Helmut Kuntz

Imaginationen –
Heilsame Bilder als Methode
und therapeutische Kunst

Klett-Cotta

Impressum

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2013 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

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Cover: Hemm & Mader, Stuttgart

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89076-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10391-5

Das E-Book basiert auf der 1. Auflage 2009 der Printausgabe.

Zu diesem E-Book können Sie MP3-Audio-Dateien auf der Homepage www.klett-cotta.de beim Eintrag der Printausgabe herunterladen. Der dafür benötigte Downloadcode lautet: ZZ3FHJ2K

Inhalt

Vorwort: »Wenn das Wörtchen ›wenn‹ nicht wär, ...«
oder: Ein versteckter Untertitel

1. Der Ursprung von Imaginationen im menschlichen
Denken und Handeln

2. Imagination als Methode, mit anderen Augen zu sehen

2.1 Wer profitiert von Imagination als Methode?

3. Imagination als Mittel zum Zweck wirksamer
Psychotherapie

3.1 Vorstellungskraft ist Zauberkraft, aber Imagination
ist keine Magie – Wie Imaginationen wirken

Ausflug (1): Zaubern im Gehirn – Der Idealfall

Ausflug (2): Zaubern mit Spiegelzellen oder: Über die Sprache zur Vorstellung, über die Vorstellung zum Handeln

Ausflug (3): Vom sanften Heilen der Seele
oder: »Prinzip Menschlichkeit«

3.2 Zurück: Welche Voraussetzungen brauchen Sie als therapeutisch tätiger Mensch, um mit Imaginationen zu arbeiten?

3.3 Der Einsatzzweck therapeutisch wirksamen Imaginierens oder: Für welche Klienten und welche Symptombilder sind Imaginationen geeignet?

3.4 Die Wirkung der Imagination in der therapeutischen Beziehung

3.5 Übertragung und Gegenübertragung oder: Verstehen und Fühlen macht einen Unterschied

Negative Übertragung und Imagination

Positive Übertragung und Imagination

4. Imagination als therapeutisches Kunsthandwerk

4.1 Von der Theorie zur Praxis

4.2 Am Anfang steht die Selbsterfahrung

4.3 Von Vorbildern, Copyrights und kreativen Abwandlungen

4.4 Von der kreativen Improvisation zur Eigenschöpfung

5. Das Setting für die Arbeit mit Imaginationen

5.1 Imaginieren im Sitzen

5.2 Imaginieren im Liegen

5.3 Ihre Stimme im Einsatz

5.4 Vom Halten mit dem Blick

6. Imaginationen für Neueinsteiger und Fortgeschrittene

6.1 Der leibliche Körper zuerst: Körperbezogene Basisimaginationen

Kohärenzerfahrung als Körperübung: »Das Begreifen des Körpers«

Chancen

»Anfreunden mit dem Körper«

Chancen und Modifikationen

Improvisation

Risiken und Nebenwirkungen

7. Ausgewählte Imaginationen für ein wirksames Standardrepertoire

7.1 Eine Imagination zur Kunst des (Über-)Lebens

Imagination: »Gepäck ablegen«

Chancen

Risiken und Nebenwirkungen

7.2 Eine Imagination zur Etablierung von Stabilität und Sicherheit

Imagination: »Der sichere Wohlfühlort mit hilfreichen Wesen«

Chancen, Risiken und Nebenwirkungen beim Arbeiten mit dem Motiv des »sicheren Wohlfühlorts«

Chancen, Risiken und Nebenwirkungen beim Aufrufen »hilfreicher Wesen«

7.3 Eine Imagination zur Nährung des Lebens: Die »Baumübung«

Version: »Wenn ich werde wie mein Baum, ...«

Chancen

Risiken und Nebenwirkungen

8. Vorhang auf: Das »innere Kind« betritt die Weltenbühne

8.1 Erste Begegnungen mit dem »inneren Kind«

8.2 Das wohlverstandene therapeutische Konzept des »inneren Kindes«

Ausflug (1): Ego-States als theoretisches Konstrukt und als lebendiger Baustein des Selbst

Ein literarischer »Fallbericht« als Beispiel

Ausflug (2): Von der Fragmentierung der Theorie als Übertragungssymptom zu therapeutischer Positionierung und Identität

8.3 Zurück: Die zweite Seite der Medaille im Konzept des »inneren Kindes«

8.4 Vermeiden neuer Verletzungen oder Traumati- sierungen bei der Arbeit mit dem »inneren Kind«

8.5 Das Konzept vom »inneren Kind« als Farce und Karikatur

8.6 »Verbitterungsstörung«, Weisheitstherapie und soziale Phantasie

8.7 Das »innere Kind« in der Imagination

Kreative Phantasie: Das Variieren von Vertrautem

Imagination: »Die Einladung zum eigenen Geburtstag«

Chancen, Risiken und Nebenwirkungen

9. Das spielerische Kombinieren verschiedener Imaginationen

9.1 Das »hilfreiche Wesen« im Einsatz oder: Ein Bündnis fürs Leben

Von Weisen, Engeln, Elfen, Schwertträgerinnen und wehrhaften Tieren oder: Nicht jeder Drache muss getötet werden

Den zweiten Schritt nicht vor dem ersten gehen

Von »gewöhnlichen« Therapeuten als »hilfreiche Wesen« oder: Ein Abstecher zurück zur Übertragung

Für kopfgesteuerte Zweifler und Skeptiker: Und es funktioniert doch!

10. Imaginative Neuschöpfungen als Originale

10.1 Die Schale der Vergebung

Chancen, Risiken und Nebenwirkungen

Imaginationsangebote für süchtige Patienten

10.2 »Flaschengeister«, Aktendeckel und sonstige Gegner

Chancen, Risiken und Nebenwirkungen

11. Ein imaginativer Höhepunkt als Neukomposition

»Die Quelle der Wandlung und Heilung«

11.1 Die Motive der Imagination

Das Motiv der Landschaft

Das Motiv des Baches

Das Motiv der Quelle

Das Motiv des Wassers

Goldene Schätze, goldene Menschen

Eine Ermutigung für die Menschlichkeit

Das Namenslied in der Imagination

Heilende Hände weiser Wesen

Helles Licht, warmes Leuchten

Das Urwissen von Ganzheit und Richtigkeit

Demut und Bescheidenheit gegenüber halb geheilten Seelen

Ein Ausflug in eine andere Welt.
Eine Übung für »goldene Hände«: Das Genusskarussell

12. Variationen zu einem Thema: Achtsamkeit und Selbstfürsorge oder: Wie die Poesie im Leben Einzug hält

Variation (1): Eine Königsübung in der Selbstkultur gegen Stress und Gedankenflut

Variation (2): »Der König stirbt« oder: Die Liebe ist eine Wahl

13. Therapeutisch imaginative Kreativität bei der Arbeit mit »harten Nüssen«

13.1 Imagination paradox für »harte Nüsse«

14. Kleine Strukturarbeiten und Inszenierungen um Lösungs- und Zaubersätze

15. Ein Geschenk zum Abschied, aber nicht zum Schluss: »Grundlos vergnügt«

Kontaktadresse des Autors

Literatur

Zusätzlich können Sie Audio-Dateien auf www.klett-cotta.de herunterladen (vgl. Impressum dieses E-Books)

Für

MARIE-LUISE,

HENRIKE

und

EVA

und

H. M.

mit

94

Hilfreiches, weil Geistreiches, vorweg:
(überparteilich, aber allparteiisch)

»Unser Leben hängt davon ab,

was wir aus dem machen,

das aus uns gemacht worden ist«

(Jean-Paul Sartre)

»Mögen hätt ich schon wollen,

aber dürfen habe ich mich nicht getraut«

(Karl Valentin)

»Wer am Ende ist, kann von vorn anfangen,

denn das Ende ist der Anfang von der anderen Seite«

(Karl Valentin)

»Es gibt nur eine Zeit, in der

es wesentlich ist aufzuwachen.

Diese Zeit ist jetzt.«

(Buddha)

»Der Kopf ist rund,

damit das Denken

die Richtung ändern kann«

(Francis Martinez Picabia)

»Da es sehr förderlich für die

Gesundheit ist,

habe ich beschlossen, glücklich zu sein.«

(Voltaire)

Die Zitate werden das Buch wie rote Fäden durchziehen und Ihnen an etlichen Stellen im Text immer wieder begegnen.

Vorwort: »Wenn das Wörtchen
›wenn‹ nicht wär, ...«
oder: Ein versteckter Untertitel

Stellen Sie sich vor, sie seien »Superman« oder »Superfrau«, besäßen überirdische Fähigkeiten, könnten folglich mit Lichtgeschwindigkeit um die Erde sausen und an jedem beliebigen Ort alle Schurken dieser Welt unmittelbar für von ihnen begangenes schreiendes Unrecht zur Verantwortung ziehen. Oder Sie könnten auf unschädliche Weise solche Quälgeister wie menschlich oder fachlich untaugliche Vorgesetzte, die kleinen Herrscher manch kassenärztlicher Vereinigung, Punktediktatoren oder kleinliche Verwaltungshengste aus dem Ihnen in wachsendem Maße das Leben erschwerenden Verkehr ziehen. Wie gefällt Ihnen diese Vorstellung?

Sie dürfen sich auch als »Robin Hood«, den Rächer aller Enterbten, imaginieren. Mit seinen Pfeilen und treuen Gefolgsleuten wären Sie in der Lage, jeden Thronräuber und »Sheriff von Nottingham« in seine Schranken zu weisen und ein wenig mehr Verteilungsgerechtigkeit bei irdischen Gütern walten zu lassen.

Wollten Sie nicht schon immer mal wie die legendäre Comic-Gestalt »Lucky Luke«, die mit dem Revolver schneller ist als ihr Schatten, als richtig männlicher »lonesome cowboy« durch so manches phantasievolle Abenteuer reiten?

Ein wenig Zaubertrank vom Druiden Miraculix, der Asterix und Obelix zu ihren übernatürlichen Kräften verhilft, wäre in manchen Situationen gleichfalls nicht zu verachten. Da wüsste die Phantasie schon etwas mit anzufangen.

Falls Sie allerdings bereits zu einer Generation von Lesern und Leserinnen gehören, denen diese berühmten Figuren der Literatur-, Comic- und Fantasygeschichte nicht mehr vertraut sind, dürfen Sie mit Ihrer Vorstellungskraft auch in jede andere Ihnen inneres Vergnügen bereitende Gestalt schlüpfen. Ihre Kinder würden sich vielleicht als durch Raum und Zeit jagender intergalaktischer Krieger oder als zaubergewaltiger »Harry Potter« phantasieren wollen.

Was auch immer sich gerade in Ihrer Phantasie abspielen mag, zwischen Ihnen als Realperson und Ihrer Vorstellungskraft besteht ein nicht zu überbrückender Zwischenraum: Realität genannt. Wer würde nicht den über Generationen weiter vermittelten Satz kennen: »Wenn das Wörtchen ›wenn‹ nicht wär, wär mein Vater Millionär.« Existierte das Wörtchen »wenn« nicht, könnte jede Realität ebenso gut eine andere sein. So aber vermögen Sie Ihre reale Welt über die bloße Verwendung Ihrer Vorstellungskraft als Zauberkraft nicht zu verändern, wohl aber Ihr inneres Erleben dieser Welt oder Ihre ganz private Konstruktion von Wirklichkeit. Auf diesem menschlichen Vermögen zur Veränderung der inneren Landschaft beruhen jegliche Nutzung unserer Phantasie sowie jede private oder professionelle Anwendung von Imaginationen als Methode oder als therapeutisch wirksames Heilverfahren.

Wenn das Wörtchen »wenn« nicht wäre, wäre mein Vater trotzdem kein Millionär geworden. Ich hätte vermutlich als Kind schon genügend Phantasie spielen lassen, um mir meinen Vater als etwas Spannenderes denn als langweiligen Millionär vorzustellen. »Dagobert Duck« als Inbegriff des geizigen, in seinen Millionen Talern badenden »Geldsacks« war nie eine meiner Lieblingsfiguren. Ich hätte mir meinen Vater viel lieber als unbezwingbaren Torhüter, erfolgeichen Musiker, umjubelten Zirkusdirektor, als genialen Meeresforscher oder als phantasievollen Autor von Kinderbüchern vorgestellt. So aber war er »nur« etwas, was ich dann zuerst auch werden wollte, bis ich dann zu meinem Glück doch etwas ganz anderes geworden bin, was meine heutige Achtung vor der Lebensgeschichte meines Vaters in keiner Weise schmälert.

Unser allseits bekannter »Wenn-Satz« hat Generationen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu Phantasien, Visionen und Wunschvorstellungen eingeladen. Davon, wie sie alle als Jedermann und Jedefrau, Sie als Privatmensch oder in einer eventuellen Rolle als professioneller Helfer oder Therapeutin sowie ich als Verfasser dieses Buches, als Familien-, Körper- und Suchttherapeut und ebenfalls als Privatperson die menschliche Fähigkeit zu bildhaftem Denken, zu Phantasie und Imagination nutzen können, um Wohlbefinden zu steigern, innere Landkarten neu zu gestalten oder beeinträchtigende geistige, seelische und körperliche Symptome zu besänftigen oder gar zu heilen, davon handelt dieses Buch.

»Ich ziehe es vor, keine Erwartungen mehr an Menschen oder an das Leben zu haben. Dann kann ich auch nicht mehr enttäuscht werden.« Selbst wenn ein derart bitteres Fazit einer Lebensspanne das bisher erlittene Ausmaß an realer Enttäuschung und Lebensverbitterung enthält, ist die gewachsene innere Einstellung immer noch veränderbar. Wer rechtzeitig freudvollere Erfahrungen im Leben machen durfte, hat gemäß seines menschlichen Geburtsrechts auf Lebensteilhabe auch die eine oder andere Erwartung an das Leben, im Größeren wie im Kleineren. Sie, der oder die Sie als interessierter Leser oder abwägende Leserin gerade dieses Buch in Händen halten, dürfen daher durchaus auch Erwartungen an seinen Inhalt haben. Was wird Sie im Innenleben von »Imaginationen« erwarten? Nun, eine bekömmliche Mischung aus viel Neuem und Ihnen vielleicht bewährt Vertrautem in verändertem Gewand. In jedem Fall kein hoch theoretisches Fachbuch in gedrechselter Wissenschaftsdiktion, sondern ein höchst praktisches Hand- und Methodenbuch in verständlicher Sprache.

Sie können das Buch auf unterschiedliche Art und Weise lesen. Entweder von außen, aus einer quasi distanzierten Beobachterposition, wie sie beim Lesen vielleicht üblich ist. Sie können aber auch direkt zu Anfang mit einer kleinen spielerischen Imagination einsteigen. Sollte sie bei Ihnen auf wenig Resonanz stoßen, weil ihr Abstraktionsgrad zu hoch ist, lassen Sie sich nicht lange irritieren. Sobald es um heilsame Imaginationen geht, wird es handfest und konkret.

Stellen Sie sich ohne weitere Hintergedanken versuchsweise vor, wie sich auf der gerade aktuellen Seite eine kleine Tür auftut, durch die Sie als Leser oder Leserin in die Buchstabenwelt des Buches hineintreten. In Ihrer Vorstellung können Sie sich beim Eintreten mühelos auf die Größe eines winzigen Däumlings schrumpfen, sodass Sie sich zwischen den Lettern, den Seiten, den Imaginationen und Inhalten des Buches tummeln können, wie es Ihnen gerade beliebt. Während Sie lesen, können Sie so gleichzeitig mitten im Wortgeschehen drin sein. Sie können in Ihrer Vorstellung wie im realen Vollzug des Lesens zwischen den Ebenen hin und her wechseln. Im einen Moment können Sie distanziert lesend beobachten, im nächsten Augenblick wechseln Sie in die Buchstabenwelt hinein, befinden sich wieder mittendrin. Während Sie lesend dem Text einer Imagination folgen, imaginieren Sie den Tagtraum gleichzeitig parallel mit und bewegen sich in einer völlig eigenen Vorstellungswelt. Treten Sie wieder hinaus, sehen Sie sich an einer nächsten Stelle wieder unmittelbar in die Seiten des Buches hineingezogen und zur Eigenaktivität animiert.

Dieses kleine Gedankenspiel ist zum einen ein kleiner Vorgriff auf die Wirkungsprinzipien und die Ebenenwechsel, auf denen das therapeutische Arbeiten mit imaginativen Techniken beruht. Zum anderen weise ich damit direkt zu Anfang darauf hin, dass ich Sie als Leser und Leserin direkt ansprechen und Sie als Mitakteure in das inhaltliche Geschehen des Buches mit einbeziehen werde. Insofern werde ich das Buch auch aus zwei parallel laufenden Perspektiven schreiben: aus einer Außenperspektive mit Blickrichtung auf Klienten oder Patientinnen, mit denen wir arbeiten, und aus einer Innenperspektive mit Blickrichtung auf uns selbst als Realpersonen wie professionelle Helfer und Therapeutinnen. Hüten wir uns tunlichst davor, uns selbst als Menschen aus Fleisch und Blut zu vergessen, damit uns nicht widerfährt, was gelegentlich Klienten oder Patientinnen traurig äußern: »Ich komme in meinem eigenen Leben nicht mehr vor.« Um dem entschieden vorzubeugen, sind alle beschriebenen Methoden ausdrücklich auch zur eigenen Anwendung gedacht. Dies gilt insbesondere für die Ihnen ans Herz gelegten Übungen im letzten Drittel des Buches, bei denen Sie sich als Leser oder Leserin vielleicht fragen könnten, ob ich mit deren Vorstellung nicht aus der inneren Logik des imaginativen Arbeitens heraustrete? Ich gedenke nämlich ein paar Mischmethoden anzubieten, die das rein imaginative Arbeiten weiten und um berührende und inszenierende Elemente ergänzen. In der Logik des Vorgehens fokussiere ich damit verstärkt auf den Leib und Seele berührenden Handlungsteil der imaginativen Heilverfahren.

Das Buch versteht sich als eine einzige Ermunterung wie Ermutigung zum eigenen Arbeiten mit dem wertvollen Schatz des imaginativen Methodenrepertoires. Einige theoretische Kapitel zum Ursprung von Imaginationen im menschlichen Denken und Handeln, zur Wirkungsweise und zum Einsatzzweck imaginativer Techniken bilden den Einstieg. Ich gehe ein auf den bedeutsamen Unterschied zwischen Imagination als bloßer Methode und der Verfeinerung der Methode zum therapeutischen Kunsthandwerk. Die verantwortliche Klärung der Voraussetzungen zum kreativen Arbeiten mit Imaginationen sowie Hinweise zu den verschiedenen Settings in der Praxis runden den theoretischen Vorspann ab. Während dreier Ausflüge innerhalb dieses Vorspanns vertiefe ich das Verständnis für die spezifischen Wirkungsprinzipien imaginativen Arbeitens. Dabei beziehe ich auf verständliche Art und Weise auch den Diskussionsstand um die neueren Ergebnisse der Neurowissenschaften ein.

Nach der grundlegenden Theorie widme ich den weitaus größten Teil des Buches dem praktischen Umgang mit imaginativen Arbeitstechniken. Ausgehend vom Primat des Leiblichen stelle ich zuerst die Chancen, Risiken und Nebenwirkungen zweier körperbezogener Basisimaginationen vor. Anschließend mache ich einige Vorschläge für ein hilfreiches Standardrepertoire ausgesucht wirksamer Imaginationen, die ich als persönlichen Fundus nie wieder missen möchte. Wer selbst bereits Eigenerfahrungen mit Imaginationen gesammelt hat, wird in diesen Kapiteln Bewährtes und Vertrautes wiederfinden. Langeweile und Wiederholungszwang werden sich dennoch nicht einzustellen brauchen, weil ich das Bewährte in neuen Gewändern zu präsentieren gedenke.

Im Praxisteil werde ich anschließend »Innere Kinder« die Bühne betreten und ihnen Gerechtigkeit angedeihen lassen und ihr »Elternkonzept«, die »Ego-States«-Therapie, als lebendigen Baustein des Selbst präsentieren. Um ein Wissen über das Wirken von Ego-States kommen wir in unserer Praxis nicht herum.

Das spielerische Kombinieren verschiedener Imaginationen eröffnet die Kreativabteilung, in der wir gemeinsam »hilfreiche Wesen« auf ihren Einsatz begleiten. Zur Kreativabteilung zählen weiterhin etliche imaginative Neuschöpfungen als Originale. Es handelt sich sowohl um längere geführte Tagtraumreisen wie um einige kleinere Improvisationen und imaginative Nebenprodukte. In einem »imaginativen Höhepunkt« gehe ich ausführlich auf die verwendeten Motive meiner neu komponierten Imagination »Die Quelle der Wandlung und Heilung« ein und komplettiere sie mit zusätzlichen Übungsvorschlägen, welche unserem sträflichst vernachlässigten Potenzial als »goldene Menschen« gerecht werden.

In ebenso nachdenklichen wie methodisch konkreten Variationen zum Thema »Achtsamkeit und Selbstfürsorge« lasse ich die Poesie im privaten wie professionellen Leben Einzug halten und »verordne« ein paar »Rezepte« zur »Psychohygiene« und »Selbstkultur« zur geflissentlichen Anwendung.

»Imagination paradox« sowie Vorschläge für kleinere »Strukturarbeiten und Inszenierungen um Lösungs- und Zaubersätze« vervollkommnen das höchst wirksame Methodenrepertoire.

Entlassen werde ich Sie aus dem Buch mit einem kleinen Geschenk, das mir selbst einmal überreicht wurde und das ich mit Freuden an Sie als Leser und Leserin weiterreiche.

Im laufenden Text des Buches werden Sie immer wieder Vor-, Quer- und Rückverweise finden, die aber allesamt eingelöst werden. Außerdem folgt das Buch in Analogie zu manch geführter Imagination einem kompositorischen Prinzip, wenn ich über manche Ausflüge, Exkursionen und Variationen bestimmte Themen vertiefe, damit sie auch vom denkenden Kopf ins erlebende Gefühl einwandern können.

Die mit dem Buch intendierte Ermunterung und Ermutigung zum Arbeiten mit imaginativen und verwandten Verfahren ist eine (Teil-)Antwort auf die ebenso menschliche wie fachliche Frage, wie wir Menschen mit »heilsamen Bildern« hilfreich zur Seite stehen können, damit sie entweder gar nicht erst Schaden erleiden oder damit eine an Körper, Leib, Geist und Seele erfahrene Verletzung wieder zu gesunden vermag. Es ist mir dabei ein besonderes Anliegen, den Raum des Üblichen, Gewohnten oder Vertrauten etwas zu weiten. Zum einen meine ich den therapeutischen Raum, dessen Grenzen wir ganz konkret mit der Einführung und der Zur-Verfügung-Stellung weniger verbreiteter imaginativer Arbeitsmethoden verschieben können. Zum anderen meine ich unsere gewohnte Diktion, wenn wir vom Menschen, von seinem lebendigen Sein, seinem Selbst, seinen Krankheiten, seinen Verletzungen, seinen Störungen, seinen Gefühlen, seinen Sehnsüchten, seiner Seele sprechen. Es wäre schön, wir würden die reduktionistischen Beschränktheiten eines weit verbreiteten rationalen Menschen- und Weltbildes überschreiten. Ich möchte Sie zu diesem Zweck wieder zurückführen auf die Fährte des »goldenen Menschen«. Hier versteckt sich ein zweiter, auf dem Einband bisher nicht lesbarer Untertitel meines Buches. In Anlehnung an Martin Heideggers »Unterwegs zur Sprache« (1959) werden wir gemeinsam »unterwegs zum ›goldenen Menschen‹« sein. Im Eingangssatz zu seiner berühmten Aufsatzsammlung heißt es bei Heidegger: »Der Mensch spricht. Wir sprechen im Wachen und im Traum.« Obwohl Heidegger die Sprache des Traumes erwähnt, gilt sein Primat eindeutig dem gesprochenen Wort. Wir dagegen setzen beim Bild, beim Traum, bei der Imagination an, selbst wenn sich deren Inhalte über die Symbolik der Sprache vermitteln. Auf den Weg zum »goldenen Menschen« werde ich sie über die machtvolle Sprache »heilsamer Bilder« und über goldwerte Übungen geleiten. Letzten Endes dürften Sie über diesen Weg bei ihren Klienten und Patientinnen sowie bei sich selbst ankommen.

In meiner therapeutischen Arbeit mit meinen Klienten und Patientinnen gelingt es mir, mit ihnen zusammen für viele Schwierigkeiten eine ihre Lebensführung positiv beeinflussende Lösung zu finden. Einem leidigen Problem der deutschen Sprache stehe ich als Autor dagegen kopfschüttelnd und ohne wirklich zufriedenstellende Lösung gegenüber. Um die Leser und Leserinnen meines Buches in der Verwendung von männlicher und weiblicher Schreibweise gleichermaßen gerecht zu bedienen, bietet die Schriftsprache nur notdürftige Halbheiten an. Das deutsche Dilemma der Gleichberechtigung lässt sich aber nicht über Halbheiten auflösen. Weder befriedigt es mich, als Realperson und Autor der flüssigeren Lesbarkeit geschuldet, nur die kürzere männliche Schreibweise zu verwenden, noch taugt das große »I« dazu, LeserInnen, KlientInnen oder TherapeutInnen in ihrer geschlechtsspezifischen Identität anzusprechen. In diesem Buch behelfe ich mich also durch den Kompromiss, mal von »Klienten und Patientinnen« oder »professionellen Helfern und Therapeutinnen« zu schreiben, was die Sätze gelegentlich verlängert. Oder ich wechsle ab und verwende einmal die männliche, danach wieder die weibliche Form, wenn ich an menschliche Wesen denke. Dabei lasse ich allerdings keinen Zählautomaten nebenher laufen, um unter allen Umständen die Parität zu wahren.

Bei einem gewichtigen Wort werde ich auch ganz entschieden gegen die für verbindlich erklärten Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung verstoßen. In einem Buch, das von »heilsamen Bildern« und Imaginationen handelt, in welches folglich eine gute Portion Phantasietätigkeit einfließt, werde ich bei der gehäuften Verwendung des Wortes »Phantasie« auf dieser Schreibweise bestehen. »Fantasie« mit »F« ist mir denn doch zu phantasielos. Allein das Druckbild verursacht mir Übelkeit.

Um den Lesefluss nicht zu stören, arbeite ich im Text gänzlich ohne Anmerkungen. Bei der Zitierung anderer Werke verweise ich in Klammern auf die Autoren und Autorinnen sowie das Erscheinungsjahr des entsprechenden Werkes. Auf die Angabe der Seitenzahl erlaube ich mir zu verzichten. Der Redlichkeit im Umgang mit Quellen tut das in meinen Augen keinen Abbruch. Ein großer Zitierkanon im Sinne eines »Who is who« ist ohnehin nicht im Sinne dieses Buches.

Von innen kommenden Dank und Respekt bringe ich meinen Klienten und Patientinnen entgegen, die ein hohes Maß an Vertrauen und Hoffnung in die gemeinsame Arbeit setzen. Es ist immer eine leise Freude, »heilsame Bilder« aufzuspüren und deren Veränderungspotenzial bezeugen zu dürfen. Außerdem stellen mir meine Klienten, Patientinnen, Kurs-, Seminar- und Gruppenteilnehmer über die Jahre hinweg so viele interessante »hilfreiche Wesen« vor, dass ihre Vorstellungskraft immer wieder zu neuen überraschenden Bekanntschaften führt. Löst sich in anstrengenden Momenten der therapeutischen Beziehungsarbeit ein Knoten, weil »heilsame Bilder« und sonstige imaginative Interventionstechniken ihre mächtige Wirkung entfalten, ist das jedes Mal eine schöne Bestätigung für den Erfindungsreichtum der menschlichen Seele und für die Sinnhaftigkeit der eigenen Arbeit. Diese zwischenmenschlich geteilten Erfahrungen mit den Menschen, den Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Männern und Frauen, mit denen sich mein Weg als Realperson und Therapeut kreuzt, gehören zu den bereicherndsten immateriellen Gratifikationen meiner Profession. Sie helfen auf schöne Art und Weise, den Glauben an das »Prinzip Menschlichkeit« zu bewahren oder ihn in besonders dunklen Stunden neu auferstehen zu lassen.

Einen besonderen Dank spreche ich auch meiner Lektorin beim Verlag Klett-Cotta, Dr. Christine Treml, für die bereits bewährte Leichtigkeit in der Zusammenarbeit aus.

1.  Der Ursprung von Imaginationen im menschlichen Denken und Handeln

Am Anfang der Evolutionsgeschichte des Menschen stand nicht die Sprache und war nicht das Wort. Am Anfang waren das Sehen und das Handeln sowie Bilder als Abbilder des Geschauten und Erlebten. Selbst wenn die Sprache, wie wir sie gelernt haben, verstehen und gebrauchen, über eine unglaubliche Symbolisierungskraft verfügt, gehen ihre Wurzeln zurück auf gesehene und vollzogene Handlungen und Handlungsmöglichkeiten. Sprache kann sich nur dort entwickeln und ergibt nur dort einen Sinn, wo ihr »zwischenmenschliche Beziehungen das Terrain für Handlungs- und Interaktionserfahrungen bieten« (Bauer, 2006). Zu Beginn des therapeutisch zweckgerichteten Einsatzes der menschlichen Vorstellungskraft war denn auch nicht eine fertige Methode gegeben, sondern am Anfang ward eine Idee geboren und schoben sich Gedanken als imaginierte Bilder vor das geistige Auge, wie das zwischenmenschliche Terrain zu gestalten wäre.

Die Ursprünge des Einsatzes von bildhaften imaginativen Verfahren als Tagtraum-Methode oder als spätere systematisierte therapeutische Kunst liegen mitnichten in der Entwicklung und Verfeinerung des heute unter dem Namen »Katathym Imaginative Psychotherapie« bekannten tiefenpsychologisch fundierten Heilverfahrens. Die Ursprünge aller auf Imaginationen basierenden mentalen Prozesse liegen vielmehr im Menschen selbst begründet, in seiner einzigartigen Fähigkeit, sich die innere wie äußere Welt mit Bildern und Symbolen zu erklären, zu gestalten und umzuformen.

Die Fähigkeit zu Visualisierung sowie zu jedweder Form von imaginativem Gestalten tragen die Menschen überall auf der Welt in sich, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft oder Geschlecht. Alles, was wir herkömmlicherweise »Kultur« nennen, geht im Grunde auf imaginative, schöpferische Leistungen von Menschen zurück. Folglich finden wir die vielfältigsten Eindrücke und Ergebnisse von Imaginationsprozessen in unserer eigenen menschlichen Erinnerung, sowohl in der privaten wie in der kollektiven. Alle überlieferten Märchen, Sagen und Legenden sind Sammlungen von volkstümlichem Erzählgut entsprungen und in ihren uns bekannten Fassungen das schöne Ergebnis imaginativ überarbeiteter »Veredelungen« von weniger fein geschliffenen, ursprünglich nur mündlich tradierten »Rohstoffen«. Große Literatur ist in Worte gefasste große Imagination, bei der freilich die große Macht der Sprache am Werk ist. Falls das als Widerspruch oder Dichotomie erscheinen mag, erwächst das Problem unter anderem daraus, dass wir uns ein Denken, ein Träumen oder ein Bild ohne das Beiwerk der Sprache gar nicht mehr vorzustellen vermögen. Malerei ist in Motiv und Farbe übersetzte, Bildhauerei in Form, Gestalt und Materie gegossene Bildersprache, und Musik vermittelt eine über Laute und Töne sinnlich erfahrbar gemachte Universalsprache, die von innen kommend und nach innen gehend zu verbinden vermag.

Wir haben alle einen Fundus von Erinnerungen an schöne oder weniger schöne Erfahrungen mit überlieferten, abgewandelten oder frei erfundenen Erzählungen in Form von Gute-Nacht-Geschichten: Die, denen wir als Kind mit größter Spannung gelauscht haben, und die, welche wir später als Mutter oder Vater selbst erzählt haben. Während wir des Nachts schlafen, spielt sich in unseren Träumen ein imaginatives Geschehen ab, das wir nicht bewusst zu steuern vermögen. Wir können einzig versuchen, uns erhellende Träume wunschgemäß zu bestellen. Ansonsten versüßen uns die Nachtträume den Schlaf, oder sie versetzen uns als Albträume in helle Aufregung oder schlimmer noch in Angst und Schrecken.

Des Tags bedienen wir uns in den unterschiedlichsten Situationen unserer imaginativen Fähigkeiten, indem wir uns mehr unbewusst oder absichtsvoll gezielt Tagträumen hingeben. Wir gestalten uns eine eigene innere Phantasiewelt, rücken aktuelle Erlebnisse in ein anderes Licht, formen Unangenehmes um, indem wir uns freundlichere Bilder vor unser inneres Auge rufen, oder malen im Gegensatz absolut schwarz. Unsere »blühende Phantasie« ist ein stehender Ausdruck dafür, wie sehr wir mit bildhaftem Denken in unsere Wahrnehmung der Welt und in die subjektive Konstruktion von Wirklichkeit einzugreifen vermögen.

Nahezu alle Menschen, Männer wie Frauen, dürften als sexuelle Wesen ab einem bestimmten Alter über Erfahrungen mit Imaginationen in Form lebhaft vorgestellter erotischer Phantasien verfügen. Ich bitte ausdrücklich das nicht als anzügliche Bemerkung misszuverstehen. Es ist wohl nur ein imaginativer Vorstellungsbereich, der allen Menschen vertraut ist, selbst wenn sie darüber hinaus in ihrem Alltag keine bewussten Berührungspunkte mit Imaginationen als Methode oder psychotherapeutisches Kunsthandwerk aufweisen.

Weil diese spezielle Phantasietätigkeit als so vertraut vorausgesetzt werden darf, greift sogar Daniel Stern (1998), der als Entwicklungspsychologe und Säuglingsforscher internationale Anerkennung genießt und über jeden Verdacht von Anzüglichkeit erhaben sein dürfte, zu dem präg- nanten Beispiel erotischer Phantasien, um seine theoretischen Vorstellungen zu illustrieren, wie sich Menschen mit ihrer Vorstellungskraft frei zwischen den verschiedenen Speicherformaten ihrer Gedächtnisse oder ihres Selbsterlebens bewegen können. Mithilfe ihrer »blühenden Phantasie« oder mit der Macht ihrer Vorstellungen vermögen Menschen biografische Geschichte wie Geschichten in »Narrationen« umzuformen, neue innere Arrangements vorzunehmen, objektives Erleben in der Realwelt und Realzeit in imaginäres Erleben in Phantasiewelten mit virtuellen Zeiten zu transportieren, Erinnerungen oder zwischenmenschliche Erfahrungen aus verschiedenen Gedächtnisspeichern ins Erleben zu rufen, um sie im Bedarfsfall gänzlich neu zu montieren. Sämtliche, nahezu unbegrenzten Möglichkeiten der menschlichen Phantasietätigkeit zu Figuration von aktuellem Erleben und zu »Refiguration« (Stern, 1998) von Erinnertem machen wir uns beim Arbeiten mit Imaginationen zunutze.

Nach dem Motto »Rache ist süß« ist eine weitere Spielart imaginativer Tätigkeit, die wohl sehr viele Menschen auf Nachfrage eingestehen, das Produzieren genüsslicher oder bitter zürnender Rachephantasien. Wenn sich Jugendliche oder Erwachsene ungerecht behandelt oder ohnmächtig ausgeliefert fühlen, ist die Entgiftung wütender Rachegedanken über die Vorstellung von Handlungen sicher die sozialverträglichere Alternative als die gewaltsame Umsetzung der Phantasien in die Zerstörung bewirkende Tat.

Imaginative Tätigkeiten oder Bewusstseinszustände sind in unserem Alltag also durchaus verbreitet, ohne dass wir uns freilich zu jedem Zeitpunkt gewahr würden, dass wir in Bildern denken. Die Nutzung von Imaginationen in der psychosozialen oder therapeutischen Arbeit reicht allerdings weit über unsere Alltagsphantasien hinaus. Zur systematischen therapeutischen Methode erhoben wurde das imaginative Arbeiten zuerst von dem Göttinger Arzt und Psychoanalytiker Hans Carl Leuner. Sein 1954 entwickeltes tiefenpsychologisches Verfahren wurde zunächst unter dem Begriff »Katathymes Bilderleben« bekannt. Der synonyme Begriff »Symboldrama« lässt schon erahnen, dass es den imaginativen Verfahren vorzugsweise darum geht, seelische Beziehungswie Realdramen auf einer symbolischen Ebene umzugestalten und, soweit möglich, zu heilen. Hans Carl Leuner als Begründer aller heutzutage praktizierten Psychodynamisch Imaginativen Therapieformen steht meiner Meinung nach jedoch nicht am Anfang der Kette derer, die das therapeutisch nutzbare Potenzial der menschlichen Fähigkeit zur Imagination erkannt haben.

Etliche Jahrzehnte vor Begründung des Katathymen Bilderlebens als psychotherapeutisches Verfahren hob bereits Carl Gustav Jung die herausgehobene Rolle von Imaginationen für die innere Entwicklung des Menschen hervor. Wenn wir also an die Wurzeln des imaginativen Arbeitens gehen, dürfen wir erste Gedanken Jungs dazu keinesfalls unterschlagen. Ich finde allerdings in keiner der maßgeblichen Veröffentlichungen zu Imaginationen einen anerkennenden Hinweis auf Jung. Vielleicht liegt das mit an der Tatsache, dass der große Denker und Begründer der Analytischen Psychologie in manchen therapeutischen Schulen und psychoanalytischen Vereinigungen nicht besonders wohlgelitten ist. Als Querdenker mit einer großen inneren Affinität zu allen spirituellen und alchemistischen Traditionen der Menschheit ging er seine eigenen Wege, die sich von denen Sigmund Freuds, der über ganze Dekaden das psychoanalytische Denken prägte, sehr unterschieden. Da kann es im Zweifelsfall denn schon mal nach der Devise gehen: »Du sollst keine fremden Götter neben mir haben.«

Carl Gustav Jung ist untrennbar mit seiner Lehre von den »Archetypen« und dem »kollektiven Unbewussten« verbunden. Die Archetypen als Urbilder der menschlichen Seele nennt er auch »Kategorien der Imagination« (Jung, 1936). Er leiht sich diesen Begriff aus der vergleichenden Religionswissenschaft. Bewegen sich Menschen sekundärprozesshaft auf der begriffssymbolischen Ebene, ist das für ihn kein sprachlich gebundenes Geschehen. Der »symbolische Prozess ist ein Erleben im Bild und des Bildes«, also ausdrücklich das, was unsere Imaginationen kennzeichnet. Der Anfang des Prozesses ist häufig »charakterisiert durch eine Sackgasse oder sonstige unmögliche Situation«. Exakt eine derartig verfahrene Ausgangssituation lässt uns bei vielen unserer Klienten und Patientinnen mit spezifischen psychischen Symptomen überhaupt erst ein Arbeiten mit imaginativen Verfahren ins Auge fassen. Das Ziel eines imaginativen Erlebens im Bild ist »allgemein ausgedrückt Erleuchtung oder höhere Bewusstheit, womit die Ausgangssituation auf einer höheren Ebene überwunden wird. Der Prozeß kann sich, zeitlich zusammengedrängt, in einem einzigen Traum oder einem kurzen Erlebnismoment darstellen, oder aber sich über Monate oder Jahre erstrecken. Je nach der Art der Ausgangssituation, des Individuums, das im Prozeß begriffen ist, und des zu erreichenden Zieles« (Jung, 1934). Damit ist alles vorgegeben: Denn nichts anderes ist der Kern unserer imaginative Verfahren einbeziehenden Psychotherapien. Imaginationen sind symbolisches Bilderleben, das bestimmte Lebensthemen, einen ungelösten Konflikt oder ein traumatisches Erleben auf einer höheren Ebene einer Lösung oder einer veränderten inneren Figuration zuführen soll.

Stehen bei Jung zunächst die Träume der Nacht im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit, richtet sich der Blickwinkel im imaginativen Erleben heutzutage verstärkt auf die frei assoziierten oder instruktiv geleiteten Träume des Tages. Als einen methodisch produktiven Weg, »geistige Formen« hervorzubringen, betont Jung allerdings schon die »aktive Imagination«. Er versteht darunter »jene Serien von Phantasien, die absichtliche Konzentration ins Dasein« (1936) bringen. Das beabsichtigen wir mit unseren imaginativen Tagträumen. Wir konzentrieren uns mit den imaginativen Verfahren auf einen kritischen Fokus in den Gewahrseinsbereichen – den körperlich-geistig-seelischen Befindlichkeiten – unserer Klienten und Patientinnen mit dem erklärten Ziel, ihnen über den Weg des symbolischen Imaginierens heilsamer Bilder eine korrigierende Erfahrung zu ermöglichen.

Heilsame Bilder der Gegenwart lassen Vergangenes gesunden und wirken darüber in die Zukunft hinein. Die herausgehobene Bedeutung des sich im Bild und über das Bild vollziehenden heilsamen Geschehens ist als Wortbestandteil sozusagen schon im Begriff der »Imagination« enthalten. Die lateinische Wurzel »imago« bedeutet nämlich Bild, Vorstellung. Für psychoanalytisch denkende Menschen ist das lateinische Wort unauflösbar mit dem Begriff der »Elternimago« von Heinz Kohut (1976) verbunden. Die »Elternimagines« als die inneren Stimmen, Bilder oder Repräsentationen der Eltern sind ein in jeder Hinsicht vielfach zu bearbeitender Stoff in unendlich vielen Psychotherapien unserer Klienten und Patientinnen. Doch nicht sie allein, sondern ebenso wir als professionelle Helfer oder Therapeutinnen tragen die guten wie weniger guten Spuren unserer Eltern in uns. Gelingt es uns nicht, sie in unsere eigene Lebensführung zu integrieren, wirken sie untergründig weiter. In uns nachwirkende »Elternimagines« einfach vergessen zu wollen, ist ein vergebliches Unterfangen: »Lebte ich tausend Jahre, vielleicht würde ich mich in meinem tausendsten Jahr nicht mehr an sie erinnern.« Dieser Satz stammt aus Albert Cohens »Das Buch meiner Mutter« (1954), einem der berühmtesten literarischen Versuche, ein nachklingendes »Mutterbild« unter Trauer und Schmerz in das eigene endliche Leben zu integrieren. Je nach eigener Gestimmtheit mag man Cohens autobiografischen Text als triefend wehmütig oder aber als außergewöhnliches »document humain«, als Klagelied über Verlust und existenziell zu bewältigendes Getrenntsein lesen. Ein weniger bekanntes Stück Literatur ist der Weg des Sohnes zu seinem Vater sowie zur dunkelsten Geschichte unserer Republik, den Coll Hofmann in »Mein ERICH ist schon lange tot« (1982) beschreibt. Erich, der Vater, lebt als ER, als lastendes Erbe und Fluch im ICH seines Sohnes weiter. Erst dessen Reise zu sich selbst, die mit der Frage beginnt: »Wie kam es, daß ich wurde, wie ich bin«, ermöglicht über Integration und innere Befreiung die Öffnung für das eigene Leben. Der Roman steht als einer der ersten für das spezifische Genre von autobiografischer Bekenntnis- und Aufarbeitungsliteratur.

Alle die Selbstbewegung im Leben einschränkenden »Elternimagines« lassen sich überaus gut mit methodisch variablen imaginativen Techniken anschauen und gegebenenfalls überarbeiten. Letztlich geht es dabei um die Auseinandersetzung mit der Frage, was wir in unserem eigenen Leben verantwortlich »aus dem machen, das aus uns gemacht worden ist«, um an das diesem Buch vorangestellte Eingangszitat von Jean-Paul Sartre zu erinnern.

Ehre, wem Ehre gebührt: Die »Bildersprache« der Seele zur psychotherapeutischen Methode erhoben hat in der Tat der bereits erwähnte Göttinger Arzt und Psychoanalytiker Hans Carl Leuner. Sein Verfahren des »Katathymen Bilderlebens« beruht auf »emotionsnah gestalteten Imaginationen, die in einen psychotherapeutischen Prozess eingebunden sind. Es beinhaltet ein ausdifferenziertes Vorgehen, um Tagträume psychotherapeutisch zu induzieren und zu begleiten«. Das besondere Wirkungsprinzip der katathymen Imaginationen zeichnet sich dadurch aus, dass die heilsamen Bilder »grundsätzlich alle Sinnesmodalitäten umfassen und sich in Handlungsvollzügen von Tagtraumcharakter entfalten« (Steiner, 2007). Katathym heißt das Bilderleben, weil die aufsteigende Bilderflut den stark affekt- und wunschbeladenen Archiven der inneren Gedächtnisspeicher entstammt. In den Bildern zeigt und inszeniert sich die »Seele« des Imaginierenden. Das Beiwort »katathym« entfällt heute bisweilen, wenn imaginative Verfahren zur Anwendung gebracht werden. Es heißt nicht mehr zwangsläufig »Katathym Imaginative Psychotherapie« (KIP), sondern es kann auch allgemeiner von »Psychodynamisch Imaginativer Therapie« oder »Tiefenpsychologisch Imaginativer Behandlung« von Klienten und Patientinnen gesprochen werden. Wichtig ist zudem, dass imaginative Methoden nicht ausschließlich auf dem Hervorbringen von Tagträumen und heilsamen Bildern beruhen, sondern auch szenisch inszenierte, emotional korrigierende Handlungsvollzüge beinhalten können. Imaginative Standardmotive sowie methodisch spezifische Vorgehensweisen bilden kein in Vasallentreue einzuhaltendes Regelwerk, sondern den Grundstock für kreatives imaginatives Arbeiten durch Ausdifferenzieren, Weiterentwickeln und Neuschöpfen von Bildmotiven, instruierten Imaginationsreisen oder konkret angewandten szenischen Verfahren.

Das Arbeiten mit Bildern vollzieht sich sehr nah am ganzen Menschen. Es reicht über die reine Ebene der Sprache hinaus und wird damit der Tatsache gerecht, dass Menschen nicht selten wesentlich mehr und differenzierter in Bildern denken als in sprachlichen Begriffen. Obendrein spricht imaginatives Arbeiten den »Spieltrieb« des Menschen an. Das »Spiel« entspricht nachgerade der kindlichen Sicht auf die Welt. Kinder eignen sich ihre Umwelt über ein spielerisches Erkunden an. Oft erfinden sie in ihrer Phantasie innere Spiel- und Weggefährten, Schutzengel, ihnen beistehende Tiere oder vielfältigste sonstige Figuren und Gestalten mit ganz privater Bedeutung. Diese Fähigkeiten zu innerem Phantasiespiel und zu in Szene gesetzten Sotun-als-ob-Spielen verlieren sich nie. Bei Erwachsenen können sie durch einen langen Sozialisationsprozess bloß kulturell verformt und in den Hintergrund gerückt sein. Mit der Vielfalt imaginativer Techniken gelangen sie jedoch im Nu wieder an Bilder und Vorstellungen sprudeln lassende innere Quellen.

Wie auch immer wir im Detail vorgehen, das Nützliche, Wirksame und letztlich auch Schöne am Arbeiten mit imaginativen Verfahren besteht darin, dass imaginierende Klienten, Patientinnen oder Kursteilnehmer mit allen Sinnen in ihre Imaginationen hineinspüren. Sie sind in Kontakt mit Körper, Geist und Seele und folglich in der Lage, über mental erzeugte Bilder während eines therapeutisch heilsamen Veränderungsprozesses alle Bereiche ihres Innenlebens neu zu kartografieren.

2.  Imagination als Methode, mit anderen Augen zu sehen

Nüchtern betrachtet sind Imaginationen erst einmal eine Fülle bloßer Ideen, Methoden und Techniken, um mit anderen Augen sehen zu lernen. In der methodischen Selbsthilfe lassen sie sich ebenso verwenden wie in der sozialen Arbeit oder im therapeutischen Setting. Sie sind Rohmaterial und Ausgangsstoff und als solche zu Anfang noch gänzlich unbeseelt. Mit Seele und Wirkungskraft werden Imaginationen erst durch ihren konkreten Einsatz in der eigenen Innenwelt oder im zwischenmenschlich bezogenen Feld angereichert.

2.1  Wer profitiert von Imagination als Methode?

Sofern wir mit eng gestelltem Blick nicht bloß unsere Klienten und Patientinnen im Auge haben, gibt es eine weite Bandbreite von Menschen, die von Imaginationen als Methode und Mittel zum Zweck profitieren können.

Unspezifisch:

Jedermann und Jedefrau

Grundsätzlich kann sich jeder Mensch, der einen inneren Draht zu Phantasiereisen, bildhaftem Denken und Imaginationen hat oder zu entwickeln vermag, dieser Methoden bedienen. Ihr Einsatzzweck im Alltag ist Streben nach Entspannung, Selbsterkenntnis, die Regelung psychischer wie körperlicher Stresszustände oder das Mehren von Wohlbefinden.

Spezifisch:

(Psycho-)Soziale Arbeit:

Psychotherapeutischer Bereich:

3.  Imagination als Mittel zum Zweck
wirksamer Psychotherapie

Imaginationen in der Psychotherapie sind bereits deutlich mehr als bloße Methoden, um die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Im therapeutischen Kontext stehen imaginative Verfahren nämlich im Dienste eines ganz bestimmten Zweckes, der da heißt: möglichst ganzheitliche Heilung von Menschen. Imaginativ heilsame Bilder verändern die Art und Weise, wie ein leiblich-seelisch verkörpertes menschliches Lebewesen sich selbst, sein Wirken, seinen Lebensvollzug als »Tätigkeit-eines-lebenden-Organismus-in-Beziehung-zu-seiner-Umwelt« wahrnimmt. Das ist ein absolut ganzheitliches Geschehen, denn »Wahrnehmen heißt immer schon, an der Welt teilzunehmen, sie zu berühren und von ihr berührt zu werden. Es beruht auf leiblicher Praxis« (Fuchs, 2008). Dass ganzheitliche Gesundung als leiblich-seelische Lebensteilhabe kein erschlagender, unerfüllbarer Anspruch bleiben muss, verdeutlichen die Wirkungsprinzipien heilsamer Bilder. Um sie verständlich zu erläutern, begleiten Sie mich bitte auf einige Ausflüge, auf denen Ihnen manches Terrain bereits vertraut vorkommen mag, anderes aber neue Perspektiven eröffnet.

3.1  Vorstellungskraft ist Zauberkraft, aber Imagination ist keine Magie – Wie Imaginationen wirken