image

Volker Heins

Max Weber zur Einführung

image

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

Im Internet: www.junius-verlag.de

© 1990 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Titelbild: Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin

E-Book-Ausgabe September 2018

ISBN 978-3-96060-047-3

Basierend auf Print-Ausgabe

ISBN 978-3-88506-390-2

4., unveränderte Aufl. 2010

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort zur dritten Auflage

1.»Was heißt hier Objektivität?«

Zur Wissenschaftstheorie Max Webers

2.Eine kriegszentrierte Sozialtheorie.

Intellektuelle, Apparate, Selbstpraktiken

»Rationalität« und »Lebensführung«

Genealogie der Amoral

Glauben und glauben machen

Herrschen und legitimieren

Verstand und Gefühl in der Politik

Leib und Seele im Kapitalismus

3.Freiheit und »Realismus«.

Webers Gegenwartsdiagnose und Zeitkritik

»Der ganze bürokratische Apparat ist ägyptischer Greuel«

Moderne als Schicksal und Chance

Was bleibt von Weber heute?

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

»Sie werden schließlich die Frage stellen: wenn dem so ist, was leistet denn nun eigentlich die Wissenschaft Positives für das praktische und persönliche ›Leben‹? […] Zunächst natürlich: Kenntnisse über die Technik, wie man das Leben, die äußeren Dinge sowohl wie das Handeln der Menschen, durch Berechnung beherrscht: – nun, das ist aber doch nur die Gemüsefrau des amerikanischen Knaben, werden sie sagen. Ganz meine Meinung. Zweitens, was diese Gemüsefrau schon immerhin nicht tut: Methoden des Denkens, das Handwerkszeug und die Schulung dazu. Sie werden sagen: nun, das ist nicht Gemüse, aber es ist auch nicht mehr als das Mittel, sich Gemüse zu verschaffen. Gut, lassen wir das heute dahingestellt. Aber damit ist die Leistung der Wissenschaft glücklicherweise auch noch nicht zu Ende, sondern wir sind in der Lage, Ihnen zu einem Dritten zu verhelfen: zur Klarheit

Max Weber 1919

Vorwort zur dritten Auflage

Die vorliegende Auflage ist das Ergebnis einer gründlichen Überarbeitung und Erweiterung des ursprünglichen Textes, der erstmals 1990 erschien. Neben zahlreichen einzelnen Passagen und Formulierungen sind vor allem die Unterkapitel »Verstand und Gefühl in der Politik« und »Was bleibt von Weber heute?« neu hinzugekommen. Die ausgewählten Literaturhinweise wurden ergänzt und aktualisiert. Grundsätzlich habe ich versucht, Querverweise auf die innerwissenschaftliche Weberdiskussion auf ein Minimum zu beschränken, um die Lesbarkeit zu erleichtern. Leider habe ich darauf verzichten müssen, für sämtliche Weberzitate die entsprechenden Quellen in den bisher erschienenen Bänden der neuen, im Auftrag der Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen »Max Weber Gesamtausgabe« anzugeben. Daß der ursprüngliche Text schon etwas älter ist, läßt sich auch an der unreformierten Rechtschreibung sehen, die ich entgegen meiner sonstigen Angewohnheit beibehalten habe.

Die erste Fassung des Buches wurde in einer Zeit geschrieben, als Studenten der Sozialwissenschaft (jedenfalls in Frankfurt und Berlin) noch freiwillig Marx lasen und für die Lektüre Webers ausdrücklich geworben werden mußte. Dies mag heute hier und da umgekehrt sein. Geändert hat sich wohl auch das, was an Weber als interessant wahrgenommen wird. So ist aus meiner Sicht der Marxkritiker Weber von dem Zivilisationsanalytiker Weber verdrängt worden – eine Verschiebung, der ich am Schluß des Buches Rechnung trage. Auf die eine oder andere Weise werden uns wohl die Analysen Webers immer wieder zum Nachdenken, Kritisieren und Weiterlesen anregen, und dies weit über die sozialwissenschaftlichen Einzeldisziplinen hinaus. In diesem Sinne wendet sich der Text nicht nur an Soziologen und Politikwissenschaftler, sondern generell an sozialwissenschaftlich Interessierte, die einen Zugang zum Werk Webers suchen, sowie an Lehrende, die anderen einen solchen Zugang erleichtern möchten.

Cambridge/Mass., im August 2003

Volker Heins

1. »Was heißt hier Objektivität?«

Zur Wissenschaftstheorie Max Webers

Das Werk Max Webers lebt nicht zuletzt dadurch fort, daß man immer wieder versucht hat, es »kritisch« zu überbieten. Im sogenannten »Positivismusstreit« der sechziger Jahre und während der Studentenbewegung galt Weber als »bürgerlich« und »affirmativ«. Später nannten andere Webers Schriften »etatistisch« oder »empiristisch« und machten seinen Einfluß sogar verantwortlich für Fehlentwicklungen des Marxismus, die man nunmehr selbstkritisch bereinigen wollte. Alle diese wiederholten Versuche zur kritischen Überwindung der Weberschen Soziologie konnten allerdings nicht verbergen, daß sie häufig ihrerseits von Aspekten dieses Werkes beeinflußt waren.1

Ein wichtiger Aspekt dieser Beeinflussung kann in der heute weitverbreiteten Überzeugung gesehen werden, daß die Wissenschaften einschließlich der Sozialwissenschaft nicht nur »Wahrheit« produzieren, sondern unmittelbar dadurch auch eine »Macht« sind, so ohnmächtig sich ihre Träger auch fühlen mögen. Weber bestimmt die moderne, in speziellen »Anstalten« organisierte Wissenschaft als eine der zentralen gesellschaftlichen Mächte, die der westlichen Lebensform – dem »okzidentalen Rationalismus« – zum Durchbruch verholfen haben. Zugleich sind die Gesammelten Aufsätze zur Wissenschaftslehre, in denen Webers methodologische Arbeiten posthum zusammengefaßt wurden, von dem Bewußtsein durchdrungen, daß ein bestimmter wissenschaftlicher Rationalismus fragwürdig geworden ist. Weber kritisiert das verbreitete (Selbst-)Mißverständnis vieler Fachwissenschaftler, die einen starren Gegensatz von Wissenschaft und Subjektivität postulieren. Am Beispiel der klassischen Nationalökonomie macht er deutlich, daß die Wissenschaft in gewissem Sinne selbst eine »Weltanschauung« ist, insofern sie nämlich von einem »optimistischen Glauben an die theoretische und praktische Rationalisierbarkeit des Wirklichen« (WL: 185) geleitet wird. Für die von den Idealen der Aufklärung inspirierte Wissenschaftpraxis gilt ebenso wie für die spätromantische Kritik der Aufklärung, daß sie nicht in der Lage ist, »das Verhältnis zwischen Begriff und Realität zu ermitteln« (WL: 145). Dieses Verhältnis ist nämlich keineswegs unproblematisch. Weber möchte die Wissenschaft selbst zum Gegenstand strenger Reflexion machen, zum einen, um die erkenntnistheoretische Naivität ihrer Träger zu brechen, zum anderen, um ihren gesellschaftlichen Standort neu zu bestimmen.

Zunächst ist es das Verhältnis von Begriff und Realität, das Weber fragwürdig erscheint. Eng verwandt damit ist das Problem des Verhältnisses von Objektivität und Standortgebundenheit des wissenschaftlichen Wissens. Hier bieten sich Weber zwei zeitgenössische Lösungsansätze an. Für den liberalen Soziologen Karl Mannheim bildet der Wissenschaftler selbst die Grenze der Objektivität der Wissenschaft. Der Wissenschaftler sei vollständig Teil einer »gewordenen«, je individuellen Kultur und könne folglich keinen Anspruch auf eine standortneutrale Objektivität seines Wissens erheben. Mit dieser »soziologistischen« Lesart konkurriert der Neukantianismus Heinrich Rickerts, der an einem strikten Objektivitätsanspruch sowohl der Natur- wie auch der Kulturwissenschaften festhält.

Eine Frage, der in den Diskussionen zur Wissenschaftstheorie Max Webers nachgegangen worden ist, lautet, bis zu welchem Punkt Weber der Fährte Rickerts folgt.2 Zwar postuliert auch Weber ein wissenschaftliches Objektivitätsideal, aber zugleich möchte er herausfinden, was denn Objektivität auf dem Gebiet der Kulturwissenschaften überhaupt bedeuten kann: »Was heißt hier Objektivität?« (WL: 161) Er übernimmt von Rickert die Idee einer besonderen kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung durch das, was Rickert »Wertbeziehung« genannt hat. Damit ist gemeint, daß die Gegenstände der Soziologie, der Nationalökonomie etc. nicht von selbst zu Erkenntnisobjekten werden, sondern nur dadurch, daß sie im Licht jeweils bestimmter, allgemeingültiger Werte bedeutungsvoll erscheinen. Im Unterschied beispielsweise zur Biologie, für die noch das unscheinbarste Lebewesen unter dem Mikroskop ein ebenso würdiger Gegenstand wie jeder andere ist, entstehen die kulturwissenschaftlichen Objekte nur aufgrund der Tatsache, daß wir selbst, wie Rickert und Weber übereinstimmend formulieren, »Kulturmenschen« mit selektiven Erkenntnisinteressen sind. Bereits an diesem Punkt trennt sich Webers Weg jedoch von dem Rickerts. Im Unterschied zu diesem will Weber die Wertideen, welche die Bedingung der Möglichkeit von kulturwissenschaftlichen Erkenntnisobjekten sind, nicht als unverbrüchliche »Objektivitätsgaranten«3 verstanden wissen. Während Rickert im Laufe seiner Entwicklung dazu neigt, die Wertideen inhaltlich zu bestimmen und in eine hierarchische Ordnung zu bringen, kennzeichnet Weber den Bezug auf Wertideen als einen »rein logischformalen Tatbestand«:

»Wenn also hier im Anschluß an den Sprachgebrauch moderner Logiker von der Bedingtheit der Kulturerkenntnis durch Wertideen gesprochen wird, so ist das hoffentlich Mißverständnissen so grober Art, wie der Meinung, Kulturbedeutung solle nur wertvollen Erscheinungen zugesprochen werden, nicht ausgesetzt. Eine Kulturerscheinung ist die Prostitution so gut wie die Religion oder das Geld, alle drei deshalb und nur deshalb und nur soweit, als ihre Existenz und ihre Form, die sie historisch annehmen, unsere Kulturinteressen direkt oder indirekt berühren, als sie unseren Erkenntnistrieb unter Gesichtspunkten erregen, die hergeleitet sind aus den Wertideen, welche das Stück Wirklichkeit, welches in jenen Begriffen gedacht wird, für uns bedeutsam machen.« (WL: 180f.)

Rickert umgeht die Falle des soziologischen Relativismus um den Preis einer objektivistischen Wertemetaphysik, die von vornherein festlegt, was für die Sozialwissenschaften bedeutsam ist und was nicht. Es handelt sich um einen Objektivismus, der beansprucht, alles von nirgendwoher zu sehen. Weber wählt einen anderen Weg, indem er einen neuen Begriff ins Spiel bringt. Er stellt die Forderung nach »Werturteilsfreiheit« für die Wissenschaften und ihre Subjekte auf und versucht, dieser Forderung eine wissenschaftstheoretisch strenge Fassung zu geben.

»Werturteilsfreiheit« – das heißt für Weber gerade nicht »gesinnungslose« oder gar »voraussetzungslose« Wissenschaft. (WL: 157, 175) Genau umgekehrt gilt: Das Postulat der Werturteilsfreiheit soll dem Befund Rechnung tragen, daß die sozialwissenschaftliche Erkenntnis unweigerlich »an ›subjektive‹ Voraussetzungen gebunden« (WL: 182) ist. Diese »subjektiven« Voraussetzungen sind nicht (in erster Linie) sozialer und wissenssoziologischer, sondern erkenntnistheoretischer Natur. Die wichtigste dieser Voraussetzungen habe ich bereits genannt: Jede Entwicklung des kulturwissenschaftlichen Wissens setzt einen »Wissenswert« voraus, d.h. Kriterien, nach denen uns die Untersuchung bestimmter Realitätsbereiche dringlich erscheint.

Charakteristisch sind weiterhin die Formulierungen, mit denen Weber seinen zentralen Begriff des »Idealtypus« einführt. Am Beispiel der neoklassischen Ökonomie erläutert er den heuristischen Sinn von »Konstruktionen« und »Gedankenbildern«, mit deren Hilfe die wahrscheinlichen Prozesse auf Güter- und Arbeitsmärkten gedanklich erfaßt werden. Allgemein spricht er von der Notwendigkeit der »Konstruktion von Zusammenhängen, welche unserer Phantasie als zulänglich motiviert […] erscheinen« (WL: 192). Webers Überlegungen zielen hier auf die konstruktivistische Idee einer Wissenschaftspraxis als »kognitiver Phantasietätigkeit«4.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen hat das Postulat der Werturteilsfreiheit – gegen den Strich gelesen – den folgenden Sinn: Das fiktionale, »phantasmatische« Element des Erkenntnisprozesses soll vor einer Blockierung durch außerwissenschaftliche Konventionen (»Werturteile«) geschützt werden. Dies ist die eine Seite. Auf der anderen Seite jedoch möchte Weber umgekehrt auch die Freiheit schützen, »unwissenschaftlich« zu leben und sich nach Werten und Normen zu richten, die nicht von Experten beglaubigt worden sind.5 Die Wissenschaft ist Teil eines Rationalisierungsprozesses, der zu einer Differenzierung unterschiedlicher Lebensordnungen führt, unter denen sie selbst – neben Politik, Moral, Wirtschaft usw. – nur eine unter vielen ist.

Wenn man sich in den Schriften Webers auf die Suche nach Parallelen zum Konzept der Werturteilsfreiheit begibt, stößt man auf den herrschaftssoziologischen Begriff des Charismas, auf den ich noch eingehen werde. Beiden Phänomenen, der werturteilsfreien Wissenschaftspraxis wie auch der charismatischen Herrschaftspraxis, ist die »außeralltägliche« Distanz zu bestehenden Konventionen gemeinsam sowie die spezifische Faszination, die immer wieder von dieser Unbefangenheit ausgeht.

Die erkenntnistheoretische Lesart des Postulats der Werturteilsfreiheit steht in einer Beziehung zu ihrem wissenschaftspolitischen Sinn. Die Forderung nach »›Wertfreiheit‹ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften«, wie sie in dem bekannten Gutachten formuliert wird, das Weber 1913 für eine Diskussion des Vereins für Sozialpolitik verfaßte6, richtet sich nicht in erster Linie gegen überzogene Objektivitätsansprüche und die Selbstmißverständnisse einer vorgeblich »voraussetzungslosen« Wissenschaftspraxis, sondern gegen die verhängnisvolle Verquickung von Wissenschaft und Propaganda durch akademische »Mandarine« – ein Vorgang, der nach Webers Tod den Aufstieg des Nationalsozialismus entscheidend begünstigen sollte.7 »Wertfreiheit« bezieht sich jetzt auch nicht mehr nur auf die wissenschaftliche Forschung, sondern ausdrücklich auf die akademische Lehre. Weber kritisiert besonders nach 1914 ebenso unerbittlich wie subtil die Selbstgefälligkeit und die Gegenwartsferne der bildungsbürgerlichen Akademikerkaste, die den Anspruch erhebt, weit über die »Fachqualifikation« der Studenten hinaus einen totalen und autoritären Erziehungsauftrag der Universitäten wahrzunehmen.

Webers Polemik gegen »Kathedersuggestion« und »Professoren-Prophetie«, die er etwa bei dem preußischen Historiker und Antisemiten Heinrich von Treitschke konstatiert, mündet in ein alternatives Bild der Universität. Demnach hat die akademische Ordnung die spezifisch ethische Funktion, mittels Erziehung und Rekrutierung einem Persönlichkeitstypus zum Aufstieg zu verhelfen, der in der Lage ist, in bestimmten Kontexten über Wertungsfragen »zu schweigen«. Sinn und Wert der Institution Wissenschaft verweisen somit direkt auf die Wertfreiheit und ihre persönlichkeitsprägenden Folgen innerhalb des modernen Pluralismus gegensätzlicher sozialer Handlungsfelder. Eine wertungsfreie »Wirklichkeitswissenschaft« ist zudem erstmals in der Lage, handlungs-konstitutive Werte selbst zu einem Gegenstand der Forschung zu machen und eine »›realistische‹ Wissenschaft vom Ethischen« zu begründen, die auch noch die nichtrationalen Voraussetzungen unserer heutigen Vernunftkultur erfaßt. (vgl. WL: 489-540) »Wirklichkeitswissenschaft« heißt: Die Sozialwissenschaft unterrichtet über den Charakter der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die uns umgibt und durchzieht; damit aber geht sie ein in das Feld der Handlungsorientierungen, das sie untersucht. Anstatt die Geltung sozialer »Gesetze« zu behaupten, die unabhängig von den Subjekten Geltung beanspruchen dürften, wird sie selbst zu einer mächtigen kollektiven Quelle von Handlungsorientierungen.8

Ein Problem liegt darin, daß Weber zwei verschiedene Formen der »Verunreinigung« von Wissenschaft miteinander zu vermengen scheint: Er wendet sich gegen die Manipulation der Studenten durch Professoren, die »den Marschallstab des Staatsmanns (oder des Kulturreformers) im Tornister« tragen; zugleich und im selben Atemzug kritisiert er das »Hineinreden der Öffentlichkeit« (WL: 493) in den Arkanbereich des Forschungsbetriebs. Diese beiden Formen des Eingriffs würden wir heute gewiß deutlicher als Weber auseinanderhalten. Vor allem ist uns heute bewußt, daß auch die Resultate »reiner«, d.h. nicht in manipulativer Absicht betriebener Wissenschaft zum Rohstoff moderner Mythen werden können. So haben sich zunächst ganz sachliche und disziplingebundene Begriffe wie »Chaos«, »Globalisierung« oder auch Webers »Bürokratisierung« gleichsam unterderhand und ohne daß man immer auf einen Schuldigen zeigen könnte, in beliebig verwendbare wissenschaftliche Alltagsmythen verwandelt.9

In politischer Hinsicht verfolgt Weber ein doppeltes Ziel. Einerseits möchte er die Abschottung des Wissenschaftssektors gegenüber Laien und selbsternannten »Propheten« verstärken, andererseits strebt er eine politische Öffnung der Universitäten an.10 Hier gibt es eine interessante Nahtstelle zwischen den eher erkenntnistheoretischen und den wissenschaftspolitischen Aspekten der Forderung nach Wertfreiheit. Offenkundig denkt Weber an die Möglichkeit, politische Opposition in wissenschaftlichen Zweifel umzumünzen:

»Einer unserer allerersten Juristen erklärte gelegentlich, indem er sich gegen den Ausschluß von Sozialisten von den Kathedern aussprach: wenigstens einen ›Anarchisten‹ würde auch er als Rechtslehrer nicht akzeptieren können, da der ja die Geltung des Rechts als solche überhaupt negiere, – und er hielt dies Argument offenbar für durchschlagend. Ich bin der genau gegenteiligen Ansicht. Der Anarchist kann sicherlich ein guter Rechtskundiger sein. Und ist er das, dann kann gerade jener sozusagen archimedische Punkt außerhalb der uns so selbstverständlichen Konventionen und Voraussetzungen, auf den ihn seine objektive Überzeugung – wenn sie echt ist – stellt, ihn befähigen, in den Grundanschauungen der üblichen Rechtslehre eine Problematik zu erkennen, die allen denjenigen entgeht, welchen jene allzu selbstverständlich sind. Denn der radikalste Zweifel ist der Vater der Erkenntnis.« (WL: 496)

Bemerkenswert ist die Art und Weise, in der sich Webers Wissenschaftskonzept in sein konfliktorientiertes, »agonales« Gegenwartsverständnis einfügt. Weber scheint die Ansicht zu vertreten, daß die modernen Kulturwissenschaften die Aufgabe haben, ihre Adressaten von den Grenzen der (politischen) Verständigung in Kenntnis zu setzen. Wie anders ist die Aussage zu verstehen, daß die Wissenschaft dem Bürger »zur Selbstbesinnung auf diejenigen letzten Axiome« verhelfen solle, »von denen er unbewußt ausgeht oder – um konsequent zu sein – ausgehen müßte« (WL: 151)? Indem die Wissenschaft eine Kommunikation über solche »letzten Axiome« anregt, hat sie nach Weber Anteil an der Bestimmung der sozialen und politischen Konfliktfelder der Gegenwartsgesellschaften. Zugleich bestimmt Weber, und zwar konkret mit Blick auf das Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, das er ab 1904 mitherausgibt, die Wissenschaft als einen »neutralen Boden«, auf dem auch Menschen mit unterschiedlichen Idealen »zusammenwirken« können sollen. Die Wissenschaft bekämpft jede »parteifanatische Beschränktheit«, die die »psychologischen Schranken« (WL: 158) der Kommunikation unter politischen Gegnern zu verewigen trachtet.

Zusammenfassend kann man sagen, daß sich in den Gesammelten Aufsätzen zur Wissenschaftslehre erkenntnistheoretische und wissenschaftspolitische Erwägungen kreuzen. Weber analysiert das scheinbare Paradox, daß sich die – im negativen Sinne – »subjektiven« Einflüsse innerhalb der Wissenschaft gerade dann geltend machen, wenn eine »schlechthin ›objektive‹ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens« beansprucht wird. Eine solche strikte Objektivität, daran läßt Weber keinen Zweifel, kann es nicht geben, weil jede wissenschaftliche Praxis auf einer spezifischen »Einschulung des Auges« (WL: 170) beruht. Ein erstes Ziel der Wissenschaftslehre besteht mithin in der Überwindung der »naiven Selbsttäuschung des Fachgelehrten« (WL: 181), der an die reine Objektivität, an die Evidenzen des reinen Geistes oder des bloßen Auges glaubt.

Eine andere Stoßrichtung wendet sich nicht gegen den spontanen Objektivismus der Fachwissenschaftler, sondern gegen den bildungsbürgerlichen Glauben, daß zwischen den vermeintlich objektiven Idealen der Kultur und dem wissenschaftlichen Willen zur Wahrheit eine Harmonie walte. Der politische Impuls der Wissenschaftslehre beruht aber gerade darauf, den Zusammenhang von bildungsbürgerlicher Standortgebundenheit und selbsterteilten Objektivitätsgarantien zu zerreißen. An dessen Stelle tritt die Kraft zur kritischen Selbstdistanzierung, die dazu führen soll, die wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse vor der heimlichen Vereinnahmung durch parteiliche »Standpunkte« zu schützen. Die »subjektiven Voraussetzungen« des Wissenschaftsprozesses sollen offengelegt und durch methodische Reflexion eingefangen werden. Während der Wissenschaftsbereich nach außen vor politischen Zudringlichkeiten und staatlichen Steuerungsversuchen bewahrt werden soll, soll im Innern radikale Kritik regieren. Es ist diese umfassend kritische Vision, welche die erkenntnistheoretischen und wissenschaftsethischen Überlegungen Webers miteinander verbindet.

2. Eine kriegszentrierte Sozialtheorie.

Intellektuelle, Apparate, Selbstpraktiken

»Rationalität« und »Lebensführung«

Beginnen wir mit einem schwarzen Fleck. Max Weber war, wie viele Zeitgenossen berichtet haben, ein begabter Redner und ebenso ein Autor, der es verstand, prägnant und zügig zu schreiben. Gleichwohl veröffentlichte er in den Jahren 1898 bis 1902 nur insgesamt 36 Seiten. In dieser Zeit unternahm Weber das, was er selbst eine »Höllenfahrt« nannte: Der junge Professor der Nationalökonomie geriet in eine schwere depressiv-nervöse Krise, die ihn schließlich vollständig arbeitsunfähig machte. Wir wissen nur wenig über die klinischen und psychologischen Details dieses Zusammenbruchs. Um so mehr müssen wir die Krise als eine Zäsur akzeptieren, die Webers Leben in ein (frühreifes) »Vorher« und ein (reifes) »Nachher« einteilt.11 Dazwischen lag nicht zuletzt die prägende Erfahrung einer dreimonatigen Amerikareise, die der begeisterte Max Weber im Jahre 1904 zusammen mit seiner Frau Marianne und den Kollegen Sombart, Tönnies und Troeltsch unternahm.12