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Dr. Barbara Beck,
geboren 1961 in München, ist Historikerin. Seit ihrem Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Volkskunde in Augsburg und München war sie vor allem im kulturhistorischen Ausstellungsbereich (u. a. für das Haus der Bayerischen Geschichte und die Bayerische Schlösserverwaltung) tätig. Sie hat zu den unterschiedlichsten historischen und kunsthistorischen Themen Bücher und Beiträge verfasst. Bereits bei marixwissen erschienen: Die berühmtesten Frauen der Weltgeschichte. Vom 18. Jahrhundert bis heute sowie Die großen Herrscherinnen und Regentinnen. Vom Frühmittelalter bis in die Gegenwart.

Zum Buch

»Während der Epoche der Personalunion hat Hannover europäische und Weltgeschichte mitgeschrieben!«

Wissenschaftsministerin Johanna Wanka

Das Barockzeitalter brachte dem Haus Hannover, einem Zweig des uralten Fürstengeschlechts der Welfen, einen unglaublich glanzvollen Aufstieg. Ursprünglich in seiner Machtbasis ganz auf den norddeutschen Raum beschränkt, öffnete sich ihm 1714 dank glücklicher Umstände der Weg auf den britischen Thron und damit auf europäische, sogar auf außereuropäische Bedeutung. Der abwechslungsreichen und spannenden Geschichte dieser deutschen Dynastie spürt das Buch für den Zeitraum zwischen 1692 und 1918 nach. Die Porträts von 21 bedeutenden Mitgliedern der welfischen Familie sind in prägnante Einführungstexte über die geschichtlichen Zusammenhänge eingebettet. Zusätzlich vermitteln kulturgeschichtliche Sonderkapitel lebendige Einblicke in eine vergangene Welt.

Barbara Beck

Die Welfen

Barbara Beck

Die Welfen

Das Haus Hannover
1692 bis 1918

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2014
Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2014
Korrektorat: Dietmar Urmes, Bottrop
Bildnachweis: Queen Victoria von England, Gemälde von
Franz Xaver Winterhalter, ca. 1859
© mauritius images / SuperStock
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0424-0

www.marixverlag.de

Inhalt

Vorwort

Das Kurfürstentum Hannover

Ernst August, Fürstbischof von Osnabrück, Kurfürst von Hannover

Sophie von der Pfalz, Kurfürstin von Hannover

Sophie Charlotte von Hannover, Königin in Preußen

Die Welfen als Bischöfe von Osnabrück

Hannover und Großbritannien während der Personalunion

Georg I. Ludwig, Kurfürst von Hannover, König von Großbritannien und Irland

Sophie Dorothea von Braunschweig-Lüneburg, Kurprinzessin von Hannover, »Prinzessin von Ahlden«

Mätressen und Favoriten

Georg II. August, König von Großbritannien und Irland, Kurfürst von Hannover

Wilhelmine Caroline von Brandenburg-Ansbach, Königin von Großbritannien und Irland, Kurfürstin von Hannover

Sophie Dorothea von Hannover, Königin von Preußen

Schlösser und Gärten

Georg III. Wilhelm Friedrich, König von Großbritannien und Irland, König von Hannover

Caroline Mathilde von Großbritannien und Irland, Königin von Dänemark und Norwegen

Soldatenhandel

Georg IV. August Friedrich, König von Großbritannien und Irland, König von Hannover

Caroline von Braunschweig-Wolfenbüttel, Königin von Großbritannien und Irland, Königin von Hannover

Wilhelm IV., König von Großbritannien und Irland, König von Hannover

Adolph Friedrich von Großbritannien und Irland, Herzog von Cambridge, Vizekönig von Hannover

Viktoria, Königin von Großbritannien und Irland, Kaiserin von Indien

Das Königreich Hannover seit dem Ende der Personalunion

Ernst August, König von Hannover

Friederike von Mecklenburg-Strelitz, Königin von Hannover

Die Göttinger Sieben

Georg V., König von Hannover

Der Welfenfonds

Das Herzogtum Braunschweig

Ernst August, Herzog von Braunschweig

Viktoria Luise von Preußen, Herzogin von Braunschweig

Friederike von Hannover, Königin der Hellenen

Die Welfen und ihre Schätze

Auswahlbibliographie

Vorwort

Die Welfen gelten als eines der ältesten Fürstenhäuser Europas. Schon unter Karl dem Großen sind sie nachweisbar. Im 12. Jahrhundert erreichte die Dynastie mit Besitztümern im ganzen Heiligen Römischen Reich einen ersten Machthöhepunkt. Nachdem sie neben den Staufern maßgeblich die Geschicke des Reichs gelenkt hatten, verloren die Welfen nach dem Sturz von Herzog Heinrich dem Löwen im Jahr 1180 an Bedeutung. Das Adelsgeschlecht, das sich in mehrere Linien aufteilte, war danach auf den norddeutschen Raum beschränkt und spielte für die Reichspolitik keine entscheidende Rolle mehr.

Der Linie Braunschweig-Lüneburg, für die bald die Bezeichnung Hannover üblich wurde, gelang 1692 mit dem Erwerb der Kurwürde und 1714 mit der auf dem Heiratsweg errungenen Thronfolge in Großbritannien wieder die Rückkehr zu alter Größe. Dank des kolonialen Weltreichs der britischen Krone kommt dem Haus Hannover eine sogar über Europa hinausweisende Bedeutsamkeit zu. Indem sie in Personalunion über ihre deutschen Stammlande und das britische Reich regierten, stellten die Hannoveraner auch ihre großen Konkurrenten im norddeutschen Raum, die Hohenzollern in Brandenburg-Preußen, in den Schatten. Die Personalunion ging 1837 wegen unterschiedlicher Thronfolgeregelungen zu Ende. In Großbritannien begründete Königin Viktoria, die letzte Welfin auf dem britischen Thron, durch ihre Heirat mit dem deutschen Prinzen Albert das Herrscherhaus Sachsen-Coburg-Gotha, das sich während des Ersten Weltkrieges in Windsor umbenannte. Im Königreich Hannover führte dagegen Viktorias Onkel Ernst August die Herrschaft des Hauses Hannover fort. Als eigenständiger Staat ging Hannover nach dem Deutschen Krieg 1866 unter. Die königliche Familie emigrierte nach Österreich, um 1913 nochmals für kurze Zeit auf den Thron im Herzogtum Braunschweig zurückzukehren. Mit der Revolution endete 1918 die welfische Herrschaft endgültig. Der letzte regierende Hannoveraner, Herzog Ernst August von Braunschweig, dankte als erster der neunzehn deutschen Fürsten für sich und seine Nachkommen ab und zog sich ins Privatleben zurück.

Der vorliegende Band spürt diesem zweiten glanzvollen Aufstieg der Welfen in den Machtzenit nach, als das Haus Hannover zu den einflussreichsten Dynastien Europas zählte. Das Buch spannt den zeitlichen Rahmen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Das Hauptgewicht liegt dabei auf der Zeit der 123 Jahre dauernden Personalunion zwischen Großbritannien und Hannover, einer für Europas Geschichte historisch äußerst bedeutsamen Epoche. In 21 Kurzporträts werden bekannte und interessante Mitglieder des Herrscherhauses vorgestellt, die der Autorin als besonders bemerkenswert erscheinen. Der Reigen beginnt mit Herzog bzw. Kurfürst Ernst August, der nicht nur den Kurhut für sein Haus erwarb, sondern zusätzlich seinem Geschlecht durch seine Ehe mit Sophie von der Pfalz, einer Enkelin des Stuart-Königs Jakob I., den britischen Thronanspruch verschaffte. Mit der 1981 verstorbenen griechischen Königin Friederike, die als momentan letztes Mitglied des Hauses Hannover auf einen Thron gelangte, endet die Reihe der Lebensläufe. Ergänzt werden diese Kurzporträts durch mehrere überblicksartige Einführungstexte, die den jeweiligen historischen Hintergrund näher erläutern sollen. Um der Leserschaft vielfältige Einblicke in das Thema zu bieten, sind kleine »Exkurse« zur Vertiefung einzelner kulturgeschichtlicher bzw. geschichtlicher Aspekte eingefügt worden.

Das Kurfürstentum Hannover

Das Kurfürstentum Hannover ging aus dem welfischen Teilfürstentum Calenberg-Göttingen-Grubenhagen hervor. Dieses Teilfürstentum war Bestandteil des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg, das 1235 neu gegründet und nach seinen beiden wichtigsten Städten benannt worden war. Das Herzogtum spaltete sich bald in mehrere Linien auf. Bis 1665 verursachten Erbfälle zahlreiche territoriale Teilungen und Wiederzusammenführungen. Mit dieser Zersplitterung des welfischen Territoriums und Aufspaltung in mehrere Linien ging gleichzeitig auch ein machtpolitischer Bedeutungsverlust innerhalb des Gefüges des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation einher. Erbrechtliche Vereinbarungen zwischen den Linien stellten allerdings sicher, dass beim Aussterben einer Linie deren herrschaftlicher Besitz an die verbleibenden Linien überging und so letztlich die Einheit des Herzogtums gewährleistet wurde. Die Zusammengehörigkeit des welfischen Hauses drückte sich auch in der Titulatur aus; denn unabhängig von dem Landesteil, über den sie jeweils regierten, traten alle Fürsten als »Herzöge von Braunschweig und Lüneburg« auf. Gemeinsam war den welfischen Territorien außerdem, dass sich in ihnen im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts der Protestantismus weitgehend durchgesetzt hatte.

Das anlässlich einer Erbteilung im Jahr 1495 geschaffene Fürstentum Calenberg-Göttingen kam 1635 im Zuge von Erbauseinandersetzungen an die sogenannte jüngere Linie des Hauses Braunschweig-Lüneburg. Die beiden anderen Territorien, die aus dieser Aufteilung des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg hervorgingen, waren das Fürstentum Lüneburg und das Fürstentum Wolfenbüttel. Herzog Georg, der neue Landesherr von Calenberg-Göttingen seit 1636, entschied sich dafür, die Stadt Hannover gegen den Widerstand ihrer Bürger zu seinem Regierungssitz zu machen, und verlegte ein Jahr später auch seine Residenz hierher. Georg bestimmte in seinem Testament von 1641 für die jüngere Linie, dass die Fürstentümer Lüneburg und Calenberg nie in einer Hand vereinigt werden sollten, solange noch zwei legitime männliche Nachkommen vorhanden wären. Dem älteren Erben fiel dabei das Optionsrecht zwischen den beiden Fürstentümern zu. Diese Wahlmöglichkeit ergab sich für seine vier Söhne Christian Ludwig, Georg Wilhelm, Johann Friedrich und Ernst August, als ihr Onkel Herzog Friedrich, der über Lüneburg regiert hatte, 1648 starb. Nacheinander wechselten sie sich in der Nachfolge in Calenberg-Göttingen ab, da im jeweiligen Erbfall der ältere Bruder immer das einträglichere Lüneburg vorzog. Bei der letzten großen Erbteilung 1665 wurde das Fürstentum Grubenhagen von Lüneburg abgetrennt und endgültig an Calenberg-Göttingen angegliedert.

In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stieg das Fürstentum Calenberg-Göttingen zu einer Regionalmacht im Norden des Reichs auf. Die Voraussetzungen hierfür wurden unter Herzog Johann Friedrich geschaffen, der im September 1665 die Regierung in den Fürstentümern Calenberg-Göttingen und Grubenhagen übernahm. Zwar war er 1651 aus religiöser Überzeugung zum katholischen Glauben konvertiert, doch der evangelische Bekenntnisstand des Landes wurde davon nicht berührt. Unter Johann Friedrich zeichnete sich im Sinne des Absolutismus eine Entwicklung zu Zentralbehörden ab, um die staatliche Macht zu konzentrieren. Wie schon sein Vater und seine Brüder bemühte er sich darum, den Einfluss der Stände zu beschneiden und ihnen politische Mitspracherechte zu entziehen. Vor allem baute Johann Friedrich das Stehende Heer aus, wodurch das Fürstentum zu einem politischen Faktor wurde. Ohne Subsidien, ausländische Geldmittel für militärische Unterstützung, waren die Vergrößerung und der Unterhalt der Armee letztlich nicht möglich. Besonders deutlich zeigte sich diese Abhängigkeit von Hilfsgeldern etwa zu Beginn der Regierungszeit von Johann Friedrichs Neffen, Kurfürst Georg Ludwig. Als wegen des Friedens von Rijswijk 1697 die auswärtigen Zahlungen unterblieben, löste dies in Hannover eine förmliche Finanzkrise aus. Die finanziell kritische Situation endete erst mit dem Spanischen Erbfolgekrieg, der wieder englische und holländische Subsidien zur Folge hatte.

Nach Johann Friedrichs söhnelosem Tod trat 1679 sein jüngster Bruder Ernst August die Nachfolge in Hannover an. Sein Herrschaftsgebiet umfasste zu diesem Zeitpunkt in der Hauptsache die Fürstentümer Calenberg-Göttingen und Grubenhagen sowie die Grafschaft Diepholz. Hinzu kam die Anwartschaft auf das Fürstentum Lüneburg, die ihm sein älterer Bruder Georg Wilhelm 1675 zugesichert hatte, als Ernst August seine Zustimmung zur nachträglichen Legitimierung von Georg Wilhelms unebenbürtiger Ehe mit Eléonore d’Olbreuse gab. Im Inneren setzte Herzog Ernst August die zentralistische, am Aufbau einer effektiven Verwaltung orientierte Politik seiner Vorgänger fort. Die im Februar 1680 erlassene Regimentsordnung förderte die Einrichtung selbstständiger Fachbehörden. Zwar stand dem Herzog als oberste Behörde der Geheime Rat zur Seite, doch die Verwaltung des Landes erfolgte zunehmend von seinem Kabinett aus.

Ernst Augusts wichtigstes politisches Ziel war der Erwerb der Kurfürstenwürde für sein Haus. Diese würde nicht nur das Prestige seines Hauses steigern, sondern auch zahlreiche Rechte und Privilegien beinhalten und die reichspolitischen Mitwirkungsmöglichkeiten vergrößern. Das Kurkollegium stellte das mächtigste politische Gremium des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation dar. Spätestens seit 1682 verfolgte der Herzog die Erlangung des Kurhuts mit aller Konsequenz. Hinter diesem ambitionierten Projekt mussten persönliche Wünsche und Befindlichkeiten der davon betroffenen Familienmitglieder zurückstehen. Um sicherzustellen, dass das von seinem Bruder Georg Wilhelm regierte Fürstentum Lüneburg wirklich an seine Linie fiel, kam es im Dezember 1682 zur Heirat von Ernst Augusts ältestem Sohn Georg Ludwig mit Sophie Dorothea, der einzigen Tochter Georg Wilhelms. Wie Herzogin Sophie, Ernst Augusts Gemahlin, nüchtern feststellte, konnte man deshalb »in Zukunft Hannover und Celle als eines rechnen«.

Um diesen Länderkomplex zusammenzuhalten, kam daher in logischer Konsequenz der Durchsetzung des Erstgeburtsrechts, der Primogenitur, höchste Priorität zu. Seit 1356 schrieb außerdem die Goldene Bulle, das Reichsgrundgesetz, diese Form der Erbfolgeregelung für die Kurhäuser vor. In den Landen der jüngeren welfischen Linie bestimmte hingegen das Testament von Herzog Georg aus dem Jahr 1641, dass die Landesteile Lüneburg und Calenberg unter den beiden ältesten Söhnen zu teilen seien. In seinem Testament von 1682 legte Herzog Ernst August darum die Unteilbarkeit seiner Lande und die Erbfolge seines ältesten Sohnes Georg Ludwig und dessen männlicher Nachkommen fest. Verfasst hatte das Testament, das den Charakter eines Hausgesetzes trägt und in dem sich eine neuzeitliche Staatsauffassung artikuliert, vermutlich der Jurist und herzogliche Vizekanzler Ludolph Hugo. Nachdem im Juli 1683 die kaiserliche Bestätigung des Testaments erfolgt war, musste als nächster Schritt die Zustimmung der jüngeren Söhne zu dieser Gesetzesänderung eingeholt werden. Dies löste einen fast 20 Jahre dauernden bitteren Familienstreit aus, da sich die Prinzen diskriminiert fühlten und mit der für sie vorgesehenen Abfindung durch Apanagen keineswegs einverstanden waren. Zeitweise unterstützte das Wolfenbütteler Herzogshaus aus wohlverstandenem Eigeninteresse die opponierenden Prinzen gegen ihren Vater. Der sogenannte Prinzenstreit nahm seinen Anfang, als der herzogliche Minister Otto Grote zu Schauen Anfang 1685 den Auftrag erhielt, den nächstjüngeren Sohn des Herzogs, Prinz Friedrich August, über die Einführung der Primogenitur zu informieren. In Ernst Augusts Instruktion für Grote hieß es, dass der Herzog die »Fürstenthümer undt Lande nicht alß eine Erbschaft eines privati tractiren undt sie also unter unsern Söhnen theilen könten«. Er müsse vielmehr »den Maximen vernunftiger Regenten folgen und was hierunter die (…) Wollfahrt gesagter Lande (…) erforderte, verordnen.« Ernst August ließ sich von dem familiären Widerstand gegen seine testamentarische Verfügung nicht beeindrucken, sondern bekräftigte die Primogeniturregelung nochmals in der Neufassung seines Testaments von 1688. Ohne zu zögern, schritt er im Dezember 1691 rigoros gegen die von seinem Sohn Maximilian Wilhelm angezettelte Verschwörung ein. Die weit fortgeschrittenen Verhandlungen um die Kurwürde durften nicht gefährdet werden. Der Prinzenstreit entzündete sich nach Ernst Augusts Tod abermals in aller Heftigkeit, als die Prinzen Maximilian Wilhelm und Christian Heinrich sich weigerten, das väterliche Testament anzuerkennen. Zeitweise schien sogar ein Erbfolgekrieg zu drohen. Erst 1703 erledigte sich das Thema endgültig mit dem Tod von Christian Heinrich.

Zum Maßnahmenkatalog beim Streben nach der Kurwürde gehörte ein weiteres Eheprojekt. Zur Absicherung der vom Kurfürsten von Brandenburg bereits grundsätzlich zugesagten Unterstützung von Hannovers Vorhaben wurde Ernst Augusts einzige Tochter Sophie Charlotte im Herbst 1684 mit dem brandenburgischen Kurprinzen Friedrich vermählt. Geschickt wusste der politisch wendige Herzog Ernst August auch seine gut ausgerüsteten Truppen vor dem Hintergrund der Türkenkriege und der kaiserlichen Feldzüge gegen Frankreich zu nutzen. Zwischen König Ludwig XIV. von Frankreich und Kaiser Leopold I. als Bündnispartner hin und her lavierend, bezog er, als die Verhandlungen um die Kurwürde in die entscheidende Phase eintraten, Position für Kaiser und Reich. Der Einsatz großzügig bemessener Bestechungsgelder tat ein Übriges.

Nachdem Ernst August im Dezember 1691 einen Kurvergleich mit seinem älteren Bruder Georg Wilhelm geschlossen hatte, in dem er die Belehnung mit der künftigen Kurwürde für sich gegen die Überlassung des 1689 erworbenen Herzogtums Sachsen-Lauenburg durchsetzte, stand einem erfolgreichen Verhandlungsabschluss kein bedeutendes Hemmnis mehr im Weg. 1692 erreichte Herzog Ernst August sein Ziel – für sein Haus wurde eine neue Kurwürde im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation geschaffen. Im März 1692 schloss er den »Kurkontrakt« mit Kaiser Leopold I., in dem er als Gegenleistung für die neunte Kur die Stellung von Truppen, eine Zahlung von 500 000 Gulden, freie Religionsausübung für die Katholiken im zukünftigen Kurfürstentum und seine Unterstützung bei der Wiedereinführung der böhmischen Kurstimme zusagte. In einem weiteren Vertrag gingen die Häuser Habsburg und Lüneburg eine »Ewige Union« ein. Die Welfen versicherten, dass sie bei allen kommenden Kaiserwahlen ihre Stimme dem habsburgischen Kandidaten geben würden. Am 19. Dezember 1692 fand die Belehnung mit der Kurwürde statt. Minister Grote konnte in Wien den Kurhut für seinen Herzog in Empfang nehmen.

Mit der Verleihung der Kurwürde an Ernst August waren keineswegs alle Reichsstände einverstanden. Zur vollen Anerkennung gehörte die Einführung des neuen Kurfürsten in das Kurkolleg, was an der ablehnenden Haltung einiger Kurfürsten scheiterte. Noch mehr Widerspruch formierte sich im Reichsfürstenstand, dem nach den Kurfürsten wesentlichen politischen Faktor in der Reichspolitik. Einige der Reichsfürsten strebten selbst nach der Kurwürde und stimmten dem eigenmächtigen Handeln des Kaisers in dieser Sache nicht zu. Den härtesten Widerstand gegen diese Erhebung leisteten die Herzöge von Braunschweig-Wolfenbüttel. Sie vertraten die Auffassung, dass die Kur der älteren Linie des Hauses Braunschweig-Lüneburg zustehe. Erst 1708 gelang Ernst Augusts Nachfolger Georg Ludwig die Einführung in das Kurfürstenkolleg. Für den offiziell als »Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg« bezeichneten neuen Kurstaat bürgerte sich bald die Benennung »Kurfürstentum Hannover« bzw. »Kurhannover« ein. Mit dem Frieden von Utrecht, der den Spanischen Erbfolgekrieg beendete, erfolgte 1713 die Anerkennung durch die europäischen Mächte.

Kurfürst Georg Ludwig hatte nach dem Tod seines Onkels Georg Wilhelm 1705 dessen Fürstentum Lüneburg geerbt. Abgesehen vom Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel waren nun alle welfischen Territorien in seiner Hand zusammengeführt. Das hannoversche Kurfürstentum umfasste damit das Fürstentum Calenberg-Göttingen, das Fürstentum Grubenhagen, die Grafschaft Hoya, das Herzogtum Sachsen-Lauenburg und das Fürstentum Lüneburg. 1715 kamen noch die Herzogtümer Bremen und Verden hinzu. Neben Kurbrandenburg war Kurhannover zur führenden Macht im Norden des Deutschen Reichs aufgestiegen. Nach der Erledigung der Kurangelegenheit wurde die englische Sukzession die beherrschende Frage für das Haus Hannover. Als Georg Ludwig 1714 nach dem Tod der Stuart-Königin Anna von Großbritannien als nächster protestantischer Verwandter die britische Königskrone erbte, änderten sich die Wertungen fundamental. Die hannoverschen Welfen erlangten dadurch weltpolitische Bedeutung.

Ernst August

* 1629 in Herzberg am Harz

† 1698 in Herrenhausen bei Hannover

Fürstbischof von Osnabrück,

Kurfürst von Hannover

Als jüngster von vier Söhnen des Herzogs Georg von Calenberg und dessen Gemahlin Anna Eleonore von Hessen-Darmstadt am 20. November 1629 geboren, besaß Ernst August keine Ansprüche auf ein eigenes Territorium. Dank seines unbeugsamen Machtwillens und Ehrgeizes sowie einer Portion Glück gelang ihm allerdings eine bemerkenswerte Karriere unter den Fürsten seiner Zeit.

Eine erste Versorgung sicherte dem nachgeborenen Prinzen 1646 die Wahl zum Koadjutor des Erzstifts Magdeburg, die jedoch nicht von Dauer war. Das Haus Braunschweig-Lüneburg verlor auf dem Westfälischen Friedenskongress in Osnabrück neben Magdeburg auch die Koadjutorien von Bremen, Halberstadt und Ratzeburg. Für Ernst August eröffnete sich hingegen durch den Westfälischen Friedensvertrag von 1648 die Aussicht auf eine eigenständige Herrschaft. Da nun im Hochstift Osnabrück gemäß dieses Vertrags ein katholischer Bischof im Wechsel mit einem protestantischen Prinzen aus der jüngeren Linie des Hauses Braunschweig-Lüneburg regieren sollte, wurde der Lutheraner Ernst August zum Nachfolger des derzeitigen katholischen Bischofs Franz Wilhelm Graf von Wartenberg nominiert.

»Er gefiel jedermann. Aber da er der jüngste von vier Brüdern war, so sah man ihn nicht als einen zum Heiraten geeigneten Prinzen an«, erinnerte sich später Ernst Augusts Gemahlin. Der Welfe verdankte seine prestigeträchtige Ehe mit Sophie von der Pfalz nicht seinem gewinnenden Auftreten, sondern einem unerwarteten »Brauttausch«. Eigentlich hätte sein fünf Jahre älterer Bruder Georg Wilhelm die Prinzessin heiraten sollen. Kurz vor der Hochzeit machte der Verlobte jedoch einen Rückzieher und überließ stattdessen dem jüngeren Bruder seine Braut mit der Zusicherung, dass er ehelos bleiben und ihm sein Fürstentum vermachen werde. Als Ernst August im Oktober 1658 die Wittelsbacherin in Heidelberg heiratete, konnte er allerdings noch nicht wissen, dass diese Verbindung mit der Enkelin des Stuart-Königs Jakob I. seinem Haus die Anwartschaft auf die englische Krone einbringen würde. Aus der Ehe mit Sophie stammten sieben Kinder. Ernst Augusts außereheliche Beziehungen nahm seine Gemahlin scheinbar weitgehend mit Gleichmut hin. Auch mit der langjährigen Mätresse ihres Gatten, Clara Elisabeth von Platen, wusste sie sich zu arrangieren.

Als der Osnabrücker Fürstbischof Franz Wilhelm von Wartenberg im Dezember 1661 starb, folgte ihm Ernst August gemäß den vertraglichen Bestimmungen als erster Protestant auf den bischöflichen Stuhl nach. Dem Welfen gelang es als Landesherr, die Stände im Hochstift systematisch in ihrem politischen Einfluss zurückzudrängen. Weil das seit dem 12. Jahrhundert als Bischofsresidenz dienende Schloss Iburg südlich von Osnabrück seinem gesteigerten Repräsentations- und Platzbedürfnis nicht mehr genügte, ließ er sich aus privaten Mitteln in der Hauptstadt Osnabrück zwischen 1667 und 1675 eine neue Residenz errichten, in der sich auch sein landesherrlicher Machtanspruch spiegelte. Eine dauerhafte Versorgung für seine Kinder sicherte ihm erst sein Herrschaftsantritt im Fürstentum Calenberg-Göttingen-Grubenhagen mit der Residenzstadt Hannover. Da sein 1679 verstorbener älterer Bruder Johann Friedrich nur Töchter hinterließ, konnte Ernst August ihn beerben. Spöttisch kommentierte sein Schwager, Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz, diesen glückhaften Aufstieg Ernst Augusts zum regierenden Herzog mit den Worten: »Unser Herr Gott gibt den seinigen schlaffendt.«

Das Leineschloss in Hannover formte Ernst August zu einem zeitgemäßen fürstlichen Herrschaftssitz um. Sein kluges politisches Vorgehen äußerte sich in der geschickten Auswahl geeigneter Berater und Diplomaten. Mit der von ihm am 18. Februar 1680 erlassenen sogenannten Regimentsordnung wurde das System der hannoverschen Zentralbehörden noch für das 18. Jahrhundert festgeschrieben.

Weil sich sein Bruder Georg Wilhelm entgegen den früheren Zusicherungen zu Ernst Augusts Beunruhigung doch verehelicht hatte, wurde eine Lösung mittels Heirat ihrer Kinder gefunden. Im Dezember 1682 vermählte sich Georg Wilhelms Tochter und einzige Erbin Sophie Dorothea mit ihrem Vetter Georg Ludwig. Auf diese Weise wurde endgültig sichergestellt, dass das Fürstentum Lüneburg mit der Residenz Celle an Ernst Augusts Nachkommen fiel. Zugleich bot diese künftige Vereinigung der beiden Fürstentümer eine ausreichende territoriale Basis im Ringen um die von Ernst August angestrebte Kurwürde.

Eine weitere wichtige Maßnahme auf dem Weg zur Kur für das Haus Hannover war die Einführung der Primogenitur, des Erbfolgerechts des Erstgeborenen. Um späteren Erbteilungen vorzubeugen und die territoriale Einheit zu sichern, führte Ernst August mit kaiserlicher Bestätigung vom Juli 1683 das Erstgeburtsrecht ein. Als 1685 diese zunächst geheim gehaltene Regelung bekannt wurde, löste dies den heftigen Widerstand seiner fünf jüngeren Söhne aus, die darin zeitweise von ihrer Mutter unterstützt wurden. Fast 20 Jahre lang zog sich der »Prinzenstreit« hin, bis er Anfang des 18. Jahrhunderts erlosch. Als der Konflikt allerdings 1691 in einer Verschwörung seines Sohnes Maximilian Wilhelm eskalierte, griff Herzog Ernst August rücksichtslos durch. Während der Prinz mit zeitweiliger Festungshaft davonkam, ließ Ernst August dessen Komplizen, den in herzoglichem Dienst stehenden Oberjägermeister Otto Friedrich von Moltke, 1692 hinrichten. An der Primogenitur führte für Ernst August kein Weg vorbei, um die Kurwürde zu bekommen. Dieses Ziel, das nicht nur das Ansehen seines Hauses innerhalb der fürstlichen Welt erhöhen, sondern ihm auch mehr politischen Einfluss verschaffen sollte, verlor der ehrgeizige Welfe nicht aus den Augen. Ohne größere Bedenken wechselte er deshalb seinen politischen Kurs, wenn ihm dies zur Erlangung des Kurhuts geboten erschien. 1692 wurde ihm tatsächlich die neunte Kur im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation durch Kaiser Leopold I. verliehen. Der Kaiser erhoffte sich davon den Gewinn eines Verbündeten in Norddeutschland.

Als typischer Fürst der Barockzeit führte Ernst August einen glänzenden Hof, was gleichzeitig seinen Machtanspruch unterstreichen sowie Ruhm und Prestige seines Hauses mehren sollte. Den Höhepunkt des höfischen Lebens in Hannover bildete der unter ihm aufwendig gefeierte Karneval, der Anlass für opulente Opern- und Theaterinszenierungen war. Auf seinen ausgedehnten Italienreisen war Ernst August zum Opernliebhaber geworden und förderte nun diese Kunstgattung in Hannover. Er holte nicht nur den bedeutenden italienischen Komponisten Agostino Steffani als Kapellmeister an seinen Hof, sondern ließ auch eigens ein prächtiges Opern- und Theaterhaus neben dem Leineschloss in Hannover errichten. Das Theater wurde im Januar 1689 mit der Uraufführung von Steffanis Oper »Enrico Leone« eröffnet. Der dabei betriebene Prunk stand in engem Zusammenhang mit der erstrebten Kurwürde. Während das Theater im 19. Jahrhundert abgerissen wurde, blieb eine andere hervorragende kulturelle Schöpfung von Ernst August und seiner Gattin Sophie erhalten: der Große Garten der Sommerresidenz Herrenhausen mit seinem barocken Gartentheater. Eindrucksvoll ließen sich hier Fest und Repräsentation miteinander verbinden. Zum höfischen Umfeld gehörte auch der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz, den einst Herzog Johann Friedrich als Bibliothekar an den Hof in Hannover geholt hatte. Im Gegensatz zu Sophie blieben Ernst August das Werk und die Bedeutung von Leibniz im Grunde fremd, obwohl dieser in seinem Auftrag an einer Geschichte des Welfenhauses arbeitete.

Ernst Augusts letzte Lebensjahre waren von familiären Schicksalsschlägen und politischen Rückschritten überschattet. Zwei seiner jüngeren Söhne verloren ihr Leben im Dezember 1690 auf den Schlachtfeldern des Großen Türkenkrieges. Das Ansehen seines eben erst zu kurfürstlichen Würden aufgestiegenen Hauses gefährdete das Ehedesaster seines ältesten Sohnes Georg Ludwig, das sich in Verbindung mit der Königsmarck-Affäre zu einer Staatsaffäre entwickelte. Die Scheidung sowie die lebenslange Gefangenschaft seiner einstigen Schwiegertochter Sophie Dorothea erregten europaweit Aufsehen. Wirklich anerkannt war der Kurhut für Ernst August und seine Nachkommen zu diesem Zeitpunkt keineswegs. In- und ausländische Mächte machten Front gegen die Kur für Hannover, die erst nach Ernst Augusts Tod endgültig anerkannt werden sollte.

Gesundheitlich schwer angeschlagen durch mehrere Schlaganfälle, die zu Sprach- und Bewegungsstörungen führten, musste Ernst August die Lenkung der Staatsgeschäfte zunehmend dem Kurprinzen Georg Ludwig überlassen. Mit seiner Ehefrau Sophie versöhnte sich der Kurfürst wieder; denn ihr Verhältnis war durch den Prinzenstreit stark belastet worden. Gegen Ende seines Lebens wollte er Sophie als einzige langjährige Vertraute um sich haben. Am 23. Januar 1698 verstarb er nach einem weiteren Schlaganfall in Schloss Herrenhausen. Als eindrucksvolle Herrscherpersönlichkeit hatte er nicht nur den neuen Staat Hannover aus der Taufe gehoben, sondern diesem auch eine machtvolle Stellung neben dem größeren Kurfürstentum Brandenburg im Norden Deutschlands verschafft. Treffend hatte 1694 ein französischer Besucher über ihn bemerkt, dass er ein Mann »von königlichem Geist, fähig zu den größten, aber auch den gewalttätigsten Plänen« sei.

Sophie von der Pfalz

* 1630 in Den Haag

† 1714 in Herrenhausen bei

Hannover

Kurfürstin von Hannover