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Mario Muigg

Polizei im Friedenseinsatz

Peacekeeping-Studien, Band 2

Mario Muigg

Polizei im
Friedenseinsatz

Das österreichische
UN-Polizeikontingent in Zypern,
1964 bis 1977

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© 2022 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

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ISBN 978-3-7065-6258-4

Buchgestaltung nach Entwürfen von himmel. Studio für Design und Kommunikation, Scheffau – www.himmel.co.at

Satz und Umschlag: Studienverlag/Maria Strobl – www.gestro.at

Umschlagabbildung: UN-Konvoi mit österreichischen UN-Polizisten (Bild: Jezek)

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

I. Die Geschichte internationaler Friedensoperationen

1. Von den militärischen Anfängen zu den ersten polizeilichen Einsatzkomponenten

2. Der Völkerbund als Wegbereiter einer internationalen Organisation zur Friedenserhaltung

3. Die Charta der Vereinten Nationen als Grundlage der Friedenssicherung

II. Die Rolle der Polizei in internationalen Friedenseinsätzen

1. Rahmenbedingungen und Aufgaben

2. Möglichkeiten und Perspektiven der zivil-militärischen Zusammenarbeit

III. Die österreichische Polizei im internationalen Friedenseinsatz

1. Österreich und die Vereinten Nationen – ein Überblick

2. Erste Erfahrungen in der „Polizeitruppe der Vereinten Nationen“ (UN-Field Service)

2.1. Rahmenbedingungen und Interessentensuche

2.2. Erste Entsendungen

2.3. Vertragsverlängerungen und neue Einsatzorte

2.4. Eigendynamik der Einsätze und sich zuspitzende Interessenkonflikte

2.5. Letzte Verlängerungen, „Sonderaktion Zypern“ und Ende der Einsätze

3. Die UNFICYP-Mission in Zypern 1964-1977

3.1. Historischer Hintergrund des Zypernkonflikts

3.2. Von der Staatskrise zur UN-Intervention

3.3. Österreich und UNFICYP – Die Anfänge 1964

3.4. Vom Provisorium zur Institution

3.5. Von den Unruhen 1967 bis zur Invasion 1974

3.6. Teilung Zyperns, Neustrukturierung der UNFICYP und Abzug des österreichischen Polizeikontingents 1977

4. Von Zypern zum weltweiten Engagement

Schlussbemerkungen

Anmerkungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Anhang: Die österreichischen Polizeikontingente in Zypern

Dank

Der Autor

Vorwort

Mehr als ein Jahrzehnt ist vergangen, dass dem ersten Band dieser Reihe – über den Kongoeinsatz 1960 bis 1963 – ein zweiter Band folgt. Er ist – auch chronologisch passend – dem Einsatz österreichischer Polizisten, Gendarmen und Kriminalbeamten auf Zypern von 1964 bis 1977 gewidmet. Der UN-Einsatz in der – damals noch nicht geteilten – Inselrepublik sollte die Lage zwischen den Volksgruppen stabilisieren helfen, erfolgte daher flächendeckend auf der gesamten Insel, nicht nur (wie nach 1974) entlang der Demarkationslinie. Schon bei der Vorbereitung dieser Operation im Frühjahr 1964 erkannten die verantwortlichen Planer in New York, dass es wichtig sein werde, neben der militärischen Präsenz auch eine internationale Polizei zu etablieren, um Eskalationen der Spannungen vorzubeugen.

Aktuell (mit Stand Ende September 2021) stellt die UNO 87.563 „Peacekeeper“ in zwölf Operationen weltweit, davon sind 75.986 Uniformierte, also Militär oder Polizei. Über ein Zehntel, nämlich 7.675, sind Polizistinnen und Polizisten. Von diesen dienen 5.726 in sogenannten „Formed Units“, also geschlossenen, kompaniestarken Polizei-Formationen von jeweils 100 bis 140 Personen. 5.554 der 75.986 „Blauhelme“ sind Frauen. Dazu kommen noch jene internationalen Friedenseinsätze, die zwar unter einem UN-Mandat erfolgen, aber von anderen Organisationen wie der EU (etwa in Bosnien-Herzegowina) oder der NATO (im Kosovo) durchgeführt werden. Auch hier kommen Polizistinnen und Polizisten zum Einsatz.

Das Thema „Polizei im Friedenseinsatz“ ist offensichtlich wichtig, wurde bisher aber – im Gegensatz zu den militärischen Komponenten internationaler Einsätze – vernachlässigt. Umso mehr freue ich mich daher, dass ich den damaligen vielversprechenden Doktoratsstudenten Mario Muigg motivieren konnte, sich für dieses Thema zu begeistern und die Ergebnisse seiner Forschungen nunmehr in Buchform zu präsentieren. Da er selbst inzwischen an der Sicherheitsakademie (Institut für Wissenschaft und Forschung) des Innenministeriums als Wissenschaftler arbeitet, steht zu hoffen, dass dies nicht die letzte Publikation aus seiner Feder zu diesem Thema sein wird.

Für Österreich ist wichtig, dass mit dieser Arbeit der erste österreichische Polizeieinsatz in umfassender Form, unter Benützung der österreichischen wie der UN-Archive sowie unter Einbeziehung der Literatur und von Erinnerungen von Zeitzeugen, aufgearbeitet werden konnte. Immerhin stellte Österreich zu Beginn der Zypern-Operation das erste Polizeikontingent überhaupt und war daher 1964 einige Wochen lang für die polizeilichen Aufgaben auf der gesamten Insel zuständig, bis andere Kontingente ankamen. Zehn Jahre später, während der Kämpfe im Juli 1974, war es das schneidige Verhalten des österreichischen Kontingents, das es der UNO ermöglichte, den Flughafen von Nikosia unter Kontrolle zu behalten.

Wien, im Winter 2021 Hofrat Univ.-Doz. Dr. Erwin A. Schmidl

Leiter des Instituts für Strategie und Sicherheitspolitik
der Landesverteidigungsakademie in Wien

Dozent am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck

Einleitung

Angehörige der österreichischen Sicherheitsexekutive1 beteiligen sich seit über einem halben Jahrhundert an internationalen Friedensmissionen. Sieht man von einzelnen österreichischen Exekutivbeamten ab, die bereits seit 1958 auf Basis einer Karenzierung (d.h. eines unbezahlten Urlaubs) und eines individuellen UN-Dienstvertrages in den Dienst der Vereinten Nationen getreten sind, beginnt die offizielle Beteiligung im Jahre 1964 mit der Entsendung eines österreichischen Polizeikontingents zur UN-Mission in Zypern. Nach einer Pause von 1977 bis 1989 folgten inzwischen zahlreiche weitere Friedenseinsätze der österreichischen Polizei. Unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen, Europäischen Union oder OSZE haben bis heute rund 1.500 österreichische Exekutivbeamtinnen und Exekutivbeamten an weltweit über 30 Missionen teilgenommen.

Noch ehe auf die spezifisch österreichische Rolle im Rahmen internationaler Polizeimissionen eingegangen wird, soll im vorliegenden Buch die allgemeine Geschichte internationaler Friedensoperationen dargestellt werden. Ausgehend von Entwicklungen, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen, werden Akteure wie das „Europäische Konzert“ der Großmächte oder der nach 1918 geschaffene Völkerbund als wichtige Vorgängerorganisation der Vereinten Nationen beleuchtet. Viele der internationalen Einsätze des 19. Jahrhunderts muten erstaunlich modern an und nahmen zentrale Elemente heutiger Friedensmissionen vorweg. Gerade dieser Abschnitt verdeutlicht aber auch den oftmals schmalen Grat zwischen einer Friedens- und Stabilisierungsoperation auf der einen Seite und einem auf eigene Machtinteressen ausgerichteten Einsatz auf der anderen Seite. Es folgt eine allgemeine Darstellung der Rolle von Polizeieinheiten im Rahmen internationaler Friedensoperationen. Der damit verbundene Einblick in die verschiedenen Tätigkeiten der eingesetzten Polizeikräfte zeigt die Wichtigkeit eines möglichst umfassenden und im Detail aufeinander abgestimmten Gesamtkonzepts, welches die unterschiedlichen Aufgaben und Zielsetzungen militärischer und ziviler (dar- unter eben auch polizeilicher) Akteure entsprechend berücksichtigt.

Das Herzstück der vorliegenden Arbeit bildet die Darstellung der Polizeimission in Zypern und insbesondere der österreichischen Beteiligung daran von 1964 bis 1977. Dieser UN-Einsatz gilt für Österreich nach der 1955 wiedererlangten staatlichen Souveränität als der erste Friedenseinsatz der österreichischen Polizei. Erste Erfahrungen konnten schon einige Jahre davor gemacht werden: In dem zur Unterstützung der UN-Operationen geschaffenen „UN-Field Service“ – in Österreich nicht ganz zutreffend als „Polizeitruppe der Vereinten Nationen“ bezeichnet – kamen bereits ab 1958 österreichische Beamte zum Einsatz. Diese versahen ihren Dienst allerdings nicht als österreichische Sicherheitsorgane auf Basis eines entsprechenden UN-Mandats, sondern sie agierten mittels individuell abgeschlossener UN-Dienstverträge und wurden für die Dauer ihres UN-Einsatzes vom heimischen Exekutivdienst karenziert, also ohne Bezüge beurlaubt. Die 1964 beginnende UN-Zypernmission, an der sich Österreich von Anfang an mit einem Polizeikontingent (bis 1977) und einem Feldspital (bis 1973), später (von 1972 bis 2001) auch mit einem Infanteriebataillon beteiligte, markierte den Beginn der „regulären“ zivilen UN-Polizei. Der Einsatz österreichischer Polizisten in Zypern von 1964 bis 1977 bildet das Hauptthema dieser Arbeit. Eine chronologisch gegliederte, in Form einer Tabelle übersichtlich dargestellte Zusammenschau sämtlicher Auslandseinsätze der österreichischen Polizei rundet dieses Buch ab.

Ziel dieser Arbeit ist es, neben der Darstellung des Einsatzes in Zypern selbst, die bis heute in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Präsenz polizeilicher Einsatzkräfte als wichtigen Bestandteil internationaler Friedensmissionen hervorzuheben. Damit soll ein tieferer Einblick in das Einsatzspektrum sowie in die Ziele und Aufgaben der internationalen Polizeikräfte ermöglicht und insbesondere die österreichische Beteiligung daran in den Vordergrund gerückt werden.

Wien, im Winter 2021 Mario Muigg

I. Die Geschichte internationaler Friedensoperationen

1. Von den militärischen Anfängen zu den ersten polizeilichen Einsatzkomponenten

Internationale Friedensoperationen werden allgemein sehr schnell mit der UNO in Verbindung gebracht. Immerhin war die Organisation der Vereinten Nationen – United Nations Organization (UNO) – im Jahr 1945 öffentlichkeitswirksam und mit breiter Unterstützung der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs geschaffen worden, um Friede und Sicherheit in der Welt zu gewährleisten. Internationale Streitkräfte unter der Flagge der Vereinten Nationen, die mit ihren charakteristischen blauen Helmen nach 1956 weltweit in den verschiedensten Konflikt- und Krisenregionen im Einsatz standen, verankerten sich im öffentlichen Bewusstsein der Nachkriegsgenerationen. Neben den „Blauhelm-Soldaten“ waren und sind inzwischen zahlreiche andere internationale Organisationen – wie die Europäische Union (EU), die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Nordatlantik-Pakt („North Atlantic Treaty Organization“, NATO) oder auch die Afrikanische Union (AU) – Träger internationaler Friedensoperationen. Bis heute ist die UNO „der größte multilaterale Akteur bei der Stabilisierung von Staaten nach Konflikten weltweit“.2

Sucht man nach den Anfängen internationaler Friedensoperationen, wird schnell klar, dass die oben erwähnten Akteure an Entwicklungen anknüpften, die zumindest bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. So können zahlreiche, wenngleich noch kaum koordiniert durchgeführte multinationale Einsätze zur Bekämpfung von Piraterie und Sklavenhandel zu Beginn des 19. Jahrhunderts durchaus zu den Vorläufern der heutigen Friedenseinsätze gezählt werden.3 Insbesondere im geostrategisch und handelspolitisch wichtigen Mittelmeerraum kam es wiederholt zu Einsätzen europäischer und später auch US-amerikanischer Seestreitkräfte gegen die offiziell unter osmanischer Herrschaft stehenden, faktisch aber weitgehend unabhängig agierenden nordafrikanischen Territorien der sogenannten Barbareskenstaaten. Dabei handelte es sich um die Machtzentren wie Algier, Tunis und Tripolis an der nordafrikanischen Mittelmeerküste bis hin zur nordwestafrikanischen Atlantikküste in Marokko. Ihre schlagkräftigen Flottenverbände unternahmen zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert einträgliche Überfälle auf Handelsschiffe und Raubzüge gegen europäische Küstengebiete. Sklaven- und Menschenhandel, Lösegelderpressungen für erbeutete Schiffe oder die Einhebung entsprechender Tribut- und Schutzgeldzahlungen brachten gute Gewinne. Lange Zeit hatten konkurrierende Interessen der europäischen Mächte ein gemeinsames Vorgehen gegen die Barbaresken verhindert. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert fielen immer mehr Handelsschiffe der noch jungen Vereinigten Staaten von Amerika in die Hände der nordafrikanischen Piraten, und zu Beginn des 19. Jahrhunderts und insbesondere nach dem Ende der Napoleonischen Kriege gingen europäische Staaten und die USA entschlossen gegen die Piraterie im Mittelmeerraum vor. Damit gelang es – teils alleine und teils im internationalen Verbund – die Macht der Barbareskenstaaten zu brechen, zumal ab 1830 die europäischen Mächte mit der Kolonialisierung Nordafrikas begannen.4 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang waren Überlegungen zur Schaffung einer internationalen Seestreitmacht, die – zusammengesetzt aus Einheiten verschiedener Nationen, aber unter einem einzigen Kommando – in der Lage sein sollte, zu Wasser und zu Lande operativ tätig zu werden.5 Auch wenn dieser innovative Vorschlag eines britischen Admirals aus dem Jahre 1814 letztlich „nur“ in Form internationaler Kooperation umgesetzt wurde, so zeigt er doch, dass die damaligen Unternehmungen (oder Elemente daraus) bereits zu den Vorläufern heutiger Friedenseinsätze gezählt werden können.

Mit dem Ende der französischen Vormachtstellung unter Napoleon Bonaparte erhielt die internationale Zusammenarbeit eine neue Dynamik. Europa wurde durch den Wiener Kongress 1814/1815 neu geordnet. Die Verhandlungen standen ganz im Zeichen der Etablierung eines stabilen Systems zwischenstaatlicher Konfliktregelung, um in Zukunft Friede und Sicherheit gewährleisten zu können. In der Tat erlebte Europa zwischen dem Wiener Kongress und dem Krimkrieg (1853-1856) eine mehrere Jahrzehnte andauernde Friedensperiode, in welcher die damaligen Großmächte Frankreich, Großbritannien, Österreich, Preußen und Russland keine Kriege gegeneinander führten. Zeitgenossen benannten diese „Pentarchie“ – also eine Herrschaft der Fünf – bereits als „Europäisches Konzert (der Mächte)“. Es übernahm eine sicherheitspolitische Ordnungsfunktion und scheute sich nicht, im Rahmen europäischer Krisen und Konflikte militärisch zu intervenieren. So wurden in den 1820er und 1830er Jahren Revolutionen und Aufstände gegen die bestehende Ordnung in Spanien, Portugal, in Neapel und anderen italienischen Fürstentümern sowie in Polen durch Interventionsarmeen der Großmächte gewaltsam niedergeschlagen, um etwaige Störungen des mühsam ausbalancierten Mächtekonzerts frühzeitig zu unterbinden.

Gegensätzliche Interessen der europäischen Großmächte begleiteten hingegen den Unabhängigkeitskrieg der Griechen gegen die Osmanen (1821-1829), der letztlich durch ein gemeinsames militärisches Vorgehen Großbritanniens, Frankreichs und Russlands zugunsten Griechenlands entschieden wurde. Koalitionsstreitkräfte der Großmächte kamen in weiterer Folge zur Befriedung der Levante (1840) zum Einsatz. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts kreuzten schlagkräftige Flottenverbände verschiedener europäischer Staaten sowie der USA vor den Küsten Lateinamerikas und Asiens. Ein Ziel war die Unterbindung des auf dem Wiener Kongress (in Artikel 118 der Kongressakte) geächteten transatlantischen Sklavenhandels; sie griffen aber wiederholt – auch im internationalen Verbund – zu Wasser und zu Land militärisch ein, um Konflikte zu befrieden bzw. zumindest einzugrenzen, eigene Staatsbürger zu schützen oder um schlicht wirtschaftliche Interessen durchzusetzen.6 Gerade letzteres verdeutlicht den oftmals schmalen Grat zwischen dem hehren Anspruch einer Friedens- und Stabilisierungsoperation auf der einen Seite und einer als militärische Machtdemonstration zur Durchsetzung eigener Interessen ausgerichteten Mission auf der anderen Seite.

Die starken politischen und sozialen Spannungen sowie der große Gegensatz zwischen den herrschenden und beherrschten Schichten führten wiederholt zu großen Belastungen für das Europäische Konzert der Mächte. Neue Bewegungen wie Liberalismus und Nationalismus, Unabhängigkeitskämpfe, Sezessions- und Emanzipationsbestrebungen, Einigungsbewegungen und insbesondere die Revolutionsjahre 1830 und 1848/1849 setzten der Großmächte-Allianz arg zu. Inmitten dieser Umwälzungen kam es – mit Blick auf internationale Friedens- und Stabilisierungsoperationen – zu einer bemerkenswerten Mission in Schleswig-Holstein.

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Abb. 1: Schwedischer „Friedenssoldat“ (vom Infanterie-Regiment Vestgöta) in Schleswig, 1848. (Bild: Magnani)

Hintergrund waren Auseinandersetzungen zwischen der dänischen Regierung und den mehrheitlich deutschsprachigen, aber zur dänischen Krone gehörenden Herzogtümern Schleswig und Holstein, von denen letzteres zum Deutschen Bund gehörte. Ein dreijähriger Krieg (1848-1851) konnte erst durch internationalen Druck beendet werden. Hatten preußische Truppen im Namen des Deutschen Bundes direkt auf Seite der Aufständischen in Schleswig und Holstein in die Kampfhandlungen eingegriffen, so erzwangen die Großmächte einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen. Für einige Zeit wurden das südliche Schleswig und das Herzogtum Holstein mit ihrem hohen deutschsprachigen Bevölkerungsanteil von Preußen verwaltet, während der ethnisch ungleich durchmischtere nördliche Teil Schleswigs einer gemeinsamen preußisch-dänischen Landesverwaltung unterstand. Diese interimistische Verwaltung wurde von einem britischen Diplomaten in der Eigenschaft eines Schiedsrichters kontrolliert und durch eine neutrale schwedisch-norwegische Friedenstruppe abgesichert.7 In der Folge konnten trotz wiederholt auftretender Störaktionen und neu aufflammender Kämpfe vereinbarte Truppenabzüge durchgeführt, Milizen entwaffnet und die Demarkationslinie zwischen dem südlichen und nördlichen Teil Schleswigs überwacht werden. Mit dem Frieden von Berlin kam es 1850 zum Abzug der skandinavischen Einheiten. Auch wenn eine Befriedung des Konflikts erst in den Jahren 1851/1852 gelang, beinhaltete diese nur wenig beachtete Mission bereits wichtige Elemente zukünftiger Friedensoperationen wie eine international zusammengesetzte Interimsverwaltung oder die Präsenz einer neutralen Streitkraft zur Überwachung und Entwaffnung von Milizen sowie zur Kontrolle bzw. Patrouillentätigkeit entlang von Waffenstillstandslinien.8

Ein schwerer Schlag für das Europäische Konzert war der Krimkrieg (1853-1856), der sich im Kern um die „Orientalische Frage“ drehte, also das Verhalten der europäischen Großmächte gegenüber dem schwächelnden Osmanischen Reich, dem „kranken Mann am Bosporus“. Im Ringen um Macht und Einfluss kam es vier Jahrzehnte nach dem Wiener Kongress erstmals zu einer offenen kriegerischen Auseinandersetzung zwischen europäischen Großmächten: Frankreich und Großbritannien kämpften auf der Seite des Osmanischen Reiches und unterstützt durch Piemont-Sardinien gegen das russische Zarenreich. Die blutige Bilanz waren über eine Million gefallene Soldaten, unzählige tote Zivilisten und ein bis in heutige Zeit nachwirkendes tiefes Misstrauen Russlands gegenüber dem „Westen“.9

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sollte das Europäische Konzert seine ordnungs- und friedenspolitische Wirksamkeit großteils, wenn auch nicht zur Gänze einbüßen. Das Beziehungsgeflecht zwischen den europäischen Mächten, deren Kreis sich ab den 1860er Jahren mit dem aufstrebenden Italien erweiterte, wurde komplexer und eine neue Generation von Staatsmännern verkörperte den Übergang hin zu einer offensiveren, nationalstaatlich und imperialistisch geprägten Politik. Ausdruck dieser neuen Entwicklung waren internationale Spannungen, die zu Kriegen zwischen einzelnen Großmächten und in der Folge zu einer Umverteilung der inzwischen fragil gewordenen Mächteverhältnisse führten. Beispiele waren die von Frankreich unterstützten und gegen Österreich gerichteten Kriege der italienischen Einigungsbewegung 1859 und 1866, der Krieg zwischen Österreich und Preußen bzw. Italien 1866 oder der Deutsch-Französische Krieg 1870/1871. Wenngleich diese Konflikte nur von kurzer Dauer waren, sie jeweils auf einem relativ begrenzten Gebiet Europas stattfanden und zahlreiche Konferenzen und Kongresse weiterhin den Willen zu einem internationalen Konflikt- und Krisenmanagement zeigten, so war ein sich veränderndes machtpolitisches Verhalten in den internationalen Beziehungen nicht mehr zu übersehen.10

Das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert, das Zeitalter des Imperialismus, bot aber weiterhin Anlassfälle für internationale Friedens- und Stabilisierungsoperationen. International zusammengesetzte Kommissionen überwachten wichtige Handelswege, versuchten, Grenzstreitigkeiten friedlich beizulegen oder auch wichtige staatsübergreifende gesundheitspolitische Maßnahmen zu implementieren.11 Eine Besonderheit war die internationale Mission in Kreta (1897-1909).

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Abb. 2: Soldaten des österreichisch-ungarischen Kontingents – vom k.u.k. Infanterie-Regiment Nr. 87 – auf Kreta, 1897/1898. (Bild: Leipziger Illustrierte Zeitung / Österreichische Nationalbibliothek)

Sie erfüllte bereits zahlreiche Kriterien einer modernen Friedensoperation. Kreta, das damals noch zum Osmanischen Reich gehörte, war durch einen spannungsgeladenen christlich-islamischen Gegensatz geprägt. Diese Glaubensverschiedenheit der Kretenser bedeutete eine scharfe, nahezu unüberbrückbare Trennung innerhalb der Bevölkerung. Während die christliche Mehrheit der Inselbewohner einen Anschluss an Griechenland forderte, fürchtete die islamische Bevölkerung genau dies. Das Osmanische Reich war verständlicherweise nicht bereit, diese strategisch wichtige Insel aufzugeben. In der Folge kam es wiederholt zu blutigen Auseinandersetzungen, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts allmählich zu einem offenen Bürgerkrieg entwickelten; unterstützt, beeinflusst und instrumentalisiert durch die jeweiligen Partner auf dem europäischen Festland. Um eine weitere Eskalation der Krise auf und rund um Kreta zu vermeiden, übernahmen die europäischen Großmächte eine Vermittlerrolle. Nachdem 1897 bereits reguläre griechische Truppen auf Kreta gelandet waren, verhängten die Mächte eine militärische Seeblockade der Mittelmeerinsel. Neben Marineeinheiten, die in klar zugeteilten Blockaderayons die Gewässer rund um die Insel kontrollierten, entsandten Großbritannien, Frankreich, Italien, Österreich-Ungarn, Russland und das Deutsche Reich Landstreitkräfte. Diese Friedenstruppe umfasste bis zu 18.000 Mann und verfügte auch über eine polizeiliche Komponente, die zuerst von Montenegro, später von Italien gestellt wurde. Die Friedenstruppe sorgte für eine Stabilisierung der militärischen Lage sowie den Schutz und die Evakuierung bedrohter Teile der Bevölkerung, eine bestmögliche Entwaffnung der Milizen, die Überwachung von Wahlen und die Vorbereitung eines Autonomiestatuts für Kreta. Zudem übernahmen die Großmächte die Ausübung des Polizei- und Gerichtswesens und etablierten eine eigene „Militärkommission für internationale Polizei“, um für die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung Sorge zu tragen.

Während Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich aufgrund unterschiedlicher Auffassungen zur Lösung der Krise bereits 1898 ihre Streitkräfte von der Insel abzogen, übernahmen die verbleibenden vier Großmächte die weitere Verwaltung Kretas. Die Insel wurde in eine britische, französische, italienische und russische Zone aufgeteilt, die damalige Haupstadt Canea (Chania) bildete eine gemeinsame internationale Zone. Die Kompromisslösung für Kreta sah schließlich einen nominellen Verbleib im Osmanischen Reich vor, aber unter einem griechischen, weitgehend autonom agierenden Gouverneur. Als sich 1909 die letzten internationalen Truppen zurückzogen, war in Folge der Jungtürkischen Revolution von 1908 eine erneute Verschärfung des Konflikts eingetreten. Sowohl Griechenland als auch das Osmanische Reich bekräftigten ihren Anspruch auf die Insel. Im Zuge der Balkankriege (1912/1913) setzte sich letztlich Griechenland gegen das an mehreren Fronten kämpfende Osmanische Reich durch. Die de facto seit 1908/1909 bestehende Zugehörigkeit Kretas zu Griechenland fand de iure 1913 im Präliminarfrieden von London ihre Bestätigung. Die Kreta-Problematik wurde in weiterer Folge durch die Vertreibung und Aussiedelung der islamischen Bevölkerung im Rahmen der großen Bevölkerungsverschiebungen nach dem Ersten Weltkrieg einer endgültigen „Lösung“ zugeführt.12

Eine weitere Mission der europäischen Großmächte unter Einbeziehung Japans und der USA führte schlagkräftige internationale Verbände nach China. Dort hatte das koloniale Treiben der Mächte zu immer größeren Konflikten geführt, die in den Jahren 1900/1901 vollends eskalierten. China und insbesondere der chinesische Geheimbund der Boxer traten dem zunehmenden Einfluss der Kolonialmächte, der voranschreitenden christlichen Missionierung und dem damit verbundenen, zum Machtausbau instrumentalisierten Kulturtransfer gewaltsam entgegen. Anfängliche Scharmützel entwickelten sich schnell zu einem großflächigen bewaffneten Aufstand mit dem Ziel der Befreiung Chinas von jeglicher ausländischer Einflussnahme. Als in der Folge tausende christliche Chinesen, Beschäftigte ausländischer Botschaften und Unternehmen sowie Priester und Diplomaten im Zuge der blutigen Auseinandersetzungen ums Leben kamen, war die Entrüstung in Europa, Japan und den Vereinigten Staaten groß. Eilig wurden internationale Truppen in der Region zusammengezogen sowie weitere Streitkräfte nach China entsandt, um mit vereinten Kräften den Aufstand niederzuschlagen. Dies gelang aufgrund der Überlegenheit der alliierten Streitkräfte, die mit zehntausenden Soldaten eine regelrechte Strafexpedition gegen China führten, innerhalb weniger Monate. Während viele Zeitgenossen dieser blutigen Niederschlagung der chinesischen Aufstandsbewegung in der Intervention eine legitime Mission zur Erhaltung und Wiederherstellung des Friedens sahen, würde man die damaligen Ereignisse heute als einen Akt imperialistischer Politik bezeichnen.13

In Europa selbst waren die Großmächte weiterhin mit dem angeschlagenen Osmanischen Reich beschäftigt, welches durch Bedrohungen von außen sowie Aufstände innerhalb seiner Territorien immer mehr zum Spielball fremder Mächte wurde. Neben den bereits kurz umrissenen Auseinandersetzungen mit Russland (Krimkrieg) und Griechenland (Kreta-Frage) erregten weitere Krisenherde auf dem Balkan die internationale Aufmerksamkeit. Während das Osmanische Reich 1878 die volle Unabhängigkeit Rumäniens, Serbiens und Montenegros anerkennen musste und sich auch Bulgarien allmählich (und 1908 endgültig) von der osmanischen Herrschaft lossagen konnte, spitzte sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Mazedonien-Frage bedrohlich zu.14 Bewaffnete Auseinandersetzungen, Unabhängigkeitsbestrebungen und Spannungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Glaubensrichtungen ließen die Region nicht zur Ruhe kommen. Das „Pulverfass Balkan“ drohte erneut die internationale Ordnung zu erschüttern. Im Abkommen von Mürzsteg, welches 1903 von Österreich-Ungarn und Russland ausgearbeitet und von Großbritannien, Frankreich, dem Deutschen Reich und Italien unterstützt wurde, einigten sich die Großmächte auf ein gemeinsames Vorgehen in der Mazedonien-Frage. Neben dem starken diplomatischen Druck zwang eine Drohkulisse von europäischen Flottenverbänden das Osmanische Reich dazu, eine internationale Kommission zur Überwachung, Ausbildung und Reorganisation der osmanischen Gendarmerie in der Unruheprovinz zuzulassen. Die Gendarmerie war für die öffentliche Ordnung und Sicherheit verantwortlich, aber als militärische Einheit dem osmanischen Kriegsminister unterstellt. Status, Zusammensetzung und Ausbildungsstandard befanden sich in einem besorgniserregenden Zustand. In schwierigen Verhandlungen verständigte man sich darauf, den europäischen Interventionsmächten eigene Einflusszonen zuzuweisen.

Im Frühjahr 1904 trafen die ersten internationalen Offiziere ein, die umgehend ihre Arbeit aufnahmen. So wurden Gendarmerieschulen gegründet, ein Netzwerk von Stützpunkten, insbesondere in ländlichen Gebieten, angelegt, untragbar gewordene Gendarmen entlassen und die Rekrutierung neuer Einheiten optimiert. In Mazedonien konnten in den folgenden Jahren tausende Gendarmen ausgebildet werden. Europäische Instruktoren bzw. Experten zur Polizeireform wurden bald auch in anderen Teilen des Osmanischen Reiches eingesetzt. Erst die Verschärfung internationaler Krisen am Vorabend des Ersten Weltkrieges führte zum schrittweisen Abzug der internationalen Offiziere. Österreich-Ungarn, das Deutsche Reich und Russland begannen 1908 mit dem Abzug ihrer Offiziere, Italien zog sich 1911 zurück und die letzten Offiziere aus Großbritannien und Frankreich verließen 1914 die Region.15

Ein letztes Mal wurde das Europäische Konzert 1913/1914 aktiv, als die Großmächte in Albanien intervenierten. Die offenkundige Schwäche des Osmanischen Reiches hatte die vier Staaten Bulgarien, Griechenland, Montenegro und Serbien zu einem fragilen Zweckbündnis (Balkanbund) animiert, welches umgehend weitere Gebietsansprüche gegenüber den verbliebenen osmanischen Territorien am Balkan stellte. Die Situation eskalierte im Herbst 1912, als die Bündnispartner dem Osmanischen Reich den Krieg erklärten (Erster Balkankrieg 1912/1913) und diesen innerhalb weniger Monate gewinnen konnten. Die jahrhundertealte Herrschaft der Osmanen über weite Teile der Balkanhalbinsel ging damit zu Ende, doch die territoriale Neuordnung verlief nicht ohne Schwierigkeiten und betraf zudem direkt die Interessen der europäischen Großmächte. Während umstrittene Grenzfragen die Balkanstaaten schnell entzweiten und in erneute kriegerische Auseinandersetzungen verwickelten (Zweiter Balkankrieg 1913), einigte sich das Europäische Konzert darauf, die strategisch wichtigen albanischen Siedlungsgebiete an der östlichen Adriaküste unter internationaler Aufsicht zu einem selbständigen Staat zu vereinen. Keine leichte Aufgabe, da große Teile dieses zukünftigen Albaniens bereits von anderen Balkanstaaten besetzt waren und die Kampfhandlungen weiter andauerten.

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Abb. 3: Deutsche Soldaten des Seebataillons der Friedenstruppe in Albanien, 1914. (Bild: Österreichisches Staatsarchiv / Kriegsarchiv)

Die Großmächte verfügten in einem ersten Schritt eine internationale Flottendemonstration und Seeblockade wichtiger Häfen, um Montenegro zum Rückzug aus der Stadt und Festung Skutari (Shkodra, Shkodër) zu zwingen. Anschließend stationierten sie im Norden des neu geschaffenen Staates eine internationale Friedenstruppe von rund 1.800 Mann. Diese stabilisierten die Lage und sicherten die neuen Grenzen, übernahmen aber auch Aufgaben, die man heute als „erweitertes Peacekeeping“ bezeichnen würde: Internationale Offiziere leiteten bzw. überwachten den Munizipalrat von Skutari, bildeten einen Sanitätsrat, organisierten das Hafenkapitanat, unternahmen Anstrengungen zum Ausbau der Infrastruktur und amtierten als Richter. Albanien wurde unter Aufsicht einer Internationalen Kontrollkommission mit dem deutschen Fürsten Wilhelm zu Wied an der Spitze zum Fürstentum. Für die Reform der Polizei bzw. der Gendarmerie waren zunächst schwedische Offiziere vorgesehen. Da Schweden aber aufgrund eines bereits laufenden Engagements zur Ausbildung der Gendarmerie in Persien (Iran) ablehnen musste, übernahmen niederländische Offiziere diese Aufgabe. Insgesamt trug die internationale Präsenz 1913/1914 zu einer Stabilisierung der angespannten Situation bei, doch blieb die Rolle der Friedenstruppe auf den Norden Albaniens beschränkt. Im Sommer 1914 änderte sich die Lage schlagartig.

Die internationale Mission in Albanien fand mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein jähes Ende. Ausländische Einheiten verließen innerhalb kurzer Zeit das Land. Die jeweiligen nationalen Interessen hatten Vorrang vor den Plänen für den jungen Staat Albanien. Die von internationaler Seite initiierte Verwaltung des Landes brach schnell zusammen.16 Das internationale Engagement war damit gescheitert und in den Wirren des Ersten Weltkriegs ging auch das seit dem frühen 19. Jahrhundert ordnungs- und friedenspolitisch agierende, wenngleich in den letzten Jahrzehnten oftmals nur noch mühsam zusammengehaltene Europäische Konzert unter. Der Erste Weltkrieg sollte zu einer grundlegenden Neuordnung des internationalen Machtgefüges führen.

2. Der Völkerbund als Wegbereiter einer internationalen Organisation zur Friedenserhaltung

Der im August 1914 entfesselte und im November 1918 zu Ende gegangene Erste Weltkrieg führte der Weltöffentlichkeit auf dramatische Art und Weise die Schrecken eines modernen Krieges vor Augen. In gigantischen Materialschlachten und aufreibenden Stellungskämpfen auf den Schlachtfeldern Europas, in Afrika, Asien und auf den Weltmeeren forderte er unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 15 und 20 Millionen Todesopfer. Die Auswirkungen dieses Weltkrieges erreichten nicht nur für die traumatisierte Zivilbevölkerung erschütternde Dimensionen, sondern stellten auch die politischen Entscheidungsträger hinsichtlich einer zukünftigen Nachkriegsordnung vor immense Herausforderungen. Die Hoffnungen ruhten auf einer Friedenskonferenz von noch nie da gewesenem Ausmaß, an der sich vom 18. Jänner 1919 bis zum 21. Jänner 1920 insgesamt 32 Staaten mit tausenden Vertretern und Diplomaten beteiligten. Nicht vertreten waren hingegen die besiegten Staaten, die in den verschiedenen Vororten von Paris nicht verhandeln, sondern lediglich unterzeichnen durften, womit Versailles, St.-Germain, Neuilly, Trianon und Sèvres für ganze Völker nicht nur zum Symbol der Niederlage, sondern des Unrechts wurden. Somit bot die in Paris erzielte Nachkriegsordnung von Anfang an nur wenig Anlass zur Hoffnung, dass es sich um eine dauerhafte Friedenslösung handeln könnte.

„Das positive Signal […], das von der Pariser Friedenskonferenz ausging“, sollte nicht zuletzt nach dem Willen des damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson die Schaffung eines Völkerbundes sein. Er war es, der am vehementesten für die Idee des Völkerbundes eintrat, um „dem Frieden und der Sicherheit der Welt den notwendigen organisatorischen Rahmen“ zu geben.17 Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet US-Präsident Wilson, nachdem die Völkerbundakte am 10. Jänner 1920 tatsächlich in Kraft getreten war und der Völkerbund noch am selben Tag in Genf offiziell seine Arbeit aufgenommen hatte, in den USA keine Mehrheit für einen Beitritt fand. Damit fehlte nicht nur eine Großmacht von weltpolitischem Format, sondern auch eine der wichtigsten Triebfedern des Völkerbundexperiments. Dies führte bereits in der Gründungsphase zu einer erheblichen Schwächung der „Société des Nations“ oder „League of Nations“. Nichtsdestotrotz wurde mit dem Völkerbund ein Meilenstein in der Geschichte der internationalen Beziehungen gesetzt. Erstmals wurde ein Regelwerk mitsamt entsprechender Institutionen geschaffen, in deren Rahmen die Mitgliedstaaten zu einer Verständigung gelangen konnten.18 So hieß es etwa:

„In der Erwägung, daß es zur Förderung der Zusammenarbeit unter den Nationen und zur Gewährleistung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit wesentlich ist, bestimmte Verpflichtungen zu übernehmen, nicht zum Kriege zu schreiten; in aller Öffentlichkeit auf Gerechtigkeit und Ehre gegründete internationale Beziehungen zu unterhalten; die Vorschriften des internationalen Rechtes, die fürderhin als Richtschnur für das tatsächliche Verhalten der Regierungen anerkannt sind, genau zu beachten, die Gerechtigkeit herrschen zu lassen und alle Vertragsverpflichtungen in den gegenseitigen Beziehungen der organisierten Völker peinlich zu achten, […].“19

Der Völkerbund gilt als „erste Realisation einer Internationalen Organisation auf Basis der Idee des Kollektiven Sicherheitssystems“20 bzw. als „eine allererste Stufe der Annäherung an den Frieden durch eine Institution“.21 Wenngleich kein generelles Kriegs- oder Gewaltverbot erlassen, sondern zwischen „verbotenen“ und „erlaubten“ Kriegen unterschieden wurde, verpflichtete der Völkerbund seine Mitglieder, Konflikte zuerst mit friedlichen Mitteln zu lösen zu versuchen, ehe sie zum Krieg schreiten konnten.22 Man ging davon aus, dass die vom Weltkrieg gezeichneten Mächte, wie es in der Satzung des Völkerbundes hieß, „den Wunsch haben, an die Stelle des Krieges, […] einen festen, gerechten und dauerhaften Frieden treten zu lassen.“23

Die Strukturen einer Bundesversammlung und eines Völkerbundrates mit einem Mix aus ständigen und nichtständigen Mitgliedern sowie mit einem ständigen Generalsekretariat unter einem Generalsekretär ähnelten bereits den Grundzügen der späteren Organisation der Vereinten Nationen. Auch wenn in anderen Bereichen keinerlei Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Organisationen festzustellen sind, darf der Völkerbund rückblickend durchaus als Testlauf und Vorläufer der späteren UNO gesehen werden. Problematisch war jedenfalls die Tatsache, dass im Völkerbund zu keiner Zeit alle maßgebenden Mächte vertreten waren und die jeweiligen nationalen Eigeninteressen der Mitgliedstaaten viele internationale Lösungsansätze blockierten. Nichtsdestotrotz „entstand mit dem Völkerbund erstmals eine internationale Organisation, die auch als Trägerorganisation für gemeinsame multinationale Friedensoperationen fungieren konnte“24.

Die ersten Einsätze unter der Ägide des Völkerbundes bzw. unter Aufsicht von Beobachtern und Truppen der im Ersten Weltkrieg siegreichen Entente-Mächte dienten in erster Linie der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in ethnisch gemischten Gebieten. Es handelte sich vorwiegend um jene Gebiete, wo als Folge der Pariser Friedenskonferenz Volksabstimmungen über die staatliche Zugehörigkeit entscheiden sollten. In Österreich bekannt sind hier die Abstimmungen in Südkärnten im Oktober 1920 und rund um die Stadt Ödenburg/Sopron im Dezember 1921, die von internationalen Kommissionen und sonstigen Beobachtern in ihrer Vorbereitung, Durchführung oder Umsetzung unterstützt wurden. Ähnliche Volksabstimmungen fanden auch in anderen Teilen Europas statt. So wurden die beiden Referenden in Schleswig im Frühjahr 1920 unter Aufsicht einer internationalen Kommission sowie unter Absicherung durch britische und französische Truppen durchgeführt. Ebenso kamen in den Abstimmungsgebieten rund um das westpreußische Marienwerder und das ostpreußische Allenstein im Juli 1920 sowie in Oberschlesien im März 1921 unter Aufsicht einer Interalliierten Kommission britische, französische und italienische Truppen zum Einsatz. Ebenfalls 1921 sollten im mehrheitlich polnischsprachigen Gebiet rund um die litauische Hauptstadt Vilnius internationale Streitkräfte ein Referendum absichern. Dafür sollten knapp 2.000 Mann aus Belgien, Großbritannien, Frankreich und Spanien sowie kleinere Kontingente aus den Niederlanden, Dänemark, Schweden und Norwegen bereitgestellt werden; auch Italien und Griechenland stimmten prinzipiell einer Truppenentsendung zu. Das Projekt scheiterte letztlich an Widerständen auf unterschiedlichen Ebenen, sodass die Abstimmung in der vorgesehenen Form, also unter internationaler Aufsicht, nicht zustande kam.25

Ohne Volksabstimmung wurde 1920 ein knapp 2.000 km2 großes Gebiet rund um die westpreußische Hafenstadt Danzig zur Freien Stadt erhoben und unter den Schutz des Völkerbundes gestellt. Es handelte sich um eine Kompromisslösung für die unvereinbaren deutschen und polnischen Ansprüche auf dieses strategisch wichtige Zentrum des Ostseehandels, eine Stadt mit großer Symbolkraft für die deutsche wie für die polnische Öffentlichkeit. Unter internationaler Aufsicht wurde ein völkerrechtlich voll rechtsfähiges und selbständiges Staatsgebilde geschaffen, dessen Grundzüge durch den Friedensvertrag von Versailles gesichert und dessen territoriale Unversehrtheit und Unabhängigkeit durch den Völkerbund garantiert wurde. Der Völkerbund selbst war durch die ständige Präsenz eines Hohen Kommissars vertreten, der bei Streitfragen angerufen werden konnte. Internationale Truppen sicherten in der schwierigen Gründungsphase die entmilitarisierte Freie Stadt.26 Darüber hinaus sah eine durch die Pariser Konvention von 1920 eingerichtete Hafenkommission zur Verwaltung des Danziger Hafens eine internationale Polizeipräsenz mit rund 50 Beamten vornehmlich aus skandinavischen Ländern und der Schweiz vor. Allerdings unterstanden diese internationalen Polizisten dem Polizeikommandanten von Danzig und konnten ihre Arbeit erst 1934 aufnehmen.27

Ebenso ohne Volksabstimmung, aber unter gänzlich anderen völkerrechtlichen Rahmenbedingungen, wurde das ostpreußische Memelland im Jahre 1920 zunächst unter französische Verwaltung gestellt, ehe 1923 litauische Einheiten das Gebiet handstreichartig besetzten und an Litauen angliederten. Die französische Ordnungsmacht leistete keinen nennenswerten Widerstand und zog alsbald ab, doch versuchte der Völkerbund sich zumindest durch das 1924 mit Litauen unterzeichnete Memelstatut, welches das Memelland als autonomes Gebiet innerhalb Litauens vorsah, weiterhin einen gewissen Einfluss zu sichern.28

Nicht mit dem Völkerbund in Zusammenhang stehend, aber eine durchaus beachtenswerte Episode aus der Zwischenkriegszeit stellte die Entsendung österreichischer Polizeiexperten nach China dar. Österreich verfügte damals im polizeilichen Bereich über einen hervorragenden Ruf, wie die international anerkannten Aktivitäten der „Grazer kriminologischen Schule“, der „Wiener Schule der Kriminalistik“ oder der Beitrag zur Gründung von Interpol 1923 in Wien unter Beweis stellten. Der Leiter des Amtes für Inneres in der chinesischen Provinz Zhejiang, Zhu Jiahua, der selbst in Berlin studiert hatte, Deutsch sprach und über die österreichische Expertise Bescheid wusste, ersuchte Österreich 1928/1929 um die Entsendung von Polizeiexperten zur Unterstützung von Reformen im chinesischen Sicherheitswesen. Zhu Jiahua bezeichnete in einem Brief an Bundeskanzler Ignaz Seipel (Amtszeiten 1922-1924 und 1926-1929) die österreichische Polizei gar als „die beste und zuverlässigste Polizei der Welt“29. Im Wiener Bundeskanzleramt stand man dem Ansuchen positiv gegenüber und entsandte 1929 drei hochrangige Beamte für drei Jahre nach China. Dies waren die Gendarmerie-Landesdirektoren Karl Schindler und Ferdinand Peinlich sowie Regierungsrat Dr. Rudolf Muck. Zudem wurden 1931 zehn junge Polizeioffiziere aus der Provinz Zhejiang nach Österreich eingeladen, um hier drei Jahre lang eine fundierte Polizeiausbildung zu durchlaufen. Während sieben der zehn chinesischen Polizeioffiziere Ende 1933 nach China zurückkehrten, verlängerten drei von ihnen ihren Aufenthalt in Österreich, um noch ein rechtswissenschaftliches Studium zu absolvieren.30

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Abb. 4: Die jungen Polizeioffiziere aus China bei der Polizeiausbildung in Wien, 1931-1933. (Bild: Polizeiarchiv Wien)

Wiederum unter der Ägide des Völkerbundes kam es zur Entsendung von internationalen Kontingenten zur Überwachung von serbischen, montenegrinischen und griechischen Truppenabzügen aus Albanien (1920-1926), zur Deeskalation des griechisch-bulgarischen Grenzkonfliktes von 1925, zur interimistischen Verwaltung eines Gebietes rund um den Amazonashafen Leticia im umstrittenen kolumbianisch-peruanischen Grenzgebiet (1933/1934) oder zur Schlichtung des von 1932 bis 1935 erbittert geführten bolivianisch-paraguayanischen Chacokrieges.31

Der Einsatz im Saarland stellt wohl eine der bekanntesten und schwierigsten Missionen des Völkerbundes dar. Das dicht besiedelte, nördlich von Lothringen gelegene, knapp 2.000 km2 große Saargebiet mit seinen zahlreichen Industriebetrieben und Kohlengruben zählte rund 800.000 nahezu ausschließlich deutschsprachige Einwohner. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem 1920 in Kraft getretenen Friedensvertrag von Versailles musste Deutschland die Verwaltung des Gebietes dem Völkerbund unterstellen und gleichzeitig für zumindest 15 Jahre das Eigentum der saarländischen Kohlengruben als Ersatz für die im Norden Frankreichs zerstörten Anlagen an Frankreich abtreten. Während das Saargebiet damit de facto unter französische Kontrolle geriet und auch wirtschaftlich in das französische Zoll- und Währungssystem integriert wurde, agierte der Völkerbund als Treuhänder des Gebietes, welches von einem aus fünf vom Völkerbundrat ernannten Mitgliedern bestehenden Regierungsausschuss verwaltet wurde. Weiters wurde festgelegt, dass nach Ablauf von 15 Jahren, also „im Jahre 1935, eine abzuhaltende Volksabstimmung zu entscheiden haben würde, ob das Gebiet oder gewisse Teile desselben auch weiterhin unter dem Schutz des Völkerbundes sich selbst verwalten, oder mit Frankreich vereinigt oder aber wiederum von Deutschland regiert werden sollten“32. Die dauerhafte Präsenz französischer Soldaten führte wiederholt zu Beschwerden seitens der deutschen Regierung über die Verhältnisse im Saargebiet, wobei der Völkerbund „bei verschiedenen Gelegenheiten [bekannt gab], daß es wünschenswert ist, die fremde Garnison zurückzuziehen, sobald es die Ausbildung der örtlichen Gendarmerie gestattet“33. 1927 kam schließlich ein 800 Mann umfassendes internationales Polizeikontingent (darunter 630 Franzosen, 70 Belgier und 100 Briten) zum Einsatz, ehe ab 1930 lokale Polizeikräfte eingesetzt werden konnten.

Im Hinblick auf die bevorstehende Volksabstimmung wurde vom Völkerbund 1934 die sogenannte „Saar Force“ ins Leben gerufen, deren Aufgabe es war, das Referendum zu überwachen und keine Unregelmäßigkeiten zuzulassen. Die Saar Force stand unter britischem Kommando und setzte sich aus 1.500 britischen, 1.300 italienischen, 250 schwedischen und 250 niederländischen Soldaten zusammen, also insgesamt 3.300 Mann. Die zivilen Komponenten bestanden aus 1.000 Wahlbeobachtern, darunter 40 Inspektoren aus zehn verschiedenen neutralen Nationen sowie 960 Funktionären, die den Vorsitz über die verschiedenen Wahllokale übernahmen. Darüber hinaus wurden tschechoslowakische Polizisten eingesetzt. Dafür waren vorwiegend sprachliche Gründe ausschlaggebend, weil man damals davon ausging, dass tschechische und slowakische Polizisten Deutsch konnten.34 Die Volksabstimmung selbst wurde am 13. Jänner 1935 abgehalten und ergab eine überwältigende Mehrheit von rund 90%, die sich für eine Wiedereingliederung des Saargebietes in das Deutsche Reich aussprach. Dem Wählerwillen Folge leistend, verfügte der Völkerbund den umgehenden Abzug der internationalen Kontingente und die Rückgliederung des Saarlandes an das Deutsche Reich zum Stichtag 1. März 1935. Gegen eine Ablösezahlung an Frankreich erwarb Deutschland das Eigentum an den saarländischen Kohlengruben zurück. Das Engagement des Völkerbundes in der Saarfrage war beendet.

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Abb. 5: Ein italienischer Carabiniere und zwei britische Soldaten der „Saar Force“, 1935. (Bild: Magnani)