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Artur R. Boelderl (Hrsg.)

Kakanien oder ka Kakanien?

Österreichs Geschick 1918–2018 im Spiegel der Literaturen

 

 

 

 

SCHRIFTENREIHE LITERATUR

Institut für Österreichkunde, Wien

Institut für GermanistikAECC/ Abteilung Fachdidaktik, AAU Klagenfurt

Herausgegeben von

Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy und Werner Wintersteiner
Band 31

Kakanien oder ka Kakanien?

Österreichs Geschick 1918–2018
im Spiegel der Literaturen

Herausgegeben von
Artur R. Boelderl

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Inhalt

Einleitung

Artur R. Boelderl

„In Ruh’ lassen“: ein kakanischer Modus vivendi

Literarische Beiträge

Bettina Balàka

Von Keuschlern und Kaisern

Pavol Rankov

Mütter (Auszug)

Kakanien im Wandel – Annäherungen

Ernst Bruckmüller

Musils Kakanien
– die Frage nach dem Realitätsgehalt eines literarischen Topos

Peter Becher

Kakanische Nachdenklichkeiten oder die allmähliche Verwandlung eines historischen Phänomens

Kakanien im Detail – gestern, heute …?

Alfred Pfoser

Kaiserstadt ohne Kaiser

Martin A. Hainz

Die Welt von Gestern – (post-)kakanische Zweigstellen.

Oder: 1918, Logik und Hoffnung des Ausnahmezustands

Andrei Corbea-Hoişie

„Das Ende eines großen Reiches“.

Die Nachkriegsaussage des vormals k.k. Universitätsprofessors Eugen Ehrlich

Andy Jelčić

Die kroatische Kakanien-Utopie

Walter Fanta

Arnautovic spricht mit Musil über Sport, Kunst und Moral

Kakanien im Detail – … heute, morgen?

Walter Denscher

Vom k. k. Schulbuchverlag zum elektronischen Schulbuch

Edit Király

Kakanien im Koffer.

Reisen von Ransmayr, Pollack und Gauß auf einen unentdeckten „Kontinent“

Autorinnen und Autoren

Personenregister

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© Michael Murschetz 2020 für Der Standard

Einleitung

„In Ruh’ lassen“:

ein kakanischer Modus vivendi

Artur R. Boelderl

„Erde aus Ungarn“ – „Erde aus Polen“ – „Erde aus Kärnten“ – „Slowenische Erde“ – „Tschechische Erde“. Offiziere aus allen Teilen der Monarchie verabschieden sich vom toten Oberst. Zuletzt schüttet der jüdische Regimentsarzt Erde auf den Sarg: „Erde aus – aus – Österreich.“

An diese Szene aus Franz Theodor Csokors 1936 veröffentlichtem und 1937 am Burgtheater uraufgeführtem Theaterstück 3. November 1918 hat der Jurist und Journalist Stefan May in einem am nämlichen Tag des Jahres 2018 in der Wiener Zeitung erschienenen Artikel erinnert, der mit Grundton Melancholie überschrieben ist (vgl. May 2018). Die Szene aus dem Stück, dessen Handlung in einem militärischen Rekonvaleszentenheim in den Kärntner Karawanken spielt und den vergeblichen Kampf des Artillerieobersts von Radosin für die Erhaltung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie sowie dessen Selbstmord schildert, spiegle das Ende der Habsburger-Monarchie wider, bei deren Auseinanderbrechen die Völker eigene, neue Staaten bildeten.

Fraglich bleibt bei Darstellungen dieser Art freilich, welcher Status dem Gebilde, dessen Auseinanderbrechen konstatiert wird, zuvor zugekommen ist: Der lange Zeit unhinterfragten nostalgischen Retrospektive, ebendiese Völker hätten in der k.u.k. Monarchie im Großen und Ganzen friedlich zusammen gelebt, steht die konträre Beobachtung gegenüber, der der rumänisch-deutsche Schriftsteller Richard Wagner pointiert Ausdruck verliehen hat: „Man lebte nicht friedlich zusammen, wie der dem heutigen Klischee angepasste Mythos nahelegt, man ging sich vielmehr erfolgreich aus dem Weg.“ (Zit. nach May 2018) Dass dieses Sich-aus-dem-Weg-Gehen gleichwohl – oder gerade weil es der sozialromantischen Illusion des Miteinanderlebens unterschiedlicher Gruppen entsagt – als erfolgreich apostrophiert werden kann, gibt nicht nur, aber auch dann zu denken, wenn man es als Modell auf die gegenwärtige Situation in Europa zu übertragen sich anschickt.

Just dies hat in einem im Rahmen der von Altbundespräsident Heinz Fischer koordinierten Gedenkfeierlichkeiten Österreich100: 1918–2018 entstandenen kurzen Dokumentationsfilm niemand Geringerer als die nachmals als Organisatorin des Opernballs breitenwirksam tätig gewordene Schauspielerin Lotte Tobisch-Labotýn (1926–2013) angeregt, selbst durch ihre familiäre Herkunft eine gleichsam exemplarisch heutige Repräsentantin dieser Welt von Gestern, als sie zu Protokoll gab, man müsse die Anderen ja nicht lieben und auch nicht gemeinsam mit ihnen leben, solange man sie aber einfach in Ruh’ lasse. Gerade angesichts der salbungsvollen Reden zum 100. Jahrestag der Republiksgründung, die sich – mit wohltuender Ausnahme der Kärntner slowenischen Schriftstellerin und Festrednerin Maja Haderlap – allesamt darin gefielen, diese Chimäre des Gemeinsamen zu beschwören, ohne auch nur im mindesten anzugeben, worin es denn nun eigentlich bestehe noch wie es sich jenseits der rhetorischen Anrufung politisch konkret herstellen oder stärken ließe, mutet der von Tobisch im dezidierten Rückblick auf das lange Zeit gültige Erfolgsgeheimnis sowohl zunächst der Habsburger-Monarchie als auch später der jungen Zweiten Republik anempfohlene pragmatisch-nüchterne Zugang vergleichsweise rationaler und jedenfalls realistischer an.

Mit diesen ausgewählten Schlaglichtern und Hinweisen sei einleitend lediglich der für die Konzeption des Bandes – neben dem äußerlichen Zufall der 8er-Jubiläen, die sich 2018 mehrten: 1918, 1938, 1968 (man könnte ihnen auch 1848 oder 1948 zurechnen) – initialzündende Befund des Literaturwissenschaftlers Josef Strutz unterstrichen, dass Kakanien „als eine Metapher für den Zustand der Zeit ungleicher Bewegungsabläufe, inhomogener gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen sehr produktiv sein“ könne (Strutz 1987, 14 f.). Dieser gut 30 Jahre alte Befund scheint auch in den Jahren 2018 ff., 100 und mehr Jahre nach der Republikwerdung Österreichs 1918 und unabhängig von jeder expliziten Bezugnahme auf Musils in den 1920er Jahren konzipierte Beschreibung des Begriffs in seinem 1930 erschienenen Magnum opus Der Mann ohne Eigenschaften, nichts an Triftigkeit eingebüßt zu haben. Von der ungebrochenen Attraktivität der Bezeichnung im Kontext nicht nur literaturwissenschaftlicher, sondern auch (zeit)geschichts- und gesellschafts-wie politikwissenschaftlicher Untersuchungen zeugt eine Vielzahl von einschlägigen Veröffentlichungen, die sie dem Namen oder der Sache nach im Titel führen, der Ausdruck ist als Schlagwort weit über den Literaturbetrieb im engeren Sinne und auch über den akademischen Diskurs hinaus in den wenn nicht umgangs-, so doch alltagssprachlichen Gebrauch diffundiert.

Der nur halb unernsten Beobachtung, dass zumindest lautlich kein weiter Weg von k.(u.)k. = kaiserlich (und) königlich Österreich zu unverhältnismäßig, um nicht zu sagen: statistisch nachgerade auffällig vielen Regierungsspitzen und hohen Staatsämtern der Nachkriegszeit führt – ob Kirchschläger und Kreisky, Klestil und Klima oder Kurz und Kickl bzw. aktuell (2020) Kurz und Kogler –,1 folgt die ganz und gar unheitere Frage nach allfälligen Kontinuitäten anderer Art, vor allem solchen, die kultur-bzw. mentalitätsgeschichtlich relevant sind. Anders ausgedrückt:

Wieviel Kakanien steckt im heutigen Österreich? Wieviel in den Nachfolgestaaten der Habsburger-Monarchie?

Welche kakanischen Anteile weisen Herr und Frau Österreicher immer noch (oder wieder oder immer) auf, welche die Nachbarinnen und Nachbarn?

Auf welchen Ebenen tradiert sich, was mit und seit Musil mit der Metapher „Kakanien“ bezeichnet wird, bis in die österreichische und europäische Gegenwart, wo liegen Kakaniens Grenzen in einem „vereinten“ Europa, dessen Fragilität sich kaum leugnen lässt?

Was lehrt uns der Blick auf Kakanien in Geschichte und Gegenwart?

Wie lernen wir einen zugleich selbstbewussten und kritischen Umgang mit unserer kakanischen (Nicht-)Identität?

Und wie lehren wir andere einen solchen Umgang, sowohl im Sinne einer bewussten Reflexion und lückenlosen Aufarbeitung der (eigenen) Geschichte als auch einer mündigen Auseinandersetzung mit der politischen Gegenwart?

Geprüft wird in den hier versammelten Beiträgen daher – im Gefolge des erwähnten äußeren Anlasses (100-Jahr-Feier der Republik 2018) ebenso wie einer gleichzeitig registrierten sachlichen Notwendigkeit (angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen in Österreich insbesondere, aber auch in Europa allgemein) folgend – die von Musil beanspruchte exemplarische Geltung des von ihm entworfenen und mit der Bezeichnung „Kakanien“ versehenen Chronotopos (vgl. Wolf 2011, 604), und zwar im Blick auf die zeitlich wie geographisch verstreuten Spiegelungen, die derselbe in den (keineswegs einsprachigen noch sonst einheitlichen) Literaturen des ehemaligen Habsburgerreiches erfahren hat und erfährt. Von Interesse sind dabei nicht so sehr die wissens- (vgl. ebd.) denn vielmehr die diskursgeschichtlichen Möglichkeitsbedingungen dessen, wofür die Metapher steht. Diese sind es nämlich, die eine (nicht nur im engeren Sinn diskurs-, sondern beispielsweise auch psycho- und sozio-)analytische Betrachtung der Themen- und Text-Konstellation „Kakanien“ in ihrer gesamten Tragweite erlauben, was die Frage nach deren Kontinuität oder Diskontinuität zwischen 1918 und heute betrifft.

Der Fokus des Bandes liegt aus diesem Grund weniger auf (ob von ihrer Entstehung her älteren oder jüngeren) ,literarischen Streifzügen durch eine versunkene Welt‘ (vgl. Lipiński 2000) als vielmehr auf den ,kakanischen (Kon-)Texten‘ (vgl. Becher 2014) einer in manchen Aspekten alles andere als vergangenen Epoche – einer Epoche, die vielleicht unter unser aller Augen fröhliche Urständ’ zu feiern sich anschickt. Damit folgt der Band im Wesentlichen der gleich betitelten 58. Literaturtagung des Instituts für Österreichkunde, die unter der wissenschaftlichen Leitung des Herausgebers von 15. bis 17. November 2018 im Hippolyt-Haus St. Pölten gemeinsam mit der Abteilung für Fachdidaktik des Instituts für GermanistikAECC an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und in Kooperation mit dem Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv ebenda abgehalten wurde.

Diesen einleitenden Bemerkungen folgen zwei literarische Beiträge der beiden Autoren, die im Zuge der Tagung aus ihren thematisch einschlägig gelagerten Werken gelesen haben: Für die Genehmigung zum Abdruck eines Kapitels aus ihrem Essay-band Kaiser, Krieger, Heldinnen. Exkursionen in die Gegenwart der Vergangenheit (Innsbruck, Wien: Haymon 2018) gilt der Wiener Schriftstellerin Bettina Balàka nicht minder herzlichster Dank wie dem in Bratislava tätigen slowakischen Schriftsteller Pavol Rankov und seiner Übersetzerin ins Deutsche, Frau Ines Sebesta, für die Erlaubnis zum Vorabdruck eines Auszugs aus dem im Original 2011 erschienenen Roman Matky (Banská Bystrica: Edition Ryba). Den ersten Teil der wissenschaftlichen Beiträge unter der Rubrik Kakanien im Wandel – Annäherungen eröffnet Ernst Bruckmüllers Aufsatz Musils Kakanien – die Frage nach dem Realitätsgehalt eines literarischen Topos, worin der Referent das nämliche Kapitel in Musils Mann ohne Eigenschaften – sonst gern als reale Beschreibung jener versunkenen Welt interpretiert – zum Anlass intensiver Reflexion nimmt. Unter anderem erinnert er daran, dass auch die vorgeblich so neutrale Beschreibung jenes eigenartigen Staatswesens immer durch die Musil’sche Ironie gebrochen ist, bevor er als Belege dafür die Beschreibung der vielen Charaktere einer Person sowie das Nicht-Zusammenpassen von Österreich und Ungarn als Gewand-Gleichnis diskutiert. Im zweiten Beitrag befasst sich Peter Becher unter dem Titel Kakanische Nachdenklichkeiten oder die allmähliche Verwandlung eines historischen Phänomens mit dem Wandel der Bilder von der frühen staatslegitimierenden Bezugnahme auf die Donaumonarchie über das Wechselspiel von nostalgischer Identifikation und nationaler Distanzierung bis zur Etablierung einer hybriden Bildrealität, die unauflösbar fiktionale und rekonstruierbare Elemente mischt. Während die quellenkritisch legitimierte Diskussion der Wissenschaft (Rauchensteiner, Suppan, Clark, Judson) unvermindert anhalte und ein komplexes Bild der Donaumonarchie vermittle, so Becher, finde zugleich in der Öffentlichkeit ein fröhlich beschwingter Substanzverlust statt. Dabei würden die wissenschaftlich erarbeiteten Bilder durch die Dynamik der medialen Entwicklung und die Wirkmächtigkeit touristischer Inszenierungen ebenso subversiv unterlaufen wie suggestiv überformt. Auf die schriftliche Fassung des Vortrags Der lange Schatten Kakaniens. Zur literarischen Utopie „Mitteleuropas“, der diese erste Rubrik beschlossen hätte, musste für die Drucklegung leider verzichtet werden; in ihm warf Vahidin Preljević einen neuen Blick auf die in die Jahre gekommene Diskussion über „Mitteleuropa“, wie sie in den 1980er Jahren geführt wurde. Auch den Zeitgenossen sei aufgefallen, dass die Essays von Milan Kundera und György Konrád von einem Widerspruch gekennzeichnet sind: Einerseits setzten sie sich für die Befreiung kleiner Nationen vom (sowjetischen) „Imperium“ ein, andererseits diene ein älteres Imperium, das habsburgische, als historisches (und ästhetisches) Gegenbild zu grauen Zonen der kommunistischen Herrschaft. Tradition und Diversität gegen Gedächtnislosigkeit und Uniformität – so jedenfalls lese sich diese Gegenüberstellung. Die Narrative der „Mitteleuropäer“ bemühten dabei Motive, die seit den frühen sechziger Jahren in einem politisch relevanten Zusammenhang auftauchten: bei der Entdeckung des Prager Kreises in der tschechoslowakischen Germanistik und der „Heimkehr“ Kafkas nach Prag im Zuge der beiden Konferenzen von Liblice (1963 und 1965), die man als Auftakt des Prager Frühlings verstehen könne. Einige dieser literarischen Verbindungslinien zeichnete Preljević nach und warf dabei grundsätzlich die Frage nach der identitätspolitischen Funktionalisierung des Habsburgischen Mythos vor allem in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auf.

Die zweite Rubrik Kakanien im Detail – gestern, heute, …? eröffnet Alfred Pfoser mit seinem Beitrag Kaiserstadt ohne Kaiser im Ausgang von der Beobachtung, dass Wien trotz der schlimmen Identitäts- und Versorgungskrise nach der Republikgründung an der Zuschreibung, eine der ganz großen Kulturmetropolen in der Welt zu sein, mit großer Kraftanstrengung festhielt. In der intellektuellen Debatte sei es jedoch nicht unwidersprochen geblieben, als die ehemalige Reichshaupt- und Residenzstadt mit aller Emphase entschlossen war zu zeigen, dass sie in der internationalen Welt weiterhin als Stadt der Künste, der Musik, der Theater, der Museen, der Verlage, der kulturellen Begegnung, als Stadt der großen Geister und des guten Geschmacks zu gelten habe. Dass bei dieser angestammten Rolle – „natürlich“, so Pfoser – auch die Ausrichtung auf den Fremdenverkehr mitgespielt habe, pointiert er zur erkenntnisleitenden Frage seiner Ausführungen: Wie umgehen mit Kultur und Kulturbetrieb, wenn es Hunger gibt und keine Kohle zum Heizen? Einen anderen Ton schlägt Martin A. Hainz in seinem Beitrag Die Welt von Gestern – (post-)kakanische Zweigstellen an. Kakanien, multiethnisch, multireligiös, multikulturell, sei ein Staat gewesen, der sich als politische Entschließung konstituiert habe, ohne zweifelhafte Legitimierung qua Natur, angestammten Lebensraum, Ethnie oder anderes. Stattdessen war es Hainz zufolge ein Staat, der – und das mache Kakanien für manche zur Proto-EU – als Projekt auf Vertragsbasis entstanden war, mit den Ironien durchsetzt, die ihm also ein Musil nicht andichtete, wann immer er Kakanien ironisch beschrieb. Und der Vollständigkeit halber müsse man nun doch hinzusetzen: Kakanien war bei all dem doch auch so dumm, dass es die Chance, die sein Imperium bot, nie erkannt habe, jedenfalls nicht hinreichend, jedenfalls nicht jene, die Gestaltungskraft gehabt hätten. Genau diese kulturelle Aufladung als Prinzip untersucht Hainz an Stefan Zweig, ein Prinzip, das Habsburg papierene Qualität verlieh: als Potential und Problem. Auf Hainz’ Referat folgen die Ausführungen von Andrei Corbea-Hoişie, der sich unter dem Titel „Das Ende eines großen Reiches“ der Nachkriegsperspektive des ehemals k.k. Univ.-Professors Eugen Ehrlich widmet, des allgemein bekannten Begründers der Rechtssoziologie, der, so der Autor, im Herbst 1919 als in Österreich plötzlich arbeitslos gewordener Ordinarius für Römisches Recht an der Franz-Josephs-Universität in Czernowitz überlegen musste, ob er in der neuen staatlichen Konstellation Europas noch einen Platz für sich und sein Wissen finden konnte. Nach einem erfolglosen Versuch, sich in der Schweiz neu zu habilitieren, entschied sich Ehrlich, nach Czernowitz zurückzukehren, um seinen alten Lehrstuhl an der neu gegründeten rumänischen Ferdinands-Universität wieder in Besitz zu nehmen, woran er indes scheitern sollte. In dem Jahr aber, das er in Bukarest verbrachte, um auf eine endgültige Entscheidung zu seinen Gunsten zu warten, verfasste er eine Denkschrift Sfîrşitul unei mari împărăţii („Das Ende eines großen Reiches“), in welcher der als habsburgtreu bekannte Rechtssoziologe sich bemühte, die Ursachen der österreichischen Katastrophe im Ersten Weltkrieg zu eruieren. Ehrlichs diesmal gegenüber der habsburgischen Politik sehr kritische Haltung analysiert Corbea-Hoişies Aufsatz darauf hin, ob es sich nur um ein Anpassungsmanöver an den Bukarester Kontext gehandelt habe oder um mehr und Anderes. Sodann begibt sich Andy Jelčić unter dem Titel Die kroatische Kakanien-Utopie auf die Suche nach Spuren der österreichisch-ungarischen Monarchie in der heutigen Hauptstadt des unabhängigen EUMitgliedslandes Kroatien. Als Zagreb, dank der kollaborationistisch ausgerichteten Pavelić-Regierung einerseits und dem Vormarsch der Partisanen andererseits, ziemlich unbeschädigt aus dem Zweiten Weltkrieg auftauchte und die frühen Jahre des Sozialismus erblickte, die wirklich die Bezeichnung kommunistisch, heute pauschal angewandt auf die ganze Periode bis 1990, verdienen, habe sich, so Jelčić, bald gezeigt, dass sämtliche neue Ikonographie, Umgangsformen und soziale Umwälzungen gegen die auch noch im alten Vorkriegsjugoslawien gegenwärtige kakanische Lebensweise und Ansichten keine Chance hatten: Zwar habe Kakanien, in Stein gehauen und eingeritzt, in Metall gegossen und in die Köpfe der alteingesessenen Einwohner eingeprägt, weitergelebt, und mehr als das: Die schrecklichen Opfer des Ersten Weltkrieges, die Hungerjahre und die Niederlage, bei der Kroaten bis ganz kurz vor dem Ende noch an der Seite der Verlierer ausharrten, verblassten trotz der mahnenden Erinnerung des Zweiten Weltkrieges, und vor allem in Zagreb, aber auch in anderen Städten wie Varaždin oder Osijek, sei das Idealbild einer Zeit und Gesellschaft erhalten geblieben, das nur zum Teil wirklich existiert hatte und in seinen wesentlichen Zügen der Literatur angehörte. An zahlreichen Beispielen führt Jelčić vor, wie diese Utopie in Zagreb durch Jahrzehnte praktiziert wurde und wie sie sozialistische Glaubenssätze und Umgangsformen von sich fernhielt, bevor im heutigen unabhängigen Kroatien mit dem neoliberalen Kapitalismus auch die Welle der Globalisierung, der amerikanischen Denkweise und des neuen Barbarentums gekommen sei. Trotz den immer noch erhaltenen schwachen Kakanienresten bei der nun ältesten Generation sei ganz klar: Kakanien in Kroatien stirbt genau hundert Jahre nach seinem Untergang. Diesem Fazit Jelčićs stellt Walter Fanta in seinem Beitrag Arnautovic spricht mit Musil über Sport, Kunst und Moral das Scheitern der Konstruktion nationaler Identität mit Hilfe des Fußballs anstelle von Literatur in zwei anderen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie an die Seite: Im ‚deutschen‘ Staat Österreich sei es dem Regime 1933 genauso wie in der kommunistischen Volksrepublik Ungarn 1953 misslungen, den Sport für ein haltbares ‚Wir‘ zu instrumentalisieren. Dazu stellt Fanta unter anderem folgende Thesen zur Diskussion: 1. Der sportliche Wettkampf nehme eine Stellvertreter-Funktion ein; 2. in der Großen Erzählung für die Konstruktion von Nation sei der verbleibende Held des modernen nationalen Mythos, der seinen Körper noch öffentlich für das Vaterland einsetzt, der Sportler; 3. die neuen Leitmedien Zeitung, Radio und TV privilegierten die Sportreportage für den Transport der nationalen Mythen; 4. die Literatur übernehme die Funktion der Sportmythen-Dekonstruktion. Um eine vergleichbare, doch auf anderem Wege, nämlich über die Sprache, erfolgende Identitätsbildung bzw. die Bedingungen für deren Glücken oder Scheitern ging es im Rahmen der Tagung auch im Vortrag Tamara Scheers, der bedauerlicher Weise ebenfalls nicht schriftlich vorliegt: Unter dem Titel Die Babel-Identität: Die Sprachenvielfalt in der k.u.k. Armee als Merkmal der Gemeinsamkeit zeigte Scheer die entsprechende Problematik am Beispiel der größten Institution der Habsburgermonarchie auf, der k.u.k. Armee, die jährlich tausende Männer unabhängig von ihrer sozialen, religiösen, kulturellen, sprachlichen und ethnischen Herkunft in des Kaisers Rock zwängte. Es sei, so Scheer, das gemeinsam erlebte Sprachenwirrwarr, das eine gemeinsame Erfahrung und damit einen Bezugspunkt geschaffen habe, was indes keinesfalls jemals von den militärischen Autoritäten noch vom Kaiser so geplant gewesen sei. Propagiert wurden des Kaisers Rock, die Uniform, der Eid, etc. als identitätsstiftende Merkmale, die letztlich zu Loyalität gegenüber dem Staat, dem Monarchen und der Armee führen sollten, erst das Quellenstudium aus der spätesten Habsburgermonarchie biete ein ganz anderes Bild. Zwischen den Zeilen gelesen, scheine es, als ob die Sprachenvielfalt zum wichtigsten Identitätsmoment der Armee geworden sei, und dies letztlich auch für deren Mitglieder und Opponenten.

Zu Beginn der dritten und letzten Rubrik Kakanien im Detail – … heute, morgen? zeichnet Walter Denscher in einem genauen historischen Abriss den Weg Vom k. k. Schulbuchverlag zum elektronischen Schulbuch nach, von den Anfängen des Schulbuchs in Klassenstärke zur Regierungszeit Maria Theresias über den 1772 gegründeten k. k. Schulbuchverlag und die Aufhebung von dessen fast hundertjährigem Monopol mit dem Reichsvolksschulgesetz von 1869 zu den in elf Sprachen ausgegebenen Schulbüchern der österreichisch-ungarischen Monarchie im Jahr 1918 und der in ihren Grundzügen seit dem Schulunterrichtsgesetz von 1974 bestehenden Schulbuchapprobation mit deren sukzessive an neue pädagogische wie didaktische Erkenntnisse und Erfordernisse angepasstem Kriterienkatalog, der auch für die elektronische Version des Schulbuchs Geltung besitzt. Keine schriftliche Fassung liegt leider vom Vortrag der Klagenfurter Literaturdidaktikerin Hajnalka Nagy vor, die den im Titel Verflechtung und Palimpsest. Spielarten eines gemeinsamen mitteleuropäischen Gedächtnisses nach Kakanien und ihre didaktische Relevanz genannten Denkfiguren einen besonderen Erkenntnisgewinn gerade im schulischen Kontext abzuringen versuchte, insofern sie nicht nur historische, soziale und kulturelle Prozesse im Zeichen der Transkulturalität neu zu modellieren und im Sinne einer reflektierten Erinnerungsarbeit die Kontinuitäten, Gemeinsamkeiten literarischer und kultureller Traditionen, aber auch ihre Bruchlinien zu erkennen erlaubten, sondern auch über Delegitimierungsprozesse u. a. via territoriale Transformationen der Region nachzudenken anregten, die eindeutige sprachliche, kulturelle, nationale oder ethnische Identifikationen immer schon obsolet gemacht hätten. Beschlossen wird der vorliegende Band mit Edit Királys Aufsatz Kakanien im Koffer, in welchem sie am Beispiel der Reiseessays von Christoph Ransmayr, Martin Pollack sowie Karl-Markus Gauß der Frage nachgeht, wie Kakanien als „reisender Gedanke“ sein räumliches Profil verändert habe, und zeigt, dass es in seinen neuerlichen Aktualisierungen statt „im Mittelpunkt Europas“ charakteristischerweise an dessen unterschiedlichsten Rändern aufzufinden sei, nicht mehr als Ort, „wo die alten Weltachsen sich schneiden“ (wie Musil schrieb), sondern als Einschluss oder Einsprengsel, kurz: wie also der Transport den Topos selbst verändere und ihn so für politische und literarische Anliegen neu entdecken lasse.

In ihrer Gesamtheit zeigen die so heterogenen wie vielschichtigen Beiträge des vorliegenden Bandes, so bleibt zu hoffen, wie die „kakanischen“ Konstellationen für das Konzept der transkulturellen Erinnerung und für eine Neudefinition literarischer, politischer und kultureller Bildung fruchtbar gemacht werden können.

***

Neben den Institutionen, die die Drucklegung finanziell ermöglicht haben: der Forschungsrat der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (AAU), das Land Niederösterreich, das Institut für Österreichkunde, die Fakultät für Kulturwissenschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und das Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv, gilt der persönliche Dank des Herausgebers insbesondere Frau Marlies Ulbing, ohne deren professionelle Mitarbeit und engagierte Unterstützung dieser Band – wie auch die bisherigen 30 Bände der Schriftenreihe – nicht hätte zustande kommen können, sowie Frau Birgit Dörfl, deren unermüdlicher Einsatz für die jährlichen St. Pöltner Literaturtagungen, auf denen die Bücher der Reihe zum größten Teil basieren, nicht genug geschätzt werden kann.

Anmerkung

1 Bei insgesamt 16 Mitgliedern der bis Herbst 2019 amtierenden österreichischen Bundesregierung beginnen die Familiennamen von 5 mit K, rechnet man bei einem Doppelnamen den zweiten dazu, sind’s 6; von den 14 Kanzlern der Zweiten Republik hatten 5 einen Nachnamen mit K; von den 9 Bundespräsidenten fingen die Namen von 3 mit K an. (Demgegenüber ist k nur der 19.-häufigste Buchstabe des Deutschen überhaupt, allerdings der zweithäufigste, was Anfangsbuchstaben in Lexika betrifft; vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Buchstabenh%C3%A4ufigkeit#cite_note-vogelgesang_2003-7; Stand: 10.4.2020.)

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ZELLER, ROSMARIE (2003): Systeme des Glücks und Gleichgewichts oder wie Gott Kakanien den Kredit entzog. In: Béhar, Pierre (Hrsg.): Glück und Unglück in der österreichischen Literatur und Kultur. Bern u. a.: Peter Lang, 167–177.

Literarische Beiträge

Von Keuschlern und Kaisern

Bettina Balàka

Ihre Kaiserliche Hoheit trat im Jahr 1982 in mein Leben. Eine große mediale Aufregung fegte durch das Land, gebannt saßen die Familien vor Radios, Fernsehern und Zeitungen: Die letzte österreichische Kaiserin durfte endlich wieder in Österreich einreisen! Vorbei an salutierenden Zöllnern hatte sie die österreichische Grenze bei Feldkirch überschritten. Ich, sechzehnjährig, war völlig parbleu. Zunächst einmal war ich nach meinem damaligen Bildungsstand (der nicht unbedingt meiner Geschichtslehrerin, sondern möglicherweise geistiger Abwesenheit meinerseits anzulasten war) der Auffassung gewesen, bei der letzten österreichischen Kaiserin hätte es sich um Sisi gehandelt, welche zweifelsfrei am Genfer See mithilfe einer Feile ermordet worden war. Unter Akzeptanz des Umstandes, dass es noch eine weitere, allerletzte und überdies noch lebende Kaiserin gab, stellte sich mir die Frage, weshalb um Himmels willen eine Österreicherin in Österreich nicht einreisen hatte dürfen.

Eine Schulkollegin, die in streng katholischen Zirkeln verkehrte, klärte mich über die dort vertretenen Ansichten auf: Zita, die Gattin des letzten Kaisers Karl I., habe nicht einreisen dürfen, da sie sich geweigert habe, auf ihre Thronfolgerechte zu verzichten. Nach dem Prinzip des „Gottesgnadentums“ jedoch werde die Thronfolge von Gott selbst bestimmt, und demnach habe Zita gar nicht verzichten können. Die Kaiserin war also legitimationstechnisch eine Art Papst.

Nach über sechzigjährigem Beharren auf der Verzichtserklärung hatte schließlich der sozialistische Bundeskanzler Kreisky pragmatisch gemeint, die alte Dame werde ja nun wohl keinen Staatsstreich mehr anzetteln, und plötzlich fanden gefinkelte Juristen heraus, dass Zita auf Thronfolgerechte gar nicht verzichten musste, da diese ohnehin nie bestanden hätten. Und so durfte die Neunzigjährige in die Republik Österreich einreisen. Anhand dieser Person, deren Lebensspanne von der Monarchie bis in die Zweite Republik reichte, wurde mir schlagartig klar, dass Vergangenheit und Gegenwart keineswegs so unendlich weit auseinanderlagen, wie ich bis dahin gedacht hatte.

Es gibt ein Foto meines Urgroßvaters väterlicherseits, das ihn in Uniform zur Zeit des Ersten Weltkriegs zeigt. Er war ein einfacher Soldat des Kaisers, ein Lungauer „Keuschler“, also der Besitzer einer Keusche, eines bescheidenen, einstöckigen kleinen Hauses. Er überlebte den Krieg, um dreizehn Jahre später infolge eines akuten Magendurchbruchs vom Fahrrad zu stürzen und eingeklemmt zwischen zwei Zaunlatten innerlich zu verbluten. Zu diesem Zeitpunkt war sein Sohn, mein Großvater, bereits in den nächsten Weltkrieg eingerückt. Auch von ihm gibt es Fotos in Uniform, diesmal jene der deutschen Wehrmacht.

Von den Frauen der Familie weiß man, dass sie in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mit schwerer körperlicher Arbeit (so gibt es etwa eindrucksvolle Schilderungen vom mühsamen Auskochen der Wäsche in riesigen Töpfen) und der Bekämpfung des Hungers befasst waren: Wenn es gar nichts anderes mehr zu beißen gab, machten sie sich auf ins Zederhauser Moos, um Frösche zu fangen. Ich habe mich manchmal gefragt, ob und wie sich dieses Jahrhundert der Kriege, der Zwischenund Nachkriegszeiten auf uns Nachgeborene ausgewirkt hat, und ein offensichtlicher Bereich ist der des Essens. Auch wir in den sechziger Jahren Geborene haben als Kinder noch gelernt: Ja nichts wegwerfen, immer alles aufessen, auch Verbranntes, auch und gerade das Fett am Fleisch, und Verdorbenes konnte man immer noch kaschieren, etwa ranziges Obers in einem Omelett. Als vor einigen Jahren ein zweijähriger Bub am Wiener AKH starb, nachdem seine Großmutter die Schimmeldecke vom Apfelmus einfach abgekratzt und ihn mit dem darunterliegenden Mus gefüttert hatte, dachte ich: Ein spätes Kriegsopfer ist dieses Kind.

Auch das Aufbewahren von Gegenständen ist eine solche tradierte Pflicht und führt zu vollgestopften Wohnungen oder gar dem Messie-Syndrom. Nichts durfte weggeworfen werden, kein altes Paar Schuhe und kein Gummiringerl, man wusste nie, wann man es noch brauchen würde. „Wenn wieder einmal ein Krieg kommt, werden wir froh sein, es zu haben“, pflegte meine Großtante zu sagen. Sie besaß eine sorgfältig gehütete Sammlung von Zwirn- und Nähseidenresten, in der auch kürzeste Fadenstücke aufbewahrt wurden.

Meine Eltern sind beide während des Zweiten Weltkriegs geboren. Meine Mutter war fünf Jahre alt, als meine Großmutter sie mit ihren Geschwistern und den nötigsten Habseligkeiten auf ein Leiterwagerl packte, um vor den einmarschierenden Russen zu fliehen. Zeit ihres Lebens konnte meine Mutter keine Reise antreten, ohne in eine Art Panik zu verfallen und uns Kindern dieses Fluchtgefühl weiterzugeben: Werden wir jemals zurückkehren? Werden wir nicht gerade das Entscheidendste, Wichtigste vergessen haben? In welche Ungewissheit stürzen wir?

Im Café Residenz gegenüber dem Eingang zu den Schauräumen im Schloss Schönbrunn. Touristen aus aller Welt laben sich hier an Sachertorte und Kaiserschmarrn, Apfelstrudel und Guglhupf. Die Monarchie hat in diesem Kontext etwas Romantisches und Glamouröses, etwas Kultiviertes und Nostalgisches, vielleicht auch etwas Pickiges an sich. An der Wand hängt ein Bild mit zwei Porträts: Kaiser Franz Joseph und der deutsche Kaiser Wilhelm II. Darunter steht: „In Treue vereint“.

Es handelt sich bei dieser Darstellung um ein Mittel der Kriegspropaganda, tausendfach reproduziert und in viele Haushalte verteilt, Kriegsmerchandising sozusagen. Auch in meinem Elternhaus gibt es ein mit demselben Bild verziertes kleines Deko-Kännchen, von dem in meiner Kindheit niemand mehr genau sagen konnte, was es bedeutete oder wie es in die Familie gekommen war. So wie wahrscheinlich kaum einer der Touristen an grauenvolle Kriegshetzerei denkt, wenn er unter den Augen der beiden Kaiser seinen Alt-Wiener Suppentopf löffelt.

Es gibt dennoch etwas, das mir an der k.u.k. Vergangenheit seit jeher gefiel: die Vorstellung, dass wir Österreicher „viele Völker sind“. Vielleicht lag es an meiner Geschichtslehrerin (der ich in dieser Stunde zuhörte), die die Monarchie als eine Art Prä-EU deutete und es nur für folgerichtig hielt, dass Otto Habsburg Abgeordneter im Europaparlament war. 1979 initiierte er eine Resolution, die durch einen leeren Stuhl im Europäischen Parlament auf die Völker hinter dem Eisernen Vorhang aufmerksam machte – und nahm dadurch die spätere Osterweiterung vorweg.

Vielleicht aber lag es auch an Otto Friedländers Buch „Letzter Glanz der Märchenstadt – Wien um 1900“, das mir das alte Wien als eine Weltstadt beschrieb, in deren Straßen eine bunte Vielfalt an Menschen zu sehen war: türkische Hausierer mit weichen Opanken an den Füßen und dem Fez auf dem Kopf, huzulische Hirten in gesticktem, weißem Pelz, polnische Juden mit langem Bart und in mit Zobel verbrämten Seidenkaftanen, armenische Mechitaristen, hannakische Ammen und ungarische Garden mit Pantherfellen und Reiherfedern. Wie absurd sind doch Ortstaferlstürmereien in einem Land, dessen Monarch einst seine Proklamationen mit „An Meine Getreuen Völker“ einleitete und in elf verschiedenen Sprachen veröffentlichen ließ.

In Heimito von Doderers Roman „Grenzwald“ wird eine Gruppe von österreichischen Offizieren im Laufe des Ersten Weltkriegs aufgefordert, sich doch einer Nation zuzuordnen. Da sie deutsch, tschechisch und ungarisch sprechen, kommen sie zu dem Schluss, eben einfach „Wiener“ zu sein.

Selbstverständlich war die Monarchie ein Herrschaftsgefüge, das seine Ansprüche zur Not auch mit Waffengewalt durchsetzte. Die Loyalität gegenüber dem Kaiser war unterschiedlich verteilt: Bei den galizischen Juden war sie hoch, bei den Tschechen tendierte sie gegen null. Und manchmal erlebt man auch viele Jahrzehnte nach dem Untergang des Habsburgerreiches so seine Überraschungen. 2007 durfte ich mit einer Delegation zum Zwecke des Kulturaustausches nach Sarajevo fahren. Eines Abends kam ich mit einem bosnischen Schriftstellerkollegen ins Gespräch und sagte irgendetwas Negatives über die habsburgische Okkupationspolitik in Bosnien-Herzegowina. Zu meiner Überraschung geriet er völlig in Rage und erklärte mir, ich hätte keine Ahnung von Geschichte: Die Habsburger seien mit Abstand das Beste gewesen, was diesem Land je passiert sei! Sie hätten Schulen, Spitäler, Theater gebaut, ein funktionierendes Eisenbahnnetz installiert und Sarajevo eine Stadtkanalisation geschenkt.

Ich versuchte, etwas einzuwenden, brachte die blutige Niederschlagung der Aufstände nach dem Berliner Kongress vor, der Österreich-Ungarn die Verwaltung der Region übertragen hatte, die Annexionskrise 1908 und nicht zuletzt den Umstand, dass der Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand wohl nicht wegen extremer Beliebtheit der Habsburger in Sarajevo ermordet worden war – nun, wir hatten wohl beide Recht, so ist das nun mal mit der Geschichte.

Am Vormittag hatten wir jene Stelle nächst des Miljacka-Flusses besichtigt, wo der bosnische Serbe Gavrilo Princip mit seinen Schüssen den Anstoß zum Ersten Weltkrieg gegeben hatte. Unter den Kommunisten hatte er als Held gegolten, seine Fußspuren waren in den Gehsteig eingelassen gewesen, sodass man genau nachvollziehen konnte, wo er gestanden hatte, als er den Thronfolger traf. Nunmehr fanden wir die triumphalen Fußspuren entfernt: Im Bosnienkrieg galt Princip bosnischen Muslimen und Kroaten als serbischer Held, weshalb man ihm keine Bewunderung mehr zollen mochte. 2004 wurde an der Attentatsstelle eine Plakette angebracht, die nur mehr die nüchternen Fakten festhält. Auch die Geschichte hat eine Geschichte.

Wenn Österreicher die Grenze zu einem der ehemaligen Kronländer der Monarchie überqueren, kommt es vor, dass sie mit wehmütig-ironischer Geste sagen: „All das hat einmal zu uns gehört!“ In der Europäischen Union können wir wieder zusammengehören, diesmal auf freiwilliger Basis.

Aus: Bettina Balàka (2018): Kaiser, Krieger, Heldinnen. Exkursionen in die Gegenwart der Vergangenheit. Innsbruck: Haymon, 115–121. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlags.

Mütter

(Auszug)

Pavol Rankov

Ich war Alexejs Mutter und die Last der Betreuung hatte ich zu tragen. So war es von der Natur vorbestimmt. Ich versuchte, mich während des Tagesdienstes ab und zu ein wenig zu verkriechen, um die Augen zu schließen und etwas zu schlafen, doch es gelang mir nur ganz selten. Als ich mich einmal hinter der Baracke kurz ins Gras duckte, kam gleich die Gefangene angerannt, die mit mir zusammenarbeitete, und rief, die Wachen würden schon nach mir suchen, weil Alexej wieder weine. Auch nachts musste ich auf der Hut sein und Alexej sofort beim ersten Greinen an die Brust legen, denn ich hatte Angst vor Liedchen. Sie hatte schon mehrmals gedroht, das Kind zu erwürgen, wenn es sie noch einmal aufwecke. Ich bat sie, wieder auf ihre alte Pritsche am anderen Ende der Baracke zu ziehen, wo das Weinen sie nicht so stören würde, doch das machte sie noch wütender. Doch auch die anderen murrten. Die Hündinnen zwangen eine der Frauen, Irina beim Appell zu bitten, das Kind aus der Baracke heraus zu schaffen. Irina schrie sie daraufhin an, sie solle sich um ihren Kram kümmern. Dass die Mutter mit dem Kind im sechsten Lagpunkt sei, habe die Lagerleitung festgelegt und über einen Befehl werde nicht diskutiert.

In der darauffolgenden Nacht wachte ich von einem Schlag ins Gesicht auf. Liedchen stand über mir und rief, es sei die letzte Warnung. Alexej weinte wieder, doch ich war so müde, dass ich es nicht mitbekommen hatte. Liedchen packte mich an der Kehle und begann, mich zu würgen. Sie schrie, sie werde das Kind umbringen, wenn es sie noch einmal wecke. Dann zog sie mich hoch und stieß mich in Richtung Wiege, ich solle mich gefälligst um den Sohn kümmern. Doch ihre Wut ließ nicht nach. Sie ging in der Baracke auf und ab, trat gegen die Pritschen und versetzte allen Gefangenen, an denen sie vorbeikam, einen Hieb. Es machte sie rasend, dass einige noch immer schliefen, während sie von dem Weinen längst aufgewacht war.

Am nächsten Abend legte ich Alexej gar nicht erst in die armselige Wiege, sondern ließ ihn bei mir, damit ich ihn sofort stillen konnte. Die Sirene, die den Abendappell ankündete, klang in meinen Ohren wie eine Sterbeglocke. Natürlich wagte ich nicht, ein Nickerchen zu machen. Ich hockte auf der Pritsche und versuchte zu beten, doch in meinem Kopf wirbelten Bilder aus der Vergangenheit herum. Mal sah ich vor mir den Rücken von Alexejs Vater, als er aus dem Fenster meines Zimmers sprang, mal Mutter, wie sie auf dem Vorplatz stand und dem Wagen hinterher sah, mit dem die sowjetischen Soldaten mich wegbrachten. Aus meinem Gedächtnis stieg auch das entstellte Gesicht der toten Kaisa auf und kurz darauf der stechende Blick der Wölfin, die sich mir im nächtlichen Wald in den Weg gestellt hatte.

Als Alexej sich zu rühren anfing, nahm ich ihn sofort hoch und legte ihn an. Er trank, machte Bäuerchen und schlief ein. Ich hätte mindestens eine Stunde Ruhe gehabt, um mich selbst etwas aufs Ohr zu legen, doch ich hielt meine Augen mit Macht offen.

Dennoch schlief ich irgendwann ein. Alexejs Weinen weckte mich. Im Halbschlaf hörte ich in der dunklen Baracke jemand umher poltern. Als der Mund des Kleinen meine Brustwarze umschloss und das Weinen verstummte, hörte ich noch, wie eine der Liegen knarrte. Glücklicherweise war es nicht Liedchens. Erst als ich mich aufrichtete, um den Kleinen zum Aufstoßen an meine Schulter zu lehnen, sah ich, dass direkt neben meiner Pritsche jemand am Boden lag. Es war Liedchen. In ihrer grenzenlosen Bösartigkeit hatte sie offenbar beschlossen, neben uns zu schlafen, damit ihr nicht das leiseste Wimmern Alexejs entging. Ich bemühte mich, sie nicht anzustoßen, schließlich hatte sie wegen des nächtlichen Gewecktwerdens diese irrsinnige Position bezogen.

Ich war mir sicher, dass Liedchen meinen Sohn in jener Nacht umbringen wollte. Ich saß auf der Pritsche und grübelte fieberhaft, wie ich ihn schützen könnte. Am Ende kam ich zu dem Schluss, dass ich zu Irina gehen und ihr alles erzählen musste. Sie war die einzige, die mir helfen konnte. Doch gleichzeitig war mir auch klar, dass sie nicht helfen würde. Alexej war eine Last, die sie loswerden wollte, und Liedchen bedeutete eine Lösung dieses Problems. Alle um uns herum waren gegen uns. Gegen Morgen flutete mattes Licht die Baracke. Liedchen lag noch immer direkt neben mir auf dem Bauch, ihr Gesicht hatte sie in dem braunen Wattemantel vergraben, den sie nicht einmal bei größter Hitze ablegte. Irgendwann ertönte die Sirene, der Schlüssel rasselte im Schloss und die Wachhabende kam in die Baracke gelaufen.

„Los geht’s! Los geht’s!“, schrie sie wie jeden Morgen. Den Frauen, die noch nicht aufgestanden waren, hieb sie mit dem Axtstiel auf die Beine. Als sie bei Liedchen ankam, zögerte sie einen Moment. Offenbar schwankte sie, ob sie die Wut und möglicherweise auch einen Angriff dieser starken und unberechenbaren Gefangenen riskieren sollte. Sie stieß vorsichtig mit dem Stiefel gegen ihre Wade, doch da Liedchen sich nicht rührte, versetzte sie ihr einen ordentlichen Fußtritt. Als dieser auch nicht zu der erhofften Reaktion führte, bückte sich die

Wachhabende und griff nach Liedchens Hand. Sie ließ sie sofort wieder fahren. Fragend sah sie mich an:

„Was ist hier passiert?“

Ich zuckte nur die Schultern.

Die Wachhabende rannte aus der Baracke. Jetzt beugten auch wir uns zu Liedchen hinunter. Ihre Hände waren kalt. Als eine der Frauen den Mantel beiseiteschob sah ich, dass sie den Kopf unnatürlich zur Seite gebogen hatte. Ich dachte an Kaisa. Um Liedchen herum war nicht ein Tropfen Blut.

„Warst du in der Armee?“, fragte mich Leutnant Irina.

„Nein“, antwortete ich.

Wir standen vor dem angetretenen Lagpunkt. Wenige Meter neben uns lag der leblose Körper Liedchens. Irina verfuhr wie ein paar Monate zuvor. Anstelle des Frühstücks sollte die Mörderin aufspürt werden, nur dass dieses Mal ich verdächtigt wurde. Irina fragte mich, ob ich nicht gestehen wolle. Ich schüttelte den Kopf. Irina begann vor den angetretenen Brigaden auf und ab zu gehen. Sie schlenderte von der ersten Reihe zur vierten und wieder zurück. Der lange Pferdeschwanz hüpfte grimmig über ihren Rücken, während sie erklärte, dass wohl alle wüssten, wie oft Liedchen mit dem Tod meines Kindes gedroht hatte. Nun sei ich ihr also zuvorgekommen und hätte ihr das Genick gebrochen. Da hob Anna die Hand. Irina bemerkte es nicht, doch eine Wache machte sie darauf aufmerksam. Irina rief Anna nach vorn und forderte sie auf, zu sprechen. Anna erklärte, dass sie die Pritsche neben mir habe und in der Nacht aufgewacht sei, als Liedchen auf dem Boden aufschlug. Als sie die Augen öffnete habe sie eine Frau zwischen den Pritschen davongehen sehen.

„Sie?“ Irina zeigte auf mich.

„Nein, ich bin mir sicher“, entgegnete Anna. „Die Person verschwand irgendwo in der Mitte der Baracke in der Dunkelheit.“