entrüstung, fuhr ich in meine Wohnung zurück, durfte die wilden Pläne der Nacht vergessen und meiner Arbeit nachgehen. Es war genug zu tun, zuerst ein Referat über den Contrat social von Rousseau.

Nachdem ich einige Absätze getippt hatte, gierte ich nach neuer Kritik und Schelte des Urteils und stellte gegen Mittag das Radio an – und wurde sogleich für diesen Leichtsinn bestraft: Da war sie wieder, die Stimme, die mir keine Ruhe ließ. Was tust du mit solch einer Stimme im Kopf? Weghören, ablenken, konzentrieren. Aber wenn das nicht hilft? Ich wurde unruhig. Warum hatte die Stimme aus dem RIAS eine solche Macht über mich? Warum sollte ich mich dieser Macht unterwerfen, warum konnte ich den eingebildeten Befehl nicht abschütteln? Ausgerechnet dieser Sender, warum hatte gerade der amerikanische Sender die Autorität, mich zu einer so wahnwitzigen Tat zu drängen?

Ich war anfällig für Stimmen, für suggestive Stimmen. In Catherine hatte ich mich wegen ihrer Stimme verliebt. Dichter, die mit lahmer Stimme holprig vorlasen, konnten keine guten Dichter sein, da war ich sicher. In den Hörsälen wollte ich keinen Professor ernst nehmen, so intelligent er parlieren mochte, wenn er sein Wissen krächzend ausbreitete. Stimmen sind es, die den Ausschlag geben.

Vielleicht könnten andere Sprecher als Gegenmittel wirken? Also ließ ich sie während der Mittagszeit alle in mein Zimmer, einen nach dem andern, zwischen zwölf und halb zwei, die Herren der Modulation im Bass oder Bariton auf der UKW-Skala, die festen Stimmen der beiden Westberliner Sender, die werbenden Stimmen der Ostberliner Stationen, die englischen, amerikanischen und französischen Sprecher. Sie lasen ihre Texte ab, Vokabular und Tonfall verrieten sofort, von welcher Seite der Mauer wir zur einzig wahren Weltsicht bekehrt werden sollten, und am Ende setzte sich doch wieder der Mann vom RIAS durch, leise, mit peinlicher Deutlichkeit: Einer wird R. umbringen, kein anderer als du!

R. sabotierte mein Referat, die Stimme störte, sie attackierte mich. Was also tun? Am frühen Nachmittag fiel mir nichts Besseres ein, als ins Auto zu steigen und durch die Stadt zu fahren, ohne Ziel, nur mit der Absicht, die Stimme aus dem Kopf zu scheuchen.

Niemand möchte gern verrückt sein, schon gar nicht einer, der dem Traum der Vernunft anhängt. In Berlin streunten genug Halbirre herum, in jeder Eckkneipe konnte man Leute treffen, die von ihren Stimmen im Kopf berichteten, die einen stolz, die nächsten im Beschwerdeton. Manche fühlten sich von Geheimdiensten ferngesteuert, andere sahen sich als Werkzeug der Kommunisten oder als Opfer der im Untergrund lauernden Nazis. Man spürte schnell, wer sich nur wichtig machte oder Ausreden fürs Saufen brauchte, der Wahn mit den Stimmen konnte ja sehr nützlich sein: Man machte sich interessant. Zu diesem Verein wollte ich auf keinen Fall gehören.

Hinter dem Lenkrad wurde ich ruhiger. Die Einkaufsstraßen mit den Leuchtzeichen des Weihnachtshandels meidend, steuerte ich das Auto in die verödeten Trümmerecken am Tiergarten. Hier war die Richtung egal, man konnte sich nicht verirren: Überall war Osten, irgendwann kam die Mauer, da ging es nur zurück oder an der unbemalten Betonwand entlang. So landete ich hinter der Philharmonie, stieg beim Hotel Esplanade aus und inspizierte an einem Kiosk die neusten Maueransichtskarten und den Freiheitsglockenkitsch. Auf das Podest mit dem Blick auf das Brachfeld des Potsdamer Platzes verzichtete ich, überall lag der Ruf in der Luft: Du entgehst ihm nicht, deinem R., hier nicht! R. hat geholfen, den Krieg zu verlängern! Hat die Leute gehenkt, die den Krieg und die Bomben aufhalten wollten! Du hast keine Wahl!

An jeder Straßenecke das Gleiche, die Stimme im Kopf wurde lauter und frecher, sie lenkte den Blick, sie behandelte mich wie einen Idioten: Die Nazis sind an allem schuld, an den Ruinen, an den verwahrlosten Fassaden, an jeder Hässlichkeit! Irgendwann brüllte ich zurück: Das musst du mir nicht tausendmal sagen! Ich weiß genug! Da ließ die Stimme nach, als wolle sie mich schonen. Ich war besänftigt, ließ mich treiben im dritten Gang auf den breiteren Straßen durch Schöneberg, Neukölln und Kreuzberg und freute mich, kein Autoradio zu haben.

Es begann zu dämmern, ich hielt in der Naunynstraße, wo mein Freund Hannes wohnte, und dachte ihn zu fragen, was ich mit meiner inneren Stimme anfangen sollte. Von R. würde ich nichts sagen, vom Mordauftrag noch weniger, vielleicht kannte er ähnliche Wahnideen. Der Dichter Hannes war zur See gefahren und glaubte möglicherweise an den Klabautermann, jedenfalls war er empfindsam und phantasietüchtig genug, um mich nicht gleich für verrückt zu erklären. Ich stieg die Treppen im Hinterhaus in das dritte Stockwerk hinauf, drehte an der Klingel, wartete, klopfte laut. Wie immer, wenn ich Hannes suchte, war er nicht zu Hause.

Unten, im schwach beleuchteten Hinterhof Bretterstapel, Schutthaufen, Fahrräder, verbeulte, mit brauner Asche bestäubte Mülltonnen und das vertraute Schild: Spielen verboten! Eltern haften für ihre Kinder! Ich lachte auf, vielleicht über den Witz des Haftens oder als wollte ich mir das Spielen nicht verbieten lassen – und wurde mitten in diesem Kreuzberger Rattenloch von der Erkenntnis überrascht: Du kannst nicht anders, es hat keinen Sinn, sich zu wehren, du musst den Auftrag annehmen. Das war kein ernster oder feierlicher Vorsatz, eher ein spielerischer Einfall. Was für eine tröstliche Ironie! Seit Samuel Beckett wusste man, dass die Weisheit aus den Mülltonnen kommt.

Zum ersten Mal in diesen vierundzwanzig Stunden fühlte ich mich völlig entspannt und erhoben, als sei in dem finsteren Hinterhof eine buddhistische Weisheit an mir erprobt worden: Sag ja, sag einfach ja zu allem, was deine innere Stimme sagt. Und zur Not schiebst du alle Schuld auf den Rundfunk im amerikanischen Sektor. Oder auf Beckett!

Während ich, von dieser Klarheit ergriffen, nach Hause fuhr und an einer Ampel in eine Metzgerei starrte, sah ich, so primitiv arbeitet das Hirn, die Fleischerhaken im Gefängnis Plötzensee und sah den Richter R. in der verdächtigen Gemütlichkeit eines Wohnzimmers auf dem Sofa vor einer Champagnerflasche. Sah die nach vorn gefallenen Köpfe der Gehenkten und sah R. mit einer Frau und drei, vier Herren vor den Sektkelchen. Hörte Freislers Stimme, wie ich sie aus alten Filmen kannte, und hörte den Korken knallen, sah den Champagner schäumen und perlen, Pommery, versteht sich, sah die Gläser von faltigen Händen gehalten, hörte ein Räuspern und den Trinkspruch: Auf deinen Freispruch, auf die Freiheit!

Wie lernt man eine erregte Phantasie zu bremsen, die nicht gebremst sein will? Die nicht gehindert werden will an der einfachen Übung, die Bilder zusammenzufügen, die zusammengehören? Was ist das für einer, der Herr Kammergerichtsrat a.D.? Was findest du in den Büchern über die Nazijustiz?

So kam es, dass ich Catherine zum ersten Mal wegen R. belog und verärgerte. Ich müsse am Referat arbeiten, ich hätte keine Zeit fürs Kino. Die Artisten in der Zirkuskuppel können warten. Oder war es Die Reifeprüfung mit Dustin Hoffman? Nicht alles serviert die Erinnerung.

Kopf abgehackt

Es wird Zeit, die Geschichte mit Axel zu erzählen. Da steigen wir weit zurück, tief in die fünfziger Jahre, in die vierziger sogar, da müssen wir raus aus Berlin, schalten um ins hessische Mittelgebirge, suchen zwischen Bad Hersfeld und Fulda den Ort Wehrda, fahren auf Landstraßen von Norden über Rhina oder von Süden über Rothenkirchen, von Osten über Unterstoppel, von Westen über Wetzlos oder Langenschwarz heran und steuern in die Mitte der Talmulde, auf die Kirche mit dem dicken Zwiebelturm zu, Fachwerkhäuser, Scheunen, zwei Schlösser, dahinter ansteigend Wiesen und Felder vor bewaldeten Bergkuppen, die das Dorf umschließen.

Dies abgelegene Nest spielt als Ort der Handlung der Geschichten, die ich zu enthüllen habe, eine entscheidende Rolle. Hier keimte das Motiv meiner Tat.

Wir blenden uns ein in das Gespräch zwischen dem Stadtkind Axel, das einst in Wehrda lebte, und dem Dorfkind, das ich war. Sie sind zwölf oder dreizehn Jahre alt, in heftiger Freundschaft verbunden. Axel ist wie immer in den Sommerferien mit seinem Bruder Rolf aus Berlin gekommen, zur Tante auf den Bauernhof. Stadtkind und Dorfkind laufen an einem Sonntagnachmittag auf den Feldwegen über dem Dorf entlang, wie sie es oft tun, wenn sie keine Lust mehr auf die Spiele mit den Brüdern oder anderen Jungens haben. Die Sonne steht hoch, die Kornfelder im leichten Wind, die Ernte hat noch nicht begonnen, und irgendwann beschwert sich das Dorfkind über seinen Vater, der jeden Tag außer sonntags unerbittlich Lateinvokabeln abfragt, bis das Stadtkind sagt: Sei froh, dass du einen hast. Das Dorfkind erschrickt, denn es weiß längst, dass der Vater des Freundes im Krieg gestorben ist, aber irgendwie anders als die anderen Väter. Spatzen fliegen vom Weg auf, die Wellen der Ähren und Halme fließen mit dem Wind davon, das Rot der Mohnblumen ist nicht blutrot, es leuchtet viel schöner als Blut, und nach einer langen Pause kommt das Stadtkind auf seinen Vater zu sprechen: den Arzt, der gegen die Nazis war, die den Krieg anfingen und viele Millionen Leute sterben ließen. Das Dorfkind hat andere Freunde, die statt Vätern nur Foto-Väter haben, die hinter den Wörtern ‹gefallen› oder ‹vermisst› oder ‹im Krieg geblieben› verschwunden und auf den Kommoden zu besichtigen sind. Früher, so viel weiß das Dorfkind, hat es den Krieg gegeben und einen Führer, geheimnisvoll umschrieben als «der Hitler» oder «Adolf», Namen, die immer nur kurz und hastig, heimlich oder trotzig ausgestoßen werden. Irgendwie hängt auch das Wort Nazis damit zusammen, dunkle Gestalten, über die nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird. Aber von solch einem Vater hat es noch nie gehört. Und weil er gegen den Krieg war, sagt das Stadtkind, haben sie ihn umgebracht, diese Verbrecher. Das Dorfkind wird in einer Sekunde von zwei Gefühlen getroffen: dem Schreck, dass die Deutschen einen Deutschen, einen Arzt, einfach getötet haben, und dem Schreck über die scharfe Verurteilung der Nazis als Verbrecher. Das ist neu, verletzend deutlich, das geht irgendwie zu weit. Auch sein Vater spricht gegen den Krieg. Das Schlimmste und Traurigste, was es gibt, sagt der, seid nur froh, dass wir Frieden haben, und das Dorfkind zitiert das für den Freund, und er ist dafür nicht umgebracht worden, er war sogar in Gefangenschaft bei den Franzosen. Schnell kommt die Antwort: Aber mein Vater hat das im Krieg schon gesagt und deiner erst danach.

Lerchen hoch in der Luft, die Wärme der Sonne wird lästig, das Dorfkind spürt die Röte im Gesicht. Es hatte mit der Gefangenschaft des Vaters ein bisschen angeben wollen, drei Jahre immerhin, nun fühlt es sich geschlagen, beschämt.

Wieder eine lange Pause, dann die Frage: Und, haben sie ihn erschossen? Pause. Nein. Pause. Aufgehängt? Pause. Nein. Pause. Was denn sonst? Pause. Es war im Gefängnis. Nun sag schon. Sie haben ihm den Kopf abgehackt, mit so einer Maschine, mit einem Beil.

Zum Glück ist der Waldrand erreicht, Schatten, behauene Baumstämme zum Sitzen. Das Dorfkind sagt nichts, das Stadtkind sagt nichts. Häuser, Scheunen und Ställe liegen still in der Talmitte, am Sonntag sind keine Traktoren unterwegs, keine Gespanne. Schweine und Kühe haben ihr Futter und geben Ruhe, in der Nachmittagszeit schweigen sogar die Hunde, Hähne, Glocken. Der einzige Lärm: die Lerchen über dem Weizenfeld. Kopf abgehackt, die beiden Wörter schallen ohrenbetäubend lautlos durchs Tal, wehen als Echo zurück und fressen sich ins Gehirn. Kopf abgehackt, das macht man bei den Hühnern, die werden mit der Hand an den Flügeln gepackt, auf den Hackklotz gelegt, wo sie zappeln, und dann hebt die Bäuerin die Axt, das ist Frauenarbeit, und hackt den Kopf ab, das Blut spritzt, der Kopf fällt zu Boden, das Huhn zuckt und zappelt weiter. Einmal hat das Dorfkind gesehen, wie das kopflose Huhn in die Luft stieg, mit hektischen Flügelschlägen über den halben Hof flog und plötzlich, wie angeschossen, abstürzte. Kopf ab, Blut auslaufen lassen, die Federn rupfen, waschen, salzen und ab in den Topf, das ist die Bestimmung der Hühner. Schon bei Kaninchen wird nicht mehr der Kopf abgehackt, Schweine kriegen den Bolzenschuss in die Stirn, Rinder karrt der Viehhändler ins Schlachthaus, keinem Tier sonst wird der Kopf abgehackt, warum hackt man Menschen den Kopf ab? Das Dorfkind ist allein mit den Wörtern Kopf abgehackt, darüber kann es nicht mit dem Freund reden, der hat schon zu viel gesagt, es bleibt allein mit den beiden Wörtern: Kopf abgehackt.

Die Freunde kennen sich, seit sie laufen, seit sie sprechen können, sie sind nebeneinander, fast unter einem Dach, groß geworden. Axel und Rolf wurden im zweitletzten Kriegssommer aus Berlin zu ihrer Oma aufs Dorf geschickt, die sich im Pfarrhaus eingemietet hatte, die Mutter von Anneliese Groscurth. Direkt daneben das Bauernhaus der Tante, der Schwester Georg Groscurths. Nach der Hinrichtung ihres Mannes fand auch Frau Groscurth hier Zuflucht, eine Familie in zwei Nachbarhäusern, nur durch eine Gartenpforte getrennt. In Wehrda fielen keine Bomben, in Wehrda gab es zu essen, dann kamen die Amerikaner, und es gab immer noch zu essen. Die Freunde, Hand in Hand der erinnerungslosen frühsten Kindheit entwachsen, blieben unzertrennlich, auch als Axel zwei Jahre nach dem Krieg zum Berliner Stadtkind wurde.

Beim Abendbrot versucht das Dorfkind den Vater zu fragen: Was haben sie mit Axels Vater gemacht, haben sie ihm den Kopf abgehackt? Aber es bringt nur den ersten Teil heraus. Es traut sich nicht, das Wort Kopf laut zu sagen, weil es wegen des K gestottert hätte, diesmal, von Angstbildern besessen, noch mehr als sonst. Ja, es war schlimm damals, ist die Antwort des Vaters, ich glaube, er wurde erschossen, aber er war ja ein Kommunist. Das Aber, denkt das Kind, was ist das für ein Aber? Kommunist, ein Wort zum Gruseln, trotzdem wagt das Kind noch eine Frage: Was ist das eigentlich? Nun kommt die Antwort schon fester, weniger irritiert: So einer wie die in der Ostzone, wo es keine Freiheit gibt und wo sie den Glauben verbieten wollen. Neue Fragen springen los, das Kind traut sich nicht weiterzufragen, weil alles immer komplizierter und bedrohlicher wird.

Irgendetwas stimmt nicht. Wenn Herr Groscurth für die Ostzone war, warum ist Frau Groscurth, warum sind ihre Söhne dann hier? Und das mit der Freiheit – wenn es eine Frau gibt, die frei wirkt, gutmütig, großzügig, reiselustig, dann die Mutter von Axel und Rolf.

Erst am nächsten Morgen fragt das Dorfkind das Stadtkind: War dein Vater Kommunist?, und will eigentlich noch fragen: Warum haben sie Kommunisten den Kopf abgehackt? Auch diese Frage bleibt im Hals stecken. Die Antwort kommt schnell: Wer sagt das? Meine Eltern. Das Stadtkind schaut das Dorfkind lange an, strafender Blick auf den Verräter. Deine Eltern kannten ihn nicht, er war nur dafür, dass der Krieg aufhört und keine Menschen totgeschossen werden. Und, fragt das Dorfkind, er war nicht für die Ostzone? Die gab es doch noch gar nicht, du Gimpel! Und fängt an zu lachen, das Stadtkind, ein gnadenloses, meckerndes, städtisches Lachen, wie es das Dorfkind noch nie gehört hat, das sich schämt, flieht und zurückzieht ins Haus.

Auch das Dorfkind weiß, dass die Grenze zwischen Ost und West erst seit dem Krieg das Land teilt, aber es fühlt sich in solchen Gesprächen ungeschickt, unterlegen, dumm. Es kann die Flammen der beiden Wörter Kopf abgehackt nicht austreten, ersticken, löschen. Noch schlimmer die stille Wut, vor dem Freund versagt, ja den Freund verraten zu haben. Es ist fast so untröstlich wie einst, bei der ersten Katastrophe der Kindheit, als es stundenlang schluchzte und heulte, weil ihm der Freund entrissen wurde. Axel und Rolf sollten nach Berlin zurück, der Krieg war seit zwei Jahren vorbei, Rolf musste in die Schule, warum konnte Axel nicht in Wehrda bleiben? Die Flut der Tränen war das einzige Mittel gegen den drohenden Verlust, bis Frau Groscurth kam und ihm ein Buch schenkte zum Trost, ein richtiges Kinderbuch, nicht nur ein Bilderbuch, ein richtiges, zum Lesen, für später, Nils Holgersson.

Das Dorfkind sucht das alte Buch, findet es nicht und meidet bis zum Abend den geliebten Freund. Am nächsten Morgen vertragen sie sich wieder. Das Stadtkind nimmt den Gimpel zurück. Das Dorfkind wagt viele Jahre nicht, das Schweigen über den abgehackten Kopf und die Rätsel des Kommunismus zu brechen.

Hier, hätte ich dem psychologischen Gutachter des Gerichts gesagt, haben Sie mein Urerlebnis. Hier können Sie mit der Analyse meiner Person ansetzen. Ziehen Sie, bitte schön, aus den Tränen des Vierjährigen und den Phantasien des Dorfkinds Ihre Schlüsse.

Das Gestammel der Empörung

Die Kritik am Urteil des Schwurgerichts war während des Wochenendes angeschwollen, die Montagszeitungen räumten mehr als eine Spalte dafür frei, alle Parteien, alle möglichen Verbände zeigten Entrüstung, im Ausland regten sich Proteste, selbst die Springer-Zeitungen schimpften: Verhöhnung des Rechtsstaats. Ich war in bester Gesellschaft, auch Springer kann mal die Wahrheit sagen, und fühlte mich von allen Seiten bestätigt, was für ein seltenes Glück.

Ein Hoch auf Roland Freisler, so brachte es der Spiegel auf den Punkt. Ich habe sie noch gefunden im Karton mit dem alten Material, die Zeilen, die ich damals angestrichen hatte: Unter Hitler konnte man hängen, erschlagen, vergasen, erschießen, abspritzen – und dafür wird man natürlich heute bestraft. Doch richten – richten konnte man unter Hitler ohne Folgen nach Hitler. Man war dem Gesetz ‹unterworfen›, und das ist kein strafwürdiger Zustand, sondern voll ehrbarer Tragik. Das Richten ist eine prächtige Sache. Wer wird denn schon mit dem bestimmten Vorsatz ans Richten gehen, das Recht zu beugen – und sich das auch noch später nachweisen lassen. Doch es soll sich noch einmal jemand auf die ‹richterliche Unabhängigkeit› berufen nach diesem Freispruch und sich dann beschweren, wenn gelacht wird.

In der Mitte des Artikels war ein Rechteck ausgeschnitten: das Foto von R. Mein Gedächtnis behauptet, ich hätte es mit einer Stecknadel an die Wand gepikt. Im Halbprofil ein rundes Gesicht, ein älterer Mann im dunklen Anzug, das Haar nach hinten gekämmt, ein Beamtenmännlein von abstoßender Harmlosigkeit. Jemand, den man sofort vergessen könnte, mit dem man sich keine Minute befassen möchte. Wenn er nicht eine einzige Auffälligkeit hätte, den Hundeblick, die unterwürfig nach oben gerichteten Augen.

Das ausgeschnittene Foto ist verschollen, ich hab es erst im Pressearchiv wiederentdeckt, Gedächtnis und Geständnis brauchen solche Indizien. Ein paar Wochen, Monate muss das Foto ein Fixpunkt an der Wand neben dem Schreibtisch gewesen sein, eine Zielscheibe.

Monday, Monday, so good to be, erst drei Tage nach dem Urteil, am Montagabend, hatte ich Axel am Telefon.

– Eine maßlose Sauerei, ich bin entsetzt, wirklich entsetzt, sagte ich.

An den Wortlaut kann ich mich nicht erinnern, aber an die Scham, für mein Mitgefühl keine passende Sprache zu finden, nur das Gestammel der Empörung. Es sollte weder wie ein Beileidstelegramm noch wie eine politische Erklärung klingen. Der Freispruch für den Mörder seines Vaters war eine intime und eine extrem öffentliche Sache, wie ließ sich das in einem Satz unterbringen, bei einem hellhörigen Freund, am Telefon? Um nicht weiter nach Wörtern stochern zu müssen, fragte ich schnell, wie er das Urteil aufgenommen habe.

– Ach, dazu fällt mir nichts mehr ein. Es ist immer dasselbe, seit zwanzig Jahren.

– Wenigstens wurde ein Prozess geführt. Es gibt Schlagzeilen.

– Hör auf! Die sind nächste Woche vergessen!

– Und was sagt deine Mutter?

– Die hat nichts andres erwartet.

– Ich finde, man muss was tun.

– Du bist gut! Meine Mutter tut seit zwanzig Jahren was gegen diese Bande, und was ist passiert? Nichts, nichts. Sie hat alle Gerichte der Stadt gegen sich, den Bundesgerichtshof auch, und darüber regt sich keiner auf. Du kannst ja protestieren, wenn du willst, und dann gucken wir mal, was dabei rauskommt.

Axels Bitterkeit verletzte mich nicht, ich kannte seinen Ton und die unwirschen Bemerkungen, mit denen er mir Flausen aus dem Kopf scheuchte. Er nannte mich Idealist, ich ihn Pessimist, ein altes Spiel. Auch dem Freund verriet ich nichts von meiner fixen Idee. Er sollte nicht wissen, dass ich bei den albernen Silben «was tun» längst viel weiter als an ein Protestbriefchen dachte.

– Wart ihr irgendwie, fragte ich, beteiligt an dem Prozess?

– Das wollten wir, als Nebenkläger, aber das Gericht hat das abgewimmelt.

– Obwohl der das Todesurteil für euren Vater fabriziert hat?

– Abgewimmelt, ich sag es doch.

– Und Havemann, hat der es versucht?

– Nicht, dass ich wüsste, der hat auch andere Sorgen jetzt.

– Die wollten euch nicht als Nebenkläger, das ist doch ein Skandal! Noch ein Skandal!

– Ich kann das Wort Skandal nicht mehr hören, mein Lieber. Es ist ganz normal, es hat Methode. Außerdem, für Groscurth interessiert sich sowieso kein Mensch. In der DDR feiern sie die paar Kommunisten, die im Widerstand waren, in Westdeutschland die paar Offiziere, die viel zu spät den Putsch versucht haben. Damit haben sie beide das Alibi, das sie brauchen, und Leute wie mein Vater, die so viel getan und riskiert haben, vielleicht mehr als viele dieser Kameraden, fallen durch den Rost, weg damit. Nur Havemann hat die Gruppe hochgehalten. Und weil er der einzige Überlebende ist, haben die im Westen immer gedacht: Ein Kommunist, der prahlt und lügt sowieso. Deshalb kennt niemand im Westen die E. U. Und jetzt, weißt du, was sie jetzt mit ihm machen …

– E. U., was heißt E. U.?

– Europäische Union, so nannte sich die Gruppe. Die waren ihrer Zeit voraus, viel zu weit voraus, das war ihr Pech. Also, Havemann, weißt du, was sie jetzt machen, wo er gegen Ulbricht ist? Jetzt streichen sie ihn ganz aus dem Widerstand.

– Aber die können doch nicht die Geschichte verdrehn!

– Die auch! Vor kurzem ist ein Artikel über die Europäische Union erschienen, in einer DDR-Zeitschrift. Und da kommt Havemann nicht mehr vor, dafür stellen sie jetzt meinen Vater groß raus. Der hätte ihnen das um die Ohren gehauen!

– Kann ich den Artikel mal lesen?, fragte ich.

– Musst mal wieder meine Mutter besuchen, die hat das Zeug.

Da klang ein Vorwurf mit, seit einem Jahr oder länger hatte ich Anneliese Groscurth nicht mehr gesehen.

(Wenn ich unsere früheren Dialoge zu rekonstruieren versuche und in das Geständnis einbaue, vernehme ich den schwerfälligen Ton, das hölzerne Denken. Aber es war so, wir haben damals nicht eleganter, witziger, intelligenter geredet, und deshalb muss, wer wissen will, wie ich zum Mörder wurde, mit diesen spröden Dialogen vorliebnehmen. Alles zu schönen würde nichts nützen. Mich klüger und geschickter zu malen wäre Lüge. Nur in der Enge dieser Sprache, leicht pathetisch, in jeder Silbe politisch eifernd, konnten die Pläne keimen und blühen.)

Der Engel aus London

Die besten Einfälle muss man für sich behalten, die fatalen erst recht. Trotzdem diskutierte ich jeden Tag darüber – ohne dass meine Gesprächspartner es merkten, zum Beispiel mit dem Engel aus London.

Er war der Freund meines Freundes Bruno und ein bisschen auch mein Freund, einer der liebenswürdigsten Menschen mit einem der hässlichsten Vornamen, Hugo. Seit wir uns, zwei Jahre zuvor, in London mit ihm verbrüdert hatten, nannten wir ihn Angel of London, obwohl er Amerikaner war. Ein Buchhändler von der tüchtigsten Sorte der Hippies, Their Majesties’ Bookseller. Mit seinem Laden in East Hampstead belieferte er nicht die Queen, er diente den wahren Königen Großbritanniens als Hoflieferant, den Beatles und den Rolling Stones. Als wir ihn kennenlernten, im Spätherbst 1966, verkehrten bei ihm Paul McCartney und Mick Jagger, Brian Jones, John Lennon und die andern. Sie holten oder bestellten hier die Zeitschriften aus dem Underground der USA, Anleitungen zur Meditation aus Indien, Mao-Bibeln, Buddhas Lehren, Broschüren über vegetarische Kost, Gedichte und was sie sonst an geistigem Futter brauchten. Vielleicht war der sanfte Hugo der einzige Mensch, der mit den beiden rivalisierenden Gruppen befreundet blieb.

Am 10. Dezember um 19.46 Uhr, so steht es im Taschenkalender, war der Engel aus London am Bahnhof Zoo angekommen. Sein erster Besuch in Deutschland, er wollte die Mauer sehen, die Proteste und uns, er hatte sogar verkündet, vielleicht hier leben zu wollen.

Nicht nur vor Catherine habe ich damit angegeben, dass der Freund von Mick Jagger und John Lennon, von Keith und Paul auch der Freund von Bruno und mir war. Sie schwärmte, nicht sehr originell, für Lennon. Hugo aber protzte nicht damit und wollte nicht mit Fragen nach dem Befinden der Stars belästigt werden, seine Botschaft lautete: Kein Mensch ist mehr wert als ein anderer.

Als ich ihm an diesem Abend in Brunos Wohngemeinschaft Catherine vorstellte, sagte er sofort:

– Wow! what a marvellous woman!

Seine Gewohnheit, unbekannte Menschen fröhlich mit einem Kompliment zu begrüßen, funktionierte in Berlin besonders gut, wo Höflichkeit und Charme fast als Unsitte galten. Catherine war begeistert, Hugo strahlte. Sein kleines, immer lächelndes Gesicht zierte eine schlichte Nickelbrille mit runden Gläsern, und das halblange, halbblonde Haar mit Mittelscheitel hätte ein Maler von Altarbildern nicht besser um den Kopf fügen können. Er trug ein indisches Hemd ohne Kragen, dicht am Hals zugeknöpft, und zog eine Art Poncho über. Wir stiegen zu viert in meinen alten Fiat 500, ich steuerte eine Kneipe in Charlottenburg an, wo wir Brunos Freundin treffen wollten. Hugo fragte, warum es zwischen den Häusern so viele Lücken gäbe, wir antworteten mit Wörtern wie war, bombs, British and American airplanes, und von hinten sagte Bruno:

– Well done.

– But that was twenty-three years ago?

– The Germans like destruction, sagte Bruno.

Im Schotten war es zu voll, auf einen Tisch nicht zu hoffen. Alle drängten hierher, seit ein paar Häuptlinge der Bewegung an dieser Ecke Charlottenburgs ihr Bier tranken. Außerdem profitierte der Ort von dem Gerücht, der Baader hätte sich hier öfter geprügelt, bevor er in Frankfurt Kaufhäuser in Brand setzte. Deshalb hockten an den Tischen viele Journalisten, die Storys, und linke Touristen, die Anschluss an die wilde Welt der Revolution suchten. Die studentischen Stammgäste standen gedrängt vor der Theke, an Türen und Wänden und bei milderem Wetter draußen, Biergläser in der Hand. Als wir Brunos Freundin Ute gefunden hatten, zogen wir in eine andere Kneipe.

In meinem Geständnis muss nur eine Episode dieses Abends erwähnt werden, die Bullshit-Diskussion.

Der Engel aus London trank keinen Alkohol, bestellte Tee, und als die Kellnerin mit dem Teebeutel im Glas kam, Wasser. Bruno wollte ihm einen Gefallen tun und fragte irgendwann, wie er sich fühle im Naziland. Er fühle sich nicht im Naziland, sagte er, die Leute hier, jung, lässig, mit langen Haaren, sind gewiss keine Nazis. Außerdem seien nur Nazis für den Vietnamkrieg, ihr seid dagegen, alles klar. Hugo war einer der leidenschaftlichsten Gegner dieses Krieges und der Gefechte, die sein Land in der Dritten Welt anzettelte. Man hätte ihn für den Erfinder der Parole Make love not war halten können. Wir klagten, wie schwer das sei, gerade in Berlin, wo man bei jedem Mucks mit der Keule des Antiamerikanismus geschlagen werde. Wenn euch jemand so kommt, lachte Hugo, dann schreit: Wir sind die Proamerikaner! Wir demonstrieren für unsern Freund Hugo aus San Diego und die Millionen Amerikaner, die so denken wie er!

SASS