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Ekkehart Vetter

SUCHE FRIEDEN
UND JAGE
IHM NACH!

Das Buch zur
Jahreslosung 2019

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ISBN 978-3-7751-5918-0 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2018 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelzitate folgender Ausgabe entnommen:

Titelbild: kotoffei (Shutterstock.com), Lena Bukovsky (Shutterstock.com)

INHALT

Über den Autor

Einleitung

1. Unter der Lupe – ein herausfordernder Text

»Suche Frieden und jage ihm nach!«

Shalom! – viel mehr als »Guten Tag!«

Radaph – ein starkes Wort für friedliches Handeln

Frieden in Person

2. In die Praxis – wann und wie Frieden keine Theorie bleibt

Frieden – beginnt mit einem Friedensstifter

Frieden – verträgt sich mit Andersdenkenden

Frieden – ist verliebt in Menschen

Frieden – braucht Zeit zum Wachsen

Frieden – mit mir selbst

Frieden – klammert selbst Feinde nicht aus

Das Wort ward Fleisch

Erklärungsversuche, die hinter der Wahrheit zurückstehen

Sehen und glauben

Feindesliebe in der Praxis

Frieden – bleibt manchmal einseitig

Frieden – ist der Zwilling von Gerechtigkeit

Frieden – träumt

Frieden – zieht weite Kreise

Frieden – geht auf Angehörige anderer Religionen zu

Frieden – ist ein Kniefall in Warschau

Frieden – ist eine beständig sich entwickelnde Kultur des Herzens

Frieden – ist höher als alle Vernunft

Frieden – soll bei mir ganz persönlich beginnen

Anmerkungen

ÜBER DEN AUTOR

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Ekkehart Vetter ist Gemeindepastor aus Leidenschaft, leitet als Präses den Mülheimer Verband Freikirchlich-Evangelischer Gemeinden und ist Erster Vorsitzenderder Deutschen Evangelischen Allianz. Mit seiner Frau Sabine lebt er in Mülheim an der Ruhr. Die beiden haben sechs Kinder.

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EINLEITUNG

Da lag er. Total friedlich. Im großen, das eher enge Wohnzimmer beherrschenden Fernsehsessel mit Liegefunktion. Man sah an seiner Kleidung, dass er am Vorabend noch das Haus verlassen wollte: Den etwas in die Jahre gekommenen Anzug mit schlichter Krawatte trug er sonst nicht im Haus. Eigentlich war es sein Plan gewesen, abends noch zur Volkshochschule zu gehen – Russisch lernen. Und davor hatte er vermutlich noch schnell die TV-Nachrichten sehen wollen. Denn diese Viertelstunde gehörte zum abendlichen Pflichtprogramm.

Seit gut einem Jahr war er Witwer. Nachdem er seine Ehefrau durch eine schwere Krebskrankheit begleitet hatte, wohnte er allein in dem kleinen Siedlungshaus, das früher fünf Menschen Platz geboten hatte. Die Kinder hatten längst das Haus verlassen; er selbst war seit Kurzem im Ruhestand. Die jüngste Vergangenheit war bewegt gewesen: die schwere Krankheit der Ehefrau, der Übergang in den Ruhestand, der Auszug des dritten und letzten Kindes zum Studium.

Nach so vielen einschneidenden Ereignissen hatte das Leben zunächst einmal neu sortiert werden müssen. Um ihm über den Tod seiner Frau ein wenig hinwegzuhelfen, waren meine Familie und ich im zurückliegenden Sommer mit ihm in Urlaub gefahren. Es war eine wunderbare Zeit gewesen, zusammen auf engstem Raum, mit Wohnmobil und Zelt. Er hatte es genossen, hatte trotz seiner 63 Jahre meistens im Zelt geschlafen, mit dem ältesten Enkelsohn an seiner Seite.

Und nun das. Bei uns zu Hause hatte morgens das Telefon geklingelt. Mein Schwager hatte sich gemeldet: Er hatte seinen Vater telefonisch nicht erreicht. Da er nicht weit entfernt wohnte, war er schnell hingefahren, um nachzuschauen, was los war – und fand seinen Vater tot im Fernsehsessel. Friedlich eingeschlafen, wie man so sagt.

Unser gerade angelaufener Tag wurde schnell umorganisiert. Wir setzten uns mit unseren beiden jüngsten Kindern ins Auto und fuhren zwei Stunden zum Elternhaus meiner Frau. Er lag noch so da, wie mein Schwager ihn gefunden hatte: total friedlich, wie im Tiefschlaf.

Ich habe im Laufe der Jahre immer wieder am Totenbett von Menschen gestanden. Manche Menschen sehen, sobald das Leben aus ihnen gewichen ist, sehr verändert aus, andere nicht. Mein Schwiegervater gehörte zu denen, die eher so aussahen, als ob sie schliefen. Sein Gesicht war zwar leichenblass, aber er war auch zu Lebzeiten eher bleich gewesen.

Für uns kam sein Tod absolut überraschend. Sicher, er nahm schon seit Jahren Herztabletten, aber das gehörte zu ihm wie der Kaffee zum Frühstück. Er machte in all den Jahren einen gesunden und lebensfrohen Eindruck. Noch vor wenigen Monaten – während unseres gemeinsamen Urlaubs – hatten wir ihn dazu ermutigt, noch einmal zu heiraten. Schließlich habe er doch sicher noch viele Lebensjahre vor sich.

Wie es so ist, die ersten Tage und Wochen nach dem Tod eines nahen Angehörigen sind mit vielen organisatorischen Aufgaben verbunden. Aber wenn alles zur Ruhe gekommen ist, beginnt die Phase des tieferen Nachdenkens. Man lässt immer wieder gemeinsame Zeiten Revue passieren und tauscht Erinnerungen aus.

Uns wurde bewusst, dass uns der Abschied von meinem Schwiegervater, so plötzlich und vergleichsweise früh er stattgefunden hatte, irgendwie leichtgefallen war. »Leicht« scheint hier ein unpassendes Wort zu sein, weil wir ein gutes Verhältnis zu ihm hatten. Doch wir realisierten, was man sich im normalen Alltag nicht immer klarmacht:

Mein Schwiegervater war ein Mensch gewesen, mit dem man sich eigentlich nicht streiten konnte. Er ruhte als Christ in seinem Glauben, war ein zutiefst ausgeglichener Mann mit einer demütigen Grundhaltung. Er interessierte sich sehr für andere Menschen und nahm sich selbst dabei eher zurück.

Zu seinen Lebzeiten hatten wir darüber nicht so häufig nachgedacht; es war uns vielleicht manchmal viel zu selbstverständlich erschienen. Aber nach seinem Tod begriffen wir, wie entspannt und von wirklichem Beziehungsfrieden gekennzeichnet unser Verhältnis zu ihm gewesen war.

Und was zunächst paradox klingt, ergibt letztlich einen tiefen Sinn: Weil dies so war, fiel es uns leichter, diesen frühen und plötzlichen Abschied als den Weg Gottes mit ihm zu akzeptieren. Wie viel schwerer wäre ein Abschied gewesen, wenn unser Verhältnis kompliziert, spannungsvoll und von Unversöhnlichkeit gekennzeichnet gewesen wäre!

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1. Unter der Lupe - ein herausfordernder Text

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»SUCHE FRIEDEN UND JAGE IHM NACH!«

Solche harmonischen Beziehungen sind schön, aber jeder Mensch kennt auch ganz andere Situationen. Unversöhnlichkeit, schwieriges Mit-, besser Gegeneinander, Vorwürfe, alte Geschichten, die immer wieder aufgetischt werden – die Liste möglicher Beziehungsstörungen ist lang.

Die sogenannte Jahreslosung, die uns im Jahr 2019 begleitet, ist unter besonders gefährlichen und druckvollen Lebensumständen entstanden: »Suche Frieden und jage ihm nach!« (Psalm 34, 15). Hier wird angedeutet, dass Frieden in Beziehungen erstens keine Selbstverständlichkeit und zweitens auch nicht leicht zu erreichen ist.

Der Satz ist uralt, er stammt von dem bedeutendsten König Israels, von David, und steht im Gebetbuch der Bibel, den Psalmen. Eine kurze Skizze von Davids Lebenssituation soll helfen, diesen Satz in den Kontext seines Lebens einzuordnen: David wurde bereits als Teenager, für ihn und seine Familie völlig unerwartet, durch den Propheten Samuel zum künftigen König über das Volk Israel gesalbt. Die Inthronisierung ließ aber noch auf sich warten.

Unterdessen blieb David dem noch amtierenden König Saul treu ergeben. Er kämpfte mit den Soldaten Sauls gegen die Feinde Israels und besiegte sogar den allseits gefürchteten Philister Goliath. Nach einiger Zeit wurde König Saul jedoch eifersüchtig auf den jungen Kriegshelden, bedrohte ihn und versuchte mehrmals, ihn zu töten. Weil David in seiner Heimat nicht mehr sicher leben konnte, floh er ins Land seiner Feinde. Er erreichte die Philisterstadt Gat und begegnete dort Achisch, dem König von Gat.

Die Philister begriffen, wen sie hier vor sich hatten. Darum warnten die Hofbeamten den König: »Ist das nicht David, der Anführer der Israeliten, für den sie tanzten und sangen: ›Saul hat tausend Mann erschlagen, David aber zehntausend‹?« (1. Samuel 21, 12; Hfa).

David wurde klar, dass er womöglich vom Regen in die Traufe geraten war! Aus Angst um sein Leben stellte er sich vor Achisch wahnsinnig. Er schlug wild um sich, kritzelte wirres Zeug auf die Torflügel und ließ Speichel in seinen Bart laufen.

Der König reagierte genervt und fuhr seine Leute an: »Hab ich zu wenig Wahnsinnige, dass ihr diesen herbrachtet, bei mir zu toben?« (1. Samuel 21, 16).

Mithilfe dieser List gelang es David, der Rache der Philister zu entgehen. Und in einem gewissen Zeitabstand dazu entstand dann der Lob- und Dankpsalm 34, in dem David in Vers 1 auf dieses Geschehen Bezug nahm.1

In dem gesamten Psalm wird deutlich, dass David mittlerweile sonnenklar war: Nicht seine eigenen Ideen und Tricks hatten sein Leben bewahrt, sondern allein Gott hatte ihn aus dieser und anderen heiklen Situationen befreit. »Da ich den Herrn suchte, antwortete er mir und errettete mich aus aller meiner Furcht« (Psalm 34, 5).

Obwohl David noch relativ jung war, hatten Nachstellungen, Todesdrohungen und Kriegserfahrungen sein Leben bereits stark geprägt. In König Saul hatte er einen eifersüchtigen, im Ernstfall blutrünstigen und machtbesessenen Gegner, der bereit war, über Leichen zu gehen, wenn es seinem Machterhalt diente.

Doch auch an Davids eigenen Händen klebte schon Blut. Den als unbesiegbar geltenden Philister Goliath hatte er mit einer Schleuder getötet und ihm dann mit dessen Schwert den Kopf abgeschlagen. So sehr ihm seine Mit-Soldaten zujubelten, so sehr muss ihm dieses Ereignis unter die Haut gegangen sein. Einen Menschen enthaupten – das ist mit das Brutalste, was man sich vorstellen kann. Und David war kein mit allen Wassern gewaschener, kriegserfahrener Soldat, sondern ein junger Schafhirte, der jüngste von acht Brüdern.

Mag sein, dass es ein Moment der Besinnung war, in dem er den Psalm 34 betete und niederschrieb. Nach all den Kriegswirren, Todesdrohungen und Fluchterfahrungen kam er ein wenig zur Ruhe und verfasste ein Lob-und-Dank-Lied auf die Güte und Treue Gottes.

Eingebettet in dieses Lob Gottes sind einige Sätze einer betenden Selbstreflexion: »Wer ist’s, der Leben begehrt und gerne gute Tage hätte? Behüte deine Zunge vor Bösem und deine Lippen, dass sie nicht Trug reden. Lass ab vom Bösen und tue Gutes; suche Frieden und jage ihm nach!« (Psalm 34, 13-15).

Jeder wünscht sich ein erfülltes Leben, jeder hat gern »gute Tage«. Doch David begreift, dass diese guten Tage auch mit eigener Investition zusammenhängen. Dazu empfiehlt er erstens: Rede nichts Böses und Falsches. Zweitens: Lass ab vom Bösen und tue Gutes, und schließlich drittens: Suche Frieden, suche Shalom, und jage ihm nach.

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SHALOM! - VIEL MEHR ALS »GUTEN TAG!«

Mit Shalom! begrüßt und verabschiedet man sich in Israel. Am Shabbat sagt man Shabbat Shalom!. Allerdings ist Shalom viel mehr als eine Begrüßungsformel. Dieser Friedensgruß geht weitaus tiefer als ein freundliches »Hallo!« oder »Guten Tag!«. Die Bedeutung im Hebräischen ist wesentlich breiter, als es unser deutsches Wort Frieden zum Ausdruck bringt.

Ursprünglich bedeutet Shalom »Vervollständigung«. Es beschreibt umfassendes Wohlergehen in allen meinen Lebensbereichen – körperlich, psychisch, sozial und auch geistlich. Es ist ein optimaler Zustand des Friedens mit mir selbst und anderen. Im Hebräischen fragt man, wenn man wissen will, wie es jemandem geht: Ma shlomcha – wie ist dein Shalom, wie ist dein Wohlbefinden? In diesem Wort schwingen Gesundheit, Sicherheit, Frieden, Unversehrtheit und Ruhe mit.

Allerdings betrifft der Shalom nicht nur den Einzelnen, sondern fragt auch nach dem kollektiven, dem sozialen und gesellschaftlichen Wohlergehen – wohl wissend, dass es in der Regel nicht eines ohne das andere gibt. In einer jüdischen Enzyklopädie wird von Shalom als »lebensfördernder Geordnetheit der Welt« gesprochen.

Shalom in diesem Sinne ist untrennbar mit Vertrauen auf Gott, den Schöpfer und Erhalter der Welt, verbunden, durch den man versöhnt mit sich selbst und mit anderen sein kann. Die Gottesbeziehung verhilft zu einem dankbaren Blick in die Vergangenheit (»Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!«), schenkt Lebenszufriedenheit in der Gegenwart und lässt den Menschen hoffnungsvoll in die Zukunft schauen.

Wenn David uns nun dazu auffordert, diesen Shalom zu »suchen«, ja, ihm »nachzujagen«, dann geht es hier offensichtlich um viel mehr als unser eigenes Glück. Denn wer sich für Shalom einsetzt, hat niemals nur sich selbst im Blick. Sondern er konzentriert sich auch auf das Wohlbefinden des Nächsten, erklärt dies zur Priorität und wird alles in seinen Kräften Stehende tun, damit der Shalom Gottes im kompletten Lebensumfeld gefördert wird.

Wie wir das ganz praktisch tun können, wird je nach unserem persönlichen Umfeld und Einflussbereich immer etwas anders aussehen. Doch ganz gleich, ob wir Mütter oder Väter, Reinigungskräfte, Ärzte, Lehrer, Geistliche, Handwerker, Firmeninhaber oder Politiker sind – wir alle haben einen Einflussbereich, wo wir im Vertrauen auf Gott unseren Shalom ausbreiten sollen.

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RADAPH - EIN STARKES WORT FÜR FRIEDLICHES HANDELN

Die Kombination von Shalom und radaph (»nachjagen«) eröffnet ein hochinteressantes Bedeutungsspektrum. Frieden suchen, sich um Frieden bemühen – das sind Verben, die uns im Zusammenhang mit »Frieden« durchaus vertraut sind. Auch Friedensverhandlungen begegnen uns auf politischer Ebene immer wieder. Aber dem Frieden nachjagen?

Das hebräische Wort radaph ist ein starkes Wort, das die gängigen deutschen Bibelausgaben mit »nachjagen« übersetzen. Eine Textübertragung wie die Hoffnung für alle formuliert in diesem Sinne durchaus korrekt: »Setzt euch unermüdlich und mit ganzer Kraft für den Frieden ein!«

Ein Kommentator des biblischen Textes sieht die Ursprungsbedeutung von radaph in der Vorstellung einer Verfolgungsjagd, in der man jemanden oder etwas unbedingt erreichen will. Deshalb wird dieses Wort oft in kriegerischen Zusammenhängen verwendet: Feinde jagen hinter einem her (Josua 2, 16) oder umgekehrt. Pharao jagte beispielsweise hinter den Israeliten her, als sie vor dem Roten Meer standen (2. Mose 14, 4).

Doch die Objekte dieses Nachjagens können im Alten Testament auch etwas ganz anderes sein: Man kann der Erkenntnis des Herrn (Hosea 6, 3; ELB) nachjagen. Die Sprüche Salomos kritisieren den, der nichtigen Dingen nachjagt (12, 11). Und wir werden aufgefordert, der Gerechtigkeit (Sprüche 15, 9) und der Güte (Sprüche 21, 21) nachzujagen.

Die Bibel beschreibt mit radaph also eine intensive, leidenschaftliche Bewegung mit dem klaren Ziel, etwas unbedingt erreichen zu wollen. Radaph beinhaltet, dass wir unsere Bemühungen auf ein wichtiges Ziel fokussieren. Und dieses Ziel ist der Shalom Gottes.

Ich empfinde die Kombination von Suchen und Nachjagen wie ein Crescendo in der Musik. Suchen