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Die Dornen der Sklavin

Eurydike

– Erotik –

1. Auflage April 2009

Titelbild: Roman Kasperski

www.romankasperski.de

©opyright by Eurydike

Lektorat: Franziska Köhler

ISBN: 978-3-86608-589-3

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Inhalt

Die Dornen der Sklavin

1. Die späten Weihen der Ehe

2. Die Macht an sich ist böse

3. Heimkehr einer Verlorenen

4. Schlimmer als der Schmerz

5. Unter Sklavinnen

6. Zwischen Himmel und Hölle

7. Blutrote Dornen

8. Die Insignien des Sklaventums

9. Der Geist ist willig ...

10. Eine Jungfrau ist sehr angenehm – vorausgesetzt sie bleibt es nicht

11. Marokko soll sehr schön sein

1. Die späten Weihen der Ehe

Sabina oder Sabrina, oder wie das blonde Fohlen heißt, verschwindet hinter einem gigantischen Strauß weißer Lilien, die ich, einen Laut des Entzückens ausstoßend, aus ihren manikürten Händen entgegennehme. Luis schlägt meinem Mann gönnerhaft auf die Schulter und sagt:

«Hey Wolf, alles klar bei dir?»

Wir sind nun schon seit zwei Monaten in Berlin, und heute treffe ich das Fohlen zum zweiten Mal. Luis, den es begleitet, ist die Nummer eins von «Burger’s Kingdom» in Europa, er ist gut zwanzig Jahre älter als das Fohlen und Wolfs direkter Vorgesetzter. Das macht Wolf zur Nummer zwei und mich zur Ehefrau der Nummer zwei von «Burger’s Kingdom/Europe».

Das Fohlen kommt mir so nah, wie es die Blumen zwischen uns zulassen. Es haucht mir Küsschen rechts, Küsschen links auf die Wangen, so dass mein Herz davonrast und ich fortgetragen werde in einem Schwindel, den der orientalische, das Fohlen umhüllende Duft in mir auslöst: eine Mischung aus Amber und süß blumigem Holz – und sofort ist mir unsere letzte Begegnung wieder gegenwärtiger als mir lieb ist, angefangen bei der Begrüßung, als sich die fremde, junge Brust gegen meine drückte, und wenn mich der Rest nicht so angewidert hätte, dieses ganze Getue und Gehabe, unsere Scheinheiligkeit und Oberflächlichkeit, Luis’ lärmende Prahlerei und Wolfs servile Gefallsucht, vielleicht hätte ich mich dann ganz der Verwirrung über meine Entdeckung hingegeben, dass das Fohlen keinen BH trug.

Aber auch so war mein Blick an diesem Abend während des Essens zu oft vom Mund des Fohlens zu seinem Hals und den Schlüsselbeinen gewandert, zu der Stelle, wo der Knopf der Bluse den Körper vor meinen Blicken und weiteren Einsichten verschloss, und dann konnte ich nicht aufhören, genau dort hinzusehen, wo sich unter dem Stoff die Rundungen der Brüste abzeichneten; leider oder Gott sei Dank war der Stoff kein bisschen durchsichtig – wer weiß, wie ich sonst reagiert hätte.

Denn schon allein die Nähe und die kurze Berührung bei der Begrüßung und später all das, was ich mehr geahnt, denn gesehen hatte, waren Grund genug, mich an die Tatsache zu erinnern, dass ich eine Frau bin, geschlechtsreif, ausgestattet mit Vulva, Ova Libido und allem, was sonst noch dazugehört. Selbst wenn ich mich inzwischen meist wie ein Neutrum fühlte. Wolfs Fantasielosigkeit war daran nicht ganz unschuldig.

Aber am Ende dieses Abends, nachdem das Fohlen Luis auf nicht enden wollenden Beinen Richtung Ferrari hinterhergestöckelt war, ein wenig beschwipst, so dass es leicht schwankte, fuhren meine Hände zum ersten Mal seit Monaten unter Wolfs Hemd.

Zwar war der Rest nicht der Rede wert gewesen, langweilig wie eh und je, aber ich hatte einfach die Augen geschlossen, während Wolf unbeholfen an meinem Ohr knabberte und mir Merkwürdigkeiten der Art zuflüsterte, dass ich bald eine gute Sklavin abgeben würde. Ein unbeholfen eingefädeltes, neues Liebesspiel, dachte ich, das zu ignorieren ich vorzog. Stattdessen stellte ich mir vor, dass die Zungenspitze des Fohlens ihren Weg durch meine Ohrmuschel suchte, bevor sie meinen Hals erforschte, um tiefer zu gleiten, zu den Knospen meiner Brüste. Auch als Wolf nach der Pflichtübung, die er für ein Vorspiel hielt, überrascht aufstöhnte angesichts der ungewohnten Nässe, die er zwischen meinen Beinen vorfand, und sich umso hektischer in mein Allerheiligstes wühlte, dachte ich mich weit weg. Nach Marokko dachte ich mich, wo ich am glücklichsten war in meinem Leben, und meine Gedanken nahmen das Fohlen mit in die trockene Hitze eines Dorfes am Rand der Sahara, des Meers ohne Wasser. Dort war es die Hand des Fohlens, die sich in mich grub, an einem Ort jenseits der Zeit, während ihr Körper sich in meine Finger und Hände versenkte, und zum ersten Mal in meinem Eheleben, ja, zum ersten Mal in meinem Leben überhaupt, war ich dem Höhepunkt nahe – aber dann war es auch schon wieder vorbei. Wolf zog seine an den Fußgelenken hängende Hose hoch, und wenig später hörte ich die Klospülung rauschen und dann das Wasser in der Dusche.

Natürlich war mir das Fohlen danach erst recht nicht aus dem Kopf gegangen, und das hatte mich zunehmend beunruhigt. Schließlich habe ich mich unter Kontrolle. Prüde bin ich nicht, bestimmt nicht, aber ich weiß genau, wie weit ein Mensch sich gehen lassen darf. Nicht einmal den eigenen Gedanken darf man die Zügel schießen lassen. Das ist eine Frage der Selbstdisziplin.

Deshalb beunruhigte mich das gedankliche Kreisen um das Fohlen so oder, um ganz genau zu sein – und das machte die Sache noch schlimmer, da eindeutiger –, es beunruhigte mich das gedankliche Kreisen um den Körper des Fohlens.

Denn ich lasse mich nicht gehen. Niemals. Und lesbisch bin ich erst recht nicht.

Trotzdem hatte ich in den letzten Wochen mehr Termine versäumt als zuvor in all den Jahren, und das nur, weil mich meine Gedanken lahmgelegt hatten. Ich lag auf dem Bett und ließ mich gehen, ich ließ meine Gedanken schweifen, einfach so, ziellos, aber zielgerichtet eilten diese zum Fohlen. Und zielgenau fuhren meine Hände unter meinen BH, wo meine Brüste sich so voll und prall anfühlten wie seit Jahren nicht. Ebenso zielbewusst schoben meine Hände dann den Rock hoch und den Slip hinunter. Und nachher schämte ich mich vor mir selbst. Für diese Zeitverschwendung. Für meine Disziplinlosigkeit. Für den Geruch an meinen Fingern und den Fleck in meinem Slip. Ich ärgerte mich. Über meine Liederlichkeit. Und noch mehr ärgerte ich mich, als ich erfuhr, für welchen Preis bei einer der Frühjahrsauktionen, die ich auf diese Weise verträumt hatte, die Fürstenberg-Kaffeekanne aus dem 18. Jahrhundert, verziert mit einem Affen mit Goldhorn, in neue Hände übergegangen war.

Das alles lieferte Grund genug zur Beunruhigung.

An manchen Tagen kam es sogar vor, dass ich mich vor Wolf kniete und mit meinem Mund seinen Schaft so tief in mich aufnahm, dass ich kaum noch Luft bekam. Aber selbst dann hörte ich nicht auf, sondern stellte mir vor, wie das Fohlen uns zusah, und wie von selbst fuhr bei diesem Gedanken meine Hand über meinen Spalt oder kniff in meine Brustwarze, und ich bildete mir ein, dass es die Hand des Fohlens war, die ich da spürte ... und die mich weitertrieb – zumindest fast bis zum Höhepunkt. Und das war mehr, als ich bis jetzt in über zwanzig Ehejahren an sexuellem Genuss erlebt hatte.

Welche Erklärung Wolf für mein plötzlich erwachtes Interesse an Sex hatte, wusste ich nicht. Vielleicht dachte er, dass mir die Berliner Luft besonders gut bekam.

Die Berliner Luft, über die ich mich seit unserer Ankunft beschwerte. Diese Luft, die auf mir lastete, weil sie so deutsch roch: muffig und kleinbürgerlich, nach Currywurst, schlechtem Service und schlechter Laune.

Diese verdammte Berliner Luft!

Als ich Berlin vor fünfzehn Jahren verlassen hatte, hatte ich mir geschworen, nie hierher zurückzukehren; bereitwillig war ich Wolf zuerst nach Chicago, dann nach Tokyo, Johannesburg und Rio gefolgt, später nach Kairo, Dubai und zuletzt nach Casablanca, und ich hatte nicht aufgehört zu hoffen, dass ich in einer dieser Städte etwas finden würde, etwas, was meinem Leben einen Sinn geben könnte, aber während Wolf immer neue Stufen auf der Karriereleiter erklommen hatte, hatte ich in einem möblierten Haus hinter Stacheldraht in einem guten Viertel gesessen und keinen Schritt unternommen, etwas anderes zu sein als Ehefrau und belanglos – selbst die Erziehung meiner Söhne hatte ich den wechselnden Nannys und schließlich den Internaten überlassen.

Und egal wohin ich kam, begegnete ich den Sabinas und Sabrinas dieser Welt, die sich in nichts unterschieden: Sie interessierten sich für dieselben Zeitschriften und Musicals und dieselbe Mode, ihre Frisuren hatten dasselbe Blond, sie trugen dieselben Kostüme, Taschen und Parfums, und genau darüber redeten sie; auf dieselbe laute Art sagten sie nichts, sie brachten weiße Lilien mit und ihr Englisch hatte einen amerikanischen Akzent, egal ob sie Amerikanerinnen waren oder Europäerinnen.

Ich bin wie sie, und das Einzige, was mich heute von ihnen unterscheidet, ist mein Alter.

Bis Mitte dreißig machte mir das alles nichts aus, die ganze Leere und Hohlheit, ich konnte diese Frauen ertragen, ich konnte mir und ihnen Freundschaft und Interesse vorheucheln an unseren austauschbaren Leben, weil ich eine von ihnen war. Doch je mehr und deutlicher sich durch meine Beine die Besenreiser schlängelten, desto mehr wunderte ich mich über die Sinn- und Ziellosigkeit ihres und meines Daseins. Desto mehr litt ich darunter, in diesen Spiegel der Sinnentleertheit meines eigenen Daseins zu blicken, und das Schlimme an Sabina oder Sabrina, oder wie immer das Fohlen hieß, war, dass sie nicht nur viel jünger war als ich, sondern dass sie so verdammt hübsch war. Sie erinnerte mich an mich selbst, an die neunzehnjährige Bea, die damals gerade begonnen hatte, Kunstgeschichte in Paris zu studieren. An die Bea, der jeder ihrer französischen Kommilitonen zu Füßen gelegen war, und sei es nur, weil Bea groß, blond, blauäugig, deutsch und damit anders und besonders war und wegen ihrer Herkunft als tief und melancholisch galt. Das Fohlen erinnerte mich an jene Bea, die all diese schmachtenden Kommilitonen ignoriert hatte, weil sie jede Nacht in einem Hochbett in einem Acht-Quadratmeter-Hinterhausapartment im Marais verbrachte. Bis ihre Eltern Wind davon bekamen, dass in diesem Apartment ein brotloser Künstler lebte. Ihre Eltern holten sie zurück nach Berlin, wo sie Bea zu ihrem Glück, sprich zur Heirat mit Wolf, zwangen.

Und obwohl das Fohlen nicht studierte und niemals studieren wird, obwohl das Fohlen im Grunde so ein einfaches Mädchen ist, ganz anders, als ich es je war, war da eine Ähnlichkeit zwischen uns beiden, und ich war mir sicher, dass diese Ähnlichkeit mehr betraf als das rein Äußerliche. Und deshalb wollte ich sie warnen, damit der Schock sie nicht so unvorbereitet treffen würde, wie er mich getroffen hat, denn nichts ist so vergänglich und so unbegründet wie der Stolz auf Jugend und Schönheit. Ich wollte sie warnen, damit sie etwas mit ihrem Leben anfing – und sei es nur aus Furcht vor dem Alter.

Mich hatte keiner gewarnt. Und jetzt war es fast zu spät.

Als wir den Salon betraten, brannten dort die Kerzen auf dem gedeckten Tisch, an jedem Platz standen drei Gläser, für Wasser, Weißwein, Rotwein, und da ich heute den ganzen Tag unterwegs gewesen war, hatte ich gerade noch Zeit gehabt, mich zu duschen und umzuziehen, bevor die Gäste kamen, und nun konnte ich nur hoffen, dass der Koch die Angelegenheit nicht wieder verpatzt hatte.

«Aperitif?», fragte Wolf und führte Luis, an dessen Arm das Fohlen hing, am Tisch vorbei in die Lounge, wo sich Sabina oder Sabrina, oder wie das Fohlen hieß, neben Luis aufs Sofa fallen ließ. Das Fohlen trug heute wieder einen dieser kurzen, engen Röcke, der noch kürzer und enger aussah, als sie jetzt auf dem Sofa saß, und ich sah, wie Wolfs Blick, während er Luis und sich selbst den Port einschenkte, auf ihre Schenkel fiel, ich sah, wie dieser kurze Blick das ganze Fohlen examinierte, und obwohl Wolf mir so was von egal war, spürte ich den Stich, den mir das versetzte: Ich war noch immer attraktiv, aber mich tasteten die Männerblicke heute neugierig und abwägend ab. Eine stumme Frage lag darin: Wie alt mag die wohl sein? Oder, was noch schlimmer war, dieser Hintergedanke: Hat sich gut gehalten, für ihr Alter.

Die Männer, denen diese Blicke gehörten, wollten wissen, wer sich verbarg hinter dieser Fassade einer reifen Frau – wie ich diesen Begriff hasste: eine reife Frau.

Wolfs Blick, der jetzt auf dem Fohlen ruhte, jedenfalls kannte keine Hinter-gedanken und keine Fragen, dieser Blick war so blank und eindeutig und er sprang hin und her zwischen seinen eigenen Händen und den Beinen des Fohlens, zwischen den Gläsern, die er füllte, und den schmalen Fohlenfesseln, zwischen den Gläsern, die er schwenkte, damit das Aroma sich entfaltete, und den ausgeprägten, knochigen Fohlenknien, zwischen der Flasche, die er schloss, und den langen, zarten, zugleich muskulösen Schenkeln, die nackt waren, haarlos und schimmerten wie Seide und jeden Blick aufforderten, sich zu fragen, worin sie endeten.

In seinem Blick lag dieses Verlangen, das nicht abwägt und das bar ist der Neugier, was sich hinter der Fassade des Objekts der Begierde verbirgt, dieses Verlangen, das so augenscheinlich nur an ihrem Fleisch interessiert war.

Auch Luis schien Wolfs Blicke bemerkt zu haben, denn er legte seine Hand auf das Bein des Fohlens, eine Geste, als wollte er sagen: Das hier gehört mir.

Wolf räusperte sich, bot Luis den Port an, und erst nachdem die Männer schon den ersten Schluck genommen hatten, fragte Wolf auch Sabina oder Sabrina, was sie trinken wollte, aber ich zuckte nur noch mit den Schultern über Wolfs Mangel an Erziehung. Vor vielen Jahren hatte ich aufgehört, mich darüber zu mokieren – am Anfang hatte ich noch versucht, ihm Manieren beizubringen, aber es war aussichtslos; er gehörte zu der Sorte Mann, die einer Frau zuletzt etwas zu trinken anbieten, dieselbe Sorte, die sich im Fahrstuhl, koste es, was es wolle, vor ihr durch die Türen zwängen muss und auf der Straße um keinen Preis ausweicht, die Sorte Mann eben, die dabei ist, mit ihrer Rücksichtslosigkeit die Welt zu erobern und die letzten Bastionen von Charme, Takt und Galanterie einzureißen.

Statt darauf zu warten, von Wolf nach meinem Getränkewunsch gefragt zu werden, mixte ich mir meinen Manhattan selbst – das war sowieso besser; wenn er sich daran versuchte, konnte man den Manhattan nicht mal einem Esel ins Ohr kippen.

Sabina oder Sabrina kicherte über etwas, was Luis gesagt hatte, nippte an ihrem Prosecco, verschluckte sich, ihr Kichern wurde lauter, bis Luis ihr das Glas aus der Hand nahm, es auf den Tisch stellte und sagte: «Es ist gut jetzt. Benimm dich!»

Sie verstummte, sah betreten vor sich auf den Boden, dann zu ihrem halbvollen Glas, schaute schüchtern zu Luis, der nicht reagierte, schaute zurück auf das Glas, das sie offensichtlich nicht zu nehmen wagte, und ich war wieder mal fassungslos. Ich fasse nicht, was Frauen sich alles gefallen lassen. Weil Luis reich war, erfolgreich und dreist, ließ das Fohlen sich von ihm zurechtweisen, sogar vor anderen, sogar in der Öffentlichkeit.

Sie bemerkte meinen Blick, sah mich an, versuchte ein verlegenes Lächeln, das ich nicht erwiderte, so dass sie noch verlegener ihren Blick wieder senkte und an ihrem Rock zupfte, von dem sie imaginäre Flusen pflückte. Ihre Knie standen eng beieinander, ihre Hände waren im Schoß gefaltet, sie saß da wie ein Schulmädchen, obwohl ihre Kleidung alles andere als mädchenhaft war, und ich wollte sie verachten, weil sie sich so behandeln ließ, konnte aber nicht anders, als sie reizend zu finden. Schön. Sexy. Anziehend. Rein. So dass ich ihr einfach verzeihen musste, was sie diesem feisten Rüpel, der sie nicht verdiente, gestattete. Sie würde ihre Gründe haben dafür, dass sie hier mit ihm saß, vielleicht hatte sie einen Vaterkomplex, oder was weiß ich, welche Neurosen eine junge, gutmütige Frau in die Arme dieses vulgären Geschäftsmannes treiben konnten, der gerade zu Wolf sagte:

«Ich bin ein Macher. Die Hirnwichserei überlasse ich den anderen.»

Mir wurde fast übel.

«Hey, Samira», sagte Luis jetzt und klopfte dem Fohlen auf den Schenkel. «Ich habe dich nicht mitgenommen, damit du hier wie ein Mondkalb rumsitzt. Zeig gefälligst Dankbarkeit dafür, dass ich dir was von der Welt zeige. Entschuldige dich und schenk uns dein Lächeln.»

Er zwinkerte Wolf zu, ein Zwinkern unter Männern, während das Fohlen, das also weder Sabina noch Sabrina, sondern Samira hieß, ein erneutes Lächeln versuchte und die Hand hob, um Luis den Nacken zu kraulen.

«Verzeih mir», bat sie flüsternd und sah dabei ziemlich hilflos aus.

Ich wollte ihr übers Gesicht streichen und sie trösten, ich wollte mich vor sie knien und ihre geschlossenen Lippen mit meinen öffnen, diese vollen, glänzenden Lippen, von denen ich das Gloss und den falschen Glanz lecken wollte; und dann werde ich nicht mehr aufhören sie zu küssen, ich werde diese Lippen wund küssen, ich werde sie blutig küssen. Die wahre Samira werde ich frei küssen. Ich werde fortgehen von hier, und sie werde ich mitnehmen. Weit weg könnten wir gehen, nach Casablanca, wo ich am liebsten gelebt habe, nichts ist unmöglich, man muss es nur wollen, und ich habe Zugriff auf Wolfs Konten.

Wir werden ein langsames Leben führen, das Fohlen und ich, ein Leben, in dem wir nur Körper sind, reisende Körper, sich streichelnde, umarmende, liebende Körper. Von Casablanca aus werden wir in die Dörfer fahren, ans Meer und in die Wüste, und überall werde ich ihre weiche Haut spüren, und überall werden wir uns lieben. Wir werden ...

«Schon besser», unterbrach Luis’ Stimme meine Gedanken. Offenbar war er nun zufrieden mit dem Gebaren des Fohlens und so gütig gestimmt, dass er sogar das Prosecco-Glas wieder vom Tisch nahm, um es dem Fohlen zu reichen, das ihn dankbar schmachtend anschaute, und so platzte mein Tagtraum vom Fohlen und mir in Marokko – Vaterkomplex hin oder her: Sie war es nicht wert. Sie war zu hohl, zu ungebildet, zu stumpf und zu dickhäutig. Keinen weiteren Gedanken würde ich an sie verschwenden. Sie hatte Luis bekommen, weil sie ihn verdiente. Weil er war, was sie brauchte: ein Bauer, der sich einbildete, König zu sein.

Ich konnte mir das nicht länger mit ansehen, drehte meinen Kopf und sah in der Tür das Serviermädchen stehen. Es stand da wie festgewachsen.

Ein Serviermädchen darf man weder sehen noch hören. Es hat dafür zu sorgen, dass die Teller und Gläser gefüllt sind. Das ist alles und wohl nicht zu viel verlangt.

«Worauf warten Sie?», fragte ich also ungeduldig.

«Kann der erste Gang serviert werden?», fragte sie so leise zurück, dass ich sie kaum verstand.

«Das weiß ich nicht», fuhr ich sie an. «Der Koch sollte das wissen. Und Sie sollten es vom Koch wissen. Oder erwarten Sie, dass ich den ganzen Abend in der Küche stehe, um den richtigen Moment abzuwarten?»

Sonst schlug ich dem Personal gegenüber nicht einen solch ruppigen Ton an; dem Personal gegenüber waren Vertraulichkeiten, gleich welcher Art, tabu – und es war eine Art von Vertraulichkeit, seinen Ärger zu zeigen. Niemals darf man sich den eigenen Angestellten als Mensch zu erkennen geben, mit Emotionen und Schwächen. Man ist ihr Vorgesetzter, sonst nichts. Alles andere untergräbt den Respekt und damit die Rangordnung zwischen Belegschaft und Vorgesetzten. Aber Berlin schien auf mich abzufärben. Zudem waren die Hausangestellten in dieser Stadt wirklich eine Strafe, und die Konstellation des heutigen Abends, Wolfs gierige Blicke, die dumme Prahlerei Luis’ und das ergebene Verhalten Samiras waren nicht dazu angetan, meine Laune zu verbessern.

Das Mädchen wurde rot, aber für solche wie sie reichte mein Mitleid nicht. So schwer war ihr Job nicht.

«Ich meinte ja nur, ob Sie bereit sind …», murmelte das Mädchen jetzt mit noch leiserer Stimme.

«Ja, ja», unterbrach ich ihr Gestammel und wandte mich an die anderen. «Wollen wir essen?», fragte ich.

Luis hievte seinen schweren Körper aus der Couch. «Endlich», sagte er. «Ich verhungere.»

«Na, alter Freund.» Wolf klopfte seinem Vorgesetzten auf die Schulter und versuchte sich darin, dessen Hemdsärmeligkeit zu imitieren. «Das ist das Letzte, was wir wollen. Dass du uns verhungerst.»

«Glaub ich dir, Junge», erwiderte Luis. «Schließlich lebst du von dem, was ich übriglasse.» Er legte seinen Arm um Wolfs Schulter – eben so, als wäre der tatsächlich ein alter Freund. «Ohne mich bist du nichts in der deutschen Geschäftsstelle. Vergiss das nicht.»

Wolf lachte ein unechtes Lachen und stimmte zu: «Weiß ich doch, alter Freund.»

«Hey, hey.» Luis hob den Zeigefinger. «Keine Vertrauensseligkeiten. Spar dir in Zukunft den alten Freund. Sonst hast du bald gar keinen mehr.»

«Alles klar, Luis», sagte Wolf beflissen. «Entschuldige.»

Und ich fragte mich mal wieder, ob das alles war, was man können musste, um bei «Burger’s Kingdom» eine Führungsposition zu erreichen: nach unten treten und nach oben katzbuckeln.

Das Mädchen goss Wasser und Wein in die Gläser, während wir uns am Tisch arrangierten: Wolf setzte sich Luis gegenüber, ich saß neben Wolf und trank meinen dritten Manhattan aus, während ich darauf wartete, dass jemand das betretene Schweigen brach. Dieser Jemand war ausgerechnet Samira, die eines der Lobmeyer-Weingläser in ihrer Hand drehte.

«Ich liebe diese Gläser», sagte sie mit zu hoher und zu lauter Stimme. «Die sind bezaubernd. Wo bekommt man so was?»

«In Wien», sagte ich, nahm meine Serviette vom Teller, legte sie auf den Schoß und sah dem Mädchen zu, das die Vorspeise verteilte. Carpaccio. Ich nahm einen Schluck Wein, der zu leicht war zu dem Rind, das er begleiten sollte. Ich hatte es befürchtet. Und konnte nur hoffen, dass kein anderer am Tisch das bemerkte.

«Wenn man den richtigen Blick hat», fuhr ich, an Samira gewandt, mit meiner Erklärung fort, «findet man so was. Kristallglas, mundgeblasen, Entwurf von Ludwig Lobmeyer.»

«Oh», sagte Samira staunend. «Sind die Gläser alt?»

«Ende des 19. Jahrhunderts», antwortete ich. «Um achtzehnhundertachtzig.»

Sie kicherte. «Wow!», sagt sie. «Das ist alt. Dann sind die ja ...»

Sie verstummte, offenbar bereitete es ihr Schwierigkeiten, das Alter der Gläser auszurechnen.

«... über hundertzwanzig Jahre alt», vollendete ich ihren Satz.

«Ja?», fragte sie und starrte mich mit großen, grauen Augen an. Mit Kuhaugen hätte ich gedacht, wenn ich immun gewesen wäre gegen ihre Schlichtheit. Aber so sah ich Seen in ihren Augen, klar und spiegelnd, und Mondlandschaften mit Abgründen und Geheimnissen.

«Wirklich?», fragte sie staunend. «So alt?!» Das schien ihr Vorstellungsver-mögen zu übersteigen. «Dann sind die ja hundert Jahre älter als ich», bemerkte sie.

«Sehr scharfsinnig.» Aber ihr entging die Ironie meiner Bemerkung, sie lächelte nur, nein, sie strahlte, ein einfältiges, wunderbares Fohlenstrahlen, so unbedarft wie entwaffnend, so ehrlich wie ihr gehauchtes «Danke».

Ich schüttelte den Kopf und lächelte auch, über ihre Unschuld und über mich. Denn es war nicht nur ihr Körper, begriff ich jetzt, von dem ich träumte. Diese Naivität und Offenheit waren es, die mich anzogen, umso mehr, da ich selbst nie über sie verfügt hatte. Ich war schon immer wie ein Tier mit einem Stachel, ein Tier, das plötzlich zustach, ich war schon immer ein Skorpion.

«Ist es das, womit du dich den ganzen Tag beschäftigst, Beatrice?», unterbrach Luis meinen Gedankengang und richtete zum ersten Mal an diesem Abend das Wort an mich. «Mit der Biographie, Datierung und Pflege all des Trödels und Tinnefs um dich herum?»

Das kam selten vor, aber jetzt war ich sprachlos. Luis schien beschlossen zu haben, auch die Reste seiner Kinderstube über Bord gehen zu lassen, um ein Spielchen zu spielen mit dem Namen: Wie weit kann ich meine Gastgeber provozieren, bis sie mich vor die Tür setzen?

Mein Blick suchte den Wolfs, der angestrengt vor sich auf den Tisch sah. Also war es an mir, die Provokation anzunehmen.

«Nicht ganz», sagte ich. «Ich bin dabei, mir einen Jagdhund zuzulegen. Ich werde wieder anfangen zu jagen.»

«In deinem Leben muss was schief gelaufen sein», sagte Luis. «Eine Frau, die auf die Jagd geht.» Er schüttelte den Kopf. «Tsstss», machte er.

«Es gibt durchaus einige Frauen von Rang und Namen, die jagen», wandte ich ein. «Die Königin von England, zum Beispiel ...»

Aber Luis’ Lachen unterbrach mich. «Sicher», sagte er. «Ich hoffe bloß für dich, dass du nicht in genau so ’nem Panzer steckst wie dieses trostlose Urgestein von einer Queen.» Er schob sich eine Gabel mit Carpaccio in den noch vollen Mund, und bevor er das Fleisch schluckte, spülte er schon mit Wein nach und fragte schmatzend: «Und sonst? Hast du dich eingewöhnt? Wolf hat mir erzählt, dass du hier geboren bist. Erkennst du Berlin noch? Hat sich ganz schön verändert in den letzten Jahren, was?»

Ich war mir unsicher, was er damit bezwecken wollte. Wollte er seine vorherige Unverschämtheit gutmachen oder wollte er mich aufs Glatteis locken, nur um mich dann erneut bloßzustellen?

«Natürlich gibt es Gegenden», begann ich und versuchte so zu tun, als handelte es sich um eine normale Unterhaltung zwischen zwei zivilisierten Menschen, «die kaum wiederzuerkennen sind. Ich bin 1992 hier weggegangen; da war es gerade mal drei Jahre her, dass die Mauer gefallen war. Aber hier, in diesem Teil, in dem wir leben ...» Ich schüttelte den Kopf. «Der Grunewald bleibt der Grunewald. Und auf dem Wannsee kann man nach wie vor segeln ...»

«Ach, natürlich», unterbrach Luis mich. «Segeln gehört ja ebenfalls zu deinen Hobbys.» Er sagte das in einem Ton, als wäre auch daran etwas falsch. Er schien jeden Handgriff falsch zu finden, den ich tat.

«Ja …?», fragte ich also vorsichtig.

«Demnach musst du zufrieden sein hier. Segeln, Antiquitäten kaufen, das reiche Frauchen spielen ... Du kannst all das weiter tun, was du scheinbar so gern machst.»

«Ja», stimmte ich zu und beschloss das reiche Frauchen einfach zu ignorieren.

Aber ausgerechnet Wolf fiel mir in den Rücken. «Na ja!», machte er zweifelnd.

Überrascht schaute ich ihn an. Seit wann wagte Wolf es, mich zu verbessern? Aber er übersah meinen warnenden Blick. Oder wich ihm absichtlich aus.

«Na ja», wiederholte er. «Dass Bea zufrieden ist, kann man nicht gerade behaupten.»

«So?», Luis beugte sich vor. «Ist ja interessant. Was fehlt ihr denn?»

«Ihr ist langweilig», sagte Wolf.

«Langweilig? Warum?»

Luis, der die Vorspeise mit der Gabel in sich hineingeschaufelt hatte, um sie fast unzerkaut zu verschlingen, fuhr mit einem Stück Baguette über seinen leeren Teller und stopfte es sich in den Mund. Ich war gespannt, ob er den Teller gleich ablecken würde.

«Sie hasst Berlin», antwortete Wolf. «Sie findet es provinziell, und wenn es tausendmal Hauptstadt ist, bleibt es provinziell, sagt sie. Sie sagt, dass die Stadt keinen Stil hat und dass sie die Partys und Empfänge hasst, auf die ich sie mitschleife; sie sagt, sie kann die Leute nicht mehr ertragen und deren hohles Gerede und ihren Mangel an Manieren, weder die Rotarier noch die Frauen vom Akademikerinnenbund, und sie sagt, dass man auf dem Wannsee und der Havel eben nicht segeln kann, dass das genauso langweilig ist wie jedes Treffen mit meinen langweiligen Spießerkollegen.»

Als Wolf fertig war mit seinem Wortschwall, hatte Luis das letzte Stück Baguette vertilgt. So sinnierend starrte er jetzt auf seinen Teller, als könnte er dort Antworten auf die letzten Fragen des Lebens finden.

Wolf, Samira und ich beobachteten Luis. Wir warteten auf seine Reaktion. Aber Luis schwieg. Ich nahm die Serviette von meinem Schoß, faltete sie, entfaltete, faltete, entfaltete sie, und Luis schwieg. Ich legte die Serviette zurück auf meinen Schoß, meine Handflächen strichen über den Stoff, wieder und wieder, um unsichtbare Falten zu entfernen, ich sah, dass meine Finger zitterten, und noch immer sagte Luis nichts. Noch immer starrte er auf seinen leeren Teller. Noch immer herrschte Schweigen am Tisch.

Als in das Schweigen hinein das Mädchen den Raum betrat, um den ersten Gang abzuräumen, hörte ich dem Klappern der Teller zu, dankbar für die Geräuschkulisse, und als sie Wein nachschenkte, nahm ich mein Glas und trank einen großen Schluck. Und dann noch einen, und ohne aufzusehen, sagte ich: «Lassen Sie die Flasche hier!»

Ich schenkte mir selbst nach.

«Ach!», sagte Luis. Alle sahen auf, Luis an. Der lehnte sich in seinen Stuhl zurück, nahm ebenfalls sein Weinglas und ließ uns weiter warten.

«Möchten Sie den Hauptgang?», fragte das Mädchen mich.

Ich nickte, wendete aber den Blick nicht von Luis, der noch einmal «Ach» sagte. «So ist das also.» Er trank, spitzte die Lippen, als wollte er dem Wein nachschmecken. «Die Dame leidet unter Langeweile», stellte er fest. «Das reiche Frauchen findet die Gesellschaft, in der es sich befindet, nicht inspirierend. Nicht gut genug.» Er trank wieder, er ließ sich Zeit dabei.

«Dagegen lässt sich etwas tun», behauptete Luis schließlich. «Dagegen lässt sich Abhilfe schaffen.»

«Ja?», fragte Wolf zweifelnd. «Glaubst du?»

«Glauben ist Zeitverschwendung. Nein, Junge, das glaube ich nicht. Das weiß ich.» Luis sah mich an. «Es ist alles so offensichtlich», sagte er. «So einfach. Dein Frauchen ist ein bisschen zu sehr gepudert worden. Schon immer. Verwöhnt, gebildet, gute Erziehung, gute Familie, viel Geld. Zu viel Geld. Ohne dass sie dafür je den Finger krumm machen musste. Das haben andere für sie getan. Man könnte sich ja selbst die feinen Hände schmutzig machen. Stimmt’s, Bea?»

Ich war zu verblüfft, um zu antworten, zu verblüfft angesichts der Richtung, die diese Unterhaltung und der ganze Abend genommen hatten. Am Rande nahm ich das leichte Klappern der Teller wahr, als das Mädchen zuerst mir, dann Samira und den Männern den Fisch servierte.

Luis wartete, bis das Mädchen den Raum wieder verlassen hatte. «Ich habe dich was gefragt», sagte er dann.

«Entschuldigung», antwortete ich, bemüht, mich wieder zu fangen und so zu tun, als würde ich derartige Situationen täglich meistern. «Wie war die Frage?» Ich schaffte es sogar, höflich zu bleiben. Die Einzige an diesem Tisch, die zu wissen schien, was das bedeutete. Aber als ich wieder nach meinem Weinglas griff, zitterten meine Finger noch immer. Ich trank hastig, so viele Schlucke in so kurzer Zeit wie möglich, und stellte das Glas ab, in der Hoffnung, dass niemand am Tisch das Zittern meiner Hand bemerkte, meine Bewegungen waren nervös und fahrig, auch als ich jetzt Gabel und Fischmesser nahm. Morgen würde ich mir den Koch vorknöpfen. Was mochte in seinem Kopf vor sich gegangen sein, dass er zuerst Rind und dann Fisch servierte? Ich war mir nicht sicher, ob es sich um Lachsforelle handelte oder doch um den Saibling, den zu besorgen und zuzubereiten ich dem Koch eigentlich aufgetragen hatte. Jedenfalls war der Fisch zu weich. Verkocht. Ich schob den Teller von mir, nippte am Weißwein, den das Mädchen in die Rotweingläser gegossen hatte. Aber es half nichts, mich in Gedanken über das Essen, das Personal und in meinen Ärger zu flüchten. Luis saß mir noch immer schräg gegenüber und sah mich unentwegt an.

«Denk nicht, dass ich solche wie dich nicht kenne», sagte er. «Du hältst dich für was Besseres. Und warum? Weil du alles in den Arsch geschoben bekommen hast.»

Ich zuckte zusammen bei dieser Ausdrucksweise.

Aber er fuhr fort: «Dir ist das Geld bündelweise in deine kleine Rosette gestopft worden. Denk nicht, dass ich solche wie dich nicht kenne», wiederholte er. «Dein größter Fehler, Bea, ist aber, dass du mich unterschätzt. Umso besser für mich. Ich weiß, was du von mir hältst. Du denkst, dass ich ein saturiertes, stilloses Arschloch bin, dessen ganze Welt aus den Finanzen von ‹Burger’s Kingdom› besteht. Aber du täuschst dich. Du spielst deine Spielchen, ich spiele meine.»

Er machte eine Pause, um abzuwarten, welche Wirkung seine Ausführungen auf mich hatten. Aber ich saß nur stumm auf meinem Stuhl. So hatte noch niemand mit mir geredet. Kein Mensch hatte das gewagt. Und ich wusste, dass Luis noch nicht fertig war. Er wollte auf etwas hinaus. Und das, worauf er hinauswollte, würde mir nicht gefallen.

«Nur dass meine Spielchen vielleicht etwas subtiler sind als deine», sagte er, nahm sein Besteck, begann zu essen, und erst jetzt tat Wolf es ihm gleich, aber erst als Luis Samira zunickte und «iss» sagte, griff auch sie endlich nach ihrem Fischmesser.

Luis nahm den ersten Bissen, runzelte die Stirn und sagte: «Viel zu lang gekocht, die Dorade. Schade drum. Was meinst du, Bea?»

Ich nickte und schluckte. Dorade. Natürlich! Eine Dorade. Weder Saibling noch Lachsforelle. Dazu war das Fleisch viel zu weiß! Überhaupt kein Süßwasserfisch! Wie hatte mir das passieren können? Wie hatte ich das nicht sehen, nicht schmecken können?

Die Unterhaltung schien neben allen übrigen auch meine Geschmacksnerven strapaziert zu haben.

«Ich kenne solche wie dich», unterbrach Luis meinen Gedankengang. «Und ich habe noch jede zurechtgebogen. Jede Einzelne von euch.»

Was sollte ich zu dieser Feststellung, die mehr wie eine Drohung klang, sagen? Also schwieg ich, während Luis weiterredete.

«Ich habe noch jeder von euch Manieren beigebracht. Und damit meine ich echte Manieren, Bea. Manieren, die nichts damit zu tun haben, aus welchem Glas du deinen Sherry trinkst, mit welchem Messer du deinen Fisch isst, in welcher Reihenfolge du das Fleisch servierst, ob du dein Weinglas am Kelch oder am Stiel hältst und ob du zu laut redest.»

Er legte seine Hand auf Samiras Schulter.

«Guck sie dir an», sagte er zu mir, und dann sauste seine Handfläche auf Samiras Schenkel, so dass ein lautes Klatschen entsteht. Samira zuckte zusammen, das Fischmesser fiel ihr aus der Hand und zu Boden, aber sofort bückte sie sich, nahm es wieder auf, und die ganze Zeit hielt sie den Blick gesenkt.

Was in aller Welt war mit diesem Fohlen los? Und was hatte Samira mit mir zu tun? Welcher Zusammenhang bestand zwischen Samira und mir? Und zwischen Samira und guten Manieren? Was meinte Luis damit? Denn wenn er ihr welche beigebracht hatte, wusste sie das gut zu verbergen.

«Wie gesagt», wiederholte Luis, der meine Gedanken zu erraten schien. «Ich meine echte Manieren.»

Luis gefiel sich darin, immer wieder Pausen einzulegen, seine eigenen Worte und deren Wirkung auf mich auszukosten, bevor er seinen Monolog fortsetzte: «Samira redet zwar zu laut», sagte er. «Aber dafür redet sie nur, wenn ich es will. Sie weiß zwar nicht, dass sie ihr Champagnerglas am Stiel zu halten hat, aber dafür hält sie es nur, nachdem ich es ihr erlaubt habe. Sie sitzt zwar gern auf dem Sofa, aber seit sie mich kennt, weiß sie, dass ihr Platz auf dem Boden ist. Außer ...» Er lächelte selbstgefällig. «… ich gestatte ihr, auf einem Stuhl oder Sofa zu sitzen. So wie heute Abend.»

«Und du meinst tatsächlich ...?», hörte ich eine aufgeregte Stimme von links, und erst jetzt kam mir wieder die Gegenwart Wolfs ins Bewusstsein. «Du meinst tatsächlich, solche Manieren kannst du Beatrice auch beibringen?», fragte Wolf.

«Sicher.»

Ich legte den Kopf in den Nacken. «Phh», machte ich und gab ein verächtliches Lachen von mir. «Träum weiter», sagte ich zu Wolf. «Ich weiß zwar nicht, was dein Freund hier mit seinem kleinen Fohlen angestellt hat, aber ich weiß, dass du so was mit mir nicht machen wirst.»

Damit nahm ich die Serviette von meinem Schoß, warf sie auf den Tisch und erhob mich. Mir war schwindlig.

«Das reicht für heute», sagte ich in die Runde. «Ich brauche frische Luft.»

Aber als ich mich umdrehte, um den Raum zu verlassen, stand Luis vor mir.

«Nicht so schnell», sagte er und kam noch näher auf mich zu, und da hinter mir der Tisch war, drehte ich mich zur Seite, um Luis auszuweichen, aber da stand er schon wieder vor mir, erstaunlich leichtfüßig. Flink und leise bewegte er seinen scheinbar so schwerfälligen Körper, um überall zu sein, wo ich vor ihm flüchten wollte. Also ging ich zurück, etwas anderes blieb mir nicht übrig, Schritt für Schritt setzte ich einen Fuß nach hinten. Und den anderen. Rechts, links. Bis mein Rücken an die Wand stieß und es keine weitere Möglichkeit zu entkommen gab.

«Denkst du tatsächlich, dass ich nicht gesehen habe, wie du Samira anstarrst?», fragte er.

Er vor mir. Die Wand hinter mir. Die Frage zwischen uns. Der Name Samira. Ich schluckte. Nein, dachte ich, das hat keiner gemerkt, wie kann er das gemerkt haben? Habe ich sie angestarrt, so wie Wolf sie angestarrt hat? So unverkennbar, so gierig? Nein, dachte ich wieder, das kann nicht sein. Aber woher weiß er es dann? Ich habe nicht darüber gesprochen, mit niemandem.

Luis kam noch näher, ich drückte meinen Hinterkopf gegen die Wand, das war die einzige Möglichkeit, noch ein paar Millimeter zwischen seine Lippen und meine zu legen. Das war es also, was er wollte, dachte ich noch, aber dann zog er seinen Kopf schon zurück, trat einen Schritt nach hinten und sagte:

«Du bist geil auf die kleine Samira. Stimmt’s Bea?»

Ich antwortete nicht. Ich musste mich bemühen, ihm nicht ins Gesicht zu spucken.

«Wochenlang hast du von ihr geträumt», fuhr er fort. «Und jetzt willst du gehen? Einfach so? An die frische Luft? Willst kneifen? Wo das Vergnügen so nah ist? Die Chance, den makellosen, jungen Körper meiner kleinen Samira zu besitzen?»

Ich schloss die Augen. Ich legte die Hände vor meine Augen. Nie wieder wollte ich die Hände von meinen Augen nehmen, nie wieder die Augen öffnen, nie wieder Luis’ Blick begegnen. Er wusste es. Woher? Konnte er Gedanken lesen? Aber die geschlossenen Augen bewahrten mich nicht davor, seine Stimme zu hören, die fortfuhr:

«Ich verstehe das sehr gut. Deshalb habe ich sie ja auch Samira genannt. Weißt du, was das bedeutet?»

Ich schüttelte den Kopf. Gott, lass diese Situation vorübergehen! Gott, ich bitte dich, wenn es dich gibt, dann zeig dich! Aber Gott gab mir kein Zeichen. Gott gibt es nicht.

«Samira bedeutet ‹unterhaltsame Begleiterin›», sagte Luis.

Meine Augen waren noch immer geschlossen, ich presste meine Handflächen gegen die Wand, an der ich stand, ich richtete meinen Rücken auf an dieser Wand. Aber es half nicht. Meine Hände rutschten ab, meine Schultern sanken in sich zusammen.

«Gott», flüsterte ich mit geschlossenen Augen.

«Der wird dir nicht helfen, Bea», sagte Luis. «Du bist, was du bist. Ein reiches Frauchen, das scharf ist auf die kleine Samira. Das ist keine Schande. Das hast du mit den meisten Männern gemein. Inklusive deines Ehemannes.»

Wieder suchten meine Hände Halt an der Wand. Wenn ich könnte, würde ich meine Finger in die Mauer krallen.

«Es ist keine Schande, scharf auf die kleine Samira zu sein», sagte Luis wieder. «Aber dein Hochmut, der ist eine Schande.»

Wenn ich könnte, würde ich meine Augen öffnen. Dann würde ich den Raum verlassen, erhobenen Hauptes. Ich presste die Lider fester auf meine Augen, ich hob die Hände, ballte sie zu Fäusten und drückte sie gegen die Lider. Die Augen öffnen, Luis ansehen, seinem Blick standhalten, gehen, aus dem Raum gehen, aus dem Haus gehen, die Straße entlang, bis zum Wald. Waldluft wird mir gut tun. Es wäre so einfach. Es wäre alles ganz einfach. Wenn Luis nicht so verdammt recht hätte, Luis, der jetzt fragte: «Wie oft hast du dir vorgestellt, dass Samiras Zunge dich zum Höhepunkt bringt?»

Wie oft hatte ich mir das vorgestellt? Hundert Mal? Tausend Mal? Wie oft hatte ich an die Zunge, an die Hände, an die Brüste des Fohlens gedacht? Hatte ich überhaupt noch an anderes gedacht während der letzten Wochen?

Wie soll ich da die Augen öffnen, wie ihn ansehen, wie seinem Blick standhalten, wie aus dem Raum, aus dem Haus, die Straße entlang und in den Wald gehen?

Mein Gott, dachte ich wieder, aber wie soll ein Gott mir helfen, an den ich nicht glaubte und an den ich in den letzten dreißig Jahren nicht gedacht hatte? Und doch wiederholte ich das Wort, stumm erst, und dann hörte ich nicht auf, es zu flüstern und zu flüstern und zu flüstern, wie eine Bitte, wie ein Gebet: «Gott, oh Gott, oh Gott, oh Gott ...!»

Bis Luis’ Stimme mich unterbrach: «Wie oft?», wollte er wissen. «Wie oft hast du an sie gedacht? Zu oft, um es zu zählen?»

Gott kann mir nicht helfen. Niemand kann mir helfen. Nur ich selbst kann das tun. Oder ich könnte es zumindest, wenn nicht alles, was Luis von sich gab, so wahr wäre, so erschreckend, so schrecklich wahr. So geschmacklos wahr.

«Gott kann dir nicht helfen», sagte Luis wieder, «weil es die Wahrheit ist.»