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Jo Zybell

Lennox und der dunkle Feind: Das Zeitalter des Kometen #3

Lennox und der dunkle Feind: Das Zeitalter des Kometen #3


von Jo Zybell


Der Umfang dieses Buchs entspricht 275 Taschenbuchseiten.


Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen und das dunkle Zeitalter hat begonnen.

In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf...


Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© Roman by Author /COVER LUDGER OTTEN

© dieser Ausgabe 2019 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de




Prolog

… zu stark. Er war zu stark, wollte unter allen Umständen leben. Sie hatte es geahnt. Nach allem, was geschehen war, hatte etwas in ihr sogar gewusst, wie alles kommen würde.

Jetzt hing sie zusammengekrümmt im Rostgeflecht des Sitzes und hielt sich den Bauch. Getreten hatte er sie! Sie, die noch ein Kind war! Sie schrie vor Schmerz.

Der Eisenkasten schaukelte hin und her, rollte durch Löcher, über Gesteinsaufwürfe und Wurzelstrünke, schaukelte auf und ab, und vorn, unter der dunkelgrünen Eisenplatte, brüllte eine Bestie. Ja, eine wütende Bestie musste es sein, ein Tier, das den Wagen anzog, wie sonst sollte der Eisenkasten sich fortbewegen?

„Du warst es!“, schrie der Gelbhaarige neben ihr. „Du hast das Kind getötet!“ Seine Knöchel traten bleich hervor, so fest umklammerte er das Rad, mit dem er den Eisenwagen zu lenken schien. Jandra sah das Entsetzen in seinen Augen, sah den unbedingten Willen zu leben darin – er war zu stark! Nicht sein Körper allein – vor allem sein Herz. Ungeheuer stark war es, o ja, und Jandra begriff, dass er noch leben würde – bei Wudan: leben! –, wenn sie selbst längst die Würmer und Vögel fraßen; oder der Schwarze Feind.

Dennoch: Sie musste es tun, was blieb ihr denn übrig? Der Hunger klopfte unter ihrer Zunge, und die Stimmen in ihrer Brust stritten um ihren Willen.

„Du gehörst zu ihnen! Du arbeitest mit diesem Wulfanenweib zusammen!“, brüllte der Mann, und jetzt mischte sich Zorn in sein Entsetzen. Jandra hörte es und wusste, dass keine Zeit mehr zu verlieren war. Die Wut würde ihn noch stärker machen! Sie stützte sich auf dem Drahtgeflecht auf. Ein Fauchen löste sich aus ihrer Kehle, doch als sie sich auf ihn stürzen wollte, riss der Gelbhaarige am Rad.

Sie wusste, dass er dem Eisenkasten mit dem Rad die Richtung aufzwang, in die er rollen sollte, aber sie wusste nichts von den Kräften, die einen kleinen Körper wie ihren packen konnten, wenn er das Rad so schnell und so kräftig zur Seite riss, wie er es jetzt tat. Bis zum Rand des Rostgeflechts schleuderten diese Kräfte sie.

Jandra schrie. Ihre kleinen Fingern klammerten sich im Sitz fest. Scharfe Kanten rissen die Haut auf. Sie blickte hinter sich auf die Straße: Eine zerbrochene Steindecke flog unter ihr dahin, kleine Krater, Wurzelstrünke, Grasbüschel. Nur nicht hinausfallen, nicht aus dem Eisenwagen stürzen, nur das nicht! Sie schrie die Angst aus ihrem Kinderherzen heraus.

Auch er brüllte jetzt, ohne Atem zu schöpfen, hob sein Bein aus dem Raum unter dem Rad und trat nach ihr. Mit aller Kraft. Sein Stiefel traf ihre Brust. Ihre blutigen Finger glitten aus dem Rostgeflecht. Die Welt rotierte; moosbedecktes Gemäuer, grauer Himmel, riesige Baumkronen, die zerbrochene Gesteinsdecke, alles wirbelte um sie. Sie schlug auf, rollte durch Gras, Geröll und Schutt, blieb liegen und hörte das Trommeln ihres kleinen Herzens; und von fern das wütende Gebrüll der Bestie unter dem Eisendeckel des Wagens.

Das Mädchen hob den Kopf. Eine halbe Speerlänge entfernt holperte der Eisenwagen durch das Gestrüpp auf der Straße, wich Gesteinsspalten und Wurzelwerk aus, schrammte knapp an einem dieser verrosteten Eisenkästen am Straßenrand vorbei, bäumte sich auf, als er über eine verbogene Stange fuhr.

„Tinnox!“, schrie Jandra. „Tinnox!“

Lass mich nicht allein, wollte sie rufen. Aber wie töricht. Hatte sie es nicht verdient, allein gelassen zu werden? Allein in diesem Urwald aus Ruinen, Eisen, Geröll und Gestrüpp? Allein und ausgeliefert dem Schwarzen Feind. Ja, das hatte sie verdient.

„Wudan!“ Der Eisenwagen mit dem Gelbhaarigen verschwamm hinter einem Tränenschleier. Auf eine Trümmerhalde holperte er zu, die Reste einer Brücke, von Disteln und Brennnesseln überwuchert, zusammengebrochen vor so vielen Wintern, unzählige Menschenalter her. Zwei Leuchten glühten rot an seiner Rückseite auf, einem bösen Augenpaar gleich: Verachtung und Hass sprühte es. Zum Abschied Verachtung und Hass, nichts anderes stand ihr zu. Und dann wich der Eisenkasten der Trümmerhalde aus, rollte um sie herum und verschwand hinter ihr.

Jandra lauschte noch eine Zeitlang seinem Brummen. Nach und nach klang es ab und verlor sich allmählich in der Ferne. „Wudan …“, flüsterte sie. „Wudan sei mir gnädig.“

Stille. Nur in ihrem Schädel noch hallte das Gebrumm des Eisenkastens nach, und das Gebrüll des Mannes vor dem Rad. „Warum?“, flüsterte sie. „Urgaza, warum?“ Sie bohrte die heiße Stirn in Gras und Geröll. „Warum hast du mir das angetan?“ Bald hörte sie nur noch ihr Schluchzen und Weinen. Moosbedeckte und efeuumrankte Ruinenfassaden schleuderten es ihr entgegen. Jandra war allein.

„Wudan, sei mir gnädig“, schluchzte sie. „Wudan, lass mich nicht zuschanden werden!“ Wie so oft in Verzweiflung und Kummer kamen ihr die Gebetsrufe Sulymans über die Lippen. Sie ahnte ihre Bedeutung nur vage, genauso wie sie nur eine vage Vorstellung von dem Gott hatte, den Sulyman verehrte. „Wudan, gib mich nicht preis dem Zorn meiner Feinde.“

Den Kopf zwischen den Armen geborgen, lag sie im Dreck und weinte. Langsam, ganz langsam kroch der Schmerz in ihr Bewusstsein: Schmerz in der kleinen Brust, Schmerz im Knöchel. Sie stützte sich auf die Ellenbogen, richtete sich auf den Knien auf, wollte sich erheben. Stechender Schmerz im Knöchel; sie stöhnte und brach zusammen.

Und jetzt? Sie hob den Kopf. Wohin?

„Urgaza … warum hast du mich allein gelassen?“

Wohin nur? In die Hausruinen, weg von der Straße! Sie spähte in die Luft. Kein Greif unter der grauen Wolkendecke. Auf Armen und Knien robbte sie durch Geröll und über Wurzelstrünke. Sie kroch durch ein Farnfeld. Noch drei oder vier Speerlängen bis zur nächsten Ruine. Hinter Efeuranken gähnten schwarze Fensteröffnungen. Wieder ein Blick in den Himmel. Nichts; noch nichts. Blicke nach links und rechts in die stille Straße hinein und an den Ruinenfassaden entlang. Nichts. Weiter.

Die Tränen rannen ihr aus den Augen. Nicht allein wegen des Schmerzes, sondern weil ihr die Einsamkeit und ihre Ohnmacht bewusst wurden.

Etwas raschelte, vorn im Efeu vor der Maueröffnung zur Ruine! Etwas zischte. Ein schaumiger Strahl löste sich aus dem Gestrüpp, durchmaß in weitem Bogen die Luft, klatschte eine Speerlänge vor Jandra ins Farnfeld. Farnhalme krümmten sich, Fiederlaub färbte sich schwarz, das Gestrüpp schrumpfte von einem Atemzug zum anderen. Eine scharf riechende Wolke stieg dort auf, wo der Strahl niedergegangen war. Eine schwärzliche, fast kreisrunde Bresche klaffte im Farngestrüpp, und über ihr hing Dampf.

Jandra atmete nicht mehr. Alles in ihr verwandelte sich in Stein; ihr Blut, ihr Herz, ihr Hirn, ihre Lungen. Sie schrie nicht, sie konnte nicht schreien, nie mehr würde sie schreien – es war vorbei. Das Ende. Ja, das Ende.

Vollkommen erstarrt und wie in Trance blickte sie auf die Ranken vor der Maueröffnung. Zweige brachen, Blätter schwebten ins Geröll vor der Fassade. Und dann schob sich der erste Schwarze Feind aus der Ruine: groß, haarig und dunkel wie die Nacht.

Das Ende. Jandra schloss die Augen!