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Thomas Schölderle

Geschichte der Utopie

Eine Einführung

2., überarbeitete und aktualisierte Auflage

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2017

 

Dr. Thomas Schölderle ist Politikwissenschaftler, Publikationsreferent der Akademie für Politische Bildung in Tutzing und Dozent an der Hochschule für Politik München.

 

Für Sabine und Felina

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar
Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes
ist unzulässig.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Satz: büro mn, Bielefeld

UTB-Band-Nr. 3625 | ISBN 978-3-8252-4818-5 | eISBN 978-3-8463-4818-5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1.Einleitung: Utopiebegriff – aber welcher?

2.Thomas Morus und seine Utopia

2.1Das Rätsel: Leben und Werk

2.2Grundzüge und Gestaltungsmerkmale der Utopia

2.3Das Experiment: Vernunft als Staatsprinzip

2.4Zum Utopiebegriff der Utopia

3.Antike und Mittelalter

3.1Antike Mythologie und das „Goldene Zeitalter“

3.2Platon und seine „Politeia“

3.3Mittelalterliche Eschatologie und Chiliasmus

3.4Joachim von Fiore und „Das Dritte Zeitalter“

3.5Thomas Müntzers revolutionärer Chiliasmus

4.Renaissance und Frühe Neuzeit

4.1Tommaso Campanella und die „Civitas Solis“

4.2Johann Valentin Andreae und die „Christianopolis“

4.3Francis Bacon und die „Nova Atlantis“

5.Absolutismus und Aufklärung

5.1Vertragstheorie und Utopie

5.2Gerrard Winstanley und „The Law of Freedom“

5.3Gabriel de Foigny und die „Terra Australe“

5.4Johann Gottfried Schnabel und die „Insel Felsenburg“

5.5Louis-Sébastien Mercier und „L’ An 2440“

6.Sozialismus und Utopie im 19. Jahrhundert

6.1Industriezeitalter und soziale Frage

6.2Robert Owen: Utopie und Sozialexperimente

6.3Marxismus und Utopie

6.4William Morris und „News from Nowhere“

7.Von der Dystopie zur Utopie der Postmoderne

7.1George Orwell und die Schreckensvision von „1984“

7.2Ernest Callenbach und die „Ecotopia“

7.3Marge Piercy und „Woman on the Edge of Time“

8.Schlussbemerkung

Anmerkungen

Bibliografie

Literaturübersicht

Primärtexte

Sekundärliteratur

Personenregister

Vorwort

Die Geschichte der Utopie ist eine Geschichte der Defizite und Missstände ihrer Herkunftsgesellschaften. Neben der kritischen, manchmal sogar fundamentalkritischen Analyse ihrer Gegenwart liefern Utopien aber stets auch konstruktive Gegenbilder zur historischen Wirklichkeit. Die wichtigsten, innovativsten und originellsten Entwürfe werden auf den folgenden Seiten porträtiert. Zugleich dient der chronologische Abriss einer Systematisierung und Abgrenzung der gesamten Denktradition.

Natürlich freut es den Autor, wenn ein Buch bereits relativ bald nach seiner Erstveröffentlichung eine zweite Auflage nötig macht. Für einen zusätzlichen Nachfrageschub, eine Art Sonderkonjunktur dürfte dabei auch ein besonderes Jubiläum gesorgt haben. Gemeint ist der 500. Jahrestag des Erscheinens von Thomas Morus’ Utopia (1516). Just im Jubiläumsmonat Dezember 2016 war die Erstausgabe vergriffen. Das Interesse an Utopien scheint vorerst ungebrochen: Zahlreiche Konferenzen, Tagungen, Buchveröffentlichungen, Feuilleton- und Medienberichte haben die Breite der Utopiediskussion in den zurückliegenden Monaten gleichsam auf eine neue Stufe gehoben.

Für die vorliegende Neuauflage wurde der Text gründlich durchgesehen. Wo es Fehler zu beheben galt oder sich eine bessere Formulierung anbot, ist die Passage korrigiert. Zudem wurde der Text an einigen Stellen erweitert, insbesondere im Schlusskapitel mit einem Abschnitt zur gegenwärtigen Situation der Utopie. Darüber hinaus ist die neuere Literatur eingearbeitet worden. Wie in der Erstveröffentlichung gilt aber auch jetzt: Das Buch ist eine Überblicksdarstellung. Der Akzent liegt vor allem auf Kürze und Lesbarkeit. Anmerkungen sind hauptsächlich auf den Nachweis direkter Zitate, den Hinweis auf Quellentexte sowie weiterführende Literatur begrenzt.

Mein Dank gilt allen bisherigen Leserinnen und Lesern und ihren vielen positiven Resonanzen und Rezensionen, meinen Kolleginnen und Kollegen an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing sowie meinen Studierenden an der Hochschule für Politik in München, die unter anderem in einer Vorlesung die Pfade der Utopie diskussionsfreudig mit mir beschritten haben. Besonderen Dank schulde ich auch dem Böhlau-Verlag für die stets professionelle Realisierung des Projekts sowie allen Freunden (ob Utopieforscher oder nicht) und natürlich meiner kleinen Familie, ohne deren Verständnis und Unterstützung weder Erst- noch Zweitauflage möglich gewesen wäre.

Thomas Schölderle, im Februar 2017

1.Einleitung: Utopiebegriff – aber welcher?

Am Anfang stand eine kurze, nur gut hundertseitige Schrift aus dem Zeitalter der Renaissance. Mit seiner Erzählung von der entlegenen Insel „Utopia“ (1516) kreierte der spätere englische Lordkanzler Thomas Morus nicht nur ein neues Wort, sondern bereicherte auch zahllose Sprachen dieser Welt um die Vokabel. Aus dem Eigennamen für den Schauplatz von Morus’ Fiktion wurde bald die Bezeichnung für ein literarisches Genre, später ein allgemein gebräuchlicher Begriff, letztlich ein vieldeutiges Schlagwort.

Mit dem Ende des Realsozialismus freilich, erreichte die Konjunktur des Wortes ihren vorläufigen Tiefpunkt. Die kommunistische Bilanz des Schreckens wirkte wie eine Schockstarre für alle Illusionen und Visionen, die sich dem Realen nicht einverleiben ließen. Wer noch das Wort „Utopie“ im Mund führte, galt als verdächtig, als Verführer, als geschichtsvergessen. Nach der zweiten totalitären Katastrophe schienen utopische Wunschvorstellungen dem kollektiven Bewusstsein gänzlich abhanden gekommen. Das Scheitern des Sowjetimperiums war weithin gleichgesetzt mit dem Ende der Utopie, wiewohl der Realsozialismus, falls überhaupt, nur eine Frucht einer weitaus vielschichtigeren Tradition war, die auch zahlreiche Blüten des Denkens zum Vorschein gebracht hat. Das Wort also, soviel ist nicht zu bestreiten, war stets mehr als nur ein nüchtern-technischer Terminus einer bestimmten Sparte des politisch-philosophischen Diskurses. Es war immer auch, zumindest seit dem 19. Jahrhundert, ein politischer Kampfbegriff. Und das ist nur einer der Gründe, weshalb der Blick auf die Bestimmung des Begriffs einem so kaleidoskopischen Unterfangen gleicht.

Nun ist es gewiss keine ungewöhnliche Praxis, dass Überblicksdarstellungen einleitend auf die irreführende Breite oder gar Konfusion der behandelten Begriffe verweisen. Nirgendwo scheint dieser Hinweis aber derart berechtigt, wie im Falle des Utopiebegriffs. Die Alltagssprache, häufig Quelle von Missverständnissen, ist dabei kaum das Problem. Was dort noch eine vergleichsweise klar umgrenzte Bedeutung besitzt, im Sinne von „un-wirklich“ oder „nicht-realisierbar“, das hat sich in der sozialwissenschaftlichen Debatte zu einem Sammelsurium von Begriffsmustern ausgewachsen, die sich im Extremfall sogar diametral widersprechen. Es ist vor allem die Wissenschaft selbst, die das fast babylonische Sprachengewirr zu verantworten hat.

Inwieweit Morus’ Schrift für die Begriffsbildung als Richtgröße dienen kann und soll, ist umstritten. Den Ausgangspunkt bei Morus zu wählen, bietet sich allerdings schon aus ganz pragmatischen Gründen an. Morus war es, der das Wort erfunden hat.1 Aus seinem Werk konstituiert sich unbestreitbar ein Prototyp, der für viele folgende Entwürfe den Charakter einer Musterschrift beibehalten hat. Mit Blick auf Form, Inhalt, Funktion und Intention seiner Schrift lassen sich zudem viele Kriterien eines verallgemeinerungsfähigen Begriffs ermitteln. Ferner zeigt sich, wie sehr zahlreiche Grundsatzdiskussionen zum Utopieverständnis gerade an der Interpretation von Morus’ Utopia festzumachen sind. Es braucht daher zumindest gute Gründe, um Morus’ Schrift bei der Begriffsbestimmung auszugrenzen oder als exotischen Sonderfall zu behandeln. Andererseits lässt sich die Utopia nicht einfach zum alleinigen Maßstab erheben. Morus’ Wortkreation hat fortgewirkt. Mit späteren Entwürfen und nicht zuletzt mit der gesamten Utopiedebatte sind der Vokabel eine Fülle neuer Aspekte und Bedeutungsnuancen zugewachsen. Einige Hinweise zu den Charakteristika des Sprachgebrauchs und der Diskurslandschaft mögen daher helfen, das Feld einleitend etwas zu strukturieren.

Aufschlussreich ist bereits der Blick auf den etymologischen Ursprung des Begriffs. Morus’ Wortschöpfung ist geformt aus zwei griechischen Vokabeln: „ou“ heißt „nicht“, „tópos“ ist der „Ort“. Utopia bedeutet also wörtlich so viel wie Nichtort, Nirgendland oder Nirgendwo. Diese schlagende Kreation ist sprachlich allerdings falsch gebildet, weil im Griechischen die Negation „ou“ stets zur Satzverneinung dient, während für die Negation eines Adjektivs oder Substantivs das sogenannte „Alpha privativum“ verwendet wird, das auch im Deutschen durch Bildungen wie apolitisch oder amoralisch vertraut ist. Gleichwohl darf unterstellt werden, dass Morus’ fehlerhafte Wortschöpfung kein Versehen war. Die beiden griechischen Präfixe „ou“ und „eu“ haben im Englischen einen homofonen Klang. Daher kann der Begriff auch als „Eutopia“ gelesen werden, womit „guter“ Ort gemeint wäre. Dieses Wortspiel wird in einem der Utopia vorangestellten Sechszeiler sogar bewusst verwendet.2 Im unmittelbaren Entstehungskontext der Utopia tritt zudem noch eine weitere Anspielung zutage: Der Humanist Budaeus nutzt in einem Begleitbrief zur Utopia das Wort „Udepotia“ (griech. „oudepote“ = „niemals“) und verweist damit auf die Bedeutung von „Niemalsland“ 3 – eine Assoziation, die bemerkenswerterweise mit einer späteren und äußerst einschneidenden Veränderung innerhalb der Utopiegeschichte korrespondiert, denn spätestens gegen Ende des 18. Jahrhunderts ersetzt Louis-Sébastien Mercier mit seiner Schrift Das Jahr 2440 die Dimension des Raumes durch die Dimension der Zeit.4 Fortan wird die utopische Fiktion aus Sicht des Verfassers fast ausnahmslos in die Zukunft projiziert. Zugleich verliert sich dabei allerdings auch zunehmend die Implikation des Wortes „nie“, weil apodiktische Aussagen über Entwicklungen der Zukunft verständlicherweise kaum noch in vergleichbarer Weise möglich sind.

Mit dem 19. Jahrhundert hält der Terminus dann auch Einzug in die Alltagssprache. Wenngleich das Adjektiv „utopisch“ seither meist negativ besetzt ist, so hat sich doch vieles vom Ursprungssinn der Wortschöpfung bis in die Gegenwart erhalten: Ein Plan, der utopisch ist, lässt sich nicht realisieren; eine utopische Erwartung wird sich niemals erfüllen. Das Adjektiv meint also so viel wie „unrealistisch“, „träumerisch“ oder „übersteigert“ und bezeichnet insofern ein Denken oder Handeln, das zwangsläufig scheitern muss, weil ein realitätsblinder Urheber die Voraussetzungen für eine Verwirklichung verkennt.5 Entscheidend ist demnach die Nicht-Realisierbarkeit des Geschriebenen, Gesagten oder Gedachten, und die mitschwingende Kritik deutet an, dass Utopien in unzulässiger Weise wegführen vom Möglichen und Nötigen. Diesem abwertend gemeinten Sinn zufolge besitzt der Begriff zumindest tendenziell die Bedeutung von „Hirngespinst“, „Luftschloss“ oder „Wolkenkuckucksheim“. Eine weitere umgangssprachliche Bedeutung lässt sich außerdem im Sinne einer „über den Tagesbetrieb hinaus reichende(n) Perspektive“6 ausmachen. Ein derartiger Sprachgebrauch kann nicht nur wertneutral, sondern durchaus positiv gemeint sein; zugleich ist das Bedeutungsfeld dann allerdings bereits extrem weit gefasst. Für einen wissenschaftlich sinnvollen Begriff ist von den meisten alltagssprachlichen Bedeutungen aber schon deshalb abzusehen, weil nicht nur zentrale Funktionen, sondern letztlich auch das zwingendste Element aller Utopien verloren gegangen ist: die Intention unmittelbarer Sozialkritik.7

Der abwertende Sinn des Alltagsverständnisses artikuliert sich noch deutlich radikaler auf dem Feld politisch-ideologischer Auseinandersetzungen. Das Wort wurde und wird häufig als politischer Kampfbegriff genutzt, um gegnerische Positionen als illusionär und wirklichkeitsfremd zu titulieren. Bereits im 19. Jahrhundert nahm dieser polemische Sprachgebrauch seinen Anfang: Die Frühsozialisten machten sich gegenseitig die Utopie zum Vorwurf 8, die Marxisten klebten den Frühsozialisten abschätzig das Etikett „utopisch“ an die Brust und werteten deren Entwürfe als unwissenschaftliche „Phantasterei“ 9; das konservative Spektrum wiederum attackierte den gefährlichen „Utopismus“ der Marxisten. Die Utopie wurde zum Kampfterminus in der Arena politischer Auseinandersetzungen und bis heute dient die Vokabel nicht selten der Warnung vor irrealen Zielvorstellungen und Theorien.

Die Möglichkeit eines allgemein akzeptierten Utopiebegriffs scheitert aber auch daran, dass das Wort selbst in der Forschung beständig normativ überlagert ist. Bestimmung und Bewertung gehen fast immer Hand in Hand. In der wissenschaftlichen Diskussion sind vor allem drei Utopiebegriffe richtungsweisend geworden. Grob unterscheiden lassen sich ein klassischer, ein sozialpsychologischer sowie ein totalitarismustheoretischer Utopiebegriff. Der Ausgangspunkt des klassischen Begriffs ist die im Jahr 1845 von Robert von Mohl geprägte Bezeichnung „Staatsroman“. Die gesamte Gattung definiert er als „Dichtungen (…) eines idealen Gesellschafts- oder Staatslebens“ 10. Zwar ist die Begriffsbildung gleich doppelt unglücklich, weil weder die epische Form des Romans noch die „Idealstaats“-Beschreibung wirklich konstitutiv für die Mehrzahl der Utopien ist. Doch steht die klassische Utopieforschung bis heute weitgehend in der Tradition des Mohlschen Ansatzes. Sie orientiert sich hauptsächlich am Prototyp von Morus’ Utopia und ist perspektivisch auf die prägenden (meist literarischen) Entwürfe in der Geschichte konzentriert. Demgegenüber liegt dem sozialpsychologischen Utopiebegriff ein deutlich erweitertes Verständnis zugrunde. Maßgeblich initiiert wurde es von Gustav Landauer (Die Revolution, 1907); seine wichtigsten Vertreter waren schließlich Karl Mannheim (Ideologie und Utopie, 1928) und Ernst Bloch (Das Prinzip Hoffnung, 1959). Später fand der Ansatz auch Fürsprecher im Soziologen Arnhelm Neusüss oder dem Bloch-Schüler Burghart Schmidt.11 Dabei rekurrieren die Autoren allesamt nicht mehr auf die Denktradition, sondern betrachten Utopie als eine Art Bewusstseinsform oder bloße Intention. Das hat zur Folge, dass – etwa bei Ernst Bloch – von Schaufensterauslagen bis zur Bibel, von Tagträumen bis zu Beethovens Neunter alles unter den Utopiebegriff subsumiert werden kann.12 Damit aber lässt sich ebenso schlecht operieren, wie mit dem dritten Typus: dem totalitarismustheoretischen Utopiebegriff. Sein prägendes Muster schuf der bekannte Wissenschaftsphilosoph Karl Popper13 und es erlebte vor allem im Kontext der Zeitenwende von 1989 / 90 eine beachtliche Renaissance.14 Utopien gelten demnach als geistige Vorwegnahme späterer totalitärer Herrschaftsformen. Der Reduktionismus des Ansatzes liegt gleichsam auf der Hand, denn schwerlich lässt sich allen historischen Utopieentwürfen ein totalitärer Gehalt, geschweige denn eine solche Funktion, und im Grunde nie: eine solche Intention nachsagen.

Betrachtet man nun die klassischen, vor allem frühneuzeitlichen Entwürfe selbst, so ist auffallend, dass sie zunächst fast allesamt ein fiktives Gemeinwesen beschreiben, das auf eine Insel projiziert ist. Eine Rahmenhandlung dient der literarischen Vermittlung. Zumeist wird die Inselwelt von einem Seefahrer bereist, der nach Europa zurückkehrt und dort die fremden Sitten und Einrichtungen beschreibt. Abgesondert von der Außenwelt, haben die utopischen Gesellschaften nur wenig Kontakt zu anderen Völkern. Nach innen dominiert häufig eine geschlossene Gesellschafts- oder Staatsordnung, während nach außen die Schutz- und Abwehrbereitschaft vor weniger harmonischen Gesellschaften im Vordergrund steht. Die Insellage ist aber keineswegs nur eine Sache bloßer Einkleidung, sondern zentral für eine Eigenheit, die man als Isolation der Utopie beschreiben kann. Möglich wird dadurch eine gleichsam mathematische Berechnung kausaler Beziehungen, etwa wie sich eine bestimmte Form der Erziehung auf das Rechtssystem auswirkt oder welche Konsequenzen aus den ökonomischen Grundlagen für die Notwendigkeit von Gerichten oder Gefängnissen folgen. Es muss daher kaum verwundern, wenn die utopischen Ordnungen – architektonisch wie sozial – gleichsam wie mit einem Zirkel auf dem Reißbrett konstruiert erscheinen. In der Konsequenz kennen die utopischen Gesellschaften auch so gut wie keinen sozialen Wandel. Sie sind statisch und konfliktfrei. Wo keine Kräfte von außen wirken, fehlen soziologische Prozesse und gesellschaftliche Dynamik. Damit ist man aber sogleich bei der Frage nach ihrem Geltungsanspruch angelangt. Utopien sind in ihrer klassischen Ausprägung fast allesamt rationale Gedankenexperimente, die in erster Linie der zeitgenössischen Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Die Funktion des Textes liegt in einem Anstoß zur Reflektion über die Grundlagen der zeitgeschichtlichen Wirklichkeit. Mit dieser Funktion deckt sich über die längste Zeit der Utopiegeschichte auch die Intention der Utopisten. Sie beabsichtigen in den wenigsten Fällen einen Modellentwurf zur maßstabsgetreuen Totalrevision der Gesellschaft. Der unmittelbare Verwirklichungswille bleibt die seltene Ausnahme. Der Autor führt den Leser vielmehr in eine alternative Welt und verfolgt damit das Anliegen, diesen mit geschärftem Blick in die Realität zurückkehren zu lassen. Die pädagogische, zum Teil sogar spielerische Dimension der Utopietradition ist häufig übersehen worden. Man hat die Entwürfe an den falschen Stellen ernst genommen und ihre Urheber leichtfertig zu irrationalen Fantasten oder zu totalitären Vordenkern des 20. Jahrhunderts erklärt.

Wenn selbst bei Morus’ Utopia, die zweifellos zu den besterforschtesten Texten der Ideengeschichte gehört, der Wechsel zwischen Ernst und Ironie immer wieder übersehen wurde, ja in manchen Fällen überhaupt nicht zu klären ist, dann muss nicht verwundern, dass auch viele weitere Entwürfe der Utopiegeschichte mit einem vorschnellen Fehlurteil belastet sind: Allzu gern wird der porträtierte Inhalt zur Idealstaatsvorstellung des jeweiligen Utopisten erklärt. Das führt im Einzelfall zu einer missverständlichen Deutung, im großen Kontext der Utopiegeschichte zu einem fehlgeleiteten Utopiebegriff.

Die nachstehende Darstellung gibt einen Überblick zur Geschichte der politischen Utopien. Dabei wird die Feststellung kaum verwundern, dass schon die Frage nach der „Geburtsstunde“ der Utopie höchst kontrovers beantwortet wird: Wo sie als spezifisch abendländisch-neuzeitliches Phänomen betrachtet wird, lässt man sie für gewöhnlich beim „modernen“ Mustertext von Morus beginnen.15 Für einen weiten Utopiebegriff hingegen, dem die Utopie als philosophisch-anthropologische Konstante gilt, markiert die Utopia keine besondere Zäsur. Die Lesart verzichtet auf die These von der originären Neuzeitlichkeit der Utopie und folglich findet sich das Phänomen über die gesamte Menschheitsentwicklung verstreut, mitunter selbst in so unterschiedlichen Ausdrucksformen wie dem antiken Mythos, der mittelalterlichen Eschatologie oder der modernen Architektur.16 Die Frage nach dem Beginn der Utopie steht somit nicht nur in engem Zusammenhang mit der ideengeschichtlichen Verortung von Morus’ Schrift, sondern impliziert auch eine Vorstellung dessen, was unter Utopie überhaupt verstanden wird. Wer die prägenden Merkmale von Morus’ Mustertext ernst nimmt, der kommt um die Feststellung allerdings kaum herum, dass sich die Utopie der Frühen Neuzeit – trotz mancher Anknüpfungs- und Berührungspunkte an bekanntes, antikes wie mittelalterliches Gedankengut – nicht als bloße Verlängerung oder Modifizierung bestehender Geistigkeit auffassen lässt; ihr ist etwas genuin Neues inhärent, das wohl auch die Autoren selbst so verstanden wissen wollten: Morus hat dies mit dem Begriff der „neuen Insel Utopia“ ebenso signalisiert, wie Bacon mit seiner „Neu-Atlantis“.

Wenngleich der vorliegende Überblick von der Überzeugung geleitet ist, dass die Utopie ein durchaus „modernes“ Profil besitzt, so ist es für das Vorgehen kaum ratsam, den Begriff von vornherein auf die politische Neuzeit zu begrenzen. Der Blick auf mögliche Utopien oder Vorläuferformen in Antike und Mittelalter wäre bereits per Definition verbaut. Von Morus’ Schrift ausgehend, soll die Perspektive deshalb sowohl rückwärts wie vorwärts gerichtet werden. Dem zentralen Stellenwert der Utopia trägt die Darstellung dadurch Rechnung, dass ihr Porträt dem chronologischen Überblick zunächst vorangestellt ist. Gleich zu Beginn soll damit ein analytischer Standard gesetzt werden. Anschließend werden in kurzen Einzelprofilen vor allem utopische Entwürfe und ihre Urheber porträtiert, aber auch politische Ansätze, Theorien und Denkströmungen, die gewisse Schnittmengen mit der klassischen Utopie aufweisen. Neben der historischen Perspektive verfolgt die Übersicht zugleich ein systematisches Anliegen. Das Vorgehen soll nicht nur erlauben, wesentliche Entwicklungslinien nachzuzeichnen, sondern auch zentrale Strukturelemente, Intentionen und Wirkungsweisen der Utopien aufzuzeigen sowie Abgrenzungen und Binnendifferenzierungen zu ermöglichen.

Jede historische Übersicht, die mit Beispielen operiert, ist vor das gleiche Problem gestellt: Ihre Auswahl ist in gewisser Weise immer willkürlich. Im Falle der Utopiegeschichte kommt hinzu, dass das Verständnis von „Utopie“ in der Forschung derart umstritten ist, dass sich je nach zugrunde gelegtem Utopiebegriff im Folgenden völlig unterschiedliche, zum Teil sogar sich gegenseitig ausschließende Beispiele finden würden. So sind vor allem mit dem sozialpsychologischen wie dem totalitären Begriffsmuster große analytische Schwierigkeiten für die Rekonstruktion der Utopiegeschichte verbunden. Einerseits findet sich dort eine fast groteske Ausweitung des Bedeutungsfeldes, etwa wenn bei Ernst Bloch Märchen, Mythen, Fabeln, Heilserwartungen, Tagträume oder Sozialprognosen unisono als Utopien angesprochen werden oder wenn der Wissenssoziologe Karl Mannheim (1893–1947) sämtliche ideologische Weltanschauungen der Neuzeit als Utopien wertet.17 Andererseits sind die Begriffsmuster auch viel zu eng, weil selbst die prägenden Entwürfe der Utopiegeschichte dort keinen rechten Platz mehr finden. Hauptgrund ist, dass die Konzeptionen primär vom Wirkkontext der Utopien ausgehen. So hat beispielsweise für Karl Mannheim eine Vorstellung ausgerechnet dann als Utopie zu gelten, wenn sie sich als verwirklichbar herausgestellt hat, das heißt die Realisierung liefert ex-post den Beweis für die Utopie.18 Nicht nur, dass diese Bestimmung der gängigen, auch alltagssprachigen Bedeutung völlig zuwiderläuft, verbunden ist damit auch, dass man immer erst nachträglich einen Maßstab in Händen hält, um ein Urteil über die Zugehörigkeit zum utopischen Denken fällen zu können. Nicht einzusehen ist jedoch, warum erst eine spätere Realisierung oder historische Wirkung darüber entscheiden soll, ob man einen früheren Entwurf als Utopie einzustufen hat. Für den totalitären Utopiebegriff gilt diese reduktionistische Perspektive kaum weniger. Das gesamte Erkenntnisinteresse ist dort ohnehin nur auf spätere totalitäre Exzesse eingeschränkt.19

Der nachstehende Überblick wird sich deshalb primär am klassischen Begriffsmuster orientieren. Dieser Ansatz ermöglicht, die Utopie als eigenständige Denktradition zu rekonstruieren, sie abzugrenzen und zugleich in Beziehung zu benachbarten Strömungen zu setzen, aber auch historische Konvergenzphänomene zu beschreiben. Als Utopien gelten fortan rationale Fiktionen menschlicher Gemeinwesen, die in kritischer Absicht den herrschenden Missständen gegenüber gestellt sind.

Unterscheiden lassen sich Utopien damit stichwortartig von allen Formen, deren Projektionen auf jenseitige, metaphysische oder längst vergangene Vorstellungen gerichtet sind, etwa der biblische Garten Eden, der Mythos vom Goldenen Zeitalter oder sämtliche eschatologische Heilserwartungen. Darüber hinaus sind Utopien stets rational mögliche Alternativen des menschlichen Zusammenlebens und tragen einen prinzipiell politischen Charakter: Magische Wünsche, Märchen, Traumassoziationen, Robinsonaden oder Schlaraffenland-Erzählungen – all diesen Fiktionen fehlt entweder das Merkmal der Sozialkritik oder es mangelt ihnen an der innerweltlichen Möglichkeit des Anders-Sein-Könnens. Science-Fiction ist in erster Linie Abbild und Verlängerung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, und insofern kein Instrument der Sozialkritik. Dass hier Überschneidungen denkbar sind, versteht sich fast von selbst; doch falls die technische Fantasie keinerlei gesellschaftspolitische Relevanz besitzt, ist die Abgrenzbarkeit sogar eindeutig. Zu unterscheiden ist die Utopie aber auch von Prognostik oder Futurologie, denn ihr geht es nicht um die möglichst treffgenaue Vorhersage kommender Entwicklungen auf der Basis einer empirischwertneutralen Methode, sondern um den normativen Anspruch, die Zukunft zum Besseren zu wenden.20

Das zentrale Auswahlkriterium für die folgende Darstellung ist der Versuch, Exemplarisches zu verdeutlichen. Das beinhaltet zum einen Modelle, die aufgrund ihrer Wirkungs- oder Rezeptionsgeschichte besonders einflussreich geworden sind und sich in diesem schlichten Sinne als „klassisch“ einstufen lassen. Es umfasst aber auch besonders charakteristische Wendungen oder Neuerungen, die gleichfalls eine nachhaltige Wirkung auf den Verlauf des Utopiediskurses ausgeübt haben. Gedacht sei etwa an den Wandel von der Raum- zur Zeitutopie oder an den Umschlag vom positiv gemeinten Modell hin zum negativen Szenario der Warnung. Am Beginn dieser (neuzeitlichen) Geschichte steht, wie gesagt, die kleine Schrift von Thomas Morus. Ihre zentralen Merkmale und Grundideen werden im Mittelpunkt des folgenden Kapitels stehen.

2.Thomas Morus und seine Utopia

2.1Das Rätsel: Leben und Werk

Das Rätsel um die richtige Lesart seiner Schrift hat die Nachwelt bis heute nicht losgelassen. Die Interpretationsversuche sind inzwischen Legion.21 Kern des Streits ist dabei fast immer die Frage, wie ernst, im Sinne eines persönlichen Ideals, der Entwurf des utopischen Staatsmodells gemeint war. Die Frage hat viel mit Morus’ Biografie zu tun, wenngleich damit auch viele falsche Fährten gelegt werden.

Geboren wurde Thomas Morus am 6. oder 7. Februar 1478 in London. Als Richter und Diplomat, als Gesandter und Parlamentssprecher, als Universitätsverwalter und Gelehrter hatte es Morus zu europäischer Bekanntheit gebracht. Neben Erasmus von Rotterdam, mit dem ihn eine lebenslange und tiefe Freundschaft verband, galt er als einer der größten Humanisten seiner Zeit. Eine steile Karriere führte ihn bis in das höchste Amt unter dem König: Von 1529 bis 1532 war Morus englischer Lordkanzler. Zwei Ereignisse ragen jedoch aus seiner Biografie heraus. Sie machten ihn hochberühmt und stehen sich doch scheinbar unversöhnlich gegenüber.

Da ist zum einen der Märtyrertod. Morus wurde man 6. Juli 1535 auf dem Towerhügel enthauptet. Der historische Hintergrund ist eines der prägendsten Ereignisse der englischen Geschichte. Mit der Entscheidung von Heinrich VIII., seine Ehe mit Königin Katharina für ungültig erklären zu lassen und Anna Boleyn zu heiraten, nahm auch das unglückliches Schicksal von Morus seinen Lauf. Der König hoffte seit geraumer Zeit auf einen männlichen Thronerben. Er schwärmte zudem leidenschaftlich für Anna Boleyn, die sich ihm als Mätresse aber verweigerte. Überdies war die Ehe mit der Spanierin Katharina nicht mehr von besonderem politischen Nutzen, weil sich England auf die Seite Frankreichs zu schlagen begann. Als der Papst dem König das Vorhaben verwehrte, scheute Heinrich keine Eskalation mehr. Er trennte die englische Kirche von Rom und ließ sich zum Oberhaupt seiner neuen Anglikanischen Kirche ausrufen. Der englische Thron führt den Titel bis heute. Begleitet wurde die Affäre von einem an Spitzfindigkeit kaum zu überbietenden Theologenstreit.22 Viele Menschen verloren im Gefolge der Auseinandersetzung ihren Kopf. Nach dem einmal begangenen Tabubruch kannte Heinrich keine Hemmungen mehr: Insgesamt sechs Mal war er verheiratet; zwei seiner Ehefrauen, darunter Anna Boleyn, endeten auf dem Schafott. Die Aufhebung der Klöster und Stifte machte 6251 Mönche und 1560 Nonnen obdachlos. Heinrich entwickelte sich zu einem der grausamsten Herrscher der englischen Geschichte.

Das Manöver seines Königs hatte Morus von Anfang an mit Skepsis begleitet. Die protestantische Reformation lag erst wenige Jahre zurück. Morus sah die Einheit der Christen endgültig bedroht. Bereits im Mai 1532 war er unter vorgeschobenen Gründen vom Amt des Lordkanzlers zurückgetreten. Öffentlich ließ er nichts verlauten, auch nicht, als der längst vorgezeichnete Weg seinen Lauf nahm: Am 25. Januar 1533 heiratete Heinrich heimlich Anna Boleyn, am 1. Juni wurde sie zur Königin gekrönt. Als Morus schließlich 1535 im Palast von Lambeth genötigt wurde, den Eid auf die neue Kirche zu leisten, verweigerte er den Schwur. Man warf ihn daraufhin in den Tower, machte ihm den Prozess und verurteilte ihn zum Tode mit den denkbar grausamsten Methoden. Sein Strafurteil sah vor, ihn durch Londons City zu schleifen, lebendigen Leibes sollte ihm das Geschlechtsteil abgeschnitten, der Bauch aufgeschlitzt, die Eingeweide herausgerissen und verbrannt werden. Danach sollte man ihn vierteilen und jedes der vier Teile auf einem der Tore Londons und sein Haupt auf der London Bridge zur Schau stellen. Morus blieb die Prozedur erspart, weil ihn der König in letzter Sekunde zum Tod durch Enthauptung begnadigte. Von der Hinrichtung sind allerdings keinerlei Äußerungen der Bitterkeit überliefert. Vielmehr kommentierte Morus das Hinrichtungszeremoniell mit Ironie. Zum Gouverneur des Towers soll er scherzend gesagt haben: „Helft mir bitte beim Hinaufsteigen, Master Kommandant, für mein Herunterkommen laßt mich selber sorgen.“ Seine letzten Worte, die über die Jahrhunderte hinweg inzwischen zum geflügelten Wort geworden sind, lauteten: „Ich sterbe als des Königs treuer Diener, doch Gottes zuerst.“23 Seit 1935 zählt ihn die katholische Kirche zu ihren Heiligen.

Doch ausgerechnet dieser Mann, der für die Einheit der Kirche sein Leben opferte, hatte knapp zwei Jahrzehnte zuvor eine Schrift veröffentlicht, die mit seinem Märtyrertod völlig unvereinbar schien. In seiner Utopia von 1516 beschrieb Morus kein genuin christliches Gemeinwesen, sondern einen weitgehend heidnischen, rationalistischen und sozialistischen Staat. Der Widerspruch schien so unüberbrückbar, dass viele Kommentatoren kurzerhand einen tiefen Bruch in Morus’ Biografie unterstellten. Vom erzkonservativen Katholiken (Reinhold Baumstark) bis zum überzeugten Sozialisten (Ernst Bloch) reichte die Spanne, die die Auflösung des Rätsels mit dem Argument versuchte, Morus sei eben bis zur Abfassung der Utopia, oder zumindest während dieser Zeit, kein Christ im dogmatischen Sinne gewesen.24 Der Inhalt der Schrift schien Beweis genug, um den Verfasser als aufgeklärten, ja zutiefst antiklerikalen Gelehrten einzustufen. Diese Einschätzung ist jedoch schlechterdings falsch. Ein „heidnischer“ Morus ist zu keiner Sekunde seines Lebens und Schreibens überliefert. Bereits die frühen Jahre zeigen einen tieffrommen Menschen. Immerhin vier Jahre (1499–1503) lebte er, ohne ein Gelübde abzulegen, bei den Londoner Kartäusern. Die Entscheidung zugunsten einer bürgerlichen Laufbahn ist wohl auf zwei Faktoren zurückzuführen: die Rolle seines Vaters und das Eingeständnis, ungeeignet für den Zölibat zu sein. Erasmus schrieb, Morus wollte lieber ein reiner Ehemann als ein unkeuscher Priester sein.25 Morus aber blieb zeitlebens ein frommer Christ, der selbst der Askese gegenüber nicht abgeneigt war. Bis zu seinem tragischen Tod fastete und betete Morus zu regelmäßigen Zeiten und sein Schwiegersohn Roper berichtet, dass er heimlich „ein härenes Hemd auf der bloßen Haut“ trug und seinen Körper von Zeit zu Zeit „mit einer geknoteten Geißel“ kasteite.26 Auch Morus’ Schriften geben keinen Anlass, an seinem Katholizismus zu zweifeln. Ob in seinen Epigrammen oder den Übersetzungen des griechischen Satirikers Lukian (1505/06), ob in der frei übertragenen Biografie des Pico della Mirandola (1505) oder dem dramaturgischen Werk über die Geschichte Richard III. (1514) – immerzu tritt dort ein ebenso gottesfürchtiger, historisch interessierter wie politisch engagierter Humanist und Literat hervor. Bis zur Abfassung der Utopia (1515/16) spricht nichts für die These eines zeitweilig „unchristlichen“ Morus. Im Anschluss daran ist das noch weit weniger der Fall: Ab Mitte der 1520er-Jahre engagierte er sich mit theologischen Kontroversschriften vehement gegen reformatorisch gesinnte Zeitgenossen (Luther, Tyndale). Und die Zeit im Tower ist schließlich reich an christlicher Erbauungsliteratur, tröstlichen Briefen und frommen Gebeten. Wenn man also nicht behaupten will, dass Morus in den wenigen Monaten während der Abfassung der Utopia von einem „heidnischen Fieber“ befallen wurde, dann heißt das: Es steckt hinter der Utopia kein heidnischer Verfasser. Die genannten Urteile werfen daher vielmehr ein grelles Licht auf das methodisch höchst problematische Vorgehen, vom Inhalt des utopischen Entwurfs auf die persönliche Ansicht des Autors zu schließen. Auf dem Prüfstand steht damit aber noch weit mehr, nämlich zugleich, was gemeinhin fast als Synonym zur Utopie gilt: die Fiktion eines im Sinne des Autors idealen Gemeinwesens.

Gleichwohl muss man sich auch davor hüten, die Utopia nur vor dem Hintergrund von Morus’ dramatischem Ende zu betrachten. Als er sie niederschrieb, stand das Ereignis der Reformation noch bevor. Diese Zäsur hat das geistige Klima in Europa nachhaltig verändert und die Fronten polarisiert. Auch Morus’ Reformeifer ist dadurch gemäßigter geworden.27 Eine Verbindung zwischen seinem Märtyrertod und seiner berühmtesten Schrift gibt es dennoch: Der Mensch, dem selbst im Augenblick des Todes der Humor nicht zu nehmen war, war auch zeitlebens ein ebenso ernsthafter wie heiter-ironischer Charakter. Und exakt in diese beiden Gesichter blickt man letztlich auch bei der Lektüre seiner Utopia. Vor allem das beständige Schwanken zwischen Ernst und Ironie ist einer der Hauptgründe für die beinahe groteske Palette der Interpretationsperspektiven.

Nach Morus’ Seligsprechung (1886) und mehr noch nach der Kanonisation (1935) begannen in konservativ-katholischen Kreisen verstärkt Versuche, die „heidnische“ Utopia mit ihrem christlichen Autor vereinbar zu machen. Wollte man die Schrift nicht sogleich als Morus’ „größten Missgriff“28 werten, dann musste man sie zu einem rein ironischen Spiel, zu einem einzigen humanistischen Jux erklären.29 Völlig anders werteten allerdings die sozialistischen Vertreter die Schrift. Nicht als Scherz, sondern als Morus’ ganz persönlicher und sozialistischer Idealstaatsentwurf galt dort die Utopia. Der bekannte Sozialist Karl Kautsky hielt die Utopia für die wichtigste vorwissenschaftliche Version des modernen Kommunismus; und er war damit nur der erste Vertreter einer langen Reihe von Autoren, die keineswegs nur sozialistische Kommentatoren umfasste.30 Auffallend an den vielen Lesarten der Utopia – von denen hier nur zwei exemplarisch herausgegriffen wurden – ist allzu oft die Einseitigkeit bei der Beobachtung oder Betonung bestimmter Aspekte. Zudem hat sich die Forschungsliteratur inzwischen darin überboten, eine schier endlose Liste an möglichen Quellen oder Vorbildern zur Utopia zu erstellen, die nicht selten monokausal zur Entschlüsselung des Werkes dienten: Platons Politeia, die Gemeinschaft der Urchristen, Augustinus’ Gottesstaat, die Ironie Lukians, die römischen Satiriker Horaz und Juvenal, das Klosterleben, die Gattung der Fürstenspiegel oder Amerigos Reiseberichte – all diese Einflüsse und Quellen lassen sich problemlos nachweisen und je nach Blickwinkel wird man somit auch stets sozialistische, idealstaatliche, satirische, reformerische, heidnische, machtpolitische, moderne oder mittelalterliche Elemente in der Utopia finden. Doch für viele Lesarten gilt, was bereits Eberhard Jäckel 1955 mit Nachdruck kritisierte: Es mangelt ihnen selten an der Entdeckung neuer Momente, vielmehr kranken sie an Überbetonung oder Verabsolutierung.31

Für eine dritte Gruppe ist die Utopia daher zunächst ein Zeugnis frühhumanistischen Denkens.32 Wenngleich viele Einzelfragen auch innerhalb dieser Perspektive offen und strittig geblieben sind, so verfügt der „humanistische“ Ansatz doch zumindest über den Vorteil, einen Einzelaspekt nie für das Ganze zu nehmen. Die Antwort auf die Frage nach der richtigen Interpretation der Utopia – und damit auch ein wichtiges Vorverständnis des Utopiebegriffs – lässt sich selbstredend nicht ohne Blick auf die Schrift selbst gewinnen.

2.2Grundzüge und Gestaltungsmerkmale der Utopia

Rein formal handelt es sich bei der Utopia um einen literarischen Dialog, dessen Thema der „beste Staat“ ist. Ort der ausgesprochen dürftigen Handlung ist Antwerpen, eine der wichtigsten Handelsmetropolen Europas im frühen 16. Jahrhundert. Das Buch beginnt nachweislich autobiografisch: Morus befindet sich von Mai bis Oktober 1515 auf einer königlichen Gesandtschaft in Flandern, um dort über Handelsverträge zwischen englischen und niederländischen Kaufleuten zu vermitteln. Als die gegnerische Delegation vorübergehend abreist, um erneut ihre Auftraggeber zu konsultieren, nutzt Morus die Gelegenheit, den befreundeten Humanisten Peter Gilles in Antwerpen zu besuchen.

Von hier ab verlässt die Erzählung den Boden der Tatsachen und geht in den Bereich der Fiktion über. Nach einem Gottesdienstbesuch trifft der Ich-Erzähler seinen Freund Peter Gilles, den Stadtschreiber von Antwerpen, den er in ein Gespräch mit einem Fremden verwickelt sieht. Der Fremde ist Raphael Hythlodaeus. Die Gesprächspartner begeben sich in den Garten von Morus’ Antwerpener Domizil, gehen mittags Essen und kehren nachmittags in den Garten zurück. Das Gespräch endet abermals im Speisezimmer mit dem Wunsch auf baldige Fortsetzung des Dialogs. Damit ist im Grunde alles zum formalen Geschehen in der Utopia gesagt: Nicht die Handlung kennzeichnet die Schrift, sondern die im Gespräch behandelte Gedankenwelt. In einer über weite Strecken monologisierenden Rede berichtet Hythlodaeus im zweiten Teil von der fernen und glücklichen Insel „Utopia“. Diesem Bericht gehen aber zunächst zwei ausführliche Erörterungen im ersten Buch voraus. Dabei handelt es sich zum einen um die Frage, ob nicht ein so erfahrener und philosophischer Kopf wie Raphael in den Dienst eines großen Fürsten treten sollte, um diesem mit seinem Rat zur Seite zu stehen. Raphael lehnt den Vorschlag kategorisch ab. Zum Zweiten trägt Raphael eine massive Sozialkritik vor, die sich gegen die innenpolitische Situation Englands sowie das außenpolitische Verhalten der Fürsten Europas richtet. Bereits damit ist angezeigt, dass sich Morus’ Utopie nicht im Porträt einer imaginären Welt erschöpft. Mindestens ebenso bedeutsam erscheint die kritische Diagnose der Gegenwart, die Auseinandersetzung mit den sozialen und politischen Verhältnissen der Zeit.

Die Komposition der Schrift erschließt sich zum Teil bereits aus ihrem unmittelbaren Entstehungskontext. Auf seiner Gesandtschaft in Flandern hat Morus auch das zweite Buch, also den Bericht über die entlegene Insel, niedergeschrieben. Nach seiner Rückkehr nach England sah sich Morus dann mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich intensiv mit den politischen Realitäten seiner Zeit auseinanderzusetzen, vor allem durch das dringende Ersuchen, seine Dienste künftig allein dem König zu widmen. Erst in London fügte er das erste Buch nachträglich hinzu. Dieser Teil ist deshalb vor allem das Ergebnis von Morus’ Reflexion über die Problematik, wie man in einer korrupten Wirklichkeit politische Verantwortung übernehmen kann, ohne dabei von den moralischen Prinzipien eines christlichen Humanismus abzufallen. Mit dem Vorziehen des später geschriebenen ersten Teils entsteht der Eindruck, und diese Wirkung ist zweifellos gewollt, dass der Anlass zur spielerischen Reflexion über das fiktive Gemeinwesen die kritische Betrachtung der europäischen Zustände gewesen sei. Die Konstellation aus beiden Büchern erfüllt damit zwei Funktionen: Sie ist einerseits Darstellung dessen, was ist, aber nicht sein sollte; andererseits ist sie auch der fantasievolle Entwurf einer anderen Welt, die als Denkanstoß und kritisches Korrektiv zugleich fungiert. Ohne ein eindeutiges Reformideal zu verkörpern oder unmittelbare Handlungsanleitungen zu geben, besitzt die Utopia sehr wohl einen Erkenntniswert für die zeitgenössische Wirklichkeit. Morus geht es aber nicht darum, die geschilderte Fiktion in die Wirklichkeit zu überführen, sondern durch die Betrachtung der utopischen Welt die Defizite der Herkunftsgesellschaft umso deutlicher erkennbar zu machen.

Nach Vollendung der Schrift in London schickte sie Morus an Erasmus. Im Dezember 1516 erschien sie erstmals in Löwen unter dem Titel: „Wahrhaft goldenes, nicht weniger nützliches als vergnügliches Büchlein über den besten Staat und die neue Insel Utopia.“ Obwohl das Werk sofort den ungeteilten Beifall aller herausragenden Humanisten seiner Zeit fand, ein Beifall, der bis heute nicht verstummt ist, spielt Morus in der Vorrede an Peter Gilles den eigenen Anteil an seinem Werk deutlich herunter. Mit dem originellen Einfall, er müsse nur wiedergeben, was ihm Raphael berichtet habe, beansprucht Morus nur noch die Rolle eines Herausgebers. Außerdem wendet er sich mit der Bitte an Gilles, er möge doch Raphael nochmals zu einigen Details befragen, vor allem: Wo denn die glückliche Insel Utopia liege?33 Damit aber gleicht der Widmungsbrief dem sprichwörtlichen „Wink mit dem Zaunpfahl“. Morus macht bereits zu Beginn der Lektüre den Leser ziemlich offensichtlich auf die spielerischen Aspekte des Werkes aufmerksam. Das Augenzwinkern fällt mitunter so deutlich aus, dass die Hinweise auf einen hintersinnigen und bisweilen spöttisch aufgelegten Verfasser kaum zu übersehen sind.

Die Utopia ist gleichwohl nicht nur Spiel. So entzündet sich die harsche Sozialkritik des ersten Buches an der steigenden Zahl von Dieben und Bettlern in England. Raphael wehrt sich dabei vehement gegen die Auffassung, die Diebe würden die drakonischsten Strafen bis hin zum Galgen verdienen: Das Todesurteil, so Raphael, sei weder gerecht, noch sei es im Interesse des Staates. Er analysiert das Phänomen ausgesprochen rational und führt es auf sozial-ökonomische Ursachen zurück. Verantwortlich für die ungerechte Situation sei in Wahrheit die Praxis der englischen Großgrundbesitzer: Durch das großflächige Einzäunen früheren Gemeindelandes (Allmende) und der Umwandlung von Acker- zu Weideland würden die Agrarflächen nun zunehmend für die Schafzucht und Textilproduktion okkupiert. Was aber bleibe den Unglücklichen dann anderes übrig, so fragt Raphael, als Haus und Hof zu Schleuderpreisen zu verkaufen und als Bettler oder Diebe in die Städte zu ziehen? Dort würden sie nun aber schon eines gestohlenen Sümmchens wegen aufgehängt.34