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ISBN 978-3-7065-6074-0

Buchgestaltung nach Entwürfen von himmel. Studio für Design und Kommunikation,

Innsbruck/Scheffau – www.himmel.co.at

Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Umschlag: Studienverlag/Karin Berner nach einem Entwurf von Stefan Häuselmann

Umschlagbild: Modulat 2001 der Schweizer Künstlerin Andrina Jörg

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Vreni Amsler

Veza Canetti zwischen Leben und Werk

Netzwerk-Biografie

Für Stefan, Salome, Medea

Einleitung

Aus den Recherchen im Elias-Canetti-Nachlass und in verschiedenen Archiven Wiens, aber auch Deutschlands zum Thema Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus hat sich eine so grosse Fülle von biografischem Material, Veza Canetti betreffend, ergeben, dass sich das Schreiben einer Biografie geradezu aufgedrängt hat.

Bereits die Korrespondenz Veza Canettis sowie verschiedenes Material aus dem Nachlass von Elias Canetti – der auch den Nachlass von Veza Canetti beinhaltet – offenbart, dass die Autorin schon vor ihrer Zeit mit Elias Canetti mit der Künstler- und Dichterszene Wiens eng verknüpft war. Diese Nähe kann aber auch intertextuell nachgewiesen werden, wie unter anderem Veza Canettis gesellschaftskritische Aufarbeitung von Franz Csokors Theaterstück Die rote Strasse im Roman Die Gelbe Strasse zeigt. Veza Canetti hat sich intertextuell zudem mit Texten von Felix Salten, Hugo von Hofmannsthal und Hermann Broch sowie Karl Kraus auseinandergesetzt.

Genau diese Art von vorhandenem Material, deren Kern immer auf ein In-Beziehung-Treten Veza Canettis zu anderen Künstlern und ihrem Werk hinweist, hat mich dazu bewogen, eine Netzwerk-Biografie zu schreiben. Überdies hat Veza Canetti mit dem Theaterstück Der Tiger und dem Lustspiel Der Palankin selbst Künstler- und Dichternetzwerke in den Städten Wien und London dargestellt.1

Die vorliegende Arbeit fügt sich in eine Reihe von Forschungsarbeiten ein, die zur Dichterin seit ihrer Wiederentdeckung – knapp dreissig Jahre nach ihrem Tod – anfangs der 90er Jahre erstellt wurden. Eva M. Meidl hat im Band Veza Canettis Sozialkritik der revolutionären Nachkriegszeit schon 1998 darauf aufmerksam gemacht, dass Veza Canetti als Produkt des Roten Wien bezeichnet werden kann. Angelika Schedel verknüpft in ihrer Dissertation von 2002, Sozialismus und Psychoanalyse, bereits ein erstes Mal Leben und Werk der Autorin, ihr gelingt damit ein Quantensprung bezüglich Material und Einordnung. Das Dossier 24 aus dem Verlag Droschl mit dem Titel Veza Canetti versammelt 2005 Aufsätze verschiedener Forscherinnen zur Schriftstellerin, sie wird darin als eine Autorin der Moderne bezeichnet und zwischen Neuer Sachlichkeit und Expressionismus positioniert. Julian Preece geht 2007 in The Rediscovered Writings of Veza Canetti schon von einer literary partnership von Elias und Veza Canetti aus. Meine eigene Dissertation aus dem Jahr 2017, Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus, zeigt die verschiedenen Ebenen der Beziehung Veza Canettis zum Roten Wien – vom Empiriokritizismus eines Otto Neurath zu den Sozialwissenschaften Käthe Leichters, zur Individualpsychologie von Alice Rühle-Gerstel und weiter zur austromarxistischen Literaturtheorie Ernst Fischers.

Die Grundstruktur der vorliegenden Netzwerk-Biografie zu Veza Canetti bilden Konvergenzpunkte als soziale Räume oder Felder, deren Akteure sich als Positionen und Disposition dialektisch lesen lassen. Es handelt sich um Räume oder Grossstrukturen, in denen sich die Autorin bewegt hat. Es sind in erster Linie deren zwei, die Vorkriegsräume (vor dem Zweiten Weltkrieg) und die Exilräume, die unterschiedlicher nicht sein können.2

Die beiden Grossräume werden in je kleinere Räume oder Felder nach Massgabe der Quellen unterteilt und in der kontroversen Dialektik der Akteure gelesen, das heisst, die Räume werden aufgrund ihrer Kontroversität diskursiv herausgearbeitet. Differierende Lesarten der Quellen und Polyfokalität sind Programm des Vorgehens. Temporale Vor- und Rückgriffe werden gezielt eingebaut.

Dabei dienen zeittypische Erzählmuster als Folie sowie künstlerische Handlung als Reaktion auf historisch und milieubedingte Mechanismen.3 Im Zentrum steht dabei die Frage, was die Lebenswirklichkeit und die inszenierte Wirklichkeit unterscheidet.4 Schon aufgrund der Komplexität der Quellenlage ist dies keine einfache Frage. Beispielsweise äussert sich Elias Canetti zu verschiedenen bedeutenden Stationen im Leben von Veza Canetti zum Teil ganz divergent. Der grösste Unterschied ergibt sich zwischen den Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis, aber auch die Aufzeichnungen, Notizbücher weisen je nach Lebensalter des Autors, in dem sie geschrieben wurden, grosse Differenzen auf. Als diskursives Korrektiv von Lebenswirklichkeit und inszenierter Wirklichkeit bei Elias Canetti dienen die Briefe von und an Veza Canetti aus verschiedenen Archiven sowie das erzählerische Werk Veza Canettis selbst. Mit einer gezielten Montagetechnik von Zitaten – einem Vorgehen, wie Veza Canetti es selbst in ihrem literarischen Werk anwendet – soll das Netzwerk der Autorin im Sinne einer Netzwerk-Biografie sichtbar werden.

Da die Werkgrenzen von Veza Canetti mit den vielen fliessenden Übergängen zu Ghost-Writing noch nicht klar definiert werden können – ein Forschungsdesiderat –, hat sich eine Ironisierung der Forderung „Eine kritische Biographie aber muss zwischen ‚Leben‘ und ‚Werk‘ genauer unterscheiden, als es den Hermeneutikern notwendig erscheinen mag“5 geradezu aufgedrängt. Die schillernde Ambiguität dieses Zwischen wird in der vorliegenden Netzwerk-Biografie als Ort definiert, an dem das gesamte offizielle und nichtoffizielle Werk von Veza Canetti zu entdecken ist – ein Tabu.

A. Familienkosmos in Wien

Nicht nur entwicklungspsychologisch vertretbar, sondern auch konkret nachweisbar haben viele der Netzwerke von Veza Canetti ihren Ursprung in der Grossfamilie mütterlicherseits, den Kalderon oder Calderon, einfachheitshalber in der vorliegenden Arbeit als Familienkosmos bezeichnet.

Viele Paradigmen der Kindheit Veza Canettis lassen sich nur indirekt über den Familienkosmos erschliessen, da es sehr wenig direkte Zeugnisse/Quellen zur Kindheit der Autorin gibt.

Veza Canetti wird am 21. November 1897 als Venetiana Taubner (Veza Taubner) in Wien geboren. Die kurz zuvor gegründete Familie würde heute als Patchworkfamilie bezeichnet werden. Mutter und Vater bringen je einen Sohn im Teenageralter in die Ehe mit ein. Die Mutter, Rahel Calderon, war in erster Ehe mit Heinrich M. Calderon, einem türkischen Grosshändler, verheiratet gewesen, die Ehe wurde möglicherweise 1892 geschieden, wie ein schlecht lesbarer Eintrag in die Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde von Wien zeigt. Ihr Sohn aus dieser Ehe ist der dreizehnjährige Morris H. Calderon6. Der Sohn von Hermann Taubner mit dem Namen Wilhelm ist zwölf Jahre alt.7 Die neugegründete Familie, deren Wurzeln in die verschiedenen Teile, ja Ränder der Donaumonarchie reichen – für die Stadt Wien um die Jahrhundertwende nichts Ungewöhnliches –, wohnt vorerst in der Unteren Viaduktstrasse 23, im III. Bezirk. Schon bald aber wird auf die andere Seite des Kanals, an die Czerningasse 14, gezügelt, dann wieder über den Kanal an die Radetzkystrasse 3, in unmittelbarer Nähe des Radetzkyplatzes.8 Hier, in grosser Nähe zu den Grosseltern mütterlicherseits, die an der gleichen Strasse in Nummer 13 wohnen, bleibt die Familie bis 1900. Danach geht es auf die gegenüberliegende Seite des Donau-Kanals, in die Tempelgasse 6,9 wenige Schritte vom späteren Wohnsitz Ferdinandstrasse 29 entfernt. Bis zum Alter von drei Jahren hat das Kleinkind Veza Taubner also bereits drei Mal die Wohnung und drei Mal die Kanalseite gewechselt.

Am 1. Dezember 1904 stirbt Veza Taubners Vater in Belgrad im Alter von 57 Jahren; über die genauen Umstände seines Todes und ob er in Belgrad in seinem Beruf als Reisender tätig gewesen war, ist nichts bekannt. Im darauffolgenden Jahr 1905 wechselt Veza Taubners Mutter noch einmal die Kanalseite und wohnt nun wiederum in der Nähe des Radetzkyplatzes, in der Matthäusgasse 5.

Erst im Jahr 1911 wird Rahel Calderon ein letztes Mal die Kanalseite wechseln und in die Leopoldstadt, Ferdinandstrasse 29, 5. Stock ziehen. Aus der Matthäusgasse 5 wird sich ein Menachem Alkaley ebenfalls in die Ferdinandstrasse 29 abmelden.10 Dieser Sachverhalt entspricht exakt den Beschreibungen der Ich-Erzählerin in der Kurzgeschichte Geld-Geld-Geld von Veza Canetti. Erhält da das erzählende Kind doch einen Stiefvater, der gleichzeitig den Untermieter in der Wohnung der Mutter ersetzt. Erst Wochen später zieht die Familie in eine grössere, bessere Wohnung, das wäre in Veza Taubners realer Welt dann die Wohnung in der Ferdinandstrasse 29.

Elias Canetti wird in den Aufzeichnungen von 1971 schreiben: „Vezas Kindheit wird nie geschrieben werden, und nur ihre wäre es wert gewesen.“11

Eine der ganz wenigen direkten Äusserungen Veza Canettis zu ihrer Kindheit stammt aus dem Jahre 1947, sie schreibt diesbezüglich im Londoner Exil: „Warum ich heulte (bei der Hochzeit der Prinzessin Elisabeth, Anm. va)? Weil ich auch einmal eine Prinzessin war. Das war zur Zeit der Monarchie und ich sass jeden Sommer in einer Villa in Ischl und der Kaiser fuhr immer vorbei, und ich winkte und er winkte zurück und meine Mutter war überzeugt es galt mir. Das war jeden Vormittag und ich war sieben Jahre alt.“ (BaG 298) Natürlich kann das als märchenhafte Schwärmerei eines kleinen Mädchens abgetan werden, aber das Setting als Ganzes – Villa in Bad Ischl und die exakte Angabe des Alters mit sieben Jahren – weist darauf hin, dass Veza in sehr gepflegten Verhältnissen aufgewachsen sein muss. Die exakte Altersangabe könnte ein Hinweis darauf sein, dass dies nachher vielleicht nicht mehr immer der Fall war. Denn nur wenige Woche nachdem Veza sieben Jahre alt geworden war, starb ihr Vater.

A1. Familienkosmos am Kanal: Radetzkyplatz – Praterstern

Auch die Grosseltern Vezas mütterlicherseits – der türkische Grosshändler Josef M. Calderon und seine Frau Veneziana, geborene Elias –, die ursprünglich ihre Wohnung in der Leopoldstadt, in der Unteren Donaustrasse 29 (ebenfalls in der Nähe der Synagoge in der Tempelgasse), hatten, wechselten die Kanalseite und wohnten spätestens ab den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts in der Nähe des Radetzkyplatzes, und zwar in der Radetzkystrasse 13, bis zum Tod der Grossmutter anfangs der 20er Jahre.

Vor ihrer Ehe mit Hermann Taubner muss die Mutter Vezas mit ihrem halbwüchsigen Sohn Morris ebenfalls in der Radetzkystrasse 13 gewohnt haben, womöglich in der gleichen Wohnung wie die Grosseltern Vezas.

Auch der jüngere Bruder von Rahel Calderon mit Namen Morris/Maurizio J. Calderon, geboren 12.05.187012, lebte gemäss dem Adressbuch der Stadt Wien bis 1910 in der Nähe des Radetzkyplatzes, in der Oberen Weissgerberstrasse 11.

Von besonderem Interesse ist das Haus Radetzkystrasse Nummer 3. Hier, wo Veza als Kleinkind im Jahr 1900 gewohnt hatte, wird im Jahr 1924 Elias Canetti mit Mutter und Brüdern für ein Jahr wohnen.

Nach dem Auszug der Familie von Veza Taubner im Jahre 1900 wird Josef J. Calderon, der Bruder von Rahel Calderon, bei der Geburt seines ersten Kindes 1900 ebenfalls als in der Radetzkystrasse 3 wohnhaft gemeldet, bereits im Jahre 1903 aber schon nicht mehr. In dieser Wohnung, „möbliert, auf übliche, etwas schwere bürgerliche Weise“13, wie Elias Canetti schreibt, von „den gelben Ehebetten im Schlafzimmer bis zum dunkelblauen Buffet im Speisezimmer stand alles solid und wie für die Ewigkeit da“14, lebte nun bis zum Jahr 1920 eine Schwester von Vezas Mutter, nämlich Olga Levy, geborene Calderon, mit ihrem Mann Max Hirsch und mit den Kindern Charles (geboren 1893) und Katharina, genannt Kitty (geboren 1895). Olga Hirsch – die in Elias Canettis Lebenserinnerungen Olga Ring15 genannt wird – lebte nach dem Tod ihres Mannes den grössten Teil des Jahres bei einer Tochter in Belgrad16, sodass die Wohnung weitervermietet werden konnte, einzig ihr Sohn Charles alias Johnnie, der Barpianist, bewohnte das in Elias Canettis Lebenserinnerungen beschriebene legendäre Kabinett in der Radetzkystrasse 3. Dass ausgerechnet Veza bei der Familie von Elias Canetti die Miete für ihre Tante einkassieren ging, wird von Elias Canetti mit Johnnies Unfähigkeit im Umgang mit Geld erklärt: „Eine Zeitlang war es sein Amt gewesen, die Miete für seine Mutter einzuziehen und sie mit einigen Abzügen nach Belgrad zu überweisen. So lautete sein Auftrag, doch faktisch frassen die Abzüge die ganze Miete auf und für die Mutter blieb nichts. Alles, was sie bekam, waren unbezahlte Rechnungen, und da sie nicht wusste, wie sie bestreiten – von der glücklichen Ehe war nichts als die Wohnung übrig –, musste eine bessere Regelung getroffen werden. Ihre Nichte, Veza, übernahm es sich um die Vermietung der Wohnung und monatlich um die Einziehung der Miete zu kümmern.“17

Noch in den Entwürfen zur Fackel im Ohr hatte es geheissen: „Von Veza hatte man erfahren, dass die Wohnung zu mieten sei, sie selbst kam monatlich, die Miete einkassieren.“18

Elias Canetti hatte schon ein paar Monate vor der Radetzkystrasse 3 alleine mit Georges an der Praterstrasse 22 bei den Sussins (ein Häuserblock entfernt von der Ferdinandstrasse 29) gewohnt.19 Was die Vermittlung der Wohnung durch Veza Taubner, wie in den Entwürfen Elias Canettis notiert, wahrscheinlicher macht.

Tatsächlich war Elias Canetti in seiner ersten Wiener Zeit von 1913 bis 1916 ebenfalls in der Leopoldstadt wohnhaft gewesen. Das heisst, in der Josef-Gall-Gasse 5, wie er in den Lebenserinnerungen schreibt. Oft übernachtete er bei seinem Grossvater väterlicherseits in der Praterstrasse 72 im Hotel Austria, damit er frühzeitig am Sonntagmorgen in die Talmud-Thora-Schule in der Novaragasse gehen konnte, um Hebräisch zu lernen.20 Ganz in der Nähe, am Praterstern, wohnte die „interessanteste Freundin“21 von Elias Canettis Mutter, Alice Asriel.22 Elias Canetti freundet sich mit deren Sohn Hans Asriel an. Gemäss Die Fackel im Ohr wird er 1924 bei der „Wiederbegegnung“ im Haus der ebenfalls sephardischen Familie Asriel häufig den Namen Vezas hören.23 Auch die Herkunftsfamilie von Elias Canetti hat sich zwischen Radetzkyplatz und Praterstern bewegt wie Veza Taubners Mutter Rahel Calderon und die Grosseltern Calderon-Elias. Kleiner Exkurs: Reine Spekulation bleibt vorerst, ob das Kindermädchen aus dem Jahre 1913 mit dem Namen Fanny – das Elias Canetti und seine sehr kleinen Brüder in den Prater begleitete – möglicherweise die Freundin Veza Taubners war. In den Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis wird eine Freundin Vezas als Fanny bezeichnet.24

A2. Wichtige Figuren des Familienkosmos

Innerhalb des Familienkosmos der Kalderon/Calderon sind nicht nur die Eltern und Halbbrüder Veza Taubners von Interesse, sondern auch die vielen Tanten und Onkel mütterlicherseits sowie die mit diesen assoziierten Freunde und Bekannten.

A2.1 Die Mutter Rahel Calderon

Rahel Calderon wird 1864 in Belgrad geboren. Sie verbringt vermutlich nur einen Teil ihrer Kindheit in Wien. Sie wächst mit sieben Geschwistern auf. Ab wann konkret ihr Vater, der türkische Grosshändler Josef M. Kalderon, in Wien ansässig wurde, kann nur indirekt erschlossen werden. Erst 1877 wird anlässlich der Geburt der Tochter Junbula der Wohnsitz Wien angegeben.25 Die Geburt der Tochter Josefine Sultana 1872 wurde nicht in Wien verzeichnet, sodass der Lebensmittelpunkt der Familie in diesen fünf Jahren nach Wien verlegt worden sein muss. Veneziana Kalderon-Elias, die Mutter von Rahel Calderon, stammte ursprünglich aus Baden bei Wien.

Veza Taubners Mutter, Rahel Calderon, geht insgesamt drei Ehen ein. Mit 19 Jahren, im Jahr 1883, heiratet sie Heinrich M. Kalderon in Wien, in den Adressbüchern der Stadt Wien (Lehmann’s Adressbuch) wird er als Kalderon Heim (Heinrich M.) geführt. Mit grosser Wahrscheinlichkeit ist Heinrich M. Kalderon der Bruder von Rahels Vater.26 Heinrich M. Kalderon ist von 1882 bis 1892 in Wien als türkischer Grosshändler tätig, teilweise in einer Firma mit seinem Bruder Josef M. Kalderon, teilweise mit Schwiegersöhnen von Josef M. Kalderon (Cohen und Lewy). Von 1890 bis 1892 wird seine Einzelfirma an der Wohnadresse Schmelzgasse 9 verzeichnet. Die Ehe wurde 1893 gemäss Kürzel im Heiratsregister der Israelitischen Kultusgemeinde geschieden. Was zuerst stand, der Austritt aus der Firma oder die Trennung von Veza Taubners Mutter Rahel, ist unbekannt. Über den weiteren Verbleib von Heinrich M. Kalderon ist ebenfalls nichts bekannt, auf der Todesanzeige seines Bruders im Jahr 1908 ist er noch aufgeführt. Die Scheidung Rahel Calderons hatte zur Folge, dass sie vom Jahr 1893 an wieder bei ihren Eltern, in der Radetzkystrasse 13 wohnend, in den Matriken aufgeführt wird.27

Der zweite Ehemann Rahel Calderons ist der um 17 Jahre ältere Hermann Taubner. Tatsächlich ist der dritte Gatte, Menachem Alkaley, geboren 1848, ebenfalls 16 Jahre älter als Rahel Calderon, ihn überlebte sie allerdings nur um fünf Jahre. Ein genaues Heiratsdatum gibt es in den Matriken der Stadt Wien und bei der Israelitischen Kultusgemeinde nicht. Rahel Taubner-Calderon ist aber im Adressbuch der Stadt Wien (Lehmann’s Adressbuch) unter diesem Namen bis zum Jahr 1911 registriert, danach weder unter dem alten noch unter dem neuen Namen. Menachem Alkaley erscheint in diesem Adressbuch bis zu seinem Tod nie, obwohl nachweislich in Wien wohnhaft.28 Es ist anzunehmen, dass Rahel und Menachem von 1911 an verheiratet waren. Sie werden in den Matriken der Stadt Wien als Ehepaar bei ihrem Einzug in die Ferdinandstrasse 29 im Jahr 1911 geführt. Bei beiden ist der Umzug aus der Matthäusgasse 5 in die Ferdinandstrasse verzeichnet. Veza Taubner erhält also spätestens im Alter von 14 Jahren einen Stiefvater. Der Beruf des 63-Jährigen wird in den Matriken mit Privatier angegeben.

Über eine Berufstätigkeit von Rahel Calderon ist nichts bekannt, in den Matriken der Stadt Wien und der Israelitischen Kultusgemeinde wird sie als Private bezeichnet. Wenn man die Erzählung Geld-Geld-Geld von Veza Canetti autobiografisch liest, kann man davon ausgehen, dass Rahel Taubner-Calderon einen Teil der Wohnung – Matthäusgasse 5 – untervermietet hatte und dass sich ein neuer Untermieter auch als Stiefvater, der dem Mädchen das Herz der Mutter rauben würde, entpuppen konnte. Dass sich gewisse Untermieter – „Er war vierschrötig, mit grossen dunklen Augen.“29 – tatsächlich in unziemlicher Art und Weise der Ich-Erzählerin, dem noch nicht zwölfjährigen Mädchen, genähert haben müssen, beschreibt Veza Canetti mit folgenden Worten: „Der Mieter versuchte mich zu holen (wir hatten einen Mieter, wir waren arm, darum kam ja dieser Stiefvater), ich kehrte ihm den Rücken. Und es war noch nie ein Kind so unglücklich wie ich.“30

Ganz anders war es für das zwölfjährige Mädchen aber dann beim neuen Untermieter und potenziellen Stiefvater: „Und dann stieg jemand die Treppe herauf, ein hagerer Mann, lang und mager, mit einer riesigen Nase und er trug einen Pelz mit Nerzkragen und einen hohen Fez auf seiner Glatze, denn er war ein Türke aus Bosnien. Und er hielt einen Stock in der Hand und seine Augen waren nicht gross und dunkel, sondern klein und farblos, wie blind, aus den Wangen ragten weisse Stoppeln, und ich wusste, dass dies der Stiefvater war. Und plötzlich fiel alles ab: der Ekel, der Kummer, die Scham. Neugierig sah ich den hageren Greis heraufsteigen, immer mit dem Stock voran, und hinter ihm erschien jetzt jung und leichtfüssig meine Mutter, glitt auf mich zu, umarmte mich heftig und flüsterte: ‚Du kannst Papa zu ihm sagen oder Onkel.‘‘“31 Ganz anders gestaltet sich auch der Kontakt zu diesem neuen Stiefvater für das Kind: „Als mich der Stiefvater sah, öffnete er seinen zahnlosen Mund zu einem schwarzen Loch, schob die Zunge durch die Wange und sagte: ‚Aha!‘ Dann schlug er mit dem Stock auf mein Bein, es war seine Liebkosung. Die Magd und der Mieter lachten nicht, als sie den komischen Greis sahen, sondern sie traten ehrfürchtig zur Seite; denn er besass siebenundvierzig Häuser.“32 Schon am ersten Abend zeigt sich dem Kind aber der Geiz des neuen Stiefvaters: „Da mein Stiefvater siebenundvierzig Häuser besass, liess meine Mutter auch die beiden kleinen Stehlampen anzünden, denn das spielte jetzt keine Rolle. Ich betrachtete indessen seine lange krumme Nase und war plötzlich auf das viele Spielzeug neugierig, das mir die Magd in Aussicht gestellt hatte. Er schien mich zu erraten. Denn er griff schmunzelnd in die Tasche und entnahm ihr ein kleines Stück Papier. Umständlich packte er daraus ein angeklebtes Zuckerl und reichte es mir mit königlicher Noblesse zwischen zwei langen Fingern hin.“33

Bald aber sehnt sich das Kind nach der alten Ordnung. „Aber die sollte nicht wieder eintreten. Denn wir wussten wohl, dass der Stiefvater siebenundvierzig Häuser besass, aber wir wussten nicht wie er sie erworben hatte. Wir zogen nach einigen Wochen in eine grosse Wohnung mit elektrischer Beleuchtung, aber wenn es auch genügend Platz da gab, mussten wir doch alle im selben Zimmer leben, denn er duldete keine zweite Lampe im Haus. Zu Mittag sassen wir bei Tisch und meine Mutter häufte mir den Teller an. Aber wenn sie das winzige Stück Fleisch darauf legte, das ein Kind von zwölf Jahren braucht, bohrte er seine farblosen Augen auf das winzige Stück und sagte: ‚Fleisch bekommt sie!‘ Mochte mich jetzt meine Mutter noch so warm ansehen, das Fleisch brachte ich nicht hinunter und darauf schien er gewartet zu haben. Er spiesste es auf seine Gabel und legte es zufrieden auf seinen Teller.“34

Der beschriebene Wohnungswechsel in der Erzählung Geld-Geld-Geld erklärt zudem, weshalb nach den Matriken der Stadt Wien nicht nur die Mutter von Veza Taubner, Rahel Taubner-Calderon, sondern auch der Stiefvater, Menachem Alkaley, als aus der Matthäusgasse 5 nach Ferdinandstrasse 29 umgezogen, gemeldet wurden. Erst mit dem Umzug von 1911 ist Rahel Taubner-Calderon unter dem Namen Alkaley verzeichnet. Da die Heirat an sich weder bei der Israelitischen Kultusgemeinde noch bei der Stadt Wien als solche registriert ist, kann davon ausgegangen werden, dass Menachem Alkaley und Rahel Taubner-Calderon womöglich in Bosnien – zum Beispiel in Alkaleys Heimatort Sarajewo – geheiratet hatten. Veza Canetti erzählt dann auch, wie die Mutter, nachdem sie den neuen Stiefvater heimgebracht hatte, „müde von der Reise, in die Küche ging und Pasteten buk.“35 In dieser Erzählung vernimmt der Leser zudem, dass die Verwandten die Mutter der Ich-Erzählerin zur Heirat gedrängt haben müssen und sogar so weit gingen, vom Kind zu verlangen, gefügig und gütig zum Stiefvater zu sein,36 aber auch dies erweist sich als Bumerang. Nachdem das Mädchen dem Stiefvater mit seinen Ersparnissen einen Uhrenständer gekauft hat, den er zuerst entzückt in Augenschein nimmt, kürzt er der Mutter das Wirtschaftsgeld mit folgender Begründung: „Ihr müsst viel Geld haben, dass ihr Geschenke machen könnt.“37

Ob der kolossale Reichtum von Menachem Alkaley – wie von Elias Canetti beschrieben – eine Existenz sicherte, die auch noch in den Krisenjahren nach dem Ersten Weltkrieg genug gross war, um ein Leben ohne Sorgen zu führen, ist bis anhin nicht mit weiteren Quellen gestützt nachweisbar. In der Erzählung Geld-Geld-Geld beschreibt Veza Canetti die Krisenjahre und die Geldentwertung folgendermassen: „Und dann kamen die Kriegsjahre. ‚Tausend Kronen hab’ ich dir (der Mutter der Ich-Erzählerin, Anm. va) gegeben, weisst du, was das heisst, tausend Kronen!‘ Sein langer Finger zitterte vor Aufregung, als er ihn beschwörend auf die Stirn legte. Er sah aus wie ein gefangener Machthaber, den man mit Forderungen erdrosselt.“ Der Stiefvater kann aber nicht verstehen, dass die tausend Kronen nicht einmal eine mehr wert sind. „Wir aber hungerten. Bei meiner Mutter verschlimmerte sich infolge dieser Not ein Leiden und sie lag schwerkrank im Bett.“38 Des Stiefvaters hohe Einkünfte hingegen „lagen bei einem Bankier, der mit der Zeit damit seine Bank vergrösserte. Denn er benützte das Geld zu Spekulationszwecken und sandte erst die entwerteten Scheine jeweils den Kindern. Die hatten mit ihren Besitztümern zu viel zu tun, um das planmässige dieses Betreibens zu durchschauen.“39 Die Krankheit der Mutter hingegen wird vom Stiefvater mit folgender Bemerkung quittiert: „‚Aha!‘ sagte der Stiefvater. ‚Aha! Krankheit ist Faulheit! Auf! Auf! Arbeite etwas!‘ Und er schlug mit dem Stock zu ihrem Bett hinüber.“40 Veza Canetti erzählt weiter: „Es war ihm nicht beizukommen. Wir waren nur die unbezahlten Helfer in seinem Dienst. Wir darbten und er schwelgte. Sein Verwalter brachte ihm jeden Monat die Abrechnung über Aktien, die er im Laufe der Zeit erworben hatte, und es bereitete ihm einen grossen Genuss zu kalkulieren, welche Zinsen sie trugen.“41 Die Mutter der Ich-Erzählerin hält sich von da an nicht mehr an ihre „strengen Begriffe von Pflichterfüllung, sondern begann jeden Nachmittag auszugehen.“42

Am Ende seines Lebens fängt dieser Stiefvater in seinem Wahn an, in grösserem Stil Geld zu vernichten: „Noch ehe ich mich ihm genähert hatte, nahm mein Stiefvater die Banknoten und warf sie blitzschnell in die Glut. (…) Mit der Zeit schwand ein Päckchen nach dem andern, ohne dass wir es hindern konnten, denn er trug Geld Tag und Nacht bei sich.“43 Auf dem Sterbebett die Hand seines aus der Ferne herbestellten jüngsten Sohnes haltend, wird der sterbende Stiefvater noch einmal der Alte: „Er dachte befriedigt, dass meine Mutter nichts bekam und als er den Blick hob, stachen ihm noch die hellen Möbel in die Augen. Sein Gesicht wurde hungrig. ‚Nimm ihr die Möbel weg‘, sagte er zu seinem Sohn. ‚Alles werde ich ihr nehmen‘, versprach dieser und bat meine Mutter mit dem Blick um Entschuldigung.“44

Zu den in der Erzählung Geld-Geld-Geld gemachten Milieuschilderungen passen auch die durch Elias Canetti in seinen Unpublizierten Lebenserinnerungen gemachten Aussagen zu Alkaleys Tod.

„Während dieser Zeit hatten sich die äusseren Umstände ihres Lebens verändert. Ihr Stiefvater, der uralte Altaras, starb, was eigentlich nach all seinen Erfahrungen mit Ärzten niemand mehr für möglich gehalten hätte. Er blieb bis zum Schluss der gleiche und es gelang ihm, für eine Überraschung in seinem Sinne auch nach seinem Tod zu sorgen. Alles was er an Reichtümern (Banknoten) aufzustapeln pflegte, war verschwunden. Er muss Mittel und Wege gefunden haben, sich von diesem Geld, an dessen Gegenwart er so hing, zu trennen. Vielleicht hatte er es, als er spürte, dass es zu Ende ging, allmählich fortgetragen und in den …kübel (?) geworfen. Vielleicht war es ihm doch noch unbemerkt gelungen, einiges davon zu verbrennen. Nichts davon fand sich nach seinem Tode (war da), aber damit nicht genug, er hatte bei dem Besuche seines Sohns, in aller Heimlichkeit, durchgesetzt, dass der Frau für den Fall seines Todes eine stark reduzierte Rente ausgesetzt wurde, die wohl für ihren Lebensunterhalt, aber keineswegs für Ersparnisse reichte. Er hatte verfügt, dass diese Rente nur so lange nachzuzahlen sei, als seine Witwe lebte. Mit ihrem Tod erlosch sie, für Veza war nicht gesorgt, seine späte Rache für den Kampf, den sie um die Lebensluft ihres Zimmers gegen ihn geführt und gewonnen hatte.“45

In der Fackel im Ohr wird Alkaley zu Mento Altaras und damit auf die rein anekdotisch-sarkastischen Elemente reduziert.

Rahel Calderon überlebt ihren dritten Mann nur um fünf Jahre und stirbt mit 70 Jahren am 13. Oktober 1934; drei Tage später, am 16. Oktober, findet die Beerdigung statt.46

37 Jahre haben Mutter und Tochter zusammen gewohnt, im letzten Jahr von Rahel Calderon wohnt auch Elias Canetti da. Mutter und Tochter müssen sich zeitlebens sehr nahegestanden sein, was verschiedene Quellen bezeugen, zum Beispiel schreibt Veza Canetti an ihren Schwager Georges Canetti in einem Brief vom 20. Dezember 1934: „Ich bin lebensmüde. Ja. Denn meine Mutter war wirklich gut und sie war mein guter Trottel, der sich von mir quälen liess und mich abgöttisch liebte. Jetzt bin ich ganz verlassen.“ (BaG 27)

Kurz vor ihrem eigenen Tod schreibt Veza Canetti am 2. März 1963: „Ich kann nicht nach Wien, so gern ich auch das Grab meiner Mutter besuchen würde, mein Herz ist schon einmal gebrochen, wie ich weg musste, noch einmal hält es das nicht aus.“47

A2.1.1 Der Vater Hermann Taubner

Veza Taubners Vater, Hermann Taubner, wird in Semlin geboren, das ursprünglich zum ungarischen Teil der Donaumonarchie gehörte und heute ein Vorort von Belgrad ist. Sein Beruf wird in den Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde mit Reisender oder Agent angegeben, sein Alter bei der Heirat 1897 mit 50 Jahren. Der Vater von Hermann Taubner trägt den gleichen Namen wie er selbst, die Mutter Rosa ist eine geborene Fein. Der Wohnort am Tage der Heirat wird in den Matriken mit Hotel Stefanie, Taborstrasse angegeben. Hermann Taubner ist geschieden und hat einen Sohn mit Namen Wilhelm, der 1885 geboren wurde. Über den Verbleib der Mutter dieses Sohnes ist nichts bekannt. Auch über Hermann Taubner selbst gibt es sehr wenig Informationen. Ist er am 1. Dezember 1904 (Veza hatte da gerade das Alter von sieben Jahren erreicht) in Bosok bei Rechnitz – weit entfernt von der Familie – an einem Unfall gestorben oder war er krank gewesen? Sprach er, der Reisende oder Agent, Ungarisch, Serbisch, Spaniolisch, Wienerisch, was alles im Bereich des Möglichen liegt?

Sehr gut denkbar ist, dass er mit seiner Tochter Veza Ungarisch gesprochen hat. Auf sehr gute Kenntnisse der ungarischen Sprache der Autorin weist hin, dass sie sich noch im Jahr 1948 beim Weismann-Verlag danach erkundigt hat, ob sie den Roman Pusztavolk von Illyes Gyula für den Verlag Cape ins Englische übersetzen könne.48 Willi Weismann hat ihr daraufhin die Adresse dieses ungarischen Verlages gesandt, von dem er die deutschen Rechte besass.

Ein etwas kryptischer Eintrag in den Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis weist auf ein krudes Amalgam von Macht im Familienbereich der Calderons hin: „Ich war wie ein Gefangener von dem schrecklichen Ehepaar Calderon und seiner ungarischen … (?) zum Tempel buchstäblich hingezwickt worden.“49 Dass das ungarische Element bei diesen Vorwürfen – wie man auf die Schnelle denken könnte – nicht ein Hinweis auf die Familie von Vezas Vater Hermann Taubner ist, zeigt ein Blick in die Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde: Der Trauzeuge bei der Hochzeit von Elias Canetti und Veza Taubner ist Jacques Kalderon. Da es sich kaum um den seit mehr als 20 Jahren in England wohnenden Onkel Vezas handeln kann, kommt nur der Bruder des Grossvaters, der gemäss Lehmann’s Adressbuch bis 1937 in Wien gewohnt haben muss, in Frage. Damit wird klar, dass es sich bei den „ungarischen“ um die Schwester von Rahel Calderon gehandelt haben muss, deren Ehemann, Moritz Hirsch, ungarischer Staatsangehöriger war. Es ist die gleiche Familie, die den Canettis 1924 die Wohnung am Radetzkyplatz vermietet hatte.

Zum Unbehagen mit dem Begriff Ungarischen gibt es ein weiteres Kuriosum. Diesmal beim Matrikenamt der Stadt Wien, hier steht beim Datum 12. August 1918, vielleicht im Zusammenhang mit Venetiana Taubners Volljährigkeit, der Eintrag Ferdinandstrasse 29. Als Heimatzuständigkeit wird Borsok Ungarn angeführt, mit den weiterführenden Informationen mosaisch und ledig.

Aus dem Jahre 1934 hingegen gibt es eine Bürger-Urkunde, die Veza Taubner einen anderen Bürgerort zuweist, nämlich jenen von Semlin bei Belgrad. Semlin gehörte im Gegensatz zu Belgrad zur alten Donaumonarchie, seit dem Ersten Weltkrieg aber zu Serbien. Was der Grund für den Wechsel des Bürgerortes gewesen ist, bleibt vorerst unbekannt. Es scheint allerdings so, dass Veza Taubner die Bürgerorte beider Eltern hatte, Semlin und Borsok.

A2.1.2 Der Stiefvater Menachem Alkaley

Sehr wenig ist über Menachem Alkaley und dessen Sippe bekannt und doch erwähnt Elias Canetti, dass sich Veza 1961 in Zürich mit Erna Alkaley getroffen habe, der Enkelin ihres Stiefvaters, die in Belgrad mit einem Architekten verheiratet gewesen war.50 Möglicherweise ist dies ein Indiz dafür, dass das Verhältnis mindestens zur Familie Menachem Alkaleys nicht von Beginn weg ein arges gewesen sein muss, wie aus den Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis hervorgeht. Interessant wäre ja diesbezüglich, mit wem der Stiefvater vor Rahel verheiratet gewesen war, wie viele Söhne und Töchter dieser Ehe entstammen und so weiter.

Besonders interessant wird es betreffs die Familie Alkaley, wenn man wiederum die Erzählung Geld-Geld-Geld von Veza Canetti hinzuzieht.

Einer der in den historischen Adressbüchern verzeichneten Alkaleys, die in Wien ansässig sind, heisst Salomon Alkaley, er ist Besitzer einer Schuhfabrik. Falls dieser wirklich ein Sohn von Menachem Alkaley wäre (es gibt im Wien der Zwischenkriegszeit gemäss Lehmann’s Adressbuch weitere Alkaleys), erhält die in Geld-Geld-Geld erzählte Geschichte um die Magd, die ihren Brotgeber aus Rache mit ungesundem Essen vergiftet, eine grössere autobiografische Brisanz als vorerst angenommen.

Zu der oben dargelegten Übereinstimmung des Stiefvaters mit Menachem Alkaley kommt nun ausserdem hinzu, dass der Mord der Magd an diesem als Rache für das In-den-Tod-Treiben ihres eigenen Ehemannes tatsächlich vor einem weiteren realen Hintergrund zu sehen wäre. Dass ein Schuster Schulden bei einem Schuhfabrikanten haben könnte, ist mehr als wahrscheinlich. Ebenso gut ist denkbar, dass die Schuhfabrik zuvor Menachem Alkaley gehört hatte. Vielleicht hat sich Veza Canetti einfach vom Alkaley-Umfeld zu dieser gelungenen Erzählung inspirieren lassen. Auch für den psychisch kranken Immobilienbesitzer und Rentier Pilatus Vlk im Roman Die gelbe Strasse gibt es im Alkaley-Umfeld, neben dem Stiefvater, genügend andere potenzielle Vorbilder.

A2.1.3 Zwei Halbbrüder

Die beiden Halbbrüder Wilhelm Taubner und Morris H. Calderon waren mit höchster Wahrscheinlichkeit von der Unteren Viaduktstrasse über die Radetzkystrasse 2 bis zur Tempelgasse 6 im Familienverband noch dabei, am neuen Wohnort Matthäusgasse 5, ab 1905, werden sie nicht mehr aufgeführt. Was die Tatsache bedeuten könnte, dass die beiden Jungen im Register der Stadt Wien – wo Hermann Taubners Todestag mit 1. Dezember 1904 eingetragen wurde – sofort oder womöglich eher Monate oder Jahre später gestrichen wurden, ist schwer zu sagen.

Einerseits waren die beiden Brüder da bereits 17 und 20 Jahre alt, also in einem Alter, in dem sie selbständig einer Arbeit nachgehen konnten, falls sie nicht studierten; andererseits ist erwägenswert, dass gerade der Tod des Vaters sie aus finanziellen Gründen in die Arbeitswelt und damit in die Selbständigkeit geworfen haben könnte.

Vezas Halbbrüder sind 12 und 13 Jahre älter als Veza. Was das für ein Mädchen bedeuten kann, mit zwei Brüdern im Teenageralter aufzuwachsen, beschreibt Veza Canetti in Die Gelbe Strasse: „Frau Andrea pflegte von sich zu erzählen, sie wäre als Kind recht hässlich gewesen und häufig kränklich. Von ihren Brüdern sprach sie mit viel Heiterkeit, besonders einer Begebenheit erinnerte sie sich, wie die Brüder nämlich eines Tages weisse Mäuse heimbrachten und jeder eine weisse Maus beim Schweif fassen und in den Mund stecken musste. (…) ‚Als Kind habe ich gern Tabak geschnupft‘, erzählte Frau Andrea. ‚Meine Brüder haben mich erst gezwungen, und dann hab ich es mir angewöhnt. Auch weisse Mäuse musst ich immer beim Schweif nehmen und in den Mund stecken. Sie kribbelten mir dann im Gesicht herum, es war schrecklich.‘“ (GSt 119, 127)

Der Kontakt zum älteren Bruder, Morris H. Calderon, der später in Surrey lebte, scheint nie abgebrochen zu sein. Über die Beziehung zu Wilhelm ist nichts bekannt.

Der Bruder Wilhelm Taubner, 1885 geboren, stammte aus der ersten, geschiedenen Ehe des Vaters von Veza Taubner. Mit Ausnahme des Namens der Mutter, Amalie, geborene Noskovitz, ist nichts über diese erste Familie bekannt. Leider ist auch über das weitere Leben von Wilhelm Taubner, der beim Tod des Vaters als Handelsangestellter bezeichnet wird, nichts aufzufinden.51

Morris H. Calderons Spuren in den Archiven Wiens verlieren sich 1911, als er im Alter von 27 Jahren mit Jacques J. Calderon, einem Bruder seiner Mutter, und dessen Familie nach England auswandert. Morris H. Calderon wird von Veza Bucky genannt. Er erscheint in verschiedenen Quellen als der Greissler in Surrey, da er vor dem Zweiten Weltkrieg ein Süsswarengeschäft in Lightwater bei Bagshot führt. (BaG 384)

Veza Taubner hat sich wahrscheinlich in ihrer Jugend und Adoleszenz oft bei ihm selbst oder dann beim Onkel Jacques J. Calderon und dessen Familie in Manchester aufgehalten.

Wie wichtig Morris Calderon für Veza während ihrer letzten Jahre in Wien gewesen sein muss, erfährt man aus einem Brief an Georges aus dem Jahr 1936: „Wir hungerten. Wir hatten keine Kohle. Wir waren krank und hatten keinen Schilling im Haus. Lange lange Zeit. Mein Bruder, ein armer Greissler in Surrey, zahlt uns den Zins.“ (BaG 62) Und auch noch zehn Jahre später, 1946, formuliert Veza Canetti ganz allgemein hinsichtlich der Verwandten in England: „(…) ganz zu schweigen davon, dass ich sie in den letzten Jahren einiges an Geld gekostet hab, das kannst Du mir glauben.“ (BaG 202)

Eine ausgesprochen nette Charakterisierung des Bruders Morris, der tatsächlich gerne Ingenieur geworden wäre und fünf Sprachen spricht, liefert Veza am 31. März 1938 an Georges Canetti: „Ja, wenn mein ehrbarer Bruder in Surrey wüsste, dass ich Ihnen Liebesbriefe schreibe, er würde seine reinen guten Augen weit aufreissen, denn er hat Charakter. Er spricht fünf Sprachen, wäre gern Ingenieur geworden, träumt von einem riesigen Park, in welchem Elephanten, Eisbären, Gazellen (also Sie), Igel und Schweinchen friedlich herumspazieren und ihm aus der Hand fressen.“ (BaG 103)

A2.1.4 Der Paranoiker

Veza Canetti schreibt in einem Brief aus dem Jahre 1937: „Ich habe als Kind mit einem Paranoiker zusammengelebt, der seit zehn Jahren in Wien interniert ist.“ (BaG 83) Wer dieser Paranoiker ist, lässt Raum für Spekulationen. Die Frage ist, wer lebte im Haushalt von Rahel Calderon, der unter einer psychischen Krankheit litt. Die beiden Ehemänner Hermann Taubner und Menachem Alkaley können es nicht gewesen sein, weil beide 1937 längst tot waren. Möglich wäre, dass damit der Halbbruder Veza Taubners, der zwölf Jahre ältere Wilhelm, gemeint sein könnte, dessen Spuren sich im Einwohnerregister der Stadt Wien im Jahr 1905 verlieren. Falls die zweite Aussage Veza Canettis im gleichen Brief dieselbe Person betrifft, war diese zuvor bereits in der psychiatrischen Klinik in Inzersdorf hospitalisiert. „Mein Irrer in Inzersdorf liess mich immer im Radio die Hetzreden gegen ihn anhören.“ (BaG 83)52 Eher ungewöhnlich wäre allerdings dann, dass Veza Canetti den Namen des Paranoikers oder Irren nicht nennt, vor allem dann nicht, wenn es sich um den Halbbruder Wilhelm gehandelt haben könnte. Durchaus nicht auszuschliessen ist, dass Rahel Calderon in ihrer Wohnung einen psychisch kranken Menschen allenfalls gegen Bezahlung betreut hätte.

A2.2 Die Grosseltern mütterlicherseits

Der Grossvater Josef M. Kalderon ist spätestens seit 1877 in Wien wohnhaft und ab 1881 mit eigener Firma. Am Anfang mit wechselnden Geschäftspartnern wie mit den Brüdern Jacques M. Kalderon53 und Heinrich M. Kalderon, den Schwiegersöhnen Josef Cohen und Isaac Farchy, ab Ende der 80er Jahre führt Josef M. Kalderon das Geschäft in eigener Regie. Die Familie Josef M. und Veneziana Kalderon lebt nach Lehmann’s Adressbuch seit 1878 in Wien. Denkbar ist aber auch ein früherer Wohnsitz, da ein Kalderon M. oder Men. schon 1860 und 1861 mit einer Firma am Hafnersteig verzeichnet ist. Hier gibt es dann allerdings eine Lücke von 16 Jahren bis zum Jahr 1877, in der keine Kalderons mehr in Wien vermerkt werden.

Ab 1900 wird die Firma Josef M. Kalderon zu Josef M. Calderon & Söhne. Von den Söhnen ist allerdings nur noch Jacques J. Calderon in Wien wohnhaft.

Nach dem Tod des Grossvaters 1908 gibt es die Firma noch ein Jahr lang, aber bereits 1910 existiert sie nicht mehr.

1911 wandert der Sohn Jacques J. Calderon nach England aus und ab 1911 ist gleicherweise der zweite Sohn Morris J. Calderon in Wien nicht mehr registriert.54

Veza Taubners Grossmutter Veneziana Calderon, geborene Elias, lebt bis zu ihrem Tod im Jahr 1922 weiter an der Radetzkystrasse 13.55 In den Unpublizierten Lebenserinnerungen schreibt Elias Canetti über die Grosseltern von Veza: „Der alte Calderon, der eine Frau namens Veneziana Elias geheiratet hatte, war ein sehr wohlhabender und hochgeachteter Mann, der in der spaniolischen oder wie man sie offiziell nannte türkisch-israelitischen Gemeinde Wiens als grossherziger Wohltäter galt. Er hatte den ‚türkischen‘ Tempel in der Zirkusgasse gestiftet, auf zwei grossen Marmortafeln vor dem Eingang prangte rechts sein Name, links der seiner Frau.“56

Womöglich hatten diese Donatorentafeln etwas mit dem Neubau des türkisch-jüdischen Tempels in der Zirkusgasse 22 (1885–1887) zu tun. Es ist gut vorstellbar, dass der türkische Grosshändler Josef M. Calderon, der bereits seit zehn Jahren in Wien ein Geschäft führte, sich als Donator oder Sponsor für die Synagoge engagierte und damit auch profilierte. Der Neubau des erst 1868 errichteten Bethauses an der Zirkusgasse 22 war nötig geworden, da dieses „gleich zu Beginn grosse Mängel in der Planung“57 aufgewiesen hatte.

Konkreter zur Bedeutung der Donatorentafeln wird Elias Canetti in den Entwürfen zum Augenspiel, indem er bezogen auf seine Heirat in ebendiesem Tempel erwähnt, dass an diesem Ort ja schon seit Beginn eine Tafel mit dem Namen Veneziana Elias gestanden habe, der prophetische oder gleichsam visionäre Gehalt der Tafel offenbare sich nun bei der Hochzeit des Dichterpaares: „Wir heirateten Ende Februar 1934 im Tempel in der Zirkusgasse. Er war von Vezas Grossvater Rafael Calderon (Josef M. Calderon, Anm. va) für die spaniolische Gemeinde in Wien erbaut worden. In einer Mauer rechts vom Eingang waren zwei grosse Tafeln eingelassen worden, die den Namen des Stifters und seiner Frau trugen. Vezas Grossmutter, nach der sie genannt worden war, hiess mit Vornamen Veneziana. Mit ihrem Familiennamen hiess sie Elias. So stand auf der einen Tafel in grossen Goldbuchstaben VENEZIANA ELIAS. Seit der Erbauung dieses Tempels – ich denke, nicht lange vor der Jahrhundertwende – waren unsere Namen hier nebeneinander gestanden. (Sie finden sich heute nicht mehr dort. Im November 1938 wurde dieser Tempel wie alle andern in der Leopoldstadt in Brand gesteckt und die Tafeln herausgeschlagen.)“58

Eine total andere Bedeutung – ganz im Sinne des dialektischen Materialismus – erhalten Donatoren und ihre Tafeln in den literarischen Werken Veza Canettis. Der als sehr geizig geltende, Ehefrau und Kinder prügelnde Iger aus dem Roman Die Gelbe Strasse und dem Drama Der Oger erhält eine goldene Ehrentafel wegen seinen Spenden für das Kinderheim. Die Autorin lässt keinen Zweifel daran, dass es bei den grosszügigen Spenden von Iger nur um den Eintrag auf der Ehrentafel und die damit einhergehende Selbsterhöhung gegangen sei und nicht um das Wohlergehen der Kinder im Kinderheim. Noch sarkastischer ist diese Sachlage dargestellt in der nach 1933 nie mehr separat publizierten Erzählung Der Zwinger: „(…) in dem über jedem Bett eine grosse Marmortafel mit dem Namen des Spenders hing“.59 Diese Erzählung, in der tatsächlich im Zentrum ein Zwinger steht, mit dem im Volksmund eine Kinderbewahranstalt bezeichnet wird, wurde von der Autorin später zusammen mit der prämierten Erzählung Ein Kind rollt Gold zu einem Kapitel mit dem Titel Der Zwinger in den Roman Die gelbe Strasse eingearbeitet.

Eine sogenannte Kinderbewahranstalt befindet sich an der Unteren Weissgerberstrasse 12 unweit des Radetzkyplatzes, das heisst, des Wohnortes der Grosseltern, und damit nicht allzu weit entfernt von Veza Taubner, die nach dem Tod ihres Vaters mit ihrer Mutter an der Matthäusgasse 5 ebenfalls in der Nähe des Radetzkyplatzes gewohnt hatte (1905–1911). Hier könnte die Autorin im Alter von 8 bis 14 Jahren mit Kindern aus dem Kinderheim – möglicherweise über den gemeinsamen Schulort – in Kontakt gekommen sein.

Bekannt sind die sehr häufigen Aufenthalte der Grossmutter Veneziana Calderon, geborene Elias, in ihrem Herkunftsort Baden bei Wien. Dies ist bezüglich Veza Taubner von Interesse, da sie ihre Grossmutter schon in der Kindheit an diesen Ort begleitet haben könnte. Hier kann sie schon sehr früh mit dem Dichter Alfred Grünewald in Kontakt gekommen sein, war er doch später assoziiert mit den Felonen (Gruppe sozialistischer Jugendlicher), die auch für Veza Taubner Bedeutung erlangen werden. Alfred Grünewald besuchte in Baden bei Wien häufig seine Schwester, die dort ihren Wohnsitz hatte. In der gleichen Strasse wie Grünewalds Schwester wohnte zeitweilig ausserdem Stefan Zweig.60 Exkurs: Vielleicht kann diese Gegebenheit die Existenz eines Gedichtes an Stefan Zweig erklären, das sich in Elias Canettis Nachlass befindet und undatiert ist, aber vor 1928 geschrieben worden sein muss. Es ist ein Hassgedicht oder eine Art Mitteilung an Stefan Zweig, darin dieser als Nebenbuhler in der Liebe oder Literatur aufscheint.61 Ob Elias Canetti mit der „Hur“ jemand aus dem Umfeld der Calderons gemeint haben könnte, geht aus dem Gedicht nicht hervor. Bestimmt ist es hingegen eine Anspielung auf Stefan Zweigs stadtbekannte Vorliebe für ganz junge Frauen. Gut dokumentiert ist jedoch, dass Elias Canetti Stefan Zweig über dessen Tod hinaus gehasst hat, obwohl ihm dieser 1935 seinen ersten Verlag vermittelt hatte.

An Stefan Zweig

Auf wessen Schoss sie morgen

Ihren Altersschlaf hält

Und ob sie als zahnlose Hur

Dir noch besser gefällt.“62

Eine frühe Bekanntschaft von Veza Taubner mit Stefan Zweig – den Carl Zuckmayer als Katalysator für Talente bezeichnet – könnte viele, sehr frühe Kontakte (vor und nach dem Ersten Weltkrieg) von Veza Taubner in der Dichter- und Kunstszene Wiens erklären. „Stefan Zweig war ein ausgesprochener Katalysator: unerschöpflich seine Freude, Menschen, von denen er etwas hielt, zusammenzubringen. So habe ich erst durch ihn Joseph Roth, den er besonders liebte, auch Bruno Walter und Toscanini kennengelernt.“63

Stefan Zweig und Alfred Grünewald sind aber durchaus nicht die einzigen Kontakte zur Dichterszene, die die Familie Calderon gepflegt haben muss.

A2.3 Die Geschwister der Mutter Rahel Calderon

Von den sieben Geschwistern von Veza Taubners Mutter Rahel Calderon sind zwei Onkel, Jacques J. und Moritz J. Calderon, sowie die beiden Tanten Olga Hirsch und Camilla Spitz bezüglich der Autorin von Interesse.

A2.3.1 Die Onkel Jacques J. und Moritz J. Calderon

Ein kleines Kuriosum bilden die beiden Söhne von Josef M. Calderon, dem Grossvater von Veza, beide sind in den Adressbüchern der Stadt Wien erst von dem Punkt an aufgeführt, wo sie zur Firma gehören. Es ist anzunehmen, dass die beiden zuvor bei ihren Eltern, Radetzkystrasse 13, gewohnt hatten. Jacques J. Calderon, der bei der Firmengründung 40 Jahre alt ist, heiratet 1900 anlässlich des Eintritts in die Firma des Vaters die 20 Jahre jüngere Sarina Levy. Er wechselt bis zur Aufgabe der Firma nach dem Tod des Vaters 1908 viele Male seine Adresse in Wien. Im Jahr 1911 wandert die inzwischen vierköpfige Familie schlussendlich mit Dienstmädchen und dem Neffen Morris Calderon, dem Bruder von Veza Taubner, nach England aus.

Der zweite, im Jahr 1900 bei der Firmengründung erst 30-jährige Bruder von Rahel Calderon, Moritz J. Calderon, wird in den Firmen-Adressbüchern immer als in Belgrad ansässig bezeichnet, vielleicht handelt es sich um eine Zweigniederlassung oder sogar das ursprüngliche Hauptgeschäft. Seine Heirat mit Sultana, geborene Demajo, wird bei der Israelitischen Kultusgemeinde Wien dadurch nicht verzeichnet und sein Name taucht in den Wiener Adressbüchern nach Aufgabe der Firma nicht mehr auf.

Unpublizierten Lebenserinnerungen