Charlotta Pinot

 

 

Vergessenes

 

Blut

 

 

ώ

Roman

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Epilog

Danksagung

 

Impressum

 

Vergessenes Blut – Band 1

Copyright: © 2015 by Charlotta Pinot

E-Mail: Charlotta.Pinot@gmail.com

Website: www.facebook.com/CharlottaPinot

Twitter: @CharlottaPinot

 

Verlag: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

 

Covermotive: www.de.fotolia.com / ©aiisha ©Aarrttuurr

Coverdesign: © 2015 by Charlotta Pinot

 

ISBN: 978-3-7375-6640-7

 

Dieses eBook einschließlich aller Teile ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden.

 

 

 

 

Sie verbirgt sich in der Dunkelheit;

lauert in Kleiderschränken und Kellerräumen.

 

Sie umschweift die Geistreichen,

macht aus Angsthasen Helden und aus Schurken

Prinzen auf weißen Rössern.

 

In bitteren Stunden spendet sie Trost;

schürt die Hoffnung derer,

die sie lange verloren glaubten.

 

Sie gibt Zuversicht, Liebe, weil sie alles sein kann,

einfach alles ist:

Der Wunsch nach dem Unbekannten,

das Zeugnis des Unvorstellbaren,

die heimliche Sehnsucht nach dem Verbotenen.

 

Sie ist dein Herz, deine Individualität und deine grenzenlose Inspiration.

 

~ Sie ist deine Fantasie ~

 

Prolog

 

Der raue Asphalt brannte unter ihren Fußsohlen. Kein Wunder, sie rannte schon seit Stunden, als wäre der Teufel hinter ihr her.

Um kurz zu verschnaufen, stoppte sie an der nächsten Kreuzung und hielt sich an einem Straßenschild fest. Mit dürren Fingern umklammerte sie den Pfeiler und lehnte sich erschöpft dagegen.

„St. Andrews“ – verflixt, wo war sie nur? Diese Straße wirkte wie leer gefegt, geradezu geisterhaft. Kein Mensch war zu sehen und das gesamte Viertel verströmte eine schaurige Abgeschiedenheit.

Gitter an den Häuserfenstern und meterhoher Stacheldraht auf den verwahrlosten Zaunkronen verliehen dieser Gegend einen vertrauten Anblick, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Hinter einem Zaun raschelte etwas im Gebüsch.

Ihr Puls begann sofort, zu rasen.

Oh nein, hatten die sie etwa gefunden?

Da, schon wieder.

Sie spitzte die Ohren und schlug sich panisch beide Hände vor den Mund, um nicht versehentlich laut loszuschreien. Ihr Herz hämmerte wie verrückt und dann stürzte sie los. Nur weg von der beleuchteten Straße, hastete sie in die Finsternis.

Sie lief, so schnell sie konnte, doch wäre das niemals schnell genug, sollten die ihr wirklich auf den Fersen sein.

Der Wind frischte etwas auf und trieb Tränen in ihre Augen. Viel zu heiß und trocken war die salzige Brise, die von der Meerseite herüberwehte. Nun flatterte ihr schmutziges Hemd wie ein Fähnchen über ihre spitzen Knochen, welche ihren kindlichen Körper in den einer alten Frau verwandelten.

Außer diesem einst weißen Fetzen Stoff, der ihr seit Jahren als Kleidung diente und einem 20 Dollar Schein in der mageren Faust, trug sie nichts weiter bei sich.

Abgehetzt bog sie in eine dunkle Gasse und suchte Schutz hinter einem der stinkenden Müllcontainer, die überall herumstanden. Hätte sie doch bloß das Messer nicht verloren, dachte sie.

Mit angezogenen Beinen und beiden Armen fest um die Knie geschlungen, schloss sie die Augen und zählte in Gedanken von Hundert rückwärts. Ihr stoßweiser Atem würde sie verraten, sollte einer der Verfolger in ihre Nähe gelangen. Sie musste sich beruhigen und absolut still sein.

Mucksmäuschenstill.

Ansonsten war alles umsonst. All die Qualen ihrer Flucht und derer, die sie zurücklassen musste, wären vergebens gewesen.

Die halbe Nacht war sie orientierungslos durch den Wald geirrt, bis sie endlich eine Straße erreicht hatte. Fast hätte der Lkw sie überfahren, als sie sich mit wild rudernden Armen vor das Fahrzeug geworfen hatte, um auf sich aufmerksam zu machen. Zum Glück durfte sie bis nach Los Angeles mitfahren und der Trucker hatte nicht die Polizei gerufen oder das Jugendamt alarmiert. Oder weiß Gott Schlimmeres.

Sie riskierte einen kurzen Blick in die Gasse und stellte erleichtert fest, allein zu sein.

Vorsichtig begutachtete sie ihr Versteck genauer, denn es machte den Eindruck, als wäre dieser Schlupfwinkel bereits bewohnt. Auf dem schmierigen Boden lag eine alte Matratze mit einer vergilbten Decke darauf, welche vermutlich einmal himmelblau gewesen sein musste. Es war nicht gerade einladend, aber weitaus besser als die Hölle, aus der sie geflohen war.

Dann erweckte eine unförmige Silhouette ihre Aufmerksamkeit, an der sich das wenige Licht brach. Ein absichernder Blick in jede Richtung … und los …

Schnell krabbelte sie zu der Bäckertüte, die wahrscheinlich aus der überfüllten Mülltonne gepurzelt war, und freute sich über den schimmligen Inhalt. Ihr Magen protestierte, aber sie wusste, dass sie nicht mehr lange durchhalten würde, ohne etwas zu essen.

Es schien, als hätten die Jäger einen anderen Weg eingeschlagen und für diesen kurzen Moment fühlte sie sich sicher. Müde streckte sie sich auf dem Boden aus und starrte hinauf in die sternenklare Nacht. Wie sehr hatte sie die frische Luft und den Himmel vermisst. Er glitzerte wie ein schwarzer See aus Millionen kleinen Edelsteinen und verlieh ihrer ausweglosen Situation etwas Beruhigendes.

Sie wünschte sich, dass alles gut werden würde. Dass dieser Augenblick ihr neues Leben einläutete und sie nie wieder an diesen schrecklichen Ort zurückkehren musste.

Jedoch befürchtete sie, dass es so nicht kommen würde. Sie musste weiterkämpfen, immer weiter und weiter.

Aber wo sollte sie die Kraft dazu hernehmen? Sie konnte sich doch jetzt schon kaum noch auf den Beinen halten. Diesen Kampf konnte sie nicht alleine aufnehmen. Niemals. Nur wie sollte sie das schaffen und wer könnte ihr helfen? Die Polizei?

Selbst mit ihren 14 Jahren war sie nicht so dumm zu glauben, dass sie ihrer Geschichte Beachtung schenken würden. Am Ende landete sie noch in einem dieser Heime, von denen man ihr erzählt hatte.

Und wie war es eigentlich möglich, dass die nie gefasst wurden? Dass niemand von ihrer Existenz wusste? Sicher, sie hatten da so ihre Tricks. Doch ohne einen Verbündeten bei den Behörden war das alles nicht möglich, dachte sie.

Sie waren überall. In Kindergärten und Schulen, in der Bank. Arbeiteten in Fabriken und Büros, waren in der Politik und Wirtschaft beschäftigt. Bosse von großen Firmen, Menschen der Öffentlichkeit.

Aber keiner erkannte sie wirklich. Niemand wusste, wer sie waren und was sie taten. Nur sie wusste es. Sie und die vielen anderen, die man unter der Erde gefangen hielt.

Sie brauchte jemanden, dem sie vertrauen konnte und der ihr glauben würde – es schien aussichtslos. Jedoch waren ihre Fluchtpläne das auch immer gewesen und hier war sie nun dank der Hilfe eines Fremden.

Verängstigt und hungrig, aber frei.

Sie drehte sich, die Arme dicht um ihren Körper geschlossen, auf die Seite und bettete ihren Kopf auf der zerknüllten Papiertüte, in welcher das ranzige Brötchen gelegen hatte. Kurz bevor sich ihre schweren Augen schließen wollten, erblickten sie etwas, das unter der Matratze hervorlugte.

Neugierig tastete sie danach und hielt plötzlich eine ockerfarbene Wildledermappe in den Händen. Sie begutachtete sie von allen Seiten und wischte sich die dreckigen Finger vorsichtshalber an ihrem Hemd ab, bevor sie die Zettel herausfischte. Sie waren sauber und ordentlich sortiert und passten nicht an diesen schmutzigen Ort.

Mit blauer Tinte und schöner Schrift auf weißem Papier mussten sie jemandem viel bedeutet haben, wenn er sie so sorgfältig aufbewahrte.

Das Mädchen schaute auf die Lasche an der Innenseite und las den Namen „Ray Fox“. Was für ein lustiger Name. Wer hieß schon Ray Fox, überlegte sie. Vielleicht ein grauhaariger englischer Detektiv mit grün-karierter Mütze und einer hölzernen Tabakpfeife im Mund? Sir Raymond Foxborough!

Sie kicherte.

Im funkelnden Schein der Sterne und dem Licht der flackernden Laternen der Hauptstraße nahm sie sich den ersten Zettel und begann zu lesen …

 

Kapitel 1

 

Jedidiah Sawyer, der Texas-Kettensägenmörder, stand direkt neben seinem Bett und sann nach nichts anderem als seinem Blut. Oder der verdammte Wecker klingelte. Wer wusste das schon so genau.

Schläfrig wollte er sich aufrichten, um an den nervigen Quälgeist zu gelangen, aber die Schwerkraft forderte seinen Brummschädel postwendend zurück. Er zog sich das Kissen unter dem hämmernden Kopf hervor und schoss den rasselnden Schreihals gekonnt vom Nachtschrank.

Mit beiden Augen auf Halbmast sah er sich im Zimmer nun genauer um.

Die grau gestreiften Vorhänge mit den zwei kleinen Beobachtungslöchern auf der rechten Seite kamen ihm irgendwie bekannt vor. Auch den klapprigen Deckenventilator, der laut ratternd seine Runden drehte, hatte er schon mal gesehen. Gott sei Dank, er war zu Hause.

Angestrengt versuchte er, sich daran zu erinnern, wo er die letzte Nacht verbracht hatte. Doch da war nichts, rein gar nichts.

Sein Kopf war ein großes schwarzes Vakuum, in dem sich seine Kopfschmerzen gegenseitig mit einem Elektroschocker malträtierten. Die Migräne war einfach zu mächtig, als dass sie zuließ, dass er sein Gedächtnis durchforstete.

Abgesehen von dem widerlichen Geschmack des letzten billigen Whiskeys, war ihm offenbar nicht viel von seinem gestrigen Abend in Erinnerung geblieben. Was erfahrungsgemäß weniger am Alkohol lag.

Also ein ganz normaler Start in den Tag – prima. Er würde sich wohl nie daran gewöhnen.

Andere hätten vielleicht einen Freund angerufen, um zu fragen, was sie die letzte Nacht so getrieben hatten. In welchem Club sie ihren letzten Drink zu sich genommen und ihr schwer verdientes Geld verprasst hatten.

So ein Halunke wie er hatte keine Freunde – ein Typ wie Ray war meistens allein.

Kurz überlegte er, ob er den Weg ins Büro überhaupt noch antreten sollte, aber ehe er einen klaren Gedanken fassen konnte, klingelte schon sein Handy. Es steckte noch immer in der rechten Hosentasche der Jeans, die er gestern offensichtlich nicht mehr ausgezogen hatte.

Gequält knurrte er ein „hmm“ durch seine Lippen und lauschte mit geschlossenen Lidern dem Anrufer.

»Sag mir, dass du in einer Minute durch die Tür kommen wirst!«, kreischte es hysterisch aus dem Hörer. Die hohe Stimme fühlte sich an wie kratzende Fingernägel auf einer Tafel. »Hallo? Ray, bist du noch dran?«

Ein erneutes „hmm“ brummte aus seiner staubigen Kehle.

»Jetzt sag nicht, du liegst noch im Bett?«

»Meine Güte, Patt, was willst du? Es ist noch dunkel draußen.« Sie kräuselte die Nasenflügel. Er konnte es zwar nicht sehen, aber das tat sie immer, wenn sie wütend war und ihre Tonlage eine Frequenz annahm, die Gläser zum Bersten bringen konnte.

»Schieb die Fetzen, die du Vorhänge nennst, zur Seite – es ist halb zehn! Jack Dooley wird in dreißig Minuten hier sein. Wir versuchen seit einem halben Jahr, einen Auftrag zu kriegen, bist du verrückt?«

Adrenalin wand sich durch seine ausgetrockneten Gefäße und sein eben noch so verkatertes Hirn schaltete sofort den Notgenerator auf Full Power. Heißes Blut schoss in seinen Schädel und aktivierte die müden Zellen zu neuem Leben.

Dooley. Büro. Auftrag. »Verdammter Mist …«, verfluchte er sich selbst und fing sich sofort ein verwarnendes Schnauben am anderen Ende der Leitung ein.

»Mach ihm einen Kaffee und beschäftige den Kerl irgendwie, ich bin auf dem Weg.«

»Beschäftigen? Dooley beschäftigen? Ich weiß ja nicht von welchem Dooley du sprichst, aber der, den ich kenne, lässt sich nicht beschäftigen.« Sie klang verzweifelt.

»Was weiß ich denn … mach etwas Small Talk … flirte mit ihm, überleg dir was, du bist schließlich eine Frau«, krächzte er ins Telefon und legte auf.

Jack Dooley war der durchtriebenste Immobilienhai in ganz Kalifornien. Ihm gehörte halb L.A. und es gab kaum einen Millionenkomplex, bei dem er nicht seine klebrigen Finger im Spiel hatte.

Hin und wieder vergab er kleinere Aufträge an nullachtfünfzehn Makler, um unter falschem Namen seine undurchsichtigen Geschäfte abzuwickeln. Er war bekannt dafür, dass er verdammt gut zahlte und Ray war jemand, der keine Fragen stellte.

Sie versuchten alles, um mit ihm ins Geschäft zu kommen, aber an diesen Mann persönlich ranzukommen war schwerer, als eine Audienz beim Papst zu erhalten.

Allein drei Monate waren nötig, um mithilfe einer Privatdetektei eine Telefonnummer herauszufinden.

Eine Telefonnummer, nicht seine.

Patt und er arbeiteten sich Tag für Tag vor. Sie riefen unter falschem Namen an, gaben sich als alte Freunde oder Geschäftspartner aus. Patt versuchte es als Dooleys Geliebte und Ray als der Schönheitschirurg seiner Gattin Emily.

Immer wieder erhielten sie neue Nummern, die im Nirgendwo endeten oder wurden gleich abgewimmelt. Dieser Mann war unsichtbarer als ein Phantom, obwohl die ganze Stadt sein Gesicht kannte.

Sie waren schon kurz davor aufzugeben, als sie ihn urplötzlich höchstpersönlich an der Strippe hatten. Halleluja! Wie zu erwarten legte Dooley sofort auf, als er hörte, dass Ray ein Makler aus South Central war.

Klick. Mit der unterbrochenen Verbindung zerplatzten alle Zukunftspläne wie eine Seifenblase. Ray wollte doch nach Europa. Nein, er musste nach Europa und dazu brauchte er Geld.

Zugegeben, South Central war nicht gerade die beste Adresse für Millionengeschäfte. Er hoffte jedoch, Dooley die Anonymität der Gosse schmackhaft machen zu können. Niemand würde ihn oder seine Geschäftstätigkeit hier vermuten. Keine Paparazzi, keine noblen Partner und schon gar nicht die Polizei.

Es war der perfekte Ort für zwielichtige Geschäfte. Nicht etwa, dass Ray gerne in kriminellen Kreisen verkehrte – zumindest was das Business betraf –, aber hin und wieder musste man in Grauzonen abtauchen, wenn man am Monatsende noch etwas zu Essen im Kühlschrank finden wollte. Nichtsdestotrotz ging ihm der Arsch so langsam auf Grundeis.

Nach diversen Versuchen, Dooley erneut zu erreichen, schickte er ihm eine Nachricht auf seinen Pager, dessen Nummer Patt aus sicherer Quelle ergaunert hatte. Nicht einmal ihm hatte sie verraten, wo sie ihre brandheißen Infos immer herbekam.

Warum ein Immobilien-Mogul wie Jack Dooley einen veralteten Pager besaß und kein Smartphone mit Messenger-App, war ihm schleierhaft. Rays Botschaft war kurz und knapp:

 

Mr. Dooley, die Upper-Class gehört Ihnen ja bereits. Wieso nicht auch der Rest? Die Straßen sind voller Geld, es ist dreckig und stinkt. Ich hebe es auf und befreie es von seinem Schmutz. Ich stelle keine Fragen. Was auch immer Sie suchen, ich finde es für Sie. 90220 (310) 603 -7849 Ray Fox, Foxray Investment & Estate

 

Zwei endlos lange Wochen später klingelte das Telefon. »Dienstag 10 Uhr in Ihrem Büro.« Der Anrufer nannte keinen Namen, doch sie wussten sofort, wer es war.

 

ώώώ

 

Im High-Speed sprang Ray unter die Dusche. Das eiskalte Wasser rieselte aus der rostigen Brause über seinen Körper und er putzte die Zähne, während er sich mit der anderen Hand einseifte. Multitasking war gefordert.

Er trat vor den Spiegel und probierte, sein zerknautschtes Gesicht in Form zu kneten. Vermutlich hatte er schon besser ausgesehen, gleichwohl die tiefen Augenringe und der ungepflegte Dreitagebart ihn älter wirken ließen. Dooley musste ja nicht merken, dass Ray erst Mitte zwanzig war.

Eilig fuhr er sich durch die dunkelblonden Haare und brachte die widerspenstigen Strähnen mit etwas Gel in Form.

Ray war ein durchtrainierter Typ, doch heute fühlte sich sein hart erarbeitetes Sixpack nicht wie Stahl, sondern eher wie Wackelpudding an. O Gott, was hatte er gestern nur wieder angestellt?

Vielleicht war er ja nur laufen? Also joggen, so wie junge, sportbegeisterte Menschen es eben taten, um fit zu bleiben.

Wohl kaum.

Oder ’ne stinknormale Kneipenschlägerei – die er verloren hatte?

Definitiv nicht.

Hastig stopfte er noch seine Klamotten vom Vortag in die Waschmaschine. Die nagelneue Jeans war voller Löcher und mit striemigen Grasflecken übersät. Und was zur Hölle war das?

Eine eingetrocknete Blutspur zierte das rechte Hosenbein.

Das gute Stück würde den trendigen Used-Look in ein ganz neues Licht rücken. Mit so einem verräterischen Unikat sollte er vielleicht besser nicht mehr auf die Straße gehen.

Folglich kramte er die Hose wieder hervor und pfefferte sie auf den Müllsack, der schon seit einer Woche im Flur herumgammelte. Er sollte dringend etwas gegen seinen Klamottenverschleiß unternehmen, wenn er nicht demnächst nackt rumlaufen wollte.

Sowohl im Büro als auch unterwegs musste er allzeit was hermachen. Im Discounter Outfit würde man ihn wohl kaum ernst nehmen. Zumal er bereits vorgab, dort zu sein, wo er irgendwann erst mal hinwollte – ganz nach oben.

Als er sich die Ärmel seines sauteuren George Roth Hemdes zuknöpfte, fielen ihm die Kratzer am Unterarm auf. Lange, feine Schnitte bildeten gerade Linien vom Handgelenk bis zum Ellenbogen. Es hatte sich schon eine dicke Schorfkruste gebildet, also legte er die Manschettenknöpfe bedenkenlos an.

Spätestens am Abend wäre die Haut wieder glatt wie ein Babypopo, beschwichtigte er sich selbst.

Noch einmal bemühte er sich, zum gestrigen Abend zurückzufinden, blieb jedoch erfolglos. Aus alter Routine wusste er hingegen, dass sich sein Gedächtnis schon bald erholen und ihm nach und nach die Erinnerungen preisgeben würde, die ihm fehlten. Bloß wollte er das überhaupt wissen?

Seine Erinnerungen waren wie ein zerbrochener Spiegel. Die Risse und Sprünge verzerrten das Selbstbild und an den scharfen Kanten der Scherben konnte man sich verletzen.

Nunmehr schlummerte in ihm diese innere Unruhe, welche eine böse Vorahnung auf das Geschehene sein musste.

 

ώώώ

 

Ray schwang sich in seinen rostigen 82er-Chevy und kämpfte sich durch den Verkehr. Was wollten nur all diese Menschen auf der Straße um diese Uhrzeit?

»Hat denn hier keiner einen Scheißjob?«, meckerte er in den Rückspiegel mit einer Laune, die immer steiler Richtung Keller schoss. Der sonst so kurze Weg zog sich endlos in die Länge.

»Ein Wurmloch müsste man haben«, nörgelte er weiter.

Endlich am Büro angekommen, parkte er den zerbeulten Oldtimer dieses Mal hinterm Haus und lief wieder zum Vordereingang. Dustin Baker, der versnobte Sohn vom Bankdirektor der Union gegenüber, hatte seinen nagelneuen Volvo unmittelbar vor Rays Büro abgestellt.

»Perfekt, Gott segne diesen Angeber!« Aber bloß nicht mit Geld – dieses verwöhnte Muttersöhnchen bekam so schon den Hals nicht voll.

Hektisch riss er die Tür auf und stürmte hinein. Zu seinem Glück war Dooley ebenso unpünktlich wie er selbst. Rasch kramte Ray ein paar Unterlagen zusammen, riss Patt den Kaffee aus der Hand und versuchte, cool zu bleiben, auch wenn ihm das nicht so richtig gelingen wollte.

Sein Herz pochte so laut, dass es wahrscheinlich jeder im Umkreis von einem Kilometer hören konnte. Zumindest jemand mit seinem Gehör. Ihm war flau im Magen und seine Hände zitterten, obwohl sein Blut kochte. Ob das an seiner Aufregung lag oder an dem fiesen Kater, der seine Krallen in ihn geschlagen hatte, blieb zu überlegen.

»Du hast dich lange genug darauf vorbereitet, es wird schon gut gehen«, gurrte Patt ihm ins Ohr, während sie beruhigend seinen Nacken massierte.

»Was, wenn er Unmögliches verlangt, wenn er irgendwelche richtig krummen Dinger abziehen will?«

»Komm schon, jetzt mach dich nicht verrückt. Er kauft Immobilien, du vermittelst welche. Das passt wie Patricia Richmond und Manolo Blahnik

»Manuel wer?«

»Manolooo … ach, Männer!«, stöhnte Patt.

»Ich wollte nicht ›Arsch auf Eimer‹ sagen, okay?«

Ray kicherte.

»Pass auf Schatz, du machst deine Arbeit einfach so gut wie immer, nur dass diesmal hoffentlich andere Summen dahinterstehen«, bekräftigte sie kokett und biss sich keck auf die Lippe.

Patricia, also Patt, war ein Engel. Kurze Zeit nachdem Ray aus dem Heim für auffällige Jugendliche entlassen wurde, fand sie ihn schlafend in einer Seitengasse der Zweiundsechzigsten. Man hatte ihn an seinem 18. Geburtstag einfach vor die Tür gesetzt.

„Herzlichen Glückwunsch Ray, du bist jetzt erwachsen. Alles Gute auf deinem weiteren Lebensweg. Und bau keinen Mist Junge“, hieß es. Er hatte keine Familie, keine Freunde und auch die Stadt war ihm nach so vielen Jahren fremd geworden. So streunte er umher, ohne zu wissen, wo er hingehörte.

Tagsüber schnorrte Ray in der Mall und nachts schlief er unter Brücken oder in verwaisten Seitenstraßen. Er verkroch sich hinter Mülltonnen und Verschlägen. Der kalifornische Winter war recht mild, wenngleich ihm Kälte in der Regel nichts ausmachte.

Patt legte ihm zunächst 10 Dollar hin und ging, kehrte jedoch gleich wieder um.

„Mein Junge, das ist eine gefährliche Gegend, du solltest nach Hause gehen", riet sie ihm damals besorgt. So kamen sie ins Gespräch und Ray erzählte ihr von seiner Vergangenheit. Nie sprach er freiwillig mit anderen Menschen, doch Patt strahlte eine ganz besondere Wärme aus, dass er sich ihr vollends anvertraute. Er spürte ihre Gutmütigkeit in jeder Faser seines Körpers.

Sein Leben lang hatte er sich von fremden Menschen ferngehalten und peinlichst darauf geachtet, nichts Persönliches auszuplaudern. Und doch offenbarte er sich mit der Zeit dieser warmherzigen Frau.

Patt lebte allein und nahm ihn bei sich auf. Sie war damals selbst gerade mal Ende zwanzig und hatte ihm wahrlich damit das Leben gerettet. Sie besorgte ihm einen Aushilfsjob in der Makleragentur, in der sie als Sekretärin angestellt war, und trat ihm regelmäßig in den Hintern, damit er in die Gänge kam. Am meisten liebte er die gemeinsamen Gespräche.

Beinahe hatte er vergessen, wie man kommuniziert – hatte vergessen, wie man lacht. Emotionslos und ohne jegliche Gefühle, vegetierte er bis dato vor sich hin. Patt war der einzige Mensch, dem er vertraute und sie war auch der einzige Mensch, der sein Geheimnis kannte. Obwohl …, es gab da noch jemand anderen.

Die Tür sprang auf und ein beleibter Mann im teuren Designeranzug betrat den Raum. Er hatte die wenigen vorhandenen Haare unschön nach hinten gekämmt und roch nach einer Mischung aus Tabak und aufdringlichem Parfüm.

Dicke Schweißperlen zappelten bei jedem Schritt auf seiner Stirn und Ray wartete nur darauf, dass sie sein rundes Gesicht nieder perlen und mit einem lauten Platsch auf den Fliesen landen würden.

Okay, bei dreißig Grad im Schatten hätte sogar ein Kaiserskorpion in so einem Anzug geschwitzt.

»Memo an mich, Klimaanlage reparieren lassen!«, nuschelte Ray verhalten in seinen Dreitagebart.

Prüfend sah Dooley sich um und schüttelte angewidert den Kopf. Er fühlte sich sichtlich unwohl in dem beengten Büro. Ray und Patt waren stolz auf ihr kleines Reich, was für einen Mann wie ihn wahrscheinlich nicht mehr wert war, als der Dreck unter seinen Fingernägeln. Und so perfekt manikürt konnte da keine Spur von Dreck zu finden sein.

Im Radio unterbrachen sie das Programm für eine Sondermeldung. Im Griffith Park wurde eine männliche Leiche gefunden. Dem Anschein nach war der Typ übel zugerichtet worden. Ray erschauerte unwillkürlich und auch Patt stockte kurz der Atem.

»Jack Dooley«, sagte der dicke Mann und grüßte mit einem kurzen Nicken.

Mit einer Handbewegung bot Ray ihm einen Platz an und sie setzten sich in die abgewetzten Lederstühle. Lässig wühlte Ray in seiner Schublade, in der sich ein paar Projekte befanden, die er ihm präsentieren wollte.

Dooley winkte gelangweilt ab.

»Ich habe einen Auftrag zu vergeben und Sie wollen einen Auftrag, richtig?«

So ein arroganter Fatzke, dachte Ray, lächelte ihn aber weiter abgeklärt an.

»Was auch immer Sie suchen, ich bin Ihr Mann«, entgegnete er stattdessen und hoffte, dass seine Aversion ihm gegenüber nicht auffiel.

»Gut, dann sind wir im Geschäft?«, hakte Dooley voreilig nach.

»Moment, um welche Art Auftrag handelt es sich denn genau?« Irgendetwas stimmte mit dem Kerl nicht, witterte Ray, dessen unsichtbaren Alarmglocken sich plötzlich meldeten. Er wurde misstrauisch.

»Ich dachte, Sie sind der Typ Geschäftspartner, der keine lästigen Fragen stellt, Mr. Fox?« Er betonte Rays Nachnamen wie einen pharaonischen Fluch. »Ich werde Ihnen die Details in ein paar Tagen zukommen lassen.«

Rays Verstand warnte ihn, schrie ihn an, doch sie brauchten das Geld. Schon seit Wochen hatte er die Miete für sein Apartment nicht mehr bezahlt und auch Patt konnte mal wieder etwas Bargeld gebrauchen. Ein Kopfnicken signalisierte seine Zustimmung.

Dooley stand auf und streckte ihm seine verschwitzte Hand entgegen, um den Vertrag zu besiegeln.

Ray zögerte, denn er hatte da so eine Ahnung, was gleich passieren würde. Die Luft flimmerte und ihm wurde heiß. Sein Körper glühte. Patt sah zu ihm rüber, schüttelte den Kopf und ihre Lippen formten sich zu einem stummen Nein. Doch es war zu spät.

Ihre Hände berührten sich und schon floss der vertraute Schmerz durch seinen Körper.

Es brannte wie Feuer und seine Lungen weigerten sich, tief zu atmen. Ein heftiges Pochen ließ ihn innerlich vibrieren. Es war sein rasendes Herz, das gegen seine Rippen schlug, beim Versuch aus der Brust zu springen. Binnen einer Sekunde liefen die Bilder durch Ray hindurch …

 

Er sah Dooley. Dieser saß mit seiner Frau und den Zwillingen am reich gedeckten Frühstückstisch. Er küsste Emily und strich den Mädchen sanft durch die Haare. Dooley nahm seine schwarze Aktentasche und verließ die Veranda durch den überwältigend schönen Garten.

 

Plötzlich wieder dieser Schmerz, jetzt in seiner vollen Intensität. Quälend langsam brannte sich ein Strom aus flüssigem Feuer einen Weg tief in Rays Verstand. Verkrampft presste er das letzte Quäntchen Luft aus seinem Brustkorb.

Jetzt bloß nicht umkippen, du Waschlappen, ermahnte er sich selbst in Gedanken und konzentrierte all seine Kräfte. Dann boten sich ihm neue Geschehnisse …

 

Dooley stand in einem unterirdischen Verlies. Die modrige Luft war stickig und schwer. Hier war es nass, kalt und es roch nach abgestandenem Blumenwasser. Wie Diamantenstaub glitzerte die Feuchtigkeit auf den felsigen Wänden.

Ray drehte sich um. Fenster gab es keine. Nur die rostigen Gitterstäbe, die den Raum zu einem Gefängnis machten, sorgten für ein wenig Luftzirkulation. Im Zentrum der mittelalterlichen Zelle befand sich ein Schlafplatz, wenn man das so nennen konnte. Er war weder bezogen noch in sonst einer Weise ein Bett im herkömmlichen Sinn. Ein versifftes Stück Schaumstoff diente als Basis auf einem von Nässe aufgequollenen Lattenrost.

Durch Dooleys Augen sah er ein Mädchen. Sie hatte kaum die Pubertät erreicht und hockte nackt und kümmerlich auf der provisorischen Unterlage. Ihre Haut war so schmutzverschmiert, dass man nicht mal mehr ihre ethnischen Wurzeln erkennen konnte.

An ihrer linken Schulter entdeckte Ray eine Verletzung. Frisches Blut rann in zwei feinen Linien ihre kaum vorhandenen Brüste hinab. Die Haare hingen ihr verfilzt ins Gesicht und waren vom Blut ganz verklebt.

Dooley kniete auf dem Boden. Mit runter gelassener Hose sprach er zu ihr. Was er sagte, konnte Ray nicht verstehen. Ruckartig riss der Mistkerl an ihrem Bein und versuchte, sie zu sich herunterzuziehen.

Das Mädchen strampelte und wehrte sich, schlug Dooley ins Gesicht, spuckte ihn an. Was für eine kleine Kämpferin, dachte Ray. Ihre Lippen bewegten sich, während es für Ray weiterhin ein Stummfilm blieb.

Plötzlich griff Dooley nach ihrer kleinen Hand und steckte sie mit Gewalt in seine Hose. Sie blickte kurz auf und wich dann so schnell zurück, dass Ray für eine Sekunde die Verbindung verlor. Gleich darauf hatte er wieder vollen Empfang.

Dooley ließ von ihr ab und knöpfte sich die Hose zu. Während er aufstand, schleuderte er ihr einen Geldschein entgegen. An ihrer blutenden Schulter blieb das knittrige Papier haften wie eine Briefmarke, die man angeleckt und auf ein Kuvert geklebt hatte. Dann machte er kehrt und ließ das ängstliche Kind allein.

 

Dooley ließ seine Hand los und hatte nichts bemerkt. »Dann bis bald, Mr. Fox.« Er wandte sich ab und verließ das Büro.

Dieses Schwein!

Es dauerte immer nur den Bruchteil einer Sekunde und Ray hatte alle Bilder in seinem Kopf. Bilder, welche die moralisch schlimmsten Taten derer, die er berührte, widerspiegelten. Bei besonders durchtriebenen Menschen sah er ihr ganzes verdorbenes Leben binnen weniger Augenblicke. Wie bei einem Horrorfilm im Schnelldurchlauf war er gezwungen, sich diese Widerwärtigkeiten anzusehen. Er hatte diese Gabe schon sein ganzes Leben. Es passierte nicht immer, aber vielleicht hatten manche Menschen einfach ein reines Gewissen.

Patt sagte immer, es wäre ein Geschenk Gottes, für das er dankbar sein sollte. Für ihn hingegen war es ein unbarmherziger Fluch. Ray wollte dieses Geschenk nicht, er hasste es abgrundtief.

 

Kapitel 2

 

Pasadena, 2003-01-26

 

Er war wieder da. Dieser schreckliche Traum, der mich jedes Mal schonungslos in jene Nacht zurückversetzt, keimte von Neuem auf. Ständig vergesse ich Dinge, habe Lücken in meiner Erinnerung. Tiefe Schnitte, die nicht mehr verheilen wollen. Aber die besagte Nacht kann ich nicht vergessen – verdrängen vielleicht, aber niemals auslöschen.

 

Ich hasse diesen Ort, das war damals mein erster Gedanke, als ich begriffen hatte, wo ich da überhaupt gelandet war. Ich hasse diese Kinder, war mein Zweiter gewesen. So gut es ging versuchte ich, mich von den anderen fernzuhalten. Das machte meine Position als verstörter Sonderling nicht gerade besser. Und diese Rolle war mir gewiss, denn die teuflischen Visionen, die mir in die Wiege gelegt worden waren, verdammten mich in eine Schublade, aus der ich nicht mehr herauskam. Ich hatte keine Freunde, ich wusste ja nicht einmal, wer ich überhaupt war. Als hätte sich ein Spalt im Boden aufgetan, kam ich aus dem Nichts und wurde in die Welt hineingespuckt. Man erzählte mir, meine Eltern wären bei einem Brand in unserem Haus in L.A. ums Leben gekommen. Nähere Informationen gab man mir keine, nicht mal ihre Namen wollte man mir verraten. Die einzigen Erinnerungen, die mir aus meiner Vergangenheit blieben, waren eine verkohlte Actionfigur und eine antike Taschenuhr – angeblich die Uhr meines Vaters. Die goldene Rückseite schmückte eine Gravur in wunderschön geschwungener Schrift. Die Buchstaben waren so verspielt ineinander verschlungen, dass man denken konnte, die Sprache wäre aus einer anderen Welt. „Dein Blut zeigt dir den Weg, wenn du bereit bist, ihm zu folgen“. Das antiquarische Schmuckstück lief zwar nicht mehr, doch obwohl sie sehr alt zu sein schien, befand sie sich in einem tadellos gepflegten Zustand und glänzte wie ein nagelneuer Kupferpenny. Die anderen Kinder waren nicht sonderlich nett zu mir gewesen. Viele waren um einiges sadistischer als die Erzieher selbst und schikanierten die Schwächeren auf eine Art und Weise, die ich am liebsten vergessen hätte. Vor 4 Jahren, in der Nacht zum 4. Juli, hatten sie Tommy Wilson ans Bett gefesselt. Er war gerade mal acht Jahre alt und gleich nach mir das schwächste Glied in der Kette. Wobei die Schwäche eines Einzelnen nicht unmittelbar am Alter gemessen wurde. Die interne Hackordnung ging nämlich streng nach dem Aggressionspotenzial und der jeweiligen Gewaltbereitschaft des körperlich Überlegeneren. Tommy war ein netter Junge. Er war hilfsbereit und steckte nie in Schwierigkeiten. Genau wie ich versuchte er, einfach so wenig wie möglich aufzufallen, um die Jahre unbeschadet zu überstehen oder besser noch, eine Familie zu finden, die ihn adoptieren würde. Mit seinen frechen Augen und den rosigen Wangen hätte er wirklich gute Chancen gehabt. Aber war man einmal im Kreislauf des Systems gefangen, gab es nur für die Wenigsten ein Zurück in ein normales Leben inmitten einer fürsorglichen Familie. Im Heim sollte man sich besser beeilen mit dem Erwachsenwerden. Wie eine junge Antilope musste man schnell auf die Beine kommen und in rasender Geschwindigkeit wachsen, wenn man den hungrigen Löwen entkommen wollte. Doch Tommy sollte es diesmal nicht gelingen. Er weinte bitterlich und strampelte heftig mit den Füßen, was seine Fesseln nur noch fester zusammenzog, bis die Sehnen an seinen Fäusten ganz weiß hervortraten. Zweifelsohne, er hatte Todesangst. Immer wieder schlugen sie ihn mit einem Gürtel und amüsierten sich dabei prächtig. Das laute Klatschen des harten Leders hallte in dem spärlich eingerichteten Zimmer wie der Peitschenknall eines Dompteurs im Zirkus. Umso lauter er brüllte und bettelte, desto mehr Freude bereitete ihnen dieses makabre Spiel. Sein Blut drang scharlachrot durch den Schlafanzug, an den Stellen, wo die Haut unter den Gürtelschlägen aufplatzte wie eine heruntergefallene Melone. Nacheinander warfen sich diese kleinen Monster über ihn und sprangen auf Tommy herum. Seine Augen drehten sich nach innen, bis man nur noch das Weiße sah. Er schnappte rasselnd nach Luft, würgte. Sie machten weiter. Ein Knacken. Noch einmal. Etliche Male knackte es in Tommys kindlichem Körper. Die Geräusche, die er ausstieß, während er vergebens um Sauerstoff kämpfte, wurden dann von einem röchelnden Gurgeln abgelöst. Dunkler Schaum quoll aus seinem weit geöffneten Mund. Er versuchte zu sprechen, konnte es aber nicht. Anstatt von ihm abzulassen, lachten sie und droschen abermals auf ihn ein. Ich rief um Hilfe, schrie sie an, sie sollen aufhören, doch das stachelte diese schrecklichen Kinder nur noch mehr an. Kevin Tall, dessen Name sein bulliges Erscheinungsbild unterstrich, war der Schlimmste. Immer schon. Seine abscheuliche äußerliche Erscheinung war nichts im Vergleich zur Hässlichkeit in seinem Inneren. Seine Seele war so schwarz und klebrig wie Teer. Pausenlos prügelte Kevin auf den fast bewusstlosen Jungen ein. Er nahm den Kippenstummel aus seinem Mund und brandmarkte damit Tommys winzige Stirn mit seinem persönlichen Sklavenmal. Wenngleich dieser schon viel zu weit weg war, um es noch zu registrieren. Mir wurde schlecht. Kaum bemerkte ich, wie ich auf den Boden erbrach und mich in einer Ecke des Zimmers zusammenrollte. Die Hände hatte ich fest auf meine Ohren gedrückt, um Tommys Keuchen zu entfliehen. Die Zeit stand still – eingefroren. Ich sah nur noch Blut, überall um mich herum. Es war die Farbe aus meinen Albträumen. Ein Rot, das mir seit jeher Angst machte – welches mich, seit ich denken konnte, verfolgte. Kevin und seine Jungs lachten immer lauter, während Tommys Hecheln allmählich leiser wurde. Dann war es ruhig. Es war die unheimliche Stille im Auge eines Tornados. Leicht und schwerelos betäubte sie meine Qualen. Da wusste ich, dass Tommy keine Schmerzen mehr hatte. Ich wusste, er war gegangen und ich war froh darüber. Dankbar, dass dieser grauenhafte Todeskampf endlich ein Ende gefunden hatte. Und ich hasste mich dafür. Die Jungs rannten aus dem Zimmer und ließen mich mit Tommy allein. Auf wackligen Beinen stolperte ich zu seinem Bett. Die festen Knoten der Wäscheleine ließen sich nicht öffnen. Bei jedem meiner Versuche, sie zu lösen, schnitt sie noch tiefer in sein Fleisch. Ich schüttelte ihn, flehte ihn an: „Aufwachen Tommy, wach bitte auf!“ Natürlich rührte er sich nicht. Ein lauter Knall. Fast wäre die Tür aus den Angeln geflogen, als einer der Erzieher ins Zimmer gestürmt kam. Er fand mich über Tommy gebeugt, rüttelnd an seinem leblosen Körper. Kevin stand auf der Türschwelle und lächelte zufrieden. Dieses abstoßend sonnige Grinsen werde ich mein Lebtag nicht mehr vergessen. „Was hast du getan, was hast du nur getan, du kranker Bastard?“, murmelte Mr. Butcher immer wieder vor sich hin.

 

Sie brachen Tommy vier Rippen in dieser Nacht. Eine davon bohrte sich tief in seine Lunge und er erstickte langsam am eigenen Blut, sollte ich später erfahren. Sie hatten ihn eiskalt zu Tode gefoltert und der Mörder saß schon auf der Anklagebank. Der Mörder war ich. Vom Newhaven Kinderheim in Cerritos schickte man mich nach Hilton, einem Heim für auffällige Jugendliche in Pasadena. Alle Kinder und Jugendlichen, die von ihren Mitmenschen aufgegeben wurden, rottete man hier zusammen.

Und an diesem Ort bin ich noch heute. Ich habe es so satt.

 

Pasadena, 2004-05-13

 

Neulich habe ich wieder an Tommy denken müssen. Nicht an den toten Tommy, sondern an den quietschlebendigen Tommy, der immer so fröhlich gewesen war. Er fehlt mir. Ich würde nicht behaupten, dass wir Freunde waren, aber wir kamen gut miteinander aus. Ich hätte ihn beschützen müssen. Heute weiß ich, es wäre so einfach gewesen. Nie wieder werde ich zulassen, dass so etwas geschieht.

 

Seit ein paar Wochen darf ich mit den anderen im Speisesaal essen. Ich habe mich „bewährt“, hat Mr. Doyle gesagt. Viel lieber bliebe ich allein. Die Jungs haben Angst vor mir, sie meiden mich. Ich kann ihre Panik riechen, sobald ich nur einen Fuß in den Raum setze. Es überrascht mich nicht, schließlich hält man mich für einen Mörder. Einen Jungen, der mit elf Jahren ein anderes Kind erbarmungslos zu Tode geprügelt hat. Ob es mich stört? Nein – im Gegenteil. Die Einsamkeit ist ein treuer Begleiter, den ich äußerst zu schätzen gelernt habe. Denn Isolation ist mein einziger Schutzschild gegen die dämonischen Bilder, die mich nachts in meinen Träumen heimsuchen. Wie Geister umhüllen sie mein Leben und lassen mir keine Normalität. Immer auf der Hut, nicht aufzufliegen und mein Geheimnis bewahren zu müssen, fliehe ich vor mir selbst. Ich bin verflucht.

 

Pasadena, 2004-06-21

 

Von Zeit zu Zeit stöbere ich durch meine alten Tagebucheinträge, um meine Erinnerungen zu festigen. Denn gelegentlich verlege ich sie wie einen Haustürschlüssel – manchmal verliere ich sie ganz. Traurige Dinge noch einmal zu lesen, wühlt mich auf. Beim letzten Mal hatte es mich so aus der Bahn geworfen, dass ich die Seiten wütend herausgerissen habe und am liebsten verbrennen wollte. Aufgrund der Tatsache, wie meine Eltern ums Leben kamen, hielt ich dies glücklicherweise für zu theatralisch. Schon verrückt, dass ich das Wort „theatralisch“ überhaupt kenne. Jetzt sind meine ganzen Erinnerungen nur noch ein heilloses Durcheinander, passend zum Chaos in meinem Kopf. Anfangs mochte ich das Schreiben gar nicht. Die schrullige Psychotante – Schwester Maria – meinte, wenn ich meine dunklen Gedanken zu Papier bringe, würden sie meine verdorbene Seele reinwaschen. Hauptberuflich arbeitet sie logischerweise als Nonne, insofern man das denn als Job bezeichnen kann. Ich bin mir sicher, sie hält mich für den Teufel. Ständig behauptet sie, in mir würde eine uralte Seele schlummern, die vertrieben werden müsse. Bei jeder unserer Sitzungen umklammert sie das silberne Kreuz an ihrer Halskette so fanatisch, dass sich sämtliche Falten aus ihren schrumpeligen Händen ziehen. Selbst vor hinterhältigen Weihwasser-Übergriffen schreckt diese Frau nicht zurück. Mit so einem linken Angriff einer gottesfürchtigen Greisin rechnet natürlich keiner. Alte Giftspritze …

 

Pasadena, 2004-07-24

 

Egal wann man die verrückte Selena Coleman sieht, sie sitzt apathisch in einer Ecke und starrt ins Leere, als würde sie sich einen Film anschauen, den außer ihr niemand sonst sehen kann. Heute lief dieser spannende Streifen scheinbar direkt in meinem Gesicht, denn sie sah unentwegt zu mir rüber. An sich ist sie ein ziemlich hübsches Mädchen. Sie ist in etwa in meinem Alter und hat lange rabenschwarze Haare. Das Besondere an ihr sind ihre Augen – sie sind unglaublich. So ein sattes Blau habe ich noch nie zuvor gesehen – so eine Art Blau gibt es eigentlich gar nicht. Durchscheinend und tiefgründig ziehen sie einen in ihren Bann. Wie bei mir, weiß niemand so wirklich, wo Selena herkommt. Angeblich ist sie in so vielen verschiedenen Heimen und psychiatrischen Einrichtungen gewesen, dass keiner mehr ihren tatsächlichen Ursprung kennt. Auch gesprochen hat sie noch nie. Ihre Blicke machten mich heute nervös. Sie verschlang mich derart mit ihren Augen, dass mir ganz schwindlig wurde. Es fühlte sich an, als hätte ich zu lange in der heißen Sonne gelegen, als kehrte sich etwas Angenehmes ins Gegenteil. Ich fühlte mich plötzlich so schwach und verwundbar – ich musste von ihr weg.

 

Pasadena, 2004-08-23

 

Sie verfolgt mich! Egal wo ich mich aufhalte, Selena ist in meiner Nähe. Ihre Blicke treffen mich jedes Mal wie die Spitze eines Pfeils – direkt in mein Innerstes. Forschend und fordernd sieht sie mir geradezu in die Augen und fesselt mich mit ihrem intensiven Blick. Es ist, als würde sie auf mich warten oder etwas von mir „erwarten“. Nur was? Manchmal zucken ihre Mundwinkel und ich überlege, ob sie vielleicht in sich hinein lächelt und ihr mein Unbehagen Freude bereitet. Selena gibt mir das Gefühl, sie wüsste über mich Bescheid – als kenne sie mein Geheimnis. Natürlich ist das kompletter Unsinn. Doch ihre bloße Gegenwart aktiviert etwas in mir. Ich weiß nicht, was es ist, aber es macht mir Angst.

 

Pasadena, 2004-09-16

 

Es war kühl geworden, absonderlich kühl für diese Jahreszeit. Da ich sonst niemals fror, wunderte ich mich heute darüber. Doch es war nicht nur die kalte Luft, die mich frösteln ließ. Vielmehr die Vermutung, beobachtet zu werden. Im Rücken konnte ich ein Augenpaar fühlen. Ganz deutlich. Mein Instinkt warnte mich, doch als ich mich rasch umdrehte, um nachzusehen, war niemand da. Nur der Zaun, der das Heim umschloss und ein paar Bäume, die sich im Wind wogen, waren zu sehen gewesen. Aber irgendjemand war da. Und dieser Jemand war nicht Selena, denn die starrte mich sowieso schon seit Stunden von ihrem Zimmerfenster aus an. Ich verschwand aus ihrem Sichtfeld und aus Langeweile heraus, belauschte ich den rothaarigen Fred und seinen Kumpel Billy, die sich bei einem lustlosen Basketballspiel unterhielten. Worüber redeten normale Jungs? Es ging um Mädchen. Fred erzählte Billy stolz von seinen sexuellen Erfahrungen und zeigte, in Ausübung eindeutiger Hüftbewegungen, sein widerlichstes Grinsen. Ich konnte spüren, dass er log bis sich die Balken bogen. Das konnte ich immer. Er wollte bei seinem Freund Eindruck schinden, welcher diesen bedeutsamen Schritt bereits hinter sich hatte. Ein ungesunder violetter Schimmer umschweifte Billy wie eine unwiderrufliche Kennzeichnung. Selbst Schuld! Wahrscheinlich hatte er sich bei einer der Bordsteinschwalben vom Bahnhof einen Tripper eingefangen. Ich wusste, er war krank. Als ich mich nach meiner üblichen Runde Grübeln zum Essen gesellte, bezog ich wieder meinen Außenseiterplatz an dem kleinen Tisch rechts neben der Essensausgabe. Über mir an der Wand hing ein Bild von Jesus am Kreuz, welches am Morgen noch nicht da gewesen war. Ich konnte mir denken, wem ich diese Ölmalerei zu verdanken hatte. Der Sohn Gottes war mir direkt sympathisch, was Schwester Marias Exorzismus-Absichten wahrscheinlich verfehlte. Dieser Jesus schaute irgendwie genauso drein, wie ich mich ständig fühlte: Verraten, gebrochen und allein. Und trotz der Dornenkrone auf seinem Haupt und den Nägeln in seinen Handgelenken glaubte ich, ein blasphemisches Lächeln in seinem gepeinigten Gesicht erkannt zu haben. Der dicke Carlos stand am Tresen und knallte mit grimmiger Miene Erbsensuppe auf die Teller derer, die anstanden. Es hatte nicht wirklich die Konsistenz von Suppe, sondern war eher ein zähflüssiger Brei, der stets nach Dreck schmeckte. Dankend verzichtete ich auf die stinkende Mahlzeit, als Carlos mit der Kelle an meinen Tisch trat und wie immer Grimassen zog. Er mochte mich nicht besonders und machte nie einen Hehl daraus, mir das auch offen zu zeigen. Ich wollte aufstehen, bevor er mir wie beim letzten Mal, den Inhalt seiner Kelle ins Gesicht schleudern konnte, hielt jedoch kurz inne, als der Stuhl gegenüber knarzte und sich jemand setzte. Selena Coleman nahm Platz und Carlos trabte mit unverhofft heiterer Miene von dannen. Ich hatte vor, zu gehen, aber meine Beine bewegten sich nicht. Sofort begann sie, ohne mich auch nur anzusehen, gierig ihre Suppe zu löffeln. Mein Magen rebellierte beim Gedanken an diese ekelhafte Schlammpampe. Am liebsten hätte ich mich in Slow Motion zwischen sie und ihren Teller geworfen und laut „neeeeeeeinnnnn“ geschrien. Ich starrte sie peinlich an. So peinlich, dass mein Gesicht vor lauter Peinlichkeit Feuer fing. Sie ignorierte mich und ließ sich nicht stören bei ihrem köstlichen Mahl. Interessiert beobachtete ich sie weiter, doch ihr Gesicht war unter der herunterhängenden Mähne verborgen. Als sie fertig war, stützte sie die Ellenbogen auf die Tischplatte und legte ihr spitzes Kinn auf die zusammengefalteten Hände. Dann sah sie mich unverwandt an und neigte den Kopf langsam hin und her, wobei sie mich nicht aus den Augen ließ. Wie einen elektrisierenden Lockruf fing ich ihren Blick auf und versuchte, meinen abzuwenden. Meine Augen hatten scheinbar andere Pläne. Ein kalter Schauer kroch mir den Rücken hinunter. Ich hatte auf einmal das Gefühl, sie bräuchte nur mit den Fingern zu schnipsen und mein Körper stünde parat in Erwartung auf ihre Befehle. Doch da war noch etwas anderes. Wahrscheinlich bildete ich es mir nur ein, aber für einen winzigen Augenblick glaubte ich, einen Funken in ihren Augen wahrgenommen zu haben. Nur ein kleines Glimmen, das sofort wieder erlosch. In mir breitete sich eine unglaubliche Ruhe aus und ich fühlte mich glücklich. Zumindest nahm ich an, dass es sich um ein Glücksgefühl handelte, denn bisher war ich es niemals wirklich gewesen. An meine Kindheit außerhalb des Heims konnte ich mich zwar nicht mehr erinnern, doch trage ich seit jeher so viel Schmerz und Trauer in mir, dass es mit Sicherheit keine schönen Erlebnisse gewesen sein können. Mein Körper baute irgendwann eine Mauer um mich herum, die mich einschloss. Nichts kam herein und nichts konnte heraus. Meine eigene kleine Festung ohne Gedanken an das, was vorher war. Mein ganzes Leben lang konnte ich Menschen von „Fort Fox“ fernhalten. Und in nur wenigen Augenblicken drang dieses Mädchen zu mir durch. Ich wusste nicht, wie es geschah – wann es geschah. Jedoch sah ich förmlich, wie Stein für Stein bröckelte und Licht in meine Dunkelheit einfiel. Erst nur winzige Strahlen. Sie schimmerten durch die engen Fugen und begannen, sich langsam auszubreiten. Dann wurde es heller. Es blendete mich, versengte mir die Augen. Aber ich wollte hinsehen. Ich verließ meinen Körper und schwebte. Plötzlich trat ein breites Grinsen in ihr Gesicht. Ihre schneeweißen Zähne blitzten hervor und kleine Grübchen zeichneten sich auf den erröteten Wangen ab. Das Grinsen wurde breiter und ging in ein leises Kichern über. Ich war total durcheinander und fühlte mich wie ein Volltrottel. Selena sprang auf, schnellte zu mir rüber und wuschelte mir durch die Haare, ohne dass mich eine Vision überkam. Dann rannte sie davon. Kurz kniff ich in meinen Arm, um zu spüren, dass ich nicht träumte. Aber es war kein Traum. Ich saß im Speisesaal und die verstörte Selena Coleman hatte mit dem als Mörder abgestempelten Eigenbrötler Ray Fox Kontakt aufgenommen. Und sie fand mich auf irgendeine Art lustig. Keiner hatte unsere Beinahe-Konversation mitbekommen. Ganz im Gegenteil, alle schlürften brav ihre Suppe und sahen nicht mal auf.

 

Es gibt zwei Dinge, derer ich mir nun vollkommen sicher bin: Erstens, dieses unglaubliche Mädchen hat mehr Geheimnisse zu hüten als Harry Houdini – und zweitens, ich werde Berge versetzen, um derjenige zu sein, dem sie alle anvertraut.

 

 

Kein Traum?

 

Pasadena, 2004-09-17