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Falko Blask

Jean Baudrillard zur Einführung

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Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
www.junius-verlag.de

© 1995 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelfoto: Ullstein – dpa
E-Book-Ausgabe September 2018
ISBN 978-3-96060-052-7
Basierend auf Printausgabe
ISBN 978-3-88506-067-3
4., vollständig überarb. Auflage 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

1.Wer ist Jean Baudrillard? – Biografische Essentials

2.Frühwerk und Polemiken

Baudrillard und Foucault

Das System der Dinge

Baudrillard und der Sozialismus

Ist Baudrillard politisch?

3.Das Theorem der Simulation

Die Medien

Die Ordnung der Simulakra

Das Ende der Realität

Die Implosion des Sozialen

Ist Baudrillard selbst ein Simulant?

4.Das Ende der Kritik

Reversibilität statt Simulation

Tod statt politischer Ökonomie

Ist Baudrillard ein Metaphysiker?

5.Die Lehre von der Verführung

Geheimnis statt Transparenz

Duell statt Versöhnung

Ist Baudrillard ein Verführer?

6.Die Strategie der Fatalität

Die Ekstase

Das Transpolitische

Die Macht des Objekts und der Andere

Ist Baudrillard ein Zyniker?

7.Amerika: Vorläufiger Endpunkt der Evolution der Realität

Paradies und Apokalypse

Banale Wüste und paradoxer Pragmatismus

Ist Baudrillard eine virtuelle Person?

8.Das Prinzip des Bösen

Das Obszöne und die Illusion

Der Zufall und das Schicksal

Virtuelle Virulenz

Fotografie – Flucht aus der Theorie?

Radikalität des Raumes

Ist Baudrillard der letzte Mensch?

9.Unmöglicher Tausch

Doppelleben

Ende und Anfang der Freiheit

10. Denken im Jenseits

Ist Baudrillard ein Anti-Theoretiker?

Anti-Epistemologie oder affirmatives Rauschen?

Die Katastrophe der Diskurse

Delirium in Poesie

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

Einleitung

»Denker, strengt euch noch einmal an!« Diesen Marschbefehl an die von Erstarrung bedrohte abendländische Philosophie, ausgerufen in seiner furiosen Schrift Das perfekte Verbrechen, hat Jean Baudrillard (1929–2007) zeit seines Lebens selbst mit großer Hingabe befolgt. Seine eigenen Anstrengungen riefen dabei vielfältige Reaktionen hervor: Häufig missverstanden, galt Baudrillard lange als Polemiker, theoretischer Anarchist und als Modephilosoph. Mittlerweile erlebt er als weitsichtiger Diagnostiker eines von Medien dominierten Zeitalters erneut intensive Aufmerksamkeit. Dabei finden sich in der Sekundärliteratur nicht nur nüchterne Bestandsaufnahmen, wie etwa jene von Samuel Strehle: »Wie kaum ein anderer Denker der letzten Jahrzehnte hat Baudrillard das Lebensgefühl seiner Epoche geprägt; bis weit in die Populärkultur hinein.« (Strehle 2012, 10) Das radikale Denken des französischen Theoretikers inspirierte andere, die ihn persönlich kannten, zu geradezu hymnischen Nachrufen: Äußerst persönlich resümierte Juremir Machado da Silva, Professor an der Université Catholique de Porto Alegre in Brasilien: »Was bedeutet der Tod von Baudrillard? Aus mehrfachen Gründen ist er unsterblich: wegen seiner nachvollziehbar immer radikaler werdenden Ideen und der immer verführteren Herzen seiner Freunde. Jean Baudrillard, dessen Bewunderer und Freund ich war, was mit der Zahl der gemeinsam getrunkenen Caipirinhas und Weine nachgewiesen werden könnte (wenn der Nachweis in seiner Weltsicht möglich und wichtig wäre), war vor allem ein Meister des Wortes.« (da Silva 2009, 153)

Eine Meisterschaft mit Tücken, die Baudrillard zwar Aufmerksamkeit in Kunst, Kultur und Feuilleton bescherte, ihn in der akademischen Welt – gerade seiner französischen Heimat – aber zu einem Außenseitertum verdammte und seinem radikalen Denken polemische Bezeichnungen wie jene des »konnotativen theoretischen Terrorismus« (Fuder 1994, 43) einbrachte. Und während Baudrillard in Deutschland und den USA lange als herausragender Protagonist postmodernen Denkens bzw. französischer Philosophie gehandelt wurde, kristallisiert sich seine Bedeutung für Soziologie und Philosophie erst allmählich heraus. Eine Einführung in sein Denken muss vor allem dem Umstand gerecht werden, dass Baudrillard sich zugleich mit aktuellen Phänomenen und mit nahezu metaphysischen Überlegungen befasst, dass er Kritik und Affirmation verschwimmen lässt, abwechselnd konkret und paradox schreibt und ein diskontinuierliches Theoretisieren betreibt.

Die vorliegende Einführung soll Transparenz erzeugen, obwohl deren Abwesenheit manchmal gerade das Anliegen des Autors selbst zu sein scheint, wenn er etwa formuliert:

»Der Zweck meines Schreibens besteht vielleicht darin, einen leeren Raum zu erzeugen. […] So einen leeren Raum entstehen zu lassen, der aber schwer von Virtualität wie ein schwarzes Loch wäre, das ist mein Versuch. […] Mein Ziel also ist es, einen kleinen, aber undurchdringlichen Punkt des Nicht-Kommunizierbaren, des Undurchsichtigen oder des Fatalen zu erzeugen, kleine Klumpen solcher fatalen Strategien zu inszenieren. Damit kann jeder anfangen, was er will. Über den Einfluß meiner Gedanken habe ich keine klare Kenntnis, obgleich ich sehr neugierig bin zu erfahren, was daraus entsteht.« (VuV 91)

Trotz dieser von Baudrillard selbst erteilten und von Kritikern oft verfemten scheinbaren Deutungsfreiheit ist es möglich, einen roten Faden – manchmal eher ein Fadennetz – in seinem Denken zu entdecken, ohne seiner besonderen Auffassung von Textinterpretation nichts weiter als Verwirrung abzuringen. Aber auch die Verwirrung – und das macht sowohl die Schwierigkeit als auch den Reiz der Baudrillard-Lektüre aus – kann sich als Träger von Bedeutung entpuppen.

Ein Autor, der dem Interpreten provokativ die völlige Freiheit in der Deutung seines Werkes ermöglicht, stürzt ihn damit absichtlich in das Dilemma der Vieldeutigkeit, für die er selbst keinen Kompass hinterlässt, der dort Orientierung bieten könnte.

Aufgrund dieser Eigenheit bietet es sich an, die Schreibweise Baudrillards aus einer Perspektive zu betrachten, die der Schriftsteller und Literaturkritiker Hanns-Josef Ortheil für die Analyse der Literatur des kybernetischen Zeitalters und des postmodernen Romans anlegt: »Es geht hier um die Komplizenschaft, nicht um Ästhetik. Der Leser wird zum intellektuellen Komplizen des Autors.« (Ortheil 1990, 107)

Damit die Komplizenschaft in dieser Einführung aber nicht in ein simples Fortführen der zum Teil kryptischen baudrillardschen Schreibweise mündet, habe ich mich für eine Struktur entschieden, die das grundsätzliche Kreisen Baudrillards um die immer gleichen gesellschaftlichen Phänomene entzerren soll, indem die wesentlichen Begriffskomplexe seines Werkes als Kernstücke bestimmter Texte aufgefasst und erläutert werden. Der Versuch, vereinfachend Klarheit zu erzeugen, soll dabei nicht durch die Andeutung allzu vieler neuer Bezüge und Entwicklungslinien zunichte gemacht werden.

Eine potenzielle Kritik am Autor muss dabei zuallererst entkräftet werden: Auch wenn Baudrillards Schreibduktus zu dieser Einschätzung verleitet, lässt er sich auf keinen Fall mit dem Begriff abqualifizieren, den der Berliner Germanist Klaus Laermann in seiner Polemik Lacancan und Derridada als »Frankolatrie« bezeichnet. Darunter sei eine Schreibweise zu verstehen, die sich in verwirrender Rhetorik, hohlem Wortzauber und dem »gesteigerten Bedürfnis nach Abweichung von den Diskursen der Alltagssprache und der Wissenschaftssprache« (Laermann 1986, 37) ergeht und die einfach nicht verstanden werden will. »Dieser artistische Minimal-Derridadaismus schafft spielerisch den Übergang von Brillanz zu Brillantine. Wortstrotzend gefällt er sich in dunklen Anmutungen. Seine reine Oberfläche strahlt als Tiefe. Sein Rätsel ist, daß er keins hat, wohl aber gern eines aufgeben möchte. Denn er verschwimmt in Begriffsschlieren, die nichts mehr bedeuten.« (Laermann 1986, 39)

Es empfiehlt sich, bei der Beschäftigung mit Texten von Baudrillard apodiktische Interpretationen und unumstößliche Schlussfolgerungen zu vermeiden. Das Rätsel Baudrillards kann – wenn man seinen Ansprüchen gerecht werden will – nicht bedingungsloser Transparenz geopfert werden. Vielmehr erscheint es mir sinnvoll, seine Spuren aus der Distanz nachzuzeichnen, auch wenn sie bei dem Versuch, ihnen zu folgen, zwangsläufig immer wieder verwischt werden.

Ziel dieser Einführung ist es, eine fraktale Hermeneutik zu betreiben, das heißt, die von Baudrillard aufgeworfenen Bruchlinien nachzuziehen, ohne sie zu platter Folgerichtigkeit zu nivellieren. Der Methode Baudrillards und der schwer zugänglichen Frage, was er eigentlich tut, wenn er theoretisiert, und ob der Begriff der Theorie überhaupt zutreffend für Baudrillards Denken und Schreiben ist, also einer Metaebene der Kritik, ist ein besonderes Kapitel gewidmet.

Wenn man versucht, eine Deutung Jean Baudrillards vorzunehmen, erliegt man leicht der Versuchung, den sich oft geschickt einer Einordnung widersetzenden Autor von einem relativ starren Standpunkt aus ins Visier zu nehmen, womit man ihm jedoch keinesfalls gerecht wird. Die Entscheidung darüber zum Beispiel, ob Baudrillard ein Zyniker oder eben keiner ist, kann nur von einem »moralischen« Standpunkt aus getroffen werden. Dieser ist aber für eine erhellende Auseinandersetzung ebenso kontraproduktiv wie eine Argumentationsebene des »gesunden Menschenverstandes«.

Um Baudrillard zu orten, ist es viel eher ratsam, sich zwischen den von ihm selbst eingenommenen Positionen der agnostischen Gleichgültigkeit und des Vergnügens über die Banalität der Alltagskultur zu bewegen. Die Lektüre Baudrillards macht diese besondere Lesart erforderlich, weil er, nachdem die großen Erzählungen der Moderne obsolet geworden sind, die fiktionalisierte Theorie an ihre Stelle setzt, die bisweilen in einen nahezu katastrophischen Diskurs mündet, der sich nicht aus einer einzigen Perspektive erfassen lässt. Baudrillards Eigenheit besteht grundsätzlich in einer gewissen Referenzlosigkeit der Schreibweise, die einer Verweigerung gegenüber herkömmlichen ideologischen Dichotomien gleichkommt. Für die Beschäftigung mit dem Universum Jean Baudrillards ist es daher sinnvoll, einen Interpretationsmodus zu wählen, der mit jeder Art von verbissen kohärenter Hermeneutik äußerst sparsam umgeht.

Mit dieser Methode hat sich bereits Hollywood dem Propheten der Hyperrealität angenähert. Spätestens sein dezenter »Auftritt« 1999 im ersten Teil der Matrix-Trilogie der Wachowski-Geschwister hat Baudrillards mythische Stellung in der Gegenwartskultur zementiert. Zu Beginn des Films sehen wir Keanu Reeves alias Thomas Anderson ein Geschäft mit offenbar illegal beschafften Datenträgern abwickeln. Im Drehbuch heißt es dazu: »Neben seinem Bett liegt ein Buch: Baudrillards Simulacres et simulation. In der Mitte ist ein Hohlraum für Disketten. Er nimmt eine heraus, tut das Geld hinein und lässt es wieder zu Boden fallen.« (Wachowski/Wachowski 2000, 282). Anstatt des französischen Originaltitels haben sich die Ausstatter des Films letztlich für die in den USA erschienene Übersetzung des Werks entschieden: Der Buchtitel »Simulacra and Simulation« ist in der Übergabeszene zu erkennen.

Baudrillard selbst sah in der Anspielung des Films auf seine Theorie allerdings ein Missverständnis. Zu wenig ironisch und zu plakativ sei die Interpretation einer Welt der Simulationen, wie sie Matrix liefere. Sie ähnele eher Platons Höhlengleichnis als seiner Idee einer Ordnung der Simulakra. Das Angebot einer Mitwirkung an den folgenden Matrix-Filmen lehnte Baudrillard ab (vgl. Strehle 2012, 107). Doch als hätten die Matrix-Macher seine Kritik ernst genommen, verschwindet in den Handlungssträngen der Fortsetzungen Matrix Reloaded und Matrix Revolutions prompt die übersichtliche banale Trennung von Computersimulation und Realität. Die Simulation wuchert ins Allgegenwärtige, der Fluchtpunkt vermeintlich echter Wirklichkeit löst sich vollständig auf. Ein verspäteter Tribut an Baudrillards Einsicht in die Ununterscheidbarkeit zwischen Bilderwelt und Realität?

Eine einführende Schrift in Baudrillards Werk muss von seinem folgenschwersten Theorem ausgehen – jenem der Simulation. Kern dieses Entwurfs ist die Diagnose des Verschwindens des Realen zugunsten von Simulation und Hyperrealität. Dabei ist die Simulation kein Spiegel oder Modell der Realität, sondern die simulierte Hyperrealität generiert sich ohne Referenz im Realen. Es existieren keine funktionierenden Referenten mehr.

Wertbestimmungen oder Gesetzmäßigkeiten verschwinden aber nicht einfach, sondern überleben als Simulakra, die in der Gesamtheit die Fiktionalisierung einer universellen Simulation bilden. Das System der politischen Ökonomie zum Beispiel existiert nur noch als Zeichen, als »Als-ob«, und täuscht seine eigene Realität vor.

In seiner Schrift Der symbolische Tausch und der Tod setzt sich Baudrillard noch für die Beseitigung des Dispositivs der politischen Ökonomie durch eine katastrophische Theorie der universellen Subversion ein, die das ganz Andere gegen die Simulation ins Feld führt. Vereinfacht gesagt, spricht er sich dafür aus, die Herrschaft der Wertgesetze – selbst wenn diese nur noch simuliert werden – mithilfe des keinem Äquivalenzprinzip mehr gehorchenden Prinzips eines symbolischen Tausches zu untergraben, das nicht auf Dialektik, sondern auf allgegenwärtiger Umkehrbarkeit beruht. Später gewinnt der Begriff der Verführung zunehmende Bedeutung, da er im Gegensatz zur Simulation reiner Schein und nicht Zeichenwelt ist und so die Kräfte der Dissimulation gegen jede Art von Sinnproduktion bündeln kann.

Besonders aufschlussreich ist auch die Entwicklung jenes Phänomens, das jede Sinnproduktion und Funktionalität beseitigt: die Fatalität, die aus dem unmoralischen Prinzip des Spektakels und dem ironischen Prinzip des Bösen besteht. Zu den fatalen Strategien gehören die Verführung, die Wiederkehr und die Ekstase als amoralische, wuchernde Übersteigerung des Wesens der Dinge. Die tragische Ironie der Fatalität lautet: Alles spielt sich sowieso ab.

Die Welt kann gegen nichts ausgetauscht oder eingetauscht werden. Es ist nicht einmal möglich, sie zurückzugeben. Selbst der Theoretiker tritt nur in einen spielerischen Austausch mit ihr. Und je länger dieser dauert, desto intensiver bekennt sich Baudrillard auch offen dazu, dass sein Theoretisieren einer Form poetischer Übertragung nahekommt, dass wirklich radikales Denken darin besteht, der Rätselhaftigkeit der Welt zu huldigen – ihr konsequent ins Delirium zu folgen. Dabei verliert diese Einführung nie aus dem Blick, dass Baudrillards abstraktes Theoretisieren immer auch als konkrete Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Phänomenen zu verstehen ist.

1. Wer ist Jean Baudrillard? – Biografische Essentials

Manchmal empfinde ich einen
übergroßen Ruhm oder Einfluss, aber das
beruht auf einem völligen Missverständnis.

Jean Baudrillard

Die Frage nach der Person Jean Baudrillards muss angesichts seiner Thesen, Schlussfolgerungen und Widersprüche im eigenen Werk von den rein biografischen oder durch Selbstbekenntnisse gestützten Informationen abgehoben werden und könnte eigentlich besser lauten: »Wer gibt Baudrillard vor zu sein?« oder »In welchem Realitätstunnel bezieht sich Baudrillards Schreiben nicht auf sich selbst?« Ungestört von solchen spekulativen Deutungsversuchen, die im Verlauf dieser Einführung noch anhand von Baudrillards Werken vorgenommen werden, lassen sich die wichtigsten Daten zu seiner Person anführen:1 Jean Baudrillard wurde 1929 als Sohn eines Gendarmen in Reims geboren und begann seine akademische Laufbahn nach dem Abitur 1947 und einer kurzfristigen Tätigkeit als Maurer und Landarbeiter zunächst mit einem Studium der Germanistik an der Pariser Universität Sorbonne. 1952/53 übersetzte er in Tübingen Texte von Hölderlin ins Französische und wirkte von 1960 bis 1966 als Deutschlehrer an französischen Gymnasien. Er schrieb in dieser Zeit Essays und Buchbesprechungen für die von Sartre gegründete Zeitschrift Les temps modernes, übersetzte Texte von Peter Weiss und Bertolt Brecht und studierte nebenbei Soziologie.

Als Assistent von Henri Lefebvre veröffentlichte er 1968 seine soziologische Dissertation mit dem Titel Le système des objets (dt. Das System der Dinge). Seine Prüfungskommission war prominent besetzt: neben Henri Lefebvre mit Roland Barthes und Pierre Bourdieu. 1968 wurde er Dozent für Soziologie an der Universität Paris Nanterre. Mit Paul Virilio gründete er die Zeitschrift Traverses (1975) und engagierte sich bereits ab 1962 mit Félix Guattari in der Association populaire francois-chinois, einer maoistischen Splittergruppe. Ende der 1970er Jahre endete jedoch Baudrillards explizit politisches Engagement, was sich auch in seinen Schriften, etwa Die göttliche Linke (DgL) niederschlägt. Denn zunächst vom Marxismus ebenso beeinflusst wie von den Protagonisten der situationistischen Internationale, entwickelte sich Baudrillard im Laufe der Jahre vom kulturkritischen Entfremdungstheoretiker zum Kritiker klassischer linker Ideologien und zum distanzierten Diagnostiker der modernen Massen- und Mediengesellschaft.

Baudrillard entzog sich gern der wissenschaftlichen Klassifikation, indem er sich selbst weder als Philosophen noch als Soziologen bezeichnete, sondern sich am ehesten dem schlichten Titel »Theoretiker« unterwarf, den er insofern wieder aushöhlte, als seine Tätigkeit die eines selbst ernannten Verwalters der theoretischen Leere zu sein vorgab.

Und als solcher hat er im Jahr 1998 mit der Veröffentlichung des Bildbandes Im Horizont des Objekts auch ein breiteres Publikum darauf aufmerksam gemacht, dass seine theoretische Arbeit durch eine der eigenen Philosophie adäquate quasi experimentelle künstlerische Tätigkeit ergänzt wird: die Fotografie, der er seit 1985, aber insbesondere seit Beginn der 1990er Jahre vor allem auf Reisen nachging. Doch es war nicht nur der Olymp der poetischen Theorie, auf dem Baudrillard residierte. Trotz oder gerade wegen seiner radikalen Medienanalyse referenzloser Simulationen wurde das französische Zeitungspublikum regelmäßig mit seinen Kommentaren in großen Tageszeitungen wie Libération oder Le Monde konfrontiert.

Seine größte Popularität erreichte Jean Baudrillard aber im englischsprachigen Raum. Nicht erst, als die Wachowski-Brüder ihm mit dem Film Matrix ein – wenn auch unerwünschtes – Denkmal setzten. In Sydney erwarteten seinen Vortrag 1200 Zuhörer, die sich zum Teil mit Jean-Baudrillard-Kopfbedeckungen zu ihrem Meister bekannten.

Ab 1986 war Baudrillard vier Jahre lang wissenschaftlicher Direktor des Institut de Recherche et d’Information Socio-Economique der Universität Paris-IX Dauphine. Und ab 1994 hielt er alljährlich Sommerkurse an der European Graduate School in Saas-Fee. Zeitgenossen beschrieben den mitunter als Papst der Postmoderne betitelten Denker als liebenswürdig und bescheiden, mitunter dem Klischee eines Gewerkschaftsbosses ähnelnd.

Am 6. März 2007 stirbt Jean Baudrillard an Krebs. In seinem letzten Werk mit dem ahnungsvollen Titel Warum ist nicht alles schon verschwunden? nimmt er auf eine für ihn typische Art und Weise von seiner Existenz als schreibender Denker Abschied:

»Wenn die subjektive Ironie verschwindet – und sie verschwindet im Spiel des Digitalen –, dann wird die Ironie objektiv. Oder sie verstummt.

Im Anfang war das Wort. Das Schweigen kam erst nachher.

Das Ende selbst ist verschwunden …« (WAV, 53)

2. Frühwerk und Polemiken

Um den Rahmen einer Einführung in Baudrillards Werk einigermaßen begrenzt zu halten, ist es notwendig, gewisse Schwerpunkte zu setzen. Da ich der Meinung bin, dass die Werke Baudrillards im Allgemeinen umso interessanter und bedeutsamer sind, je später sie veröffentlicht wurden, sollen sein früher Text Das System der Dinge (SdD) aus dem Jahr 1968 sowie seine Auseinandersetzung mit dem französischen Sozialismus in dem Buch Die göttliche Linke nur kurz erläutert werden. Baudrillards frühe Versuche, eine Rekonstruktion der politischen Ökonomie vorzunehmen und den Marxismus als Zeichentheorie wiederzubeleben, wie sie in seinen Büchern The Mirror of Production (MoP, 1975) und For a Critique of the Political Economy of the Sign (CES, 1981) aufgezeichnet sind, finden im Zuge dieser Eingrenzung ebenso wenig eine weitere Erwähnung wie sein 1970 erschienenes Buch La Société de Consommation (SdC) – die Fortführung seiner systemtheoretischen Überlegungen zur Konsumgesellschaft nach dem System der Dinge. Bedeutsamer für das Verständnis der ideengeschichtlichen Entwicklung in Baudrillards Werk erscheint mir dagegen die Auseinandersetzung mit seinem Landsmann Michel Foucault. Für einen ausführlichen Vergleich zwischen beiden lassen sich viele Ansatzpunkte finden: von der Beschäftigung mit dem Begriff des Anderen über die Themen Macht und Sexualität bis hin zu Foucaults Konzepten ästhetischer Selbststilisierung, die in der Simulationsgesellschaft Baudrillards in der Hölle des Gleichen münden. Die 1977 veröffentlichte Attacke Oublier Foucault (OF) stellt einen kleinen Meilenstein baudrillardschen Denkens dar, weil sie seine Hinwendung zu einem nihilistischen, apolitischen und gelegentlich zynisch erscheinenden Theoriefeld markiert.

Baudrillard und Foucault

Baudrillard wendet sich in Oublier Foucault vehement gegen Foucaults Analysen der Macht und der Sexualität. Er teilt zwar dessen Absage an freudsche und marxistische Theorien von Repression und Befreiung, ist aber der Ansicht, dass Foucaults Theorien zur Sexualität gleichfalls obsolet sein müssen, weil sie sich ihrerseits nicht der Analyse sexueller Simulakra widmen, das Dispositiv der Sexualität also nicht als Simulation begreifen, sondern immer noch das Feld des Realen ins Visier nehmen: die hysterische Frau oder das onanierende Kind. Dem Sex der Gegenwart komme Foucault nicht auf die Spur, wobei Baudrillard zunächst die präzise Antwort auf die Frage schuldig bleibt, wodurch sich ebendiese aktuelle Sexualität auszeichnen soll. Er holt sie jedoch nach, indem er sich im Stil einer Apotheose für eine Renaissance des oft verfemten und im Reich des Bösen angesiedelten Prinzips der Verführung ausspricht, wohingegen er dem Sex als solchem in seinen zeitgenössischen Wucherungen eine fortschreitende Auflösung diagnostiziert.

Veraltet ist, so Baudrillards Kritik, auch Foucaults Machttheorie, da sich ihr Gegenstand selbst radikal verändert hat. Die Macht sei nicht nur – wie Foucault behauptet – nicht mehr in abgesteckten Bereichen oder Institutionen wie etwa dem Staat oder den Gefängnissen zu orten; sondern Foucault habe auch übersehen, dass die Macht zu bloßen Zeichen ihrer selbst mutiert ist. Er habe versäumt, die aktuellen Formen des Verschwindens der Macht in Simulationen, Informationen und Medien auszumachen. Baudrillard stellt fest, dass Foucault nur deshalb überhaupt über die Macht sprechen kann, weil sie bereits verschwunden ist. Das Nichtsein der Macht ist die Bedingung für den perfekten Diskurs über sie, aber ebendieses Nichtsein ist Foucault fremd.

In diesem Zusammenhang spricht Baudrillard bereits von einer Implosion der Macht und davon, dass an die Stelle realer Macht ihre totale Halluzination getreten ist. Unter »Implosion der Macht« versteht er den aktuellen Modus ihres Verschwindens, das aus ihren eigenen, inneren, rückkoppelnden Verschaltungen resultiert. Seine entscheidende These ist, dass die Macht nur noch da ist, um zu verbergen, dass sie eigentlich nicht mehr da ist. Foucault, der von einer zwar zerstäubten und nicht mehr präzise zu ortenden, aber immer noch real vorhandenen Macht ausgeht, setzt sich zwangsläufig für einen Widerstand gegen diese ein. Er kann ihr damit aber nur nützen, weil er ihre Existenz durch Negation bestätigt, wohingegen Baudrillard vorschlägt, die Macht grenzenlos zu affirmieren, damit sie sich in ihrer widerstandslosen Ausdehnung schließlich gegen sich selbst wendet. An Foucaults Untersuchungen der vorgeblich real existierenden Macht kritisiert Baudrillard letztlich, dass in ihnen übersehen wird, dass »die Macht, auch die infinitesimale, dabei ist zu krepieren; daß sie nicht nur zerstäubt, sondern auch zu Staub geworden ist; daß sie schließlich bis zu ihrem Zusammenbruch unterminiert und umgestülpt wurde« (OF 48).

Baudrillards im Titel Oublier Foucault erhobene Aufforderung, Foucault zu vergessen, drängte ihn zunächst allerdings selbst an den Rand der französischen Kulturszene. Er wurde »in der Pariser Szene praktisch völlig isoliert« (Zapf 2000, 159), Foucaultfans drängten die Pariser Buchhändler sogar dazu, Oublier Foucault aus den Schaufenstern zu entfernen (vgl. Strehle 2012, 126/127).

Es ist bemerkenswert, dass Baudrillards Polemiken gegen Foucault und auch seine Kritik der französischen Linken auf Thesen basieren, die sich – ohne jeweils Bezug auf bestimmte Gegner zu nehmen – durch Baudrillards Gesamtwerk ziehen und sich eigentlich nur aus diesem selbst heraus vollständig verstehen lassen.

Das System der Dinge

Im Gegensatz zu den nach 1980 erschienenen Werken Baudrillards ist das System der Dinge noch von einer außerordentlich differenzierten Systematik geprägt. Baudrillard nimmt in dieser Schrift eine phänomenologische Analyse der Konsumgesellschaft vor, um nachzuweisen, dass die Strukturierung der Alltagsgegenstände in der modernen kapitalistischen Gesellschaft die Bedürfnisse und das Verhalten der Menschen stärker beeinflusst als etwa die industriellen Produktionsverhältnisse und dass damit eine neue soziale Ordnung konstituiert wird. Das System der Dinge präsentiert sich als Versuch, die Entfremdung von einer leblosen Sachlichkeit aufzuheben. Dabei erscheint die Welt der hergestellten Dinge, deren Präsentation, deren Konsum und deren Entwicklungsdynamik, ihrerseits als geschlossenes System. Zu Beginn seiner Untersuchung widmet sich Baudrillard den Gegenständen des Wohnraums und kommt zu dem Ergebnis, dass hier die Prinzipien der Funktionalität und Flexibilität traditionelle Kategorien wie etwa Symbolgehalt oder persönlichen Stil ersetzt haben und dass diesen Objekten keine Subjektivität mehr anhaftet. Die Organisation der Alltagsgegenstände wird von den modernen Individuen nach den Maßstäben einer technisierten Welt vorgenommen. Die von Baudrillard diagnostizierte Fetischisierung der Objekte löst deren Warencharakter auf und erzeugt ein selbstreferenzielles Zeichensystem. Das System der Dinge bietet damit eine gesellschaftskritische Analyse, die sich nicht mehr auf Klassenunterschiede, sondern auf die zeichentheoretische Reduktion der bestehenden Ordnung beruft.