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Frederik Jötten

Viel Rücken. Wenig Rat

Wie ich der Ursache meiner Schmerzen auf die Spur kam. Ein Kreuz-Krimi

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Frederik Jötten

Frederik Jötten ist Biologe und Absolvent der Deutschen Journalistenschule. Er war vier Jahre Redakteur beim Magazin der Frankfurter Rundschau. Heute schreibt er als freier Reporter und Wissenschaftsjournalist u. a. für Die Zeit, Focus Gesundheit und die NZZ am Sonntag. Außerdem ist er Autor der Gesundheitskolumne «Wir machen uns mal frei» auf SPIEGEL ONLINE.

Über dieses Buch

Frederik Jötten war in den vergangenen acht Jahren bei 13 Orthopäden, fünf Radiologen und drei Physiotherapeuten. Er besitzt einen Koffer schöner Bilder von seiner intakten Wirbelsäule und einen Ordner mit falschen und nichtssagenden Befunden. Er hat bei spritzwütigen Haudegen ebenso auf der Behandlungsliege gelegen wie bei sanften Handauflegern, Chiropraktikern und Osteopathen. Er ist ein geschlagener Ermittler, der nicht aufgibt, seinen schwersten Fall zu lösen: den seines Rückenleidens. Mit zahlreichen Tipps, wie man sich schlechte Behandlung erspart.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Februar 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München

(Abbildung: FinePic, München)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Printausgabe 978-3-499-60277-1 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-49981-2

www.rowohlt.de

 

Hinweis: Die Seitenverweise im Innenteil beziehen sich auf die Seiten der Print-Ausgabe.

ISBN 978-3-644-49981-2

Für mich

Vorwort

«Isch hab Rücken.» Horst Schlemmer, die Kunstfigur von Hape Kerkeling, musste nur diesen Satz sagen, und das Publikum brach in Gelächter aus. Natürlich, weil der Komiker die Figur des kauzigen Lokalreporters so genial verkörperte. Aber auch, weil wir fast alle wussten, wovon Schlemmer da sprach. 80 Prozent der Deutschen haben in ihrem Leben Rückenschmerzen, 40 Prozent haben sie in diesem Moment, und viele werden sie überhaupt nicht mehr los – da tut es gut, wenn jemand sich über den Schrecken lustig macht. Und Humor müssen Rückenschmerzpatienten haben, bei alldem, was ihnen widerfährt im Gesundheitssystem.

Dieses Buch erzählt die Geschichte eines ganz normalen Patienten, der seine Rückenschmerzen loswerden wollte, meine Geschichte. Mein Weg führte mich von einem spritzwütigen Orthopäden zu einem Physiotherapeuten, der wusste, wo es wehtat; von desinteressierten Schulmedizinern zu einer gierigen Alternativ-Ärztin; von einem bodybuildenden Scharlatan zu einer hart-ehrlichen Psychologin. Ich zog vom Fitnessstudio zur Wirbelsäulengymnastik, von einem Personal Trainer zur Yoga-Lehrerin, vom Schreibtischstuhl auf den Sitzball, von einer Sieben-Zonen-Kaltschaummatratze aufs Wasserbett – und oft auf direktem Weg wieder zurück. Manches, was ich erlebte, war komisch, anderes eher nicht.

Am Anfang ging ich arglos in eine Arztpraxis, wurde schlecht behandelt und zog weiter. Und weiter. Dann wurde ich zum Ermittler in eigener Sache, der Behandlungen in Frage stellte, der recherchierte, ob sie wissenschaftlich fundiert waren. Ich war schockiert darüber, wie oft mir unsinnige Methoden und Behandlungen aufgedrängt wurden.

Meine Ermittlungen dauerten zehn Jahre, zwei war ich gesetzlich versichert, den Rest der Zeit privat. Der Unterschied besteht meiner Ansicht nach vor allem in zwei Aspekten: Als gesetzlich Versicherter muss man viel länger auf einen Facharzttermin warten. Andererseits wird mit dem Privatversicherten noch erheblich mehr unwirksamer Unsinn getrieben als mit gesetzlich Versicherten, weil das lukrativ für Ärzte und Therapeuten ist. Das kann schnell zu Behandlungen führen, die gefährlich für den Patienten sind. Es ist eine Zweiklassenmedizin – und keine Klasse wird so gut behandelt, wie es mit den zur Verfügung stehenden Mitteln möglich wäre.

Dass meine Geschichte ein Buch füllt, ist ein Indiz dafür, dass es große Probleme in der Behandlung von Rückenschmerzen gibt. Der Skandal ist aber, dass es Hunderttausende solcher Geschichten gibt. Denn das Wissen, wie Rückenschmerzen behandelt werden sollten, existiert, niedergeschrieben seit 2010 in der Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz. Es hält sich nur kaum jemand an das, was dort empfohlen wird.

Natürlich ist es schwierig, Rückenschmerzen zu therapieren, denn sie haben komplexe Ursachen. Aber man kann wohl von einem Mediziner erwarten, dass er systematisch vorgeht, anstatt einfach das, was er immer macht, bei jedem anzuwenden und zu hoffen, dass während der Therapie, so wie meistens, die Schmerzen von allein verschwinden. Da könnten die Ärzte ja genauso gut «Heile, heile Gänschen» singen.

Ich habe mit der Zeit so ziemlich jeden Unsinn in der Behandlung meiner Rückenschmerzen mitgemacht. Ich habe es für mich getan, aber es würde mich freuen, wenn der eine oder andere Leidensgenosse sich durch die Lektüre manches ersparen könnte. Das Buch kann auch Hinweise geben, wie man seine Rückenschmerzen besiegen kann – ich bin, das hätte ich nicht mehr erwartet, letztlich durch einfache Techniken den Großteil meiner Probleme losgeworden. Ich habe während der Ermittlungen in meinem Fall viele Experten gesprochen: Klinikdirektoren, Universitätsprofessoren, Präsidenten ärztlicher Fachgesellschaften. Sie alle haben sich ausführlich Zeit genommen, um meine Fragen zu beantworten. Fragen, für die im normalen Arzt-Patienten-Verhältnis keine Zeit bleibt, Fragen nach der Wirksamkeit von Methoden, nach Defiziten im System – und nach der besten Behandlungsoption in verschiedenen Situationen. Die Experten sind im Wortlaut widergegeben. So ist neben meiner Geschichte viel praktisches Wissen für Patienten mit chronischen Rückenschmerzen zusammengekommen. Für diesen Input bin ich den Experten sehr dankbar.

Man merkt vielen der Top-Mediziner an, dass sie die Behandlung von Rückenschmerzpatienten verbessern wollen. Leider ist von diesem Willen zur Veränderung bei den niedergelassenen Ärzten noch nicht viel angekommen. Die Namen von allen an meiner Geschichte beteiligten Personen habe ich aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes geändert oder nicht genannt. Mir wäre es aber sehr recht, wenn sich der eine oder andere Mediziner wiedererkennen und sein Verhalten ändern würde.

1. Das Messer sticht zu

An dem Tag, an dem ich vom Patienten zum Ermittler wurde, schien die Sonne in ein leeres Wartezimmer, Staub flirrte im Licht. Es roch nach Flieder-Duftspray, die Wände waren hellblau, die Stühle hatten Sitzbezüge in Pink, und niemand saß darauf. Jetzt ahnte ich, warum ich hier sofort einen Termin bekommen hatte – der Arzt war wohl nicht sehr beliebt bei den Patienten, und ich sollte bald erfahren, warum. Die Praxis für Orthopädie hatte ich in den Gelben Seiten gefunden, sie lag auf meinem Weg zur Arbeit, am Ende der Straße, in der ich wohnte. Aber selbst das war kaum zu schaffen gewesen für mich. Bei jedem Auftreten schoss mir der Schmerz in den unteren Rücken. Als ich mich jetzt im Wartezimmer auf einen Stuhl setzen wollte, musste ich mein gesamtes Gewicht mit der rechten Hand auf der Armlehne abstützen und mich langsam gen Sitzfläche sinken lassen. Meine Laune war extrem schlecht. Irgendwas in meinem Kopf raunte: «Mein Leben ist die Hölle.» Obwohl ich wusste, dass das nicht stimmte, vor zwei Tagen noch war ich ein glücklicher Mensch gewesen. Da hatte ich für kurze Zeit keine Rückenschmerzen gehabt.

 

Begonnen hatte alles ein halbes Jahr zuvor noch nicht einmal mit einem Unfall oder einer spektakulären Blutgrätsche beim Fußball. Nein, ganz im Gegenteil. Es war der Spätsommer des Jahres 2003, und ich war neu in der Stadt. Die Sonne reichte noch für zweimal Schwimmbad, für Sonntagnachmittage im Park. Es war mein erster Job als Zeitungsredakteur, ich war 28. Die neuen Kollegen im Büro waren nett. Da war Stefan, mit der sonoren Stimme, der über seiner Computertastatur Zigaretten drehte und zwischen den Tasten so viele Tabakkrümel speicherte, dass er daraus immer eine Notzigarette drehen konnte. Mit ihm kabbelte ich mich über Fußball. Ich witzelte über seinen Club, den gerade ein dubioser ungarischer Investor vor der Insolvenz retten sollte. Er machte sich über meinen Verein lustig, der damals sämtliche abgehalfterten Spieler der westlichen Hemisphäre aufzukaufen schien. Dann war da noch Karo, Ex-Model, fünf Jahre älter als ich, aber für jeden Blödsinn zu haben. Wir lieferten uns Schlachten, um das neue Deo der Firma Fa, das uns als Probe geschickt worden war. Es nannte sich «Sexy», war aber in Wirklichkeit ein Kampfgas. Wir lauerten einander auf, um uns damit einzunebeln. Zwischendrin und vor allem danach arbeitete ich viel. Der Job machte mir Spaß, ich wollte zeigen, was ich draufhatte. Ich nahm jeden Auftrag an. Den größten Teil des Tages saß ich am Schreibtisch. Dem Ziehen im unteren Rücken, das ich immer öfter spürte, schenkte ich erst mal keine Beachtung.

Dann eines Abends, von gegenüber schien das Licht der Leuchtreklame eines Detektivbüros ins Büro, beendete ich meinen Arbeitstag. Draußen und über allen anderen Schreibtischen war es schon dunkel, als das Messer zum ersten Mal zustach. Ich erhob mich von meinem Schreibtischstuhl, und der Schmerz schoss in mein Leben – auf Höhe der Hüfte, links neben der Wirbelsäule. Das linke Bein konnte ich nicht mehr richtig aufsetzen. Ich knickte auf jener Seite seltsam kraftlos weg. Gehen konnte ich nur, indem ich die rechte Seite belastete und humpelte. Auch dabei tat es weh, bei jedem Schritt strahlte der Schmerz aus bis in den Oberschenkel, die Wade, den Fuß. Eigentlich hatte ich jetzt als Ausgleich zum langen Sitzen noch Joggen wollen – daran war nicht mehr zu denken. Die Rückenschmerzen hatten eingeschlagen im Zentrum meines Körpers, im Zentrum meines Lebens.

 

Der Schmerz blieb. Nach einer Woche machte ich einen Termin bei einer Orthopädin. Sie trug, obwohl es in ihrer Praxis kalt war, ein kurzärmeliges Krankenpfleger-Leibchen in Weiß, hatte eine tiefe Stimme, einen ausgeprägten Damenbart und einen kräftigen Händedruck. Sie hörte sich an, welche Beschwerden ich hatte. «Wir sollten ein Röntgenbild machen», sagte sie.

Eine halbe Stunde später schaute sie sich die Aufnahme am Schirm an. «Keine Schäden zu erkennen», sagte sie. Ich durfte mich bei ihr auf die Pritsche legen, sie drehte mein angewinkeltes Bein in die eine und die andere Richtung und diagnostizierte schließlich: Blockade im Kreuz-Darmbein-Gelenk, auch genannt Iliosakralgelenk (ISG). Das ist das Gelenk, über das das Becken mit der Wirbelsäule verbunden ist.

«Ich werde Sie jetzt mobilisieren», sagte sie. Sie verdrehte mein Bein wieder – und lehnte sich dann mit ihrem Gewicht darauf, bis es im Gebälk krachte: Chirotherapie. Das gefiel mir, hier passierte was! Ich fühlte mich nach dem Knacken befreit, der Schmerz ließ nach.

 

Ich fing trotz leichter Schmerzen wieder an zu joggen. Herbst und Winter vergingen, das Leben kehrte zurück. Karo bekam eine Ladung «Sexy» in die Haare. Als Wiedergutmachung musste ich ihr nach Feierabend einen ausgeben. Es war einer der ersten warmen Tage des Jahres, ich saß lange auf einer Bank in einem Biergarten. Irgendwann war es plötzlich dann doch nicht mehr so warm – und als ich aufstehen wollte, schoss es wieder in meinen Rücken. Karo musste mich auf dem Weg zur U-Bahn stützen. Es war mir peinlich. Ich war sehr schlecht gelaunt. Der Schmerz war zurückgekehrt.

Am nächsten Morgen erwachte ich mit Schmerzen, kam kaum aus dem Bett. Ich schleppte mich zur U-Bahn, traute mich nicht, mich hinzusetzen, um nicht beim Aufstehen vor Schmerz zusammenzuzucken. Ich strich Bierbänke und die damit verbundene Geselligkeit aus meinem Programm. Nach dem x-ten Einrenken sagte meine Orthopädin: «Lassen Sie hier eine Kernspintomographie machen», und gab mir eine Visitenkarte. Als ich ein paar Wochen später mit den Bildern in ihre Praxis kam, fand sie auch auf diesen keine krankhaften Veränderungen. Sie mobilisierte mich wieder, danach sagte sie: «Ich habe jetzt selbst Rückenschmerzen.» Sie klang, als hätte sie aufgegeben.

Ich fragte die Arbeitskollegen nach einem neuen Orthopäden. Stefan sagte: «So richtig empfehlen kann ich dir keinen, versuch es doch mal bei Dr. Boretto, der war okay.» Dr. Boretto hatte ein breites Kreuz und gekräuselte schwarze Haare. Er schaute sich die Röntgen- und Kernspinbilder an, die ich mitgebracht hatte, murmelte: «Kein Befund.» Dann bat er mich sehr freundlich auf seine Behandlungsliege. «Das linke Bein anwinkeln und über das Rechte legen», sagte er. Dabei blickte er noch aus dem Fenster, doch sobald mein Bein in der von ihm gewünschten Position war, wirbelte er herum und warf sich auf mich. Methode Überraschungsangriff mit etwa 100 Kilogramm Lebendgewicht! Ich war so erschrocken, dass ich fast «Hilfe!» gebrüllt hätte. Wenn das Ziel des Arztes gewesen war, damit einen entspannten Moment abzupassen, war es gründlich danebengegangen. Ich spürte, wie mein gesamter Körper sich wehrte und anspannte. Ich war so geschockt, dass ich kein Wort herausbrachte. Ich fühlte ich mich wie nach einem Autounfall, zusätzlich zu meinem unteren Rücken tat mir jetzt auch noch die Brustwirbelsäule weh. Ich wusste, dass ich zu diesem Arzt nicht mehr gehen wollte.

Der emeritierte Professor Edzard Ernst, bis 2011 Inhaber des weltweit ersten Lehrstuhls für Alternativmedizin in Exeter, Großbritannien, über Chirotherapie:

Die Chirotherapie beruht auf völlig unplausiblen Vorstellungen über Subluxationen, also Fehlstellungen von Wirbelkörpern, die die vermeintliche Ursache aller Erkrankungen sein sollen. Diese Vorstellungen sind nicht nachweisbar, sie existieren nur in der Phantasie von Chiropraktikern. Wenn Chirotherapie jedoch gegen Rückenschmerzen eingesetzt wird, ist sie wirksam, das ist relativ gut belegt. Das ist kein Widerspruch, eine Behandlung kann wirken, selbst wenn sie auf wahnwitzigen Vorstellungen beruht. Man kann die Chirotherapie am Rücken als manuelle Therapie ansehen.

(Siehe auch Seite 96f.)

Ich kehrte zurück zu meiner vorherigen Ärztin. Ihre etwas weniger rabiate Methode der Chirotherapie verringerte die Schmerzen zumindest ein wenig. Ich machte Gymnastikübungen, so, wie sie auf dem Poster einer Krankenkasse dargestellt waren. Kämpfte mich wieder ran ans Leben. Doch die Angst vor dem Schmerz begleitete mich immer. Wenn ich bei der Arbeit ein leichtes Ziehen in der ISG-Region spürte, fürchtete ich sofort, dass ich das Leben, so, wie ich es kannte, bald nicht mehr würde leben können. Früher hätte ich mich gestreckt und der Sache keine weitere Beachtung geschenkt – aber jetzt: kein Sport, kein Weggehen, sitzen nur unter Schmerzen. Ich wandelte wie auf Eiern durch die Welt, um bloß keine falsche Bewegung zu machen. Vorher war ich ein Mensch gewesen, der gelegentlich Rückenschmerzen gehabt hatte, jetzt war ich zu einem Rückenpatienten geworden. Von nun an war mein Leben davon bestimmt, alles zu tun, um die Wiederkehr des Schmerzes zu vermeiden.

Versagensgefühle kamen dazu. Was machte ich falsch? Zu schwer gehoben? Zu kalt gesessen? Je mehr ich versuchte, mich beim Sitzen besonders gerade zu halten, desto schlimmer wurden die Schmerzen und vor allem die Gedanken. Was würde werden, wenn ich den Schmerz nicht mehr losbekäme? Würde ich meine Arbeit noch machen können? Würde ich all das sein lassen müssen, was ich liebte – Laufen, Skifahren, Tanzen? Ich war jetzt schon oft schlecht gelaunt. Würde ich ein griesgrämiger, verbitterter Mensch werden, verheiratet mit seinem Schmerz statt mit einer Frau? Ich war Single, doch wie eine gute Partie kam ich mir nicht mehr vor, wenn ich zur U-Bahn humpelte.

 

Mit meinen bisherigen Rückenärzten war ich nicht zufrieden gewesen. Als der Schmerz mal wieder unerträglich geworden war, machte ich deshalb den Termin bei dem Orthopäden in meiner Straße, bei dem ich nun im nach Fliederduftspray riechenden Wartezimmer saß. Eine Frau in einer Art Kittelschürze sagte mir, ihr Mann habe gleich Zeit für mich. Ein Familienbetrieb also. Kurze Zeit später kam er schnaufend um die Ecke gebogen, ein kleiner Mann, der einen mächtigen Bauch vor sich herschob und das rechte Bein nachzog. Konnte er sich nicht selbst heilen? Sein Hinken schien mir kein guter Beleg seiner Fähigkeiten zu sein.

«Die Bilder sind mir zu alt», sagte er, als ich ihm das Röntgen- und das Kernspinbild hinhielt. Er klang wie Marcel Reich-Ranicki, wenn er ein Buch zerriss. Ich sollte also in der Praxis im Keller eine neue Röntgenaufnahme machen lassen. Ich humpelte in Richtung Aufzug – das war in meiner arglosen Phase, in der ich alles über mich ergehen ließ, was Ärzte verordneten. Eine halbe Stunde später schaute der Arzt sich das Bild an. «Da ist nichts!», raunzte er. Dann bat er mich auf seine Pritsche. Er humpelte um mich rum, lehnte sich so dicht zu mir, dass ich sein Aftershave riechen konnte. «Locker lassen!» Er packte mein Bein in der Kniekehle, drückte es nach unten. Das sollte wohl ein Einrenken werden. Der Arzt stöhnte, die ganze Prozedur schien ihn sehr anzustrengen. Nach zehn Sekunden gab er auf. «Ich gebe Ihnen jetzt Spritze», sagte er im Befehlston eines russischen Straflager-Kommandeurs. «Was wollen Sie mir SPRITZEN?», fragte ich, vielleicht ein bisschen hysterisch. Ich mag Spritzen nicht besonders, und von einer Injektion war bislang nicht die Rede gewesen. «Ist er nicht so ängstlich!» Er winkte verächtlich mit der Hand, zog aus einer braunen Ampulle Flüssigkeit in eine Spritze. Die Nadel hielt er gegen das Neonlicht, drückte auf den Kolben, bis ein Tropfen entlang der Kanüle nach unten rann. Ich lag mit nacktem Hintern auf einer wackeligen Pritsche, ausgeliefert einem Wahnsinnigen. Der Doktor beugte sich über mich und wurde jetzt ziemlich laut. «Ist kleine homöopathische Spritze, sonst gar nichts!» Ich wagte nicht zu widersprechen, und er stach zu. Beim Rausgehen sah ich allerdings: Auf der Ampulle stand «Diclofenac» – der Name eines herkömmlichen Schmerzmittels.

 

Die Schmerzen ließen nach, ich konnte wieder laufen, wenn auch nicht richtig rund. Ich hatte nicht prinzipiell etwas gegen Schmerzmittel, aber der Arzt hatte mich angelogen. Unmöglich, noch mal zu ihm zu gehen, das hatten einige Patienten vor mir wohl auch schon festgestellt. Nach zwei Tagen waren meine Schmerzen wieder da, das Schmerzmittel war keine langfristige Lösung gewesen, natürlich nicht. In einer einsamen, schmerzdurchwachten Nacht beschloss ich, dass es so nicht weitergehen konnte. Kein Arzt konnte mir helfen, ich musste mich selbst auf die Spur machen. Ein düsterer, ein kaputter Ermittler auf der Suche nach einer Wahrheit, die niemanden außer ihm interessierte.

Bernhard Arnold, Chefarzt für Schmerztherapie am Klinikum Dachau und Mitautor der Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz, über Schmerzmittelinjektionen:

Diclofenac ist ein wirksames Schmerzmittel, das bei akuten und zum Teil auch bei chronischen Rückenschmerzen für einen begrenzten Zeitraum empfohlen wird. Als Tablette eingenommen, wirkt es allerdings genauso gut, wie wenn es in den Muskel injiziert wird. Injektionen haben wie alle Eingriffe Risiken: Blutergüsse, Abszesse und Nervenschädigungen sind zwar selten, aber möglich. Auch steigt, einigen Veröffentlichungen zufolge, das Risiko für einen allergischen Schock, wenn Diclofenac gespritzt wird, gegenüber der oralen Einnahme. Diclofenac sollte deshalb nicht injiziert werden.

2. Einer von vielen

Ich begann zu recherchieren. Zuerst wollte ich mehr erfahren über das gesamte Spektrum an Rückenerkrankungen. Ich sah in der Tageszeitung, dass zwei Wochen später ein Vortrag zu Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten von Rückenschmerzen stattfinden sollte. Referieren sollte der Chefarzt einer Wirbelsäulenklinik, Einlass nur nach telefonischer Anmeldung. Ich rief am gleichen Tag an, an dem die Anzeige erschienen war – die Veranstaltung war schon ausgebucht. Erst als ich ein bisschen jammerte, ließ sich die Dame am Telefon überreden, mich doch noch auf die Liste der Auserwählten zu setzen.

An einem Mittwochabend betrat ich ein Luxushotel. Der große Veranstaltungssaal war voll, ungefähr 400 Leute drängten sich in dem Raum. Glänzende Glaskugeln hingen von der Decke. Durch die Fenster sah man verspiegelte Hochhäuser im Abendlicht. Ich fand noch einen Platz in einer der hinteren Sitzreihen. Links vor mir saß eine Frau mit Kopftuch, etwa 40, daneben eine ältere, elegant gekleidete Dame mit Hut, circa 70, daneben ein Mann Mitte 40, weißes Hemd, gebräuntes Gesicht, dunkler Typ, nach hinten gegelte Haare. Er wirkte wie ein Angehöriger eines reichen italienischen Clans, allerdings wie einer, dem das Yacht- und Ferrarifahren gerade nicht mehr so viel Spaß machte. Er saß so übertrieben gerade und steif da, als habe er einen Stock als Wirbelsäule. Seine Gesichtszüge ließen unterdrückten Schmerz vermuten, in der Hand hielt er einen Block, jederzeit bereit, den Schmerz für einen Moment auszuhalten, um eine Notiz zu machen, die das Leiden vielleicht würde leichter machen können.

An die Leinwand war schon der Titel der Veranstaltung projiziert: «Wenn die Wirbelsäule aus der Balance gerät». Wenige Minuten später kam ein kleiner Mann im Anzug auf die Bühne und begrüßte uns Heilsuchende mit ausgebreiteten Armen und einem Lächeln – der kahlköpfige Chefarzt des Wirbelsäulenzentrums. «Schön, dass Sie heute Abend hier sind, oder auch nicht schön», sagte er. «Wenn Sie nicht hier wären, ginge es Ihnen besser!» Ja, da hatte er recht. Das Publikum lachte. Es ist nicht so, als ob wir Rückenkranken keinen Humor hätten, nur so können wir das Elend schließlich ertragen. «80 Prozent der Menschen haben in ihrem Leben mal Rückenschmerzen, 40 Prozent haben sie genau jetzt», sagte der Chefarzt. «Wer hat Schmerzen in der Halswirbelsäule?» Einige Hände gingen nach oben. «In der Brustwirbelsäule?» Nur zwei Zuhörer meldeten sich. «In der Lendenwirbelsäule?» Bejahendes Grummeln ging durch den ganzen Saal. «Die meisten Menschen haben dort Probleme, auf den Lendenwirbeln lastet der meiste Druck.»

Ich wusste es schon vorher, aber hier sah ich es deutlich: Ich war nicht allein. Im Gegenteil, ich war einer von sehr vielen. Wir Rückenschmerz-Patienten könnten Wahlen entscheiden oder eine Revolution machen – wenn wir mal fit wären. Aber wir sind gefangen in unserem Schmerz. Er lässt nicht viel Hirnkapazität frei für große Gedanken. Unsere volle Aufmerksamkeit gilt der Schmerzlinderung und deshalb auch dem Referenten auf dem Podium, dessen Power-Point-Präsentation uns Erlösung bringen könnte, vielleicht.

«80 Prozent der akuten Schmerzen heilen ohne Therapie», sagte der Chefarzt. Das wirkte offen und ehrlich, nicht, als ob er Patienten ködern wollte. Aber man kann das auch anders sehen: Rückenspezialisten müssen nicht die geringste Angst haben, dass ihnen die Patienten ausgehen. Und ja, wir, die wir hier saßen, anstatt beim Fußballspiel, im Theater oder in der Kneipe, wir waren wohl die 20 Prozent, bei denen die Schmerzen nicht von allein verschwunden waren.

«Ein großes Problem ist, wenn Rückenschmerzen chronisch werden», sagte der Chefarzt. Ein Stöhnen ging durch den Raum. «Wenn Schmerzen länger als sechs Monate andauern, prägt sich das ins Schmerzgedächtnis ein, dann kann es wehtun, sogar, wenn die organische Ursache nicht mehr vorhanden ist.» Das bedeutete, es gab nicht mehr viel Hoffnung für mich, ich hatte die Schmerzen schon sieben Monate.

Eine Frau meldete sich: «Ich bekomme ständig einen Hexenschuss. Was kann ich tun?» Sie war noch keine 20 Jahre alt – es konnte wirklich jeden treffen. «Ich müsste eine Diagnose haben, um dazu sicher etwas sagen zu können», meinte der Chefarzt. Tja, die Diagnose, sie ist oft das Problem – wie wenig Vertrauen muss man zu seinem Arzt haben, um bei einer öffentlichen Veranstaltung nach Hilfe für ein medizinisches Problem zu fragen? Antwort: so verzweifelt wie wir alle in diesem Raum. «Die Patienten mit unspezifischen Diagnosen haben es ganz schwer», sagte der Referent. «Sie rennen von Arzt zu Arzt, und keiner nimmt sie ernst.» Dem war nichts hinzuzufügen. So einer war auch ich.

Ein Bild auf der Leinwand zeigte Dutzende Therapie-Methoden, unter anderem Elektro-Therapie und Akupunktur. Der Arzt sagte: «Es gibt sehr viele Möglichkeiten – man bekommt das vom Arzt, was gerade bei ihm im Angebot ist.» Ich sah, dass die gesamte erste Reihe geschlossen nickte – das kannten wir alle. Ich sah aber auch, dass alle anderen fest und bewegungslos auf ihrem Stuhl saßen. Im Gegensatz zu mir. Ich rutschte auf der Sitzfläche hin und her, fand keine Position, in der ich schmerzfrei war. Ich steckte mein Hemd fest in die Hose, zur Sicherheit, um zu verhindern, dass mein unterer Rücken kalt und anfällig würde, obwohl es warm war und von Zugluft nichts zu spüren. Dann versuchte ich extrem gerade zu sitzen – erfolglos, weiterhin Schmerzen. War ich denn sogar hier unter den Leidensgenossen am schlimmsten dran? Ging es denn wirklich jedem besser als mir? Gemein, aber ich war erleichtert, als die Frau neben mir sich auf die Stuhllehne stützte und sich mit einem leisen Stöhnen ein wenig aufrichtete. Der Chefarzt sagte: «Es gibt sehr viele Therapieansätze – als Patient wüsste ich auch nicht, was ich machen soll.»

Dann zeigte er eine Abbildung, auf der Strichmännchen in verschiedenen Positionen zu sehen waren, daneben die Zahl der Kilogramm, die jeweils auf den Lendenwirbeln lasten. Im aufrechten Sitzen sind es 90, im Stehen 100, beim Heben mit geradem Rücken 340, mit schiefem Rücken 500 – der geringste Betrag ist neben einem liegenden Männchen mit hochgelegten Beinen zu sehen – 20 Kilo. «Stufenbett!», rief ein kundiger Herr in der Reihe vor mir.

Überhaupt zeigte sich jetzt, dass es unter den Patienten weitaus größere Experten gab als mich. Der Chefarzt projizierte Röntgenbilder auf die Leinwand. Der Mann vor mir, Halbglatze, ergrauter Bart, zuckte zusammen, als er das sah. «Uhh, ahh, das ist ja furchtbar!», stöhnte er, noch bevor der Chefarzt mit dem Laserpointer den Bandscheibenvorfall gezeigt hatte. Wenn man es wusste, konnte man eine Vorwölbung der Bandscheibe sehen, die auf den Nervenkanal drückte.

«Ich kann Sie aber beruhigen, in den USA hat man 98 Personen in einen Kernspintomographen gesteckt, die keine Rückenschmerzen hatten», sagte der Arzt. «52 Prozent der Untersuchten hatten eine vorgewölbte Bandscheibe – und 27 Prozent sogar einen Vorfall!» Das Rätsel der Rückenschmerzen: Die einen haben wie ich Schmerzen und keinen Befund, die anderen einen Bandscheibenvorfall und merken davon nichts.

Der Chefarzt war Neurochirurg und kam jetzt auf sein Gebiet zu sprechen. «Wenn ich den Hals von vorne öffne, bin ich in zwei Minuten an der Bandscheibe zwischen den Halswirbeln», sagte er. Schauerlich. «Wenn das Rückenmark gequetscht ist, kann man die Muskulatur streicheln, spritzen, massieren, das hilft dann nichts, da muss Black & Decker ran.» Der Chefarzt meinte damit die Operation. Natürlich war dieser Vortrag eine Werbeveranstaltung für seine Klinik. Allerdings konnte man ihm nicht vorwerfen, dass er hemmungslos Reklame machte. «Bei weniger als 1 Prozent der Rückenpatienten muss operiert werden – es wird viel zu oft operiert heute», sagte er. «95 Prozent der Patienten hilft die konservative Therapie, also Schmerzmittel und Physiotherapie. Jeder redet davon, aber keiner macht sie, weil sie dem Arzt kein Geld bringt.»

Eine Frau, Ende 20, meldete sich: «Hat die Operation Risiken?» Der Chefarzt lächelte: «Jeder Eingriff hat das – er kann auch tödlich sein.» – «Das ist ja erfreulich», sagte die Frau. Der Chefarzt antwortete: «Wir haben kaum Komplikationen.» Eine Frau um die 40 mit Perlenohrringen, im Business-Kostüm, fragte: «Verschwinden die Schmerzen völlig nach einer Operation?» Der Chefarzt lächelte wieder. «Wir reparieren eine Stelle, aber meistens ist es ein Fehler im System», sagte er. «Wenn die Patienten den Rücken nicht stärken, kommt das Problem oft an anderer Stelle wieder – ich sage immer: einmal Klinik-Kunde immer Klinik-Kunde.» Wir lachten. «Die Operation ist die letzte Wahl, und sie kann keine Wunder bewirken.»

Ja, wir im Publikum hatten uns natürlich Wunder erhofft, waren aber doch froh um die Ehrlichkeit des Vortragenden. Ich fragte, was man in meinem Fall – keine Diagnose an der Wirbelsäule – machen könne. Er antwortete: «Man kann unter Röntgen- oder Kernspinkontrolle eine Spritze mit Cortison und Schmerzmittel in den Spalt des Iliosakralgelenks setzen.» Ich beschloss, dass ich erst alles andere ausprobieren wollte, bevor ich das machen lassen würde.

Gegen Ende seines Vortrags sagte der Chefarzt: «Mit 80 Jahren sollte das Problem bei den meisten gelöst sein. Dann ist die Lendenwirbelsäule so steif geworden, dass die Schmerzen weg sind.» Der Mann in Reihe eins beugte sich zu seiner Frau. «Hast du gehört, Christa? Ich muss nur noch 25 Jahre warten, dann sind die Schmerzen weg!» Die erste Reihe lachte, Galgenhumor.

Nach dem Vortrag bildeten sich Grüppchen, ein paar Frauen standen zusammen. «Vor drei Wochen konnte ich nicht mehr gehen», sagte eine. «Diesmal bin ich gar nicht mehr zum Orthopäden, sondern direkt in die Rehaklinik!» – «Ich geh auch nicht mehr zum Orthopäden», sagte eine andere. «Da heißt es ohnehin nur: Nehmen Sie Ibu 800, und machen Sie Kopfkreisen.» Ibu steht für Ibuprofen, ein beliebtes Schmerzmittel, 800 Milligramm sind die höchste Einzeldosierung.

Die Männer hatten sich inzwischen um den vortragenden Arzt versammelt. «Kann ich direkt zu Ihnen in die Klinik kommen?», fragte ein Mann. «Klar, Sie können einen Untersuchungstermin mit uns vereinbaren», antwortete der Arzt. «Allerdings müssen Sie ohne Überweisung zehn Euro Praxisgebühr bezahlen.» Der Mann winkte ab. «Wenn Sie mir helfen, bezahle ich gerne viel mehr – ich habe schon drei Operationen hinter mir, und seit der letzten vor einem Jahr sind die Schmerzen noch schlimmer als vorher.» Er erzählte, dass er jeden Tag Schmerztabletten nehme, manchmal reichten die nicht aus, dann schlucke er dazu noch Tramadol-Tropfen, ein Opioid, das kannte ich aus meiner Zeit als Zivi. Jetzt wusste ich, dass ich in keinster Weise die ärmste Sau im Saal war. Die erste Reihe hatte einfach nur still gesessen, weil sie mit Schmerzmitteln vollgepumpt war. Ich wollte alles tun, damit es bei mir nicht so weit kam.

3. Von Röntgen und Röhren

Als Nächstes stellte ich die Bilder vom Tatort zusammen. Es waren eine Kernspin- und zwei Röntgenaufnahmen innerhalb von sieben Monaten zusammengekommen, ohne Befund. Ich war froh, dass ich die Röntgen-Spur abhaken konnte, denn sie war mir zu gefährlich geworden. Das war mir bei der vorangegangenen Untersuchung in der Kellerpraxis klargeworden, als ich auf die Aufnahme gewartet hatte.

Ich saß im Gang vor einer Tür mit der Aufschrift «Kein Zutritt Röntgen». Das war eine deutliche Warnung vor einer potenziell krebserregenden Strahlung. Die Tür öffnete sich, eine Frau mit kurzen Haaren und schwarz berandeter Brille bat mich mit ernstem Gesichtsausdruck herein.

«Sie haben doch ein strahlungsarmes Gerät?», fragte ich.

«Die Strahlung, die sie hier abbekommen, ist nicht größer als bei einem Interkontinentalflug», sagte die Röntgenassistentin.

Ich überlegte, dass ich im nächsten halben Jahr noch einen Interkontinentalflug vorhatte, und zurückkommen wollte ich auch wieder. Dann hätte ich also schon dreimal so viel Strahlung im Jahr abbekommen, als wenn ich nur zu Hause und in Zügen herumsitzen würde. Dazu die vergangenen Röntgenbilder – musste ich die Reise absagen, um nicht vollends zu mutieren?

Ich legte mich rücklings auf den Röntgentisch. Die Assistentin griff den Schlitten mit der Röntgenröhre, die über mir hing, und zog ihn so in Position, dass ein beleuchtetes Fadenkreuz sich meinen Hoden näherte. Panik! Die mussten doch besonders geschützt werden, um Strahlenschäden in meinen Fortpflanzungsorganen zu verhindern! Gerade als ich das dachte, legte mir die Assistentin eine Bleischürze in den Schritt. Aber wie sollte sie wissen, wie meine Hoden genau positioniert waren? Ich hatte ja noch eine Unterhose an.

«Sind meine Hoden wirklich schon gut genug geschützt?», fragte ich.

Die Röntgenassistentin schaute mich streng an. «Vertrauen Sie mir, okay?»

«Meiner Ansicht nach könnte der Schutz ein bisschen weiter oben platziert sein …», sagte ich.

Sie schüttelte genervt mit dem Kopf und legte mir drei weiße Plättchen auf den gesamten Genitalbereich.

«Zusätzliches Blei als Schutz?»

«Das bekommt jeder, wir passen auf unsere Patienten auf.»

Das Fadenkreuz leuchtete jetzt in meinem bleibedeckten Schritt. Warum war eigentlich nur der geschützt? Eigentlich war mein Kopf mir sogar noch etwas wichtiger als meine Hoden. Ich blickte nach oben. Dicke weiße Plastikschläuche schienen von dort die böse Strahlung in das Gerät zu pumpen. Ich sah eine Ampere-Zahl auf dem Apparat stehen, dann hörte ich das Kommando. «Einatmen – ausatmen – gar nicht atmen.» Ich hörte den Auslöser, spürte nichts – kein Wunder, dass man Röntgengeräte einst sogar in Schuhgeschäften einsetzte, um zu überprüfen, ob Schuhe den Kunden passten. Man kann sich einfach schlecht vorstellen, dass etwas, das nicht spürbar ist, schädlich sein soll. Nur mein Wissen hatte mich fürchten lassen. Das Bild ergab wie erwähnt keinen Befund.