Geschmeidig und selbstsicher erhob er sich, als sie von dem geschniegelten Oberkellner an seinen Tisch geführt wurde. Er war gut einsneunzig groß, trug einen maßgeschneiderten, anthrazitfarbenen Anzug, dazu ein breitgestreiftes Turnbull & Asser-Hemd und eine Krawatte von Hermes. Das dunkle Haar, grau an den Schläfen, war sorgfältig frisiert. Er nahm Rubys Hände, schmal und karamelbraun mit perlmutt lackierten Nägeln, und küsste sie.
»Zurück in der alten Tretmühle, Kleine?«, sagte er lächelnd mit der Leichter-als-Luft-Freundlichkeit der feinen Leute. Sie dachte: So lächelt er immer, wenn er etwas will. Wie ein eleganter Alligator.
»Tisch neunundachtzig«, sagte Ruby bewundernd und ließ sich, das Gesicht nach oben gedreht, zuerst auf die linke Wange, dann auf die rechte Wange küssen. Durch ihn hatte sie vor Jahren diese europäische Art des Begrüßungskusses kennengelernt. Sie mochte es. Sie mochte fast alles, was er ihr beigebracht hatte, besonders jene Dinge, die sie immer weiter aus ihrer Welt entfernten. In ihren geheimsten Gedanken stellte sie sich gern vor, was aus der Beziehung zu diesem Mann geworden wäre, wenn sie die Chance ergriffen hätte. Sie sagte: »Nicht schlecht, die Tretmühle.«
»Tja, man muss schließlich essen, nicht wahr? Herzlich willkommen zurück in der alten Frittenbude, Ruby, Liebes.«
Zurück? War sie wirklich zurück? Ein fünfminütiges, faszinierendes Telefonat an diesem Morgen mit dem berühmten Bradford Jason Schuyler III von der Madison Avenue, gefolgt von einer fiebrigen, dreistündigen Suche in ihrer Theatergarderobe nach dem geeigneten Outfit für einen Lunch im Four Seasons an einem sonnigen Oktobertag, dann für einen Vierteldollar mit der Lexington-Avenue-Linie uptown, weil sie ziemlich pleite war – und schon war sie zurück?
Sie fragte sich: Eine fragwürdige Begrüßung zu einer fragwürdigen Rückkehr? Und wie gewöhnlich, wenn sie sich in Jay Schuylers eleganter Gesellschaft befand, konnte Ruby Flagg den flüchtigen Gedanken nicht verdrängen: Kann ein farbiges Mädchen aus Louisiana wie ich jemals wirklich gut genug aussehen, um mit einem weißen Jungen wie diesem zu verkehren, der aus dem alten Mayflower-nach-Manhattan-Geldadel stammt?
Sie strich die Ärmel ihrer blauen Leinenjacke glatt und zupfte an ihrem krausen Haar. »Jay, ich weiß nicht, was –«
Er ließ sie nicht ausreden. »Ich schon. Du weißt doch perfekte Ironie zu schätzen, oder?«
»Sicher …«
»Okay. Dann erzähl ich dir was über dieses Projekt. Es ist die blanke Ironie.«
»Du bist deiner Sache ziemlich sicher, Jay, stimmt’s?«
»Klar.«
Im Four Seasons hört man nichts von der sonst üblichen Geschäftigkeit der Kellner oder Sommeliers. Stattdessen sind diese Männer (denn es sind immer Männer, niemals Frauen) einfach plötzlich da. Schon stand Henri mit zwei Champagner-Flöten und einer Flasche Dom Pérignon in einem Eiskühler am Tisch. Wortlos schenkte Henri ein. Und Jay Schuyler lächelte sein Lächeln.
Es würde also eines dieser Schuyler-Spezial-Mittagessen werden: ein ausgedehntes Menü, reichlich zu trinken und geschickte Manipulation. Früher war sie seine Verbündete, wenn andere Opfer dieser raffinierten Masche wurden; jetzt erwartete sie die gleiche Behandlung.
Sie wusste genau, was nun kam: Jay würde darauf achten, dass sie bei allem, was er sagte, meinte, es sei ihre eigene Idee, und schließlich würde er sie von einer Limousine nach Hause fahren lassen, wirklich eine nette Geste. Irgendwann im Verlauf des Abends, wenn die Wirkung der Drinks und seines Alligatorlächelns nachließ, würde sie erkennen, dass sie Kopfschmerzen hatte von all dem Gesülze dieses Mayflower-nach-Manhattan-Geldadel-Boys.
Ruby hätte es sich denken können, angesichts der verführerischen Tour des morgendlichen Anrufs. Schuyler hatte sie in ihrem Theater erreicht, dem Downtown Playhouse an der South Street.
»Da bahnt sich eine ausgesprochen attraktive Sache an, Ruby. Ich hätte dich gern an Bord.«
»Um was geht’s?«
»Eine große Sache. Größer als groß.«
»Oh, das hört sich an wie aus deiner Zeit als Jingle-Texter. ›Aufgepasst, Leutchen – kauft die neue Riesenpackung Laug-O Waschmittel! Es ist groß — es ist größer als groß!‹«
»Lach nicht. Ich rede hier von riesig.«
»Würde ich lachen, wenn ein Mann von riesig spricht?«
»Es geht um Geld –«
»Großes Geld.«
»Genau. Und noch viel mehr, Miss Schlaumeier.«
»Zum Beispiel was?«
»Die neue Weltordnung, Frieden auf Erden … solche Kleinigkeiten.«
»Jay, hast du mit irgend so einem Hohlkopf geredet, der für das Amt des Präsidenten kandidieren will?«
»Hör dir heute beim Mittagessen die ganze Geschichte an. Du wirst es nicht bereuen.«
»Danke, Henri«, sagte Schuyler. Der Kellner schlug kaum hörbar die gallischen Hacken zusammen. Dann verdunstete er einfach.
Ruby bereute, gekommen zu sein. Aber, verdammt, sie war so pleite! Und dann war da noch Hock.
… Und wer wusste schon, was mit Neil Hockaday war, ihrem Ehemann seit gerade mal fünfeinhalb Monaten? Nicht Ruby. Bestimmt nicht über diese letzten sechs Wochen, in denen Hock dort war, wohin er hatte gehen müssen. Sechs Wochen, die sie mit so viel Zweifel und Wut und Bedauern und Mitleid und Angst erfüllt hatten, wie sie es nie zuvor gekannt hatte. Eben noch sehnte sie sich danach, in Hocks kräftige Arme zu sinken; dann war sie entsetzt über die Aussicht, dass er womöglich zur traurigsten Sorte Ehemann gehörte: ein Andenken an die Liebe.
Soll ich nach Hause fliegen und Mama um Rat fragen? O Mama, du weißt, was es bedeutet, für einen Mann stark zu sein, oder?
Ruby versuchte, solche Fragen aus ihrem übervollen Kopf zu verbannen, Fragen, die sie für kindisch hielt. Bisher hatte sie während des Mittagessens im Four Seasons nur etwa ein Dutzend Mal an zu Hause und Mama gedacht. Eben bei jedem Gedanken an ihren abwesenden Ehemann.
Die Trennung war natürlich zum Wohle von Körper und Seele des armen Hock, ganz zu schweigen von der Rettung seiner Ehe. Dies war Father Sheehans Rat, wenn Ruby ihm in den schwärzesten ihrer einsamen Nächte am Telefon etwas vorweinte; Nächte, in denen sie glaubte durchzudrehen, wenn sie nicht sofort nach Hause fliegen und in das große Himmelbett in Mamas Zimmer kriechen konnte; mondlose Nächte ohne Schlaf, in denen sie im Dunkeln auf und ab ging, Geldsorgen sie quälten und ihre Augen in Tränen schwammen, wenn sie die Kassette hörte, die sie sich zusammengestellt hatte, mit den traurigsten Billie-Holiday-Songs aller Zeiten. Moaning Low und The Man I Love und Foolin’ Myself und Where Is The Sun? und It’s Like Reaching for the Moon … und, ganz besonders, Gloomy Sunday. Ruby glaubte, dass dieses Suhlen in den tiefsten Tiefen des Blues ihr Trauern vielleicht beschleunigte. Aber andererseits, wer wusste schon …?
Klar, wahrscheinlich wusste Jay Schuyler von ihrer beschissenen Situation: den Geldschwierigkeiten, den Theaterschwierigkeiten, den Ehemannschwierigkeiten; welche, mit wem und woher, in allen Einzelheiten. Alles andere mochte ungewiss sein, aber in einem Punkt war Ruby sich absolut sicher: Bradford Jason Schuyler III hatte praktisch mit der Muttermilch die Erkenntnis aufgesogen, dass das Leid des einen der Gewinn des anderen ist. So war er zu einem Mogul der Madison Avenue geworden.
»Manche Dinge ändern sich nie«, sagte Ruby und hob eine zarte Kristallglasflöte, gefüllt mit Dom Pérignon für etwa fünfzig Dollar. Mit fünfzig Mäusen, sinnierte sie, könnte sie ihre VISA-Karte wieder ans Limit bringen. »Glaubst du, das ist gut oder schlecht, Jay?«
»Ja.«
»Wie ich sehe, habe ich recht.«
Ruby schaute sich um. Der Ecktisch Nummer neunundachtzig bot eine gute Aussicht auf das gesamte Lokal: den großen, mit grünem Teppich ausgelegten Pool Room, der seinen Namen dem marmornen, von Topfpalmen gesäumten und mit Seerosen bedeckten Bassin in der Mitte des Raums verdankte; die Vorhänge aus verschlungenen Kupferfäden, die dank des von der Park Avenue einfallenden Lichts alles in einen leichten Sepiaton tauchten; den dahinter liegenden Grill Room und das vornehme Stimmengewirr aus der Bar; die verstreuten Tische, das Geplapper von Prominenten alter Schule – derjenigen, die noch in der Lage waren, mit Messer und Gabel umzugehen, mit geschlossenem Mund zu kauen und in vollständigen Sätzen zu sprechen.
Zwei Tische weiter zum Beispiel saß Douglas Fairbanks, Jr. mit einer Frau etwa in Rubys Alter. Sie hatte helle Haut und glattes, hochgestecktes rotbraunes Haar. Die Hellhäutige schnatterte, während das immer noch elegant wirkende Idol der Dreißigerjahre seinen eisgekühlten Tomatensaft schlürfte. Douglas Fairbanks’ fleckige Hand zitterte unter dem Gewicht eines schweren Glases, aber nicht ein einziger roter Tropfen befleckte seinen silbergrauen Schnurrbart.
Genau in diesem völlig unpassenden Augenblick dachte Ruby an ihre beiden Zuhause. An das eine mit Hock, das jetzt nur ein halbes Zuhause war, und an das andere: die St.-Bernard-Sozialsiedlung im Nordwesten von New Orleans.
Im Zwielicht der frühen Morgenstunden stand Mama Violet, bereits für den Tag gekleidet in Dienstmädchenuniform und dicker Stützstrumpfhose, in dem winzigen Flecken Garten hinter dem schlichten Reihenhaus an der Gibson Street und hängte die feuchte Wäsche ihrer eigenen Familie auf die Leine. Oben in Mamas Bett lag ihr Ehemann Willie, der nur noch über sein langes Warten auf den erlösenden Tod klagte. Rubys Schwester, eine Kosmetikerin, war am Vortag dagewesen, um Mamas Haare zu glätten, und in der Küche hing noch immer der strenge Geruch der Chemikalien.
Ruby dachte auch an Farben. Mamas Haar war rotbraun gefärbt, der gleiche Farbton wie bei der weißen Lady am Tisch des Filmstars. Im Restaurant des Four Seasons, das Violet Flagg niemals kennenlernen würde, saß jetzt ihre Tochter Ruby mit den kohlrabenschwarzen krausen Haaren.
»Hast du Fairbanks bemerkt?«, unterbrach Schuyler Rubys Erinnerungen.
»Wer ist die Frau neben ihm?«
»Eine neue schöne Frau. Manche Dinge ändern sich doch.«
»Und andere nie, wie ich schon sagte.«
»Nun denn, ich trinke auf das alles.«
Schuyler hob sein Champagnerglas zu einem wortlosen Toast. Auf die verlorene Tochter, die den Weg zurück zur Madison Avenue gefunden hatte? Warum nicht? Ruby ließ ihr Glas gegen seines klingen.
Sie schaute an Schuyler vorbei zu einem großen Tisch am Bassin, der von Palmen eingerahmt wurde. Fünf blutjunge Frauen in glitzernden Kleidern plauderten miteinander. Vielleicht sprachen sie über Geschäfte, aber Ruby bezweifelte, dass es sich dabei um Firmengeschäfte handelte. An dem Tisch saß außerdem ein etwa sechzigjähriger, fetter Mann. Er hatte eine Glatze und ein verquollenes, olivfarbenes Gesicht, halb verborgen hinter einer getönten Pilotenbrille. Er drückte ein Handy an sein Ohr und gestikulierte beim Reden mit den Händen.
»Wie ich sehe, hält der Ochsenfrosch immer noch Hof an seinem Teich«, kommentierte Ruby. Schuyler lachte, als er sich an den Spitznamen erinnerte, den Ruby dem Mann verpasst hatte. »Bist du jemals hinter seine Geschichte gekommen, Jay?«
»Eigentlich nicht. Jeder hier musste absolutes Stillschweigen schwören. Niemand verrät etwas Gescheites über ihn. Nicht mal mir, und ich gebe immer ziemlich großzügige Weihnachtstrinkgelder.«
»Immer noch dieselbe alte Masche?«
»In den vier Jahren, die er herkommt, hat sich nichts verändert. Jeden Tag erscheint der Ochsenfrosch fünfzehn Minuten vor Öffnung des Lokals. Jeden Tag hat er die Hände voll. Eine neue Flasche Ketchup, eine fettige Tüte Bagels, und immer ein frischer Schwung Flittchen.«
»Raoul muss begeistert sein.«
Schuyler zuckte mit den Schultern. »Raoul ist ein sehr erfahrener Maître d’hôtel, er weiß, wann er den Mund halten muss und dass sich Diskretion bezahlt macht.«
»Was ist mit der Geschäftsleitung?«
»Ich habe mal die tägliche Rechnung dieses Mannes überschlagen. Dann habe ich das Ergebnis mit zweihundertfünfundfünfzig multipliziert, die Arbeitstage pro Jahr minus ein paar Feiertage. Der Ochsenfrosch lässt pro Jahr mehr als eine Viertelmillion Dollar für Mittagessen hier. Bei so einer Summe wird nicht mal das Four Seasons Theater machen, wenn der Gast mit schmierigen Lunchtüten hier aufkreuzt. Zumal er vor allen anderen kommt. So sieht nämlich praktisch niemand die Schweinerei, die er hereinschleppt.«
»Du meinst die Bagels und den Ketchup, nicht die Flittchen.«
»Genau.«
»Also werden auch keine dummen Fragen gestellt.«
»Fragen stellen? Kein Mensch redet, mal abgesehen vom Ochsenfrosch und irgendwem am anderen Ende seines beknackten Telefons. Raoul setzt den Typen und seine Schar jeden Tag an denselben Tisch. Dann bringt er die Tüte in die Küche. Er hält sie mit zwei spitzen Fingern von sich weg, als wär etwas darin, das gerade gestorben ist. Ein paar Minuten später kommt einer der Hilfsköche in voller Montur heraus. Er hat die Bagel aufgeschnitten und dick mit Ketchup bestrichen – alles auf einem Silbertablett mit Glocke darüber. Der Ochsenfrosch ist glücklich, und von den anderen Gästen kriegt’s praktisch keiner mit.«
»Der Ochsenfrosch und seine Gäste, die essen das Zeug wirklich?«
»Als Vorspeise. Aber wie gesagt, er bestellt auch reichlich Mittagessen.«
Ein Kellner erschien. Er servierte zwei Teller mit pâté de foie gras und Baguette, dünn aufgeschnitten. Schuyler langte zu. Ruby zog es vor zu trinken.
»Du hast viel Zeit damit verbracht, die Szene zu studieren, Jay, stimmt’s?«
»Bei einer Viertelmillion Dollar pro Jahr kein Wunder. Aber ja, ich kenne diesen Raum. In unserer Branche sollte man die Räume immer genau studieren.«
»Apropos, du hast erwähnt, du wolltest mich an Bord haben?«
»Natürlich.« Schuyler lächelte, und es war umwerfend. »Immerhin bist du ein Genie.«
»Das hast du mir schon mal gesagt.«
»Siehst du, wie gut du dich an die guten alten Zeiten erinnerst?«
»Du hast immer gesagt, es gebe nur zwei Sorten Menschen, die zählen. Smarte Menschen und Genies.«
»Genau. Und erinnerst du dich auch noch an den Unterschied?«
»Smarte Menschen wissen, was smarte Menschen wollen, Genies wissen, was dumme Menschen wollen.«
»Genau.«
»Also hat sich in der Werbebranche nichts Wesentliches geändert?«
»Ja, Leute, sie ist immer noch ein Genie.« Schuyler schwieg einen Moment, beugte sich dann vor, um hinzuzufügen: »Und sie ist immer noch hinreißend.«
»Vorsicht, Jay. Bleiben wir beim Geschäft.«
»Dazu haben wir noch jede Menge Zeit. Man erzählt sich, dass du vergangenes Frühjahr geheiratet hast.«
»Stimmt.«
»Einen Polizisten?«
»Wieder richtig.«
»Jesus, Ruby.« Er wartete einen Moment, aber Ruby schwieg. Schuyler seufzte, und dies kam dem Eingeständnis einer Niederlage näher als alles, was Ruby je von ihm gehört oder gesehen hatte. Dann sagte er: »Tja, du weißt ja, was das bedeutet.«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Die Jagd ist vorbei. Ich lasse mich nicht mit verheirateten Frauen ein. Jetzt bist du also endlich sicher vor mir.« Schuyler blickte Richtung Teich, genauer gesagt zum Tisch des Ochsenfrosches. Ruby folgte seinem Blick. »Außerdem sitze ich nicht mehr da drüben.«
»Wo ist da der Zusammenhang?«
Ein Kellner erschien an ihrem Tisch, ließ blitzschnell die pâté de foie gras und das Baguette verschwinden und schenkte Champagner nach. Er empfahl den Königslachs und das Milchkälbchen als besonders gut, da beides erst an diesem Morgen aus Alaska beziehungsweise Japan eingeflogen worden sei.
»Sehr schön«, sagte Schuyler. Der Kellner hob die Hand und schnippte leise mit den Fingern; schon tauchte der Sommelier auf, um eine Flasche leichten Bordeaux vorzuschlagen, der hervorragend auf beide Hauptgerichte abgestimmt sei. »Sehr schön«, wiederholte Schuyler.
Als Kellner und Sommelier wieder fort waren, meinte Schuyler: »Also, du wolltest über Geschäftliches reden?«
»Erzähl mir erst von dem Pool und den verheirateten Damen.«
»Das war, bevor du zur Agentur gekommen bist. Sogar noch vor Margot.«
»Wie geht’s übrigens deiner Frau?«
»Schreibt immer noch und macht immer noch karitative Sachen für die Opernleute.«
»Was ist jetzt mit dem Pool?«
»Ich war mal ganz verrückt nach einer blonden Schauspielerin. Sie war halb Schwedin, halb Polin und so schön, dass man am liebsten reingebissen hätte. Wir haben damals für die alten Erik-Zigarren-Spots mit ihr gearbeitet, als man im Fernsehen noch für Tabak werben durfte. Du erinnerst dich an das skandinavische Mäuschen auf einem Wikingerschiff, das gerade in den New Yorker Hafen einläuft?«
»Die Blondine, die diese kleine Zigarre rauchte? Ausgesprochen einladend.«
»Ja, das war sie.«
»Und auch verheiratet?«
»Nicht auf den ersten Blick.«
»Irgendjemand wirft immer einen zweiten Blick.«
»Da ist was dran.« Schuyler schüttelte den Kopf auf die bedächtige, beiläufige Art eines Mannes, der sich an etwas ausgesprochen Dummes und Peinliches erinnert. Es war mehr ein Zusammenzucken als ein Schütteln. »Kommt mir vor, als wär’s erst letzte Woche gewesen. Aber, mein Gott, es ist so verdammt lange her.« Schuyler seufzte, diesmal wie ein Mann, der sich an seine verlorene Jugend erinnert. »Ich nehme nicht an, dass du schon mal was von Earl Wilson gehört hast.«
»Doch, und ich habe auch von den Dinosauriern gehört. Obwohl ich nicht dabei war.«
»Wilson war das letzte Mastodon des Schmuddel-und-Klatsch-Journalismus. Und noch aktiv, als es passierte.«
»Es?«
»Eines schönen Tages, es war am späten Nachmittag, saßen wir da drüben.« Schuyler nickte Richtung Bassin. »Zwei Tische neben dem des Ochsenfrosches.«
»Mit wir meinst du …?«
»Blondie und ich. Wir wollen gerade zu meiner Wohnung aufbrechen, als jemand reinkommt und mir einen Strich durch die Rechnung macht. Rat mal, wer das war?«
»Mr. Blondie?«
»Genau. Ein großer, kräftiger Bursche. Gebaut wie eine Mauer, die gehen gelernt hat.«
»Was hat er mit dir gemacht?«
»Nicht, was du denkst. Er kommt rüber und lächelt ein paar Sekunden zu uns herunter, ein paar Sekunden, die mir wie ein paar Wochen vorkamen. Dann sagt er zu mir: Ist nicht deine Schuld, mein Freund.«
»Und dann?«
»Dann hebt er die Missus einfach hoch und wirft sie in den Teich. Dieser reizende Tumult wird natürlich eine von Earls Perlen.«
»In seiner Kolumne im Mirror.«
»Aber das ist noch längst nicht alles.«
»Die Erik-Leute waren nicht begeistert?«
»Ich hab den Kunden verloren.«
»Du hast ein erschütterndes Leben geführt, Jay.«
Lachs und Kalb und Wein kamen. Ruby verbrachte die nächste Stunde mit dem Essen und dem Madison-Avenue-Klatsch der letzten zwei Jahre. Dazu trank sie genug Bordeaux für einen angenehmen, leichten Schwips. Was ihr ein schlechtes Gewissen bescherte, weil sie daran dachte, wo ihr Mann, der Alkoholiker, derzeit war.
Schuyler erkundigte sich beiläufig nach dem ums Überleben kämpfende Theater, gegründet mit dem Geld, das sie als Genie der Agentur verdient hatte. Aber er schien bereits alle Antworten zu kennen. O ja, er hatte seine Hausaufgaben gemacht.
Der Kellner erschien mit winzigen Gläsern auf einem Kristalltablett, die übliche Behandlung. Zwei Stinger. Ruby nippte an ihrem, und die kleine Kreissäge in ihrem Kopf begann allmählich wie ein Presslufthammer zu klingen. Es gab Momente, da hörte sie Schuyler nicht mal reden.
Er sagte: »Sorry, du wirst mit Crosby arbeiten müssen. Immerhin hat Crosby das Geschäft an Land gezogen –«
Ruby unterbrach ihn. »O mein Gott, Jay!«
»Aber sehn wir’s doch mal von der positiven Seite.«
»Was soll daran positiv sein?«
»Du bekommst einen satten Vorschuss auf einen Beratervertrag und anschließend wie ein ganz normaler Mensch jede Woche ein nettes Honorar. Und du hilfst mir aus einer Klemme. Du weißt selbst, dass wir nur eine kleine Stammbesetzung haben. Es gibt niemanden, den ich einfach so auf ein neues Projekt ansetzen könnte. Warum also nicht du, Kleines. Du musst mal eine Weile ins Warme kommen. Mach mir nichts vor, das ist etwas, wovon du schon seit Monaten träumst. Du kannst mit deinem Theater die Rechnungen nicht bezahlen, stimmt’s?«
»Also …«
»Hör zu, ich hab Leute hingeschickt.«
»Marktforschung?«
»Ge-nau. An den besten Abenden hast du vielleicht zwanzig zahlende Zuschauer. Den Rest füllst du mit Freikarten. Du improvisierst, wo du nur kannst. Du brauchst Geld: um wie ein Mensch zu leben und für dein künstlerisches Rattenloch.«
»Du und deine süßen Worte.«
Schuyler lächelte. »Sicher, und jetzt versüße ich dir die Sache noch mehr. Du bekommst Sandy, die beste Sekretärin seit Jahren. Außerdem bekommst du das südöstliche Eckbüro im vierunddreißigsten Stock.«
»Ich dachte, dort sitzt Foster.«
»Der ist in Rente gegangen.«
»Du hast ihn gefeuert.«
»Ich habe ihn überredet.«
Ruby massierte sich die Schläfen. Inzwischen waren mindestens zwei Presslufthämmer an der Arbeit. Mit einiger Anstrengung konnte sie noch fragen: »Was hast du noch mal gesagt, um welche Branche geht es? Ich glaube kaum, dass ich mich für die Entdeckung eines weiteren Körperteils, der deodorisiert werden muss, begeistern kann.«
Offensichtlich war dies das Stichwort für die silberne Kaffeekanne und den Dessertwagen. Das Dessert lehnte Ruby ab.
»Du wirst diesen Job lieben. Ich versprech’s dir, es hat nichts mit Verpackung von Waren zu tun.« Schuyler lächelte und schaute zu, wie Ruby eine Tasse schwarzen Kaffee trank. »Morgen früh um Punkt neun. Wir erwarten dich in deinem neuen Büro.«
»Wir –?«
»Sandy Malreaux, das ist deine neue Sekretärin. Crosby und ich. Außerdem die Brüder Likhanov.«
»Die wer?«
Schuyler winkte mit seiner manikürten Hand ab. »Denk einfach an die Neue Weltordnung.« Er warf einen Blick auf seine Cartier-Uhr, dann erhob er sich und sagte: »Muss jetzt los.«
Ruby trank ihren Kaffee aus und stand auf. Gemeinsam verließen sie den Pool Room. Im Four Seasons fragte niemand nach der Rechnung. Die würde mit der Post kommen, und am Ende würde der Steuerzahler löhnen. Und für Ruby Flagg hieß es: zurück in die Tretmühle.
Draußen warteten zwei Limousinen. Eine für Ruby, eine für den Mann mit dem Alligatorlächeln.
Schuyler verabschiedete sich von Ruby mit Küssen auf beide Wangen. Sie spürte die Hitze.
Schuyler sagte: »Ich will deinen Polizisten mal kennenlernen. Ist er ein guter Bursche?«
»Er hat so seine Probleme. Aber er ist gut. Er ist sogar sehr gut.«