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Eva Geulen

Giorgio Agamben zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Weimar †

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

© 2005 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelfoto: Bilderberg/Effigie

E-Book-Ausgabe im September 2018

ISBN 978-3-96060-048-0

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-670-5

3., ergänzte Auflage Mai 2016

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ›http://dnb.dnb.de‹ abrufbar.

Inhalt

Vorwort zur zweiten und zur dritten Auflage

IEinleitung

IIAgambens philologische Methode

IIIDenkwege zwischen Philosophie und Literatur

1.Das Problem der Erfahrung (Der Mann ohne Inhalt; Stanzen; Kindheit und Geschichte)

2.Wirklichkeit und Möglichkeit (Der Ort der Negativität; Potentialities)

IVDas Homo-Sacer-Projekt

1.Das Paradox der Souveränität

a) Die ›Schwelle der Ordnung‹

b) Klassische Souveränitätstheorien (1): Bodin, Hobbes, Rousseau

c) Klassische Souveränitätstheorien (2): Kelsen, Schmitt, Pindar

2.Die Logik der Ausnahme

a) Die Ausnahme als ›Beziehungsform‹

b) Der ›souveräne Bann‹ und ›Geltung ohne Bedeutung‹

c) ›Virtueller‹ und ›wirklicher‹ Ausnahmezustand

d) Messianische Zeit (Paulus)

3.Das nackte Leben (Aristoteles, Foucault, Benjamin)

4.Homo sacer

5.Das Lager als nomos der Moderne

6.Wege aus der Souveränität

a) ›Lebensform‹

b) Der Rest

c) Das Zeugnis

7.Kritik und Kontexte des Homo-Sacer-Projekts

a) Martin Heidegger

b) Walter Benjamin und Carl Schmitt

c) Jacques Derrida

d) Hannah Arendt und Michel Foucault

e) Säkularisierung und politische Theologie

VGenealogie der Ökonomie

Anhang

Anmerkungen

Siglenverzeichnis

Literatur

Über die Autorin

Zur Einführung …

hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1978 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Von Zeit zu Zeit müssen im ausufernden Gebiet der Wissenschaften neue Wegweiser aufgestellt werden. Teile der Geisteswissenschaften haben sich als Kulturwissenschaften reformiert und neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervorgebracht; auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sind die traditionellen Kernfächer der Geistes- und Sozialwissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Veränderungen sind nicht bloß Rochaden auf dem Schachbrett der akademischen Disziplinen. Sie tragen vielmehr grundlegenden Transformationen in der Genealogie, Anordnung und Geltung des Wissens Rechnung. Angesichts dieser Prozesse besteht die Aufgabe der Einführungsreihe darin, regelmäßig, kompetent und anschaulich Inventur zu halten.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in verstärktem Maß ein Ort für Themen, die unter dem weiten Mantel der Kulturwissenschaften Platz haben und exemplarisch zeigen, was das Denken heute jenseits der Naturwissenschaften zu leisten vermag.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Dieter Thomä
Cornelia Vismann

Vorwort zur zweiten und zur dritten Auflage

Für die zweite Auflage dieses Buchs wurde der Text überarbeitet und um Erläuterungen zu Agambens zwischenzeitlich auf Deutsch erschienener Paulus-Exegese Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief (= IV.2d) ergänzt. Neu hinzugekommen ist auch das Schlusskapitel über die bisher verfügbaren Veröffentlichungen aus dem Umkreis von Agambens jüngsten Bemühungen um eine theologische Genealogie der Ökonomie (u.a. Profanierungen; Was ist ein Dispositiv?; Die Beamten des Himmels. Über Engel = V).

Die Literatur über Agamben ist in den vergangenen drei Jahren stark angewachsen. Neuerscheinungen insbesondere größeren Umfangs sowie Sammelbände wurden weitgehend in die Bibliographie aufgenommen. Das Literaturverzeichnis erhebt jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Bonn, im Oktober 2008

Für die dritte Auflage dieser Einführung wurde die Auswahlbibliographie um die wichtigsten der zwischenzeitlich auf Deutsch erschienenen Texte Agambens ergänzt. Auch die Angaben zur Forschung wurden behutsam aktualisiert. Besondere Berücksichtigung fanden dabei einerseits die relativ junge Rezeption von Agamben in pädagogischen und bildungstheoretischen Kontexten und andererseits solche Arbeiten, die sich mit Agamben vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingskrise beschäftigen.

Berlin, im Januar 2016

I Einleitung

In der Schweiz hat man entschieden, dass überzählige Embryonen für Forschungszwecke verwendet werden dürfen: therapeutisches Klonen. Ethiker und Theologen wandten ein, man solle die Embryonen sterben lassen. Aber kann sterben, was nicht geboren wurde? Heißt sterben lassen unter solchen Umständen nicht zwangsläufig töten? Nicht nur Gegner, sondern auch Befürworter therapeutischen Klonens berufen sich bei ihren Erwägungen auf die unantastbare Menschenwürde und das Recht auf einen menschenwürdigen Tod. Indem sie dies tun, zeigen sie, dass mit seinem Leben und seinem Tod auch der Mensch Definitionssache (geworden) ist. Manche ziehen die Konsequenz, dass man deshalb nach dem Menschen, seinem Leben und seinem Tod, nicht mehr fragen dürfe. Agamben meint, man müsse die Frage »Was bedeutet ›Mensch bleiben?‹« anders formulieren. Es sei »die Bedeutung des Wortes Mensch so weit zurückzunehmen, daß sich der Sinn der Frage selbst dadurch vollkommen verwandelt« (A 50).

Wenn das Leben Definitionssache ist, stellt sich das Problem der Zuständigkeit. Wer darf, muss und kann Leben definieren? In bioethischen Kommissionen werden auch Theologen und Philosophen hinzugezogen, aber weder die Kirchen noch die Philosophie sind entscheidungsbefugt. Man könnte vermuten, dass den Wissenschaftlern die Definition des Lebens zukommt. Aber auch dort erklärt man sich für unzuständig. Agamben zitiert die Bemerkung eines Biologen, dass Diskussionen über Leben und Tod unter Wissenschaftlern Zeichen eines Gesprächs unter Niveau seien (HS 173). Also muss die Politik, muss der Staat entscheiden, und in ihm die Instanz, deren Geschäft das Entscheiden, Beurteilen und Definieren nun einmal ist: das Recht. Mit Gesetzen, die festsetzen, was Leben heißt und welches Leben als menschlich gilt, reagiert der Staat auf eine Situation, in der Leben Definitionssache ist. Aber mit jeder Grenze, die per Gesetz gezogen wird zwischen dem, was noch als Leben gilt und was nicht, ist deren weitere Verschiebung gleichsam vorprogrammiert. Verzweifelt bemüht sich die Rechtsprechung, Schritt zu halten mit der expandierenden Forschung. Ob man nun für oder gegen therapeutisches Klonen ist, für oder gegen Gendiagnostik, Einigkeit herrscht darüber, dass einzig eine gesetzliche Regelung die anstehenden Fragen und Probleme bewältigen kann. Was Leben ist, wird so immer mehr zu einer Frage seiner gesetzlichen Definition. Diese grundlegende und stetig zunehmende Politisierung des Lebens durch seine Verrechtlichung zu erkennen und zu exponieren ist Agambens erster Schritt auf dem Weg zu einer Umformulierung der Frage, was Menschsein heißt.

Agamben ist kaum der erste, der die Politisierung des Lebens beklagt. ›Mein Körper gehört mir‹ lautete ein Slogan aus den Debatten um den §218. Aber auch ›mein Körper‹ bedarf einer gesetzlichen Definition. Wer das Recht auf ›seinen‹ Körper beanspruchen will, muss überdies zahlen. Das Leben hat seinen Preis. Buchstäblich. Nach dem Entwurf des GendiagnostikGesetzes müssen sich Menschen, die eine Lebensversicherung über 250 000 Euro abschließen möchten, von den Versicherungsgesell- schaften um Gentests bitten lassen. Eine hessische Lehrerin soll nicht verbeamtet werden, bis sie sich einem Test auf die Huntington-Krankheit unterzogen hat, an der ihr Vater litt. Agamben hat hier keine Lösungen parat. Aber er zeigt eindringlich, dass die Diskussionen um das Leben jenseits der verschiedenen Standpunkte insgeheim von einem gemeinsamen Grund getragen werden: vom Vertrauen in genau die rechtlichen Lösungen, die die Politisierung des Lebens zwangsläufig fortsetzen.

Wer heute auch nur mit halber Aufmerksamkeit die Medienberichterstattung verfolgt, weiß, dass es neben den Debatten um wissenschaftlich mögliches und rechtlich zu kodifizierendes Leben noch eine andere Welt gibt. In ihr geschehen Dinge, die sich wie ein archaischer Rückschritt in finsterste Zeiten ausnehmen. Weltweite Bürgerkriege haben Flüchtlingskrisen ausgelöst, die kaum zu bewältigen scheinen. Auf Schiffen und in Lastwagen kommen Flüchtlinge an den Küsten und Grenzen Europas an. Bevor ihr Status geklärt ist, leben sie in Auffanglagern und Transitzonen, deren rechtlicher Status nicht weniger dubios ist als derjenige der in Guantanamo Bay auf Kuba von den Amerikanern inhaftierten Muslime.1

Der zunehmenden Verrechtlichung menschlichen Lebens steht die zunehmende Entrechtung von Menschen gegenüber, die, um es mit Hannah Arendt zu sagen, dem Anschein zum Trotz das Leben von Wilden führen.2 Dass zwischen diesen Phänomenen ein systemischer Zusammenhang herrscht, darf man vermuten. Mit der Figur des homo sacer hat Agamben aus der Vergangenheit des archaischen römischen Rechts eine Figur ans Licht geholt, die den Nexus zwischen Verrechtlichung und Entrechtung schlagartig erhellt.

Der homo sacer bezeichnete im archaischen römischen Recht eine Art vogelfreien Menschen, der nichts hat und nichts ist als ›bloßes Leben‹. Jeder durfte ihn töten, aber keiner ihn opfern, so dass er von göttlichem wie weltlichem Recht ausgenommen war. Und nichts anderes als diese doppelte Rechtlosigkeit konstituierte seinen Rechtsstatus, denn der homo sacer ist keine religiöse, sondern eine juridische Figur. Für Agamben verkörpert er das Leben im Ausnahmezustand, wie er in Lagern, den zones d’attente der Flughäfen und auch in Guantanamo Bay faktisch herrscht und wie er in der Beschneidung von Bürgerrechten im Namen der Staatssicherheit nach dem 11. September 2001 auch in den USA latent drohte. Die heute von vielen verzweifelt beschworene Heiligkeit menschlichen Lebens führt Agamben auf diese Figur als ihren Ursprung zurück, um nachzuweisen, dass die Heiligkeit von vornherein an Tötbarkeit gebunden war und es geblieben ist.

Doch der aufwendige Nachweis eines strukturellen Zusammenhangs zwischen Verrechtlichung und Entrechtung menschlichen Lebens ist nur ein Aspekt von Agambens Bemühungen. Obwohl seine pointierenden Studien gelegentlich den Eindruck erwecken, dass ein Ausweg aus den dilemmatischen Verstrickungen von Recht und Leben schlechterdings unmöglich sei, setzt Agamben seine Hoffnungen in einen neuen Politikbegriff. Ihm schwebt ein Verständnis von Politik vor, in dem das Leben nicht als definierbare Substanz erscheint, sondern untrennbar verbunden ist mit einer bestimmten Form von Leben. Dem durchs Recht verarmten Politikbegriff möchte er auf diesem Wege sein ontologisches Fundament zurückerstatten, der Philosophie ihren seit Platon vergessenen politischen Primat.

Ob Agambens skandalträchtige These von einer »innersten Solidarität von Totalitarismus und Demokratie« (HS 20) gerechtfertigt ist, kann nur die weitere Entwicklung zeigen. Gegenwärtig deutet nicht nur in den USA einiges darauf hin, dass sie sich im Namen des Schutzes der Demokratie zu bewahrheiten anschickt. Ob, wie Agamben formuliert hat, eine »›geschützte‹ Demokratie keine Demokratie mehr ist« (AZ 23), sei dahingestellt. Gewiss ist aber, dass geschütztes Denken kein Denken ist. Und Agamben denkt ungeschützt. Er riskiert etwas und hat, so lässt auch die internationale Rezeption seiner Homo- Sacer-Studien vermuten, mit dem Begriff des nackten oder blo- ßen Lebens etwas getroffen, das uns alle umtreibt. Den Definitionen des Lebens setzt er ein Wissen um Lebensformen entgegen. Solches Wissen findet sich bei den Disziplinen, die in Deutschland Geisteswissenschaften, in den meisten anderen Ländern Humanwissenschaften heißen. Emphatisch insistiert Agamben auf ihren möglichen Beitrag zu einer Analyse des Lebens, die nicht – wie die Naturwissenschaften und das Recht – von den Formen abstrahieren, in denen Leben sich bezeugt, reflektiert und tradiert. Zu einem Zeitpunkt, da das Leben ganz in den Zuständigkeitsbereich des Rechts und der Biowissenschaften zu rücken scheint, klagt Agamben die Kompetenz und das Potential der Humanwissenschaften ein.

Agambens Thesen sind kühn, seine Formulierungen provokant. Dennoch darf man sich wundern, wenn ein derart anspruchsvoller, auch schwieriger, vergrübelter und voraussetzungsreicher Denker von alteuropäischer Belesenheit zu einer internationalen Kultfigur avanciert. Denn mit dem plakativen Gestus z.B. der in den USA jüngst reüssierenden Studie Empire von Michael Hardt und Antonio Negri haben seine Schriften nur wenig gemein.3 Gewiss verdankt sich der enorme Erfolg seiner in zahlreiche Sprachen übersetzten Bücher zum homo sacer vornehmlich der unbezweifelbaren Aktualität seines Anliegens. Aber Agamben verhandelt Tagesnachrichten mit der gleichen intellektuellen Intensität wie archaische Rechtstexte, mittelalterliche Darstellungen, Erzählungen Kafkas oder einen Essay Walter Benjamins. Seine passionierte Intensität kümmert sich wenig um Gattungen, Disziplinen oder Epochenschwellen. Auch in unsere Vorstellungen von den intellektuellen Strömungen und ihrer politischen Verrechenbarkeit im 20. Jahrhundert bringt er Unruhe. Die Reihe derer, mit denen er sich jenseits ideologischer Umzäunungen auseinander setzt, reicht von Walter Benjamin und Michel Foucault (›links‹) bis zu Martin Heidegger und Carl Schmitt (›rechts‹), schließt aber auch Autoren wie den Kunstwissenschaftler Aby Warburg, den heute fast vergessenen Literaturwissenschaftler Max Kommerell, den Linguisten Emile Benveniste, den Historiker Ernst Kantorowicz oder den 68er-Theoretiker der modernen Spektakelgesellschaft Guy Debord ein. Und damit ist erst ein Bruchteil der Autoren genannt, die in Agambens Texten auftreten. Nicht zuletzt die Entschlossenheit solcher Enttabuisierungen weist dem seit den 70er Jahren publizierenden Verfasser einen Platz nach der Zäsur an, die das Jahr 1989 auch markiert. Denn erst danach setzte sich eine generelle Verunsicherung durch, die Zuschreibungen wie ›rechts‹ und ›links‹ fragwürdig werden ließ. Zugleich beweisen Agambens Texte jedoch, dass die tendenziell eklektizistische Vielfalt der Rezeption keineswegs auf Kosten politischen Engagements zu gehen braucht. Agamben steht nicht nur für die seit dem September 2001 dringlicher gewordene Frage nach einer genuin europäischen Politik, sondern er scheint auch die Sehnsucht nach Besetzung der vakanten Rolle des ›öffentlichen Intellektuellen‹ zu stillen. Mit welcher Berechtigung, müssen seine Leser entscheiden. Ihnen erste Mittel dazu an die Hand zu geben ist die Aufgabe dieser Einführung. Der Komplexität von Agambens Denken und der seiner wichtigsten Quellen Rechnung zu tragen ist ihr Anliegen. Der Rest ist Lektüre.

Das Maß, in dem sich Agambens eigene Argumentationen im direkten Kontakt mit vorgefundenen Texten, in der Auseinandersetzung mit Neben- und Vordenkern entwickelt, ist so groß, dass auch eine Einführung dies zu berücksichtigen hat. Zunächst wird, von einzelnen Theoremen vorläufig absehend, eine knappe Darstellung seines Verfahrens und dessen methodologischer Voraussetzungen versucht (Kapitel II). Dem folgen einige Ausführungen zu bislang noch kaum bekannten früheren Texten Agambens, in denen auch für das spätere Homo-Sacer-Projekt wichtige Fragestellungen und Denkfiguren entwickelt werden (Kapitel III). Anschließend werden die zentralen Begriffe und Argumente aus dem Umkreis der auf vier Bücher angelegten Homo-Sacer-Serie vorgestellt (Kapitel IV). Erschienen sind bisher der titelgebende Band Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (von Agamben noch nicht nummeriert) sowie Ausnahmezustand (= Homo sacer II.1) und Was von Auschwitz bleibt (= Homo sacer III). In den weiteren Umkreis des Projekts gehören eine Reihe kleinerer Studien wie Das Offene. Der Mensch und das Tier, die Aufsätze des Bandes Die kommende Gemeinschaft, Die Idee der Prosa und Mittel ohne Zweck. Notizen zur Politik. Die früheren, z.T. noch nicht auf Deutsch, aber auf Französisch und Englisch verfügbaren Bücher zum Problem der Stimme und der Geschichte der philosophischen Ästhetik sowie Agambens erstes Buch über Kindheit und Geschichte werden im dritten Kapitel in der Absicht referiert, die Voraussetzungen zu klären, unter denen das Homo-Sacer-Projekt steht. Ihm gilt diese Einführung vor allem, und insbesondere dem ersten Buch Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Es ist bisher Agambens überzeugendster und im aktuellen Kontext bedeutsamster Beitrag. Einen eigenen Abschnitt verdient im Rahmen dieser Rekonstruktion die Darstellung der Alternativen, die Agamben angesichts des von ihm entwickelten Paradigmas abendländischer Politik entwirft. Hier geht es zunächst mit dem Begriff der ›Lebensform‹ um Thesen aus dem ersten Homo-Sacer-Buch, um den Begriff des Rests und schließlich um die Neubegründung einer Ethik in Agambens Was von Auschwitz bleibt. Anschließend werden Agambens Überlegungen und Thesen versuchsweise und im Ausgang von seinen wichtigsten Quellen in ältere und neuere Diskussionszusammenhänge integriert. Diese intellektuelle Archäologie soll Agambens Einordnung in ein unübersichtliches Feld der Debatten etwas erleichtern und die Kontexte erhellen, auf die er sich mehr oder minder explizit bezieht.

Mit dieser Organisation des Materials wird ein Weg gewählt, der sich von anderen bisher verfügbaren Darstellungen Agambens dadurch unterscheidet, dass hier nicht ein einzelnes Theorem, ein einzelner Philosoph oder eine bestimmte Quelle (etwa: Agambens Aristoteles-Exegese, Sprachphilosophisches, der Erfahrungsbegriff oder die unbezweifelbare Bedeutung Walter Benjamins) so privilegiert werden, dass sie als Fundament oder organisierendes Prinzip dienen.4 Die Darstellung fühlt sich andererseits aber auch nicht zwingend der Chronologie der Argumentationsschritte oder der Reihenfolge der Publikationen verpflichtet. Einzugreifen oder umzustellen glaubt sie sich berechtigt, weil sich die aktuelle Bedeutung und die Systematik von Agambens Anliegen erst jenseits der Bücher erschließt, die zudem oft dasselbe oder ähnliches Material verarbeiten. Aufgrund der massiven Rezeption wie aufgrund von Agambens Vorliebe für griffige Formulierungen haben sich einzelne (im Regelfall übrigens nicht von ihm selbst geprägte) Termini zwischenzeitlich so verfestigt, dass man es wagen darf, sie wie Begriffe zu entwickeln und als Strukturen zu beschreiben. Diese Termini leihen den einzelnen Abschnitten des Hauptteils die Überschriften.

Von kritischen Stellungnahmen wurde in den referierenden Teilen so weit wie möglich abgesehen. Nur gelegentlich und in den Fußnoten wird auf mögliche Einwände oder problematische Konsequenzen seiner Konzeption hingewiesen. Kritische Wertung ist aber in das vorletzte Kapitel »Kritik und Kontexte des Homo-Sacer-Projekts« eingegangen, das auch aus diesem Grund von der Darstellung entkoppelt wurde.5 Obwohl Agambens jüngste Überlegungen zu den theologischen Ursprüngen der Ökonomie keinen grundsätzlichen Neueinsatz, sondern eher eine Modifikation seiner bisherigen Arbeit darstellen, wurde ihnen ein eigenes Kapitel gewidmet. Es kann und sollte auch als eine Fortsetzung der »Kritik und Kontexte des Homo-Sacer-Projekts« gelesen werden, weil es einen zusätzlichen Horizont seines Denkens erhellt.

II Agambens philologische Methode

Zu heterogen ist Agambens intellektuelles Umfeld, als dass man ihn auf einen methodischen Ansatz verpflichten oder einer philosophischen Schule zurechnen könnte. Zudem besteht die Faszination seiner Schriften gerade in den neuen und überraschenden Konstellationen, in die er bekannte, aber auch weniger bekannte, älteste und neueste Texte und Probleme zu bringen weiß. Scheinbar spielend bewältigt Agambens passionierte Intelligenz historische, politische und disziplinäre Distanzen. Umso dringlicher stellt sich dann allerdings die Frage nach seinem Verfahren. Obwohl konventionelle wissenschaftstheoretische und methodologische Überlegungen in seinem Werk fast gänzlich fehlen, hat Agamben darauf einige Antworten. Die ehrlichste hat er in dem schmalen Band Was ist ein Dispositiv? gegeben: »Ein methodologischer Grundsatz, von dem ich mich in meinen Untersuchungen immer habe leiten lassen, ist es, in den Texten und Kontexten, die ich bearbeite […], den Punkt ihrer Entwicklungsfähigkeit« (D 25) zu finden. Ist er gefunden, so verschwindet aber zugleich die Unterscheidung zwischen dem Gegenstand und seiner Deutung, und ein Prinzip hermeneutisch-philologischer Integrität muss preisgegeben werden: »Obgleich dies für den Interpreten ein besonders glücklicher Moment ist, weiß er, daß es nun an der Zeit ist […] auf eigene Rechnung fortzuschreiben.« (Ebd.)

Im Vorfeld lassen sich zunächst einige philosophisch-theoretische Großformationen benennen, die mit Agamben zu assoziieren bestimmt nicht falsch ist. Eine Reihe von Aspekten seines Argumentationsstils, insbesondere das untrügliche Gespür für Paradoxa und strukturelle Widersprüche, lassen auf seine Nähe zu jenen Denkern schließen, die sich eine Neulektüre der abendländischen Klassiker ›gegen den Strich‹ vorgenommen haben. Unter dem Begriff der ›Seinsgeschichte‹ wurden die Möglichkeiten solcher Lektüre zuerst von Martin Heidegger philosophisch erschlossen. Jacques Derrida und die Dekonstruktion haben sie mit anderen Techniken und Zielsetzungen weiterentwickelt. Tatsächlich hat Agamben als junger Mann noch an einem Seminar Martin Heideggers teilgenommen, war mit Derrida, Deleuze u.a. befreundet. Von Haus aus ist Agamben jedoch nicht nur Philosoph, sondern ausgebildeter Jurist und sodann Philologe. An der kritischen Ausgabe der Schriften Walter Benjamins in Italien hat er maßgeblich mitgewirkt und in diesem Zusammenhang auch bisher unbekannte Originalmanuskripte ausfindig gemacht.6

In seiner Eigenschaft als Philologe kann man ihn dem von Walter Benjamin beschriebenen Typus des Jägers vergleichen, der im Dickicht der Texte aus verschiedenen Zeiten und unterschiedlichster Provenienz Zitaten auflauert, denen man außerhalb der Fachdisziplinen und ihrer Spezialliteratur kaum begegnen würde. Aus entlegensten Gebieten bezieht Agamben das Material für seine Argumente; Obskuritäten der Rechtsgeschichte, theologische Arkana, jüdische Kabbala, naturwissenschaftliche und medizinhistorische Details, Philosophie, Kunst und Literatur aus Antike, Mittelalter und Neuzeit bezeugen eine in ihrer Fülle und Weitläufigkeit fast anachronistisch anmutende Gelehrsamkeit. Jenseits der Fachdisziplinen wird das nah und fern Erbeutete von Agamben neu konstelliert und so montiert, dass Ältestes plötzlich akute Brisanz gewinnt und Jüngstes sich als archaisch erweist. Im Unterschied zu den Montagetechniken, die man der ästhetischen Moderne zuschreibt, dient Agambens Verfahren nicht der streuenden Sprengung von Kontexten, sondern zielt umgekehrt auf Verdichtung und Radikalisierung seiner Argumente, für die er Material sammelt wie Beweisstücke in einem Prozess – den Agamben der Tradition politischen Philosophierens gegenüber tatsächlich anstrengt.

Langfristig wirksamster Ertrag seiner Methode ist die archaischem römischen Recht entlehnte Figur des homo sacer, der gleichermaßen vom göttlichen Recht (sofern er nicht geopfert werden darf) wie vom weltlichen Recht (sofern seine Tötung keine rechtlichen Konsequenzen hat) ausgeschlossen ist. Entdeckt hat Agamben diese Figur in fragmentarischen Quellen bei Sextus Pompeius Festus, der vermutlich noch Älteres kompilierte. In Agambens Homo-Sacer-Publikationen fungiert der homo sacer nicht nur als Emblem einer sehr komplex angelegten Struktur, sondern nimmt Züge einer quasikörperlichen Gestalt mit Wiedererkennungswert an. Der im Jargon der Konzentrationslager ›Muselmann‹ genannte, von Bruno Bettelheim und Primo Levi ausführlich geschilderte Typus des KZ-Häftlings, von dem man nicht zu sagen weiß, ob er lebendig oder tot ist, erscheint Agamben ebenso als eine Inkarnation des homo sacer wie die Flüchtlinge auf den Booten vor der italienischen Küste, wie die rechtlosen, als enemy combattants klassifizierten und von den Amerikanern in Guantanamo Bay inhaftierten Muslime oder wie die amerikanische Komapatientin Karin Quinlay, die je nach Rechtslage entweder noch lebendig oder schon tot war. Ob es im archaischen römischen Recht tatsächlich homines sacri gegeben hat, ist zunächst belanglos gegenüber den Wiedererkennungsmöglichkeiten, die diese Figur freisetzt. Der homo sacer legt Zusammenhänge offen, vor denen manch einer lieber die Augen verschließt, etwa zwischen dem rechtsfreien Raum der nationalsozialistischen Konzentrationslager, den Gefangenen auf Kuba und der Intensivstation eines lokalen Krankenhauses. Agamben behauptet keinesfalls, dass in diesen Räumen dasselbe passiert, aber er arbeitet ihre gemeinsame rechtslogische Basis und ihre strukturellen Analogien heraus.

Wer strukturell denkt und die Macht der Analogie systematisch entbindet, muss die Kontexte, in denen dieses oder jenes Faktum von jeher verwurzelt ist, auch übersehen können, muss den Mut zur Isolation, zur Sprengung eingefahrener Denkmuster aufbringen. Und er muss mit Kritik rechnen. Rechtshistorikern fällt der Nachweis nicht schwer, dass sich Agamben in seinem Buch über den Ausnahmezustand einigermaßen willkürlich beim einen oder anderen Kollegen (manchmal auch ohne Namensnennung) bedient hat.7 Altphilologen und Historiker monieren die Lücken seiner selektiven Darstellung.8 Der Foucault-Spezialist vermisst nötige Trennschärfe bei der Übernahme des Vokabulars von Foucault.9 So berechtigt diese und ähnliche Einwände sein mögen, sie sollten nicht von den genuinen Denkleistungen ablenken. Es mag sein, dass die Figur des homo sacer wie ein Mythos funktioniert. Aber seit Hans Blumenberg weiß man, dass jedem Mythos schon eine welterhellende Kraft innewohnt, auf die man nicht verzichten kann.10 Statt auf philologische Tugenden zu pochen, sollte man sich umgekehrt fragen, was von einer Philologie ohne spekulative Phantasie und entsprechende Risikobereitschaft übrig bliebe. Wer Agambens Studien zum homo sacer gelesen hat, wird jedenfalls nicht nur das Flüchtlingsproblem mit anderen Augen sehen.

Nun gibt es seit geraumer Zeit eine auch akademisch institutionalisierte Verwaltungsinstanz für wildernde Autoren und Gedanken. Vor allem die Nationalphilologien betrachten sich zusehends als Vertreter einer interdisziplinären Kulturwissenschaft, die diesseits und jenseits des Atlantiks längst über stattliche Sammelbände und eine entsprechend komplexe Methodendiskussion verfügt. Obwohl man annehmen könnte, dass Agamben philosophisch inspirierte Kulturwissenschaft betreibt, wird man den Begriff der ›Kultur‹ oder gar ›Kulturwissenschaft‹ bei ihm kaum finden – übrigens auch nicht den einem etwas älteren geisteswissenschaftlichen Paradigma verpflichteten Begriff der ›Gesellschaft‹.11 Indirekt aber bezeugen seine Studien, was historisches Denken zu leisten vermag, das sich von seinen philologischen Grundlagen nicht verabschiedet. Tatsächlich liegt, was man Agambens Methode nennen könnte, in seiner Vorstellung vom philologischen Material beschlossen.

Anhaltspunkte für Agambens Philologie-Verständnis bietet u.a. sein 1978 auf Italienisch publiziertes, aber erst 2004 ins Deutsche übertragenes Buch Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte. Dort hat er versucht, den im naturwissenschaftlichen Horizont der Moderne auf Positivismus und Empirie reduzierten Begriff der Erfahrung mit Hilfe eines transzendentalen Sprachverständnisses philosophisch zurückzuerobern. Das Kapitel »Der Prinz und der Frosch. Das Problem der Methode bei Adorno und Benjamin« verhandelt einen brieflichen Disput der beiden Philosophen aus den 30er Jahren. Benjamin hatte Adorno ein Exposé geschickt, in dem er sein gigantisches Projekt über die Pariser Passagen vorstellte, eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, die im Wesentlichen nur aus Zitaten bestehen sollte. Skeptisch beurteilte Adorno die Fähigkeit des Materials, für sich selbst zu sprechen, und forderte seine theoretische Vermittlung im Sinne der Methode des historischen Materialismus. Andernfalls müsse sich Benjamins materialbesessene Form der Geschichtsschreibung den Vorwurf der Magie gefallen lassen. Bei dieser Diskussion, die sich vor allem an den direkten Korrespondenzen entzündete, die Benjamin zwischen einem Baudelaire-Gedicht und zeitgenössischen Alkoholsteuern geltend machte, stand also nichts weniger auf dem Spiel als die für jeden Marxismus entscheidende Frage nach dem Verhältnis von (ökonomischer) Basis und (kulturellem) Überbau, neutral formuliert: die Frage nach dem Verhältnis zwischen einem Faktum und seiner Bedeutung. Agamben ergreift unmittelbar Partei für Benjamins Ansatz und versucht dessen methodische Voraussetzungen zu entfalten: »Materialistisch kann nur jener Standpunkt sein, der die Trennung von Unterbau und Überbau radikal unterläßt, weil sein einziger Gegenstand die Praxis in ihrer ursprünglichen Kohäsion ist, d.h. die ›Monade‹ (sie bezeichnet in der Definition von Leibniz eine einfache Substanz, ›einfach, das heißt ohne Teile‹).« (KuG 170/71) Wahrer Materialismus könne folglich nicht darin bestehen, Faktum und Bedeutung erst zu trennen, um sie dann mit Hilfe der dialektischen Methode wieder zusammenzuführen. Vielmehr müsse der Gegenstand selbst als praktische Einheit von Faktum und Bedeutung erfasst werden. Im vorgefundenen Gegenstand seien die beiden Dimensionen bereits verflochten. Deren Einheit sei in der Form des philologischen Fundes gegeben: »Der Philologie kommt dabei die Aufgabe zu, die Einheit dieser ›Monade‹ zu gewährleisten.« (KuG 171) Die Unmittelbarkeit des philologischen Fundes korrespondiert dem, was Walter Benjamin »den Tigersprung ins Vergangene« genannt hat.12

Auf Adornos Magievorwurf anspielend, argumentiert Agamben, die Philologie sei das Mädchen, das ohne theoretische Vorbehalte und Rücksichten den Frosch der Praxis auf den Mund küsse. Der Wahrheitsgehalt des verhexten Froschs, seine wahre prinzliche Gestalt, werde sich dann unweigerlich enthüllen. (Agamben hätte eigentlich wissen müssen, dass die Prinzessin im Märchen den garstigen Frosch mitnichten küsst, sondern zornig an die Wand klatscht, was der offenbar erforderlichen Rücksichtslosigkeit im Umgang mit solchen Materialien vielleicht näher kommt als die sentimentale Version vom liebenden Kuss der Philologie.) Jedenfalls behauptet Agamben, dass allein der Philologe imstande sei, den Gegenstand »in seiner faktischen Integrität« herzustellen (KuG 171).

Der unvermittelte Zugriff des Philologen auf seinen materialen Fund ist jedoch nur die eine Seite des Deutungsprozesses. Dessen andere besteht in dem, was Agamben mit Benjamin »die Aufhebung der Philologie« nennt. Theoriebildung spielt auch hier keine große Rolle, wohl aber der Fluchtpunkt der Deutung »›in unserer eigenen historischen Erfahrung‹. Nur diese kann den Gegenstand beleben und aus der mythischen Starre der Philologie wecken.« (KuG 171) Mit einem berühmten Satz Walter Benjamins: »Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt.«13

Diese beiden Aspekte des Deutungsprozesses, das philologische Beweisstück einerseits und die Verwurzelung seiner ihn belebenden Interpretation in der eigenen historischen Erfahrung andererseits, bilden die Pole von Agambens eigenem Verfahren. Er orientiert sich damit an Benjamins Materialbegriff, den dieser später in die Konzeption des dialektischen Bildes bzw. des Denkbildes überführt hat. Direkt in dieser Tradition stehen Agambens Stücke in dem Band Idee der Prosa (1985/2003). Der Titel stellt übrigens ein nicht markiertes Benjamin-Zitat dar. Benjamins Forderung, sein Passagen-Werk müsse die Kunst, ohne Anführungszeichen zu zitieren, beherrschen, hat Agamben sich in mehr als einer Hinsicht zu eigen gemacht.14

Obwohl der dialektische Materialismus, der der Diskussion zwischen Benjamin und Adorno damals das Vokabular lieh, heute kaum denselben Stellenwert hat, ist das verhandelte Problem längst nicht gelöst und überdies älteren Ursprungs. Immer wieder ist es darum gegangen, den Gegensatz zwischen Allgemeinem und Besonderem, zwischen abstrakter Struktur und anschaulichem Gegenstand in einer Weise zu überwinden, die weder das Konkrete ans Allgemeine verrät, noch das Allgemeine über dem Konkreten vergisst. Für den Umgang mit Geschichte bedeutet dies, einen Weg zu finden zwischen den Prätentionen des Positivismus auf Objektivität und der Gefahr rein subjektiver Spekulation (vgl. Kapitel III). Schon Benjamin berief sich bei dem Versuch, die Unterscheidung zwischen dem Gegenstand und seiner Interpretation zu unterlaufen, mit Goethe auf einen älteren Lösungsvorschlag. Wahrscheinlich über Georg Simmels Ausführungen in seinem Essay über Goethe (1913) stieß Benjamin auf den Begriff des ›Urphänomens‹, den Goethe im Zusammenhang mit seiner Farbenlehre prägte, um damit die unmittelbar in der Anschauung gegebene Verschränkung von Theorie und Gegenstand, Allgemeinem und Besonderem, zu charakterisieren.15 Tatsächlich führt Agamben den Begriff Urphänomen an einer Stelle auf Deutsch an (vgl. HS 119).

. Methodisch eröffnete die anhand von Pathosformeln mögliche Entdeckung relativ konstanter Bildelemente über große Zeiträume hinweg neue Organisationsmöglichkeiten kunstgeschichtlicher Verläufe und forderte neue Methoden der Bildanalyse. Seine Konzeption der Pathosformel führte Warburg aber auch zu der für Agambens Ansatz wichtigen Konsequenz, dass heidnische Antike, Mittelalter und Moderne keine streng geschiedenen Epochen darstellen. Warburg prägte dafür die Formel vom »Nachleben der Antike«.