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Chu · Familie

Victor Chu, Dr. med., Dipl. Psych., geb. 1946 in Shanghai, lebt seit 1961 in der Bundesrepublik, verheiratet, drei Kinder. Nach Medizin- und Psychologiestudium Arbeit an der Free Clinic Heidelberg, der Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg und im Psychiatrischen Landeskrankenhaus Gütersloh. 1974-1978 Gestaltausbildung bei Jim Simkin und Erv und Miriam Polster. Seit 1977 psychotherapeutische Praxis in Heidelberg und Neckargemünd. Von 1977 bis 1991 Ausbilder am Institut für integrative Gestalttherapie Würzburg IGW, seit 1991 Ausbilder im Gestalt-Institut Heidelberg GIH. Von 1986 bis 1991 Erster Vorsitzender im Gründungsvorstand der Deutschen Vereinigung für Gestalttherapie DVG. Heutige Tätigkeit: Psychotherapeutische Kassen -praxis, Familienaufstellungsseminare, Tai Chi-Lehrer. Erstes Buch: „Psychotherapie nach Tschernobyl“ (1987), jüngere Publikationen „Lebenslügen und Familiengeheimnisse“ (2014) und „Vaterliebe“ (2016). www.vchu.de

www.therapeutenadressen.dePraxisadressen von GestalttherapeutInnen. Infos siehe letzte Seite des Buches.

NACHDRUCK

des 2008 erschienenen Buches

© 2008, 2017 by Victor Chu

© Edition Doubrawa, 2017

gikPRESS, Ludwig-Erhard-Str. 8, 34131 Kassel

Umschlag unter Verwendung eines Acrylbildes

der Künstlerin Georgia von Schlieffen (siehe S. →)

Herausgeber der gikPRESS: Erhard Doubrawa

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-7448-2614-3

INHALT

  1. Geleitwort
  1. Einführung
    1. 1. Die Essentials
    2. 2. Warum dieses Buch?
    3. 3. Einführung – Rilkes Brief an seine Mutter
    4. 4. Wie kam ich zur Gestalttherapie und Familienaufstellung?
    5. 5. Was ist das Familienstellen nicht?
  2. Praktischer Teil
    1. 6. Beginn eines Aufstellungsseminars
    2. 7. Grundtechniken des Familienstellens
    3. 8. Die Funktion des Leiters beim Familienstellen
    4. 9. Abschluss eines Aufstellungsseminars
  3. Theoretischer Teil
    1. 10. Erklärungsmodelle für die Wirkungsweise des Familienstellens
    2. 11. Vorsicht bei der Entscheidung für eine Familienaufstellung
    3. 12. Das Ziel des Familienstellens: Die Entwirrung der Lebensstränge in einer Familie
    4. 13. Die Beziehung zwischen Liebenden
    5. 14. Die Eltern-Kind-Beziehung: Grenzen zwischen Eltern und Kindern
    6. 15. Die Geschwister-Beziehung
    7. 16. Die Wirkung von Verstorbenen in der Familie
    8. 17. Traumata und ihre Wirkung auf die nachfolgenden Generationen
    9. 18. Zur Psychologie der Gefühle: Wie gehen wir im Familienstellen mit ihnen um?
    10. 19. Energetischer Selbstschutz
    11. 20. Gestaltarbeit mit Elementen aus dem Familienstellen
  4. Beispiele von Familienaufstellungen
    1. 21. Beispiele
  5. Zu Bert Hellingers Arbeitsweise
    1. 22. Kritische Auseinandersetzung mit Hellingers Arbeitsweise
  6. Katamnese: Eine Untersuchung über die therapeutischen Effekte von Familienaufstellungen
    1. 23. Erste Katamnese: Das Ergebnis einer Fragebogenaktion bei KlientInnen und TeilnehmerInnen von Aufstellungsseminaren
    2. 24. Zweite Katamnese: Zur Kombination von Einzeltherapie und Familienstellen – Ergebnis einer Fragebogenaktion bei ehemaligen KlientInnen
    3. 25. Zwei Träume zum Schluss
  7. Anmerkungen
  8. Literatur
  9. Danksagung

GELEITWORT

„[Bert Hellingers Arbeit] berücksichtigt, dass wir auch unter den Verwicklungen in unserer Familie leiden können. Und manchmal leiden wir gerade darunter, was wir nicht getan haben. Hellingers Ansatz gibt uns Werkzeuge an die Hand, um wirksam mit solchen Klienten arbeiten zu können, die Familienprobleme zu lösen haben, die sie weder geschaffen haben noch deren sie sich bewusst sind. […] Es ist ein grundlegender Gedanke der Gestalttherapie, dass wir Teil eines größeren Ganzen sind, dass das Ganze etwas anderes ist als die Summe seiner Teile. Die Frage ist, ob ich mir kleinere Gestalten ansehe, wo ich das Ganze bin, oder größere, in denen ich nur ein Teil bin. Es ist dem Gestaltkonzept immanent, dass jedes Individuum gleichzeitig sowohl Totalität kleinerer Einheiten als auch Teil größerer Ganzheiten ist. Das ist die Struktur des Seins.“ Hunter BeaumontI

Wir freuen uns sehr, Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, hiermit das erste Buch über die Verbindung von Familienstellen nach Bert Hellinger und Gestalttherapie überhaupt vorlegen zu können. Und wir wünschen Ihnen eine anregende und bereichernde Lektüre, mögen Sie nun ein professionelles oder (auch) ein persönliches Interesse an diesem Thema haben.

Der bekannte, in China geborene und seit vielen Jahren in Deutschland lebende, Gestalttherapeut und Autor Victor Chu lässt uns darin großzügig „über seine Schulter“ schauen und an seiner Arbeit teilhaben. Er gewährt uns tiefe Einblicke in das Familienstellen, wie er es ausgeformt und in die Gestalttherapie integriert hat.

Seine berührenden Beschreibungen von Aufstellungen lassen uns hautnah erfahren, welch großes Potential für die Gestalttherapie in der Familienaufstellung liegt und vor allem natürlich für unsere Klientinnen und Klienten, die wie festgebunden sind – im unbewusst in der Familie, der Sippe oder der Geschichte und Gesellschaft wirkenden Leid.

Doch Victor Chu zeigt uns nicht nur seine eigene therapeutische Arbeitsweise anhand zahlreicher Beispiele, sondern führt uns auch fundiert in die Grundlagen des Familienstellens ein und reflektiert die Wirkungen der Aufstellungsarbeit in einer umfangreichen Studie.

Wir selbst verdanken Bert Hellinger und dem von ihm begründeten Familienstellen viel – professionell (als Gestalttherapeuten und -ausbilder) und auch persönlich. Hellingers Ansatz, den wir in den frühen 1990 er Jahren bei ihm selbst kennen lernen durften und bei Hunter Beaumont über viele Jahre vertiefen konnten, hat unsere gestalttherapeutische Arbeit stark beeinflusst: Er hat die in der Gestalttherapie angelegte systemische Perspektive erweitert und vertieft und unser methodisches Arbeitsinstrumentarium vervollständigt.

Dir, lieber Victor – und Deinem neuesten Buchprojekt – wünschen wir von Herzen alles Gute.

Köln, im Juli 2008

Anke und Erhard Doubrawa, GestalttherapeutInnen


IHunter Beaumont, Interview (Teil II): Ordnungen der Liebe – Bert Hellingers Systemische Therapie und die Gestalttherapie, in: Gestaltkritik 2/1999 (http://www.gestaltkritik.de/beaumont_interview_teil2.html).

Zum chinesischen Schriftzeichen auf dem Umschlag

Familie

Dach

Schwein = Glück

Meiner Familie in China

EINFÜHRUNG

1. Die Essentials

Mit diesem Buch möchte ich

Was ist das Familienstellen nicht?

Aber:

Das Familienstellen

Gestalttherapie und Familienstellen

Das Familienstellen erfordert vom Therapeuten / von der Therapeutin

Sinnvoll ausgeführt, ist das Familienstellen

2. Warum dieses Buch?

Es gibt schon viele Publikationen über das Familienstellen. Warum ein neues Buch?

Ich möchte aufklären

Über das Familienstellen gibt es unter Laien und Fachleuten viele Vorurteile. Diese möchte ich abbauen helfen. Ich möchte aufzeigen, wie sich diese Methode im Rahmen einer seriösen Therapie sinnvoll einsetzen lässt.

Ich möchte das Familienstellen auf ein solides therapeutisches Fundament stellen

Das Familienstellen wird häufig von Menschen angeboten, die vorher nicht im therapeutischen Feld tätig waren und nicht über ein fundiertes therapeutisches Wissen verfügen. Fachliches Wissen und langjährige Erfahrung sind aber notwendig, um ein so powervolles Instrument wie das Familienstellen zu beherrschen. Ich möchte aufzeigen

Ich werde die Grundprinzipien des Familienstellens aufzeigen

Viele Bücher auf diesem Gebiet befassen sich gleich mit der konkreten Arbeitsweise des Familienstellens, ohne das Menschenbild und die Prinzipien explizit zu formulieren, die dieser Methode zugrunde liegen. Ich möchte die Grundannahmen des Familienstellens klar darstellen und begründen, damit jeder Therapeut und jeder Klient, der sich überlegt, mit dieser Methode zu arbeiten, selbst ein Urteil darüber bilden kann.

Das Aufstellen von Familien folgt einem konsistenten, nachvollziehbaren Weg. Wenn man die Gesetzmäßigkeiten versteht, die dahinter stehen, verliert das Familienstellen den mystisch-magischen Schein, der diese Arbeit oft umgibt. Auch die Versöhnung, die am Ende einer Aufstellung steht, hat nichts Sentimentales an sich. Sie ist das Ergebnis einer ehrlichen Konfrontation mit den Traumata und den Konflikten, die vordem die Familie entzweit haben.

Ich möchte die ethischen Grundsätze, die dieser Arbeit zugrunde liegen, darlegen

Beim Familienstellen erhält man einen tiefen Einblick in die Hintergründe einer Familie. Man greift in das innere Gefüge einer Familie ein. Deshalb bedarf es einer klaren ethischen Haltung vonseiten des Therapeuten, damit dieser nicht in Versuchung kommt, den Klienten und dessen Familiensystem zu manipulieren. Familiengeheimnisse und -tabus sollen nur mit der notwendigen Diskretion und ausschließlich zum Wohle des Klienten und dessen Familie behandelt werden. Es gibt klare Grenzen, die man respektieren muss. Familienaufstellungen sollten z. B. nicht gemacht werden, um Neugier zu befriedigen oder Macht über andere zu gewinnen.

Das Familienstellen halte ich für eine wunderbare Ergänzung einer Psychotherapie, sie kann eine gründliche Therapie aber nicht ersetzen

Das Familienstellen wird von vielen als Wunderheilmittel angepriesen, sogar als die wirksamste Therapiemethode überhaupt. Dies halte ich für übertrieben. Meine Erfahrung aus der Arbeit mit Klienten und Kursteilnehmern im Laufe der letzten 12 Jahre zeigt, dass das Familienstellen eine wunderbare Ergänzung zur Einzeltherapie darstellt. Es kann diese aber keinesfalls ersetzen, geschweige denn sie überflüssig machen.

Die Stärke des Familienstellens liegt darin, dass man mit seiner Hilfe unerklärlichen Phänomenen in der Familie auf den Grund gehen kann. Wir können alte Konflikte, deren Quelle teilweise vor Generationen zurückliegt, auflösen, manchmal auch familiäre und Einzeltraumata heilen. Das Familien stellen gibt uns außerdem eine einzigartige Möglichkeit, eine schlechte oder defizitäre Eltern-Kind-Beziehung zu reparieren und wieder gut zu machen (reparenting). Auf der anderen Seite braucht es viel Zeit und Geduld, um die psychische Struktur und Gewohnheiten eines Menschen grundlegend zu verändern. Dies ist nur in einer längeren Einzeltherapie möglich. Außerdem benötigt eine solche Veränderung eine verlässliche therapeutische Beziehung, die sich erst im Laufe einer langjährigen Einzeltherapie aufbaut.

Einsatz von Möglichkeiten aus der Gestalttherapie im Familienstellen

Gestalttherapie und Familienstellen sind beides existentialistisch-phänomenologische Methoden. Die Gestalttherapie mit ihrem Akzent auf das Erleben im Hier und Jetzt ist außerordentlich hilfreich im Familienstellen. Denn auch im Familienstellen arbeiten wir mit der unmittelbaren Begegnung zwischen Menschen in einer Familie, die durch Stellvertreter dargestellt werden. Hier können wir die direkte Interaktion zwischen Familienmitgliedern fördern, indem wir sie bitten, genau in sich hineinzuhorchen und zu spüren, wie sie sich zu ihren Angehörigen fühlen, um dann ihrem Gegenüber ins Auge zu schauen und auszudrücken, was sie fühlen und denken. Wir können körpertherapeutische Techniken aus der Gestalttherapie nutzen, um die nonverbale Kommunikation zwischen Familienmitgliedern zu unterstützen. Daher bilde ich besonders gerne Gestalttherapeutinnen und Gestalttherapeuten fürs Familienstellen aus. Sie haben gegenüber KollegInnen anderer Methoden den Vorteil, dass sie mit Hilfe von Gestalttechniken die Interaktion des aufstellenden Teilnehmers mit seinen (durch Stellvertreter dargestellten) Familienangehörigen unmittelbar fördern können.

Einsatz von Techniken aus dem Familienstellen in Einzeltherapien, besonders in der Gestalttherapie

Gestalttherapie und Familienstellen sind beides kreative Methoden. Viele der Techniken aus dem Familienstellen lassen sich auf die Gestaltarbeit mit Klienten übertragen. Sie zeigen hier eine ähnliche positive Wirkung wie bei einer Aufstellung. Ich werde im Buch einige Beispiele dafür geben.

Einsatz des Familienstellens in der therapeutischen Arbeit mit Einzelklienten

Meine Frau und ich waren schon lange psychotherapeutisch tätig, als wir 1993 das Familienstellen kennen lernten. Nach einer intensiven Studien-und Ausbildungszeit in dieser Methode begannen wir, mit unseren Einzelklienten Familienaufstellungen zu machen. Dadurch haben wir die Möglichkeit, die konkreten Aus- und Nachwirkungen der Aufstellungen auf unsere Klienten in der weiteren Behandlung zu überprüfen. Daraus ist ein tieferes Verständnis über die Wirkungsweise des Familienstellens entstanden, die ich in diesem Buch weitergeben möchte.

In einer katamnestischen Fragebogenaktion Anfang 2008 haben über 25 ehemalige Klientinnen und Klienten über ihre Erfahrungen mit dem Familienstellen und dessen Kombination mit ihrer Einzeltherapie berichtet. Diese sind im letzten Teil des Buchs dokumentiert. Sie geben einen guten Überblick über den positiven Beitrag, den das Familienstellen im Rahmen einer Einzeltherapie leisten kann.

Auswertung von über 160 Rückmeldungen von TeilnehmerInnen von Familienaufstellungsseminaren

Neben der Arbeit mit Klienten, die zu uns in die Praxis kommen, biete ich seit 10 Jahren drei- bis viertägige Familienaufstellungsseminare an, an denen Menschen aus der Region und anderswo teilnehmen können. Die meisten Teilnehmer kommen nur einmal, manche auch zwei oder mehrere Male zu den Aufstellungen.

Auch diesen TeilnehmerInnen schickte ich einen Fragebogen mit der Bitte, über die Kurz- und Langzeitauswirkungen der Familienaufstellungen auf ihre eigene Person, auf ihre Beziehung zu ihren Eltern, Geschwistern, zu ihren Partnern und Kindern zu berichten. Über 160 TeilnehmerInnen antworteten und gaben ein detailliertes Bild über die positiven und negativen Nachwirkungen der Aufstellungen, verbunden mit wertvollen Anregungen für ein effektiveres Vorgehen, für die Auswahl der TeilnehmerInnen, für die Gestaltung der Seminare sowie für die Vor- und Nachbereitung der Aufstellungen. Es fanden sich auch interessante Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Ebenso zeigte es sich, dass ein zwei- oder mehrmaliges Aufstellen die Wirkung deutlich steigert.

Vergleich zwischen KlientInnen und SeminarteilnehmerInnen

Die Arbeit mit den TeilnehmerInnen in den Seminaren unterscheidet sich in mancher Hinsicht von der Arbeit mit den KlientInnen, die über einen längeren Zeitraum zu meiner Frau und mir in Einzeltherapie kommen und ihre Therapie gelegentlich mit einer Familienaufstellung ergänzen. Bei der Auswertung des Fragebogens haben wir die Ergebnisse der KlientInnen mit denen der TeilnehmerInnen, die nur zum Familienstellen kamen, verglichen. Die Kombination Therapie-Familienstellen scheint in mancher Hinsicht deutlich bessere Ergebnisse hervorzubringen als das Aufstellen ohne therapeutische Begleitung. Auch dies wird im letzten Teil des Buches ausführlich besprochen.

Nutzung eigener familiärer Erfahrungen

In der therapeutischen Arbeit macht es einen großen Unterschied, ob ein Therapeut oder eine Therapeutin intime Partnerschaft und das Leben mit kleinen und heranwachsenden Kindern aus erster Hand kennt oder vorwiegend aus der Theorie. Das Familienstellen entfaltet seine Wirkung am besten, wenn der Therapeut oder die Therapeutin selbst über entsprechende persönliche Erfahrungen im familiären Bereich verfügt. Wenn ein Therapeut am eigenen Leib erlebt hat, wie sich z. B. ein Pubertätskonflikt sowohl aus der Warte des Heranwachsenden als auch aus der der Eltern anfühlt, kann er beide Seiten von innen heraus verstehen. Er kann angemessener auf sie eingehen. Als ich mit 30 Jahren das therapeutische Handwerk erlernte, habe ich meistens nur das imitiert und reproduziert, was ich von meinen AusbilderInnen gezeigt bekommen habe. Erst mit den Jahren habe ich erfahren, wie es ist, eine langjährige Partnerschaft zu leben und Kinder großzuziehen. Heute kann ich meine konkreten Erfahrungen aus der Partnerschaft und dem Zusammenleben mit meinen teilweise schon erwachsenen Kindern in meine Einzeltherapien und Familienaufstellungen einfließen lassen. Wenn man aus der eigenen Lebenserfahrung schöpfen kann, wird die Arbeit leicht und mühelos.

Die integrative Arbeitsweise des Familienstellens

Das Familienstellen ist eine integrative Methode. Es vereint in sich viele wesentliche Aspekte aus den unterschiedlichsten Therapieansätzen: Es gibt uns die Möglichkeit, unsichtbare, verschleierte oder abgespaltene Seiten einer Familie sichtbar zu machen. Es arbeitet sowohl aufdeckend, stützend als auch ressourcenorientiert. Es ist eine erdende und praktische Arbeit. Gleichzeitig ist es eine spirituelle Arbeit in dem Sinne, dass es die feine Vernetzung zwischen Menschen und ihrer sozialen und natürlichen Umwelt sowie der Geisterwelt aufspürt und zur Entfaltung bringt. Dadurch gewinnen wir eine ganzheitliche Sichtweise unseres Seins. Insofern erfüllt das Familienstellen die Forderung der Gestalttherapie, den Menschen in Einheit mit seiner Umwelt zu sehen.

Kritische Reflexion des Familienstellens

Zuletzt sollen die kritischen Aspekte des Familienstellens herausgestellt und analysiert werden. Wie jede therapeutische Methode hat das Familienstellen seine Stärken und Schwächen. Diese resultieren zum Teil aus der Einstellung seines Begründers, Bert Hellinger, zum Teil aus der unreflektierten Rezeption seiner Arbeitsweise, zum Teil aus der Überschätzung dieses Ansatzes. Erst eine nüchterne Bilanzierung und kritische Würdigung diese Methode macht sie für die gezielte Behandlung leidender Menschen brauchbar.

3. Einführung in das Thema – Rilkes Brief an seine Mutter

Der Tag fing düster an. Schon von früh morgens an hat es geregnet, und der Himmel war so wolkenverhangen, dass es um acht immer noch nicht hell werden wollte. Es ist der erste Schul- und Arbeitstag nach den Weihnachtsferien, und wir bedauerten alle, dass die freie Zeit wieder einmal vorbei war. Dann klingelte das Telefon, die beiden Klientinnen meiner Frau sagten ab. Wir hatten auf einmal Zeit, einen kleinen Spaziergang mit dem Hund zu machen und ausgiebig zu frühstücken.

Und dann, während des Frühstücks, strahlte es auf einmal durchs schmale Küchenfenster herein. Wir stellen uns mit den Teetassen auf die Terrasse in die Sonne. „Ach, wie schön wäre es, wenn wir einen Wintergarten hätten, wo ich mich einfach in die Sonne setzen und schreiben könnte!“, seufze ich. „Ja, du müsstest so was haben wie ein faltbares Glashäuschen, das du einfach überall aufstellen könntest!“ antwortet meine Frau lachend. Beim Hineingehen entdeckte ich einen kleinen Sonnenfleck direkt hinter der gläsernen Terrassentür. Einem Einfall folgend, stelle ich hier einen winzigen Beistelltisch und einen Hocker hin, und schon habe ich meinen Platz an der Sonne, um mit der ersten Niederschrift für dieses Buch zu beginnen.

Auf dem Boden liegt mir ein Stück Papier im Weg. Ich hebe es auf. Es ist ein Brief von Rainer Maria Rilke, den unsere älteste Tochter uns zu Weihnachten geschenkt und vorgelesen hat, ein Brief an seine Mutter, den er kurz vor Weihnachten des Jahres 1921 geschrieben hatte:

„Lass uns wie immer in diesem Moment der vielfachen Bedrängnis […] unrecht geben, in diesem Augenblick sei sie nichts als Vorläufiges, Vergängliches, – und was ihr gegenüber aufgeht und sie überwiegt, sei jenes Innerste in uns, das von ihr unberührt geblieben ist, jene tiefste, reinste Mitte unserer Natur, aus der uns zeitlebens nichts als Schutz entgegengekommen ist, Stille und Überwältigung zur Zuversicht. Dort, im Centrum seines Gemüts, das ihm selber sooft unzugänglich bleibt, feiert der Christ Weihnachten, und sein Fest hängt einzig daran, ob er sich die Gnade erhalten hat, dort, in seinem Allerinnersten einzutreten, dort einen Augenblick still sein, dort auf eine unsäglich feierliche Art zuhause sein zu dürfen. […] auch Dir, die Du ja immer die unbeirrbare Stärke hast, den Weg in jene innere Helle zu finden, in der nun Weihnachten wird, in diesem ganzen inneren Augenblick –, auch Dir wird es, obwohl von Außen die Sorgen dich so viele näher bedrängen, nicht schwer sein, Dich auf den reinsten und lautersten Platz im inneren Gemüt zurückzuziehen, um dort das Mysterium des kleinen Heilands zu feiern, dessen Macht damals am herrlichsten und unschuldigsten war, da er schon in der Krippe lag: zur Welt gekommen –, und die Welt noch nicht zu ihm. So darf ihn heute, wer ein stilles, nicht zu sehr flackerndes Herzlicht hat, gewahren und anstaunen und anbeten.“ Rainer Maria Rilke an die Mutter, am letzten Adventssonntag 1921 aus Muzot

Dieser Brief Rainer Maria Rilkes an seine Mutter mag ein gutes Beispiel für das Thema dieses Buches sein. Wir wissen, Rilkes Verhältnis zu seiner Mutter war keineswegs unbeschwert. In Wikipedia lesen wir über seine Eltern:

„Der Vater, Josef Rilke (1838 - 1906), ein charakterschwacher und unzufriedener Mensch, war nach gescheiterter militärischer Karriere Bahnbeamter geworden. Seine Mutter, Sophie ‚Phia‘ Entz (1851-1931), eine herrschsüchtige Frau, entstammte einer wohlhabenden Prager Fabrikantenfamilie. 1884 brach die Ehe der Eltern auseinander.

Auch das Verhältnis zwischen der Mutter und dem einzigen Sohn war belastet, weil sie den frühen Tod der älteren Tochter nicht verkraftete. Aus emotionaler Hilflosigkeit heraus band sie René1 – französisch für ‚den Wiedergeborenen‘ – an sich und drängte ihn in die Rolle seiner verstorbenen Schwester. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr fand sich Rilke so als Mädchen erzogen, frühe Fotografien zeigten ihn mit langem Haar, im Kleidchen.

Auf Druck der Eltern besuchte der dichterisch und zeichnerisch begabte Junge ab 1885 eine Militärrealschule, zur Vorbereitung einer Offizierslaufbahn. Die Zumutungen militärischen Drills und die Erfahrung einer reinen Männergesellschaft traumatisierten den zarten Knaben nachhaltig. 1891 brach er wegen Krankheit seine militärische Ausbildung ab.“

Was mag Rilke als Kind an Leid erfahren haben? Der schwache und unzufriedene Vater, der seine enttäuschten Wünsche nach einer militärischen Karriere dem Sohne aufdrückt, die Mutter, unzufrieden in der Ehe und einer verstorbenen Tochter nachtrauernd, die den nachgeborenen Sohn zu einer Tochter modellieren wollte, der Zusammenbruch der elterlichen Ehe, als er acht war, schließlich der Schock, vielleicht das Trauma der Militärschule ein Jahr später, mit nur neun Jahren. Wohin hat er all diese Bürde gesteckt? In einem Gedicht, das er mit 32 Jahren schrieb, beschreibt er, was im Kind vorgeht:

Das Kind

Unwillkürlich sehn sie seinem Spiel

lange zu; zuweilen tritt das runde

seiende Gesicht aus dem Profil,

klar und ganz wie eine volle Stunde,

welche anhebt und zu Ende schlägt.

Doch die andern zählen nicht die Schläge,

trüb von Mühsal und vom Leben träge;

und sie merken gar nicht, wie es trägt –,

wie es alles trägt, auch dann, noch immer,

wenn es müde in dem kleinen Kleid

neben ihnen wie im Wartezimmer

sitzt und warten will auf seine Zeit.

Rainer Maria Rilke, 19082

Das Kind spielt. Die Erwachsenen schauen ihm entzückt zu – das runde, volle, „seiende“ Gesicht, mit dem klaren Profil – ein Symbol für die glückliche Kindheit, das in sich ruhende Sein. Aber sie ahnen nicht, was dieses kleine Wesen in dem niedlichen Kleid alles an Beschwernissen trägt – die Schläge, die Mühsal, und vor allem: die Last der großen und großartigen erwachsenen Erwartungen und Sehnsüchte, die auf es projiziert werden.

Es ist genau dieser Widerspruch zwischen Außen- und Innenwelt in der Seele eines Kindes, der viele Menschen – mittlerweile erwachsen geworden, aber innerlich noch immer den Schmerz der früheren Schläge, Abwertungen und Erwartungen spürend – in die Psychotherapie treibt. Die Not aus den frühen Jahren bedrängt sie so sehr, dass sie das heutige Glück nicht wahrnehmen, geschweige denn genießen können. Sie fühlen sich unfähig, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, weil sie das Erbe aus der Vergangenheit niederdrückt. Einige Mutige mögen radikal von ihrem unsäglichen Erbe abgeschworen haben, aber sie haben sich damit gleichzeitig von ihren Wurzeln abgeschnitten, so dass sie den Stürmen des Lebens nur schwer standhalten können. Vor allem leiden viele darunter, dass sich das Unglück, das sie einst als Kind erfahren haben, scheinbar unaufhaltsam in ihrer Zukunft fortpflanzt – in Liebesbeziehungen, die scheitern, in den eigenen Kindern, die einen ähnlich beschwerlichen Lebensweg beschreiten, obwohl sie, wie einst die eigenen Eltern, doch „nur das Beste“ für sie gewollt haben.

Auch Rainer Maria Rilke fand letztlich kein Lebensglück. Er verliebte sich unglücklich in die vierzehn Jahre ältere Lou Andreas-Salomé. Von seiner späteren Frau trennte er sich, kurz nachdem ihre gemeinsame Tochter geboren wurde. Er hatte viele Liebschaften und kam doch nie zur Ruhe. Er starb mit nur 51 an Leukämie. Durch Lou Andreas-Salomé, einer Schülerin Freuds, kam er zwar mit psychoanalytischem Gedankengut in Berührung, aber er konnte daran nicht genesen. Die leidvollen Erfahrungen aus der Kindheit blieben. Sie schenkten ihm die Empfindsamkeit, die sich so einzigartig in seinen Gedichten ausdrückte, aber sie machten ihm gleichzeitig das Leben schwer.

Um so bemerkenswerter sein oben zitierter liebevoller, ja zärtlicher Brief an seine Mutter. Wie er sich in ihre sie bedrängenden Sorgen hineinfühlt, wie er versucht, ihr Zuversicht und Hoffnung zu vermitteln, all das spricht für die Liebe, die er für sie trotz ihres schwierigen Verhältnisses empfand. Hierin steckt jedoch, wie wir es im Laufe dieses Buches immer wieder entdecken werden, eines der großen Geheimnisse der Kinder: dass wir als Kinder von einer grenzenlosen Liebe zu unseren Eltern getragen sind, die uns dazu bringt, ihre Sorgen, ihre Ängste und ihre Beschwernisse nicht nur zu teilen, sondern diese auch zu unseren eigenen zu machen – mögen wir von ihnen auch noch so missachtet, gedemütigt, abgelehnt (oder das Gegenteil davon: von ihnen idealisiert und aufs Podest gehoben) sein. Klaglos übernehmen wir als Kinder die uns zugeschriebene Rolle und tragen, wie das Kind in Rilkes Gedicht, still und scheinbar ahnungslos neben ihnen sitzend und spielend an der Familienlast.

Wenn Rilke am Schluss des Gedichts schreibt: „wenn es müde in dem kleinen Kleid neben ihnen wie im Wartezimmer sitzt und warten will auf seine Zeit“, schwingt darin die leise Hoffnung mit, dass das Kind irgendwann endlich erwachsen und frei sein möge. Dies ist die Sehnsucht vieler Kinder und jungen Erwachsenen, dass sie dann die familiäre Last abstreifen und ihren eigenen Weg gehen können. Doch nicht selten entdecken sie, dass dies ein Wunschtraum ist; dass sie so sehr behaftet sind mit den frühen Entbehrungen und Erfahrungen, dass sie nicht ohne weiteres ein neues Leben anfangen können. Das Alte muss noch einmal – nun aus dem Abstand des Erwachsenen – betrachtet, durchlitten, verstanden werden, bevor sie es endgültig aus der Hand legen können.

Rilke schreibt in seinem Brief an die Mutter von einem inneren Raum, „jenes Innerste in uns, das von ihr [Anmerkung: der Bedrängnis] unberührt geblieben ist, jene tiefste, reinste Mitte unserer Natur, aus der uns zeitlebens nichts als Schutz entgegengekommen ist, Stille und Überwältigung zur Zuversicht.“ Es ist wunderbar, dass ihm dieser innere Raum allen Widrigkeiten zum Trotz erhalten geblieben ist (es ist das, was ich den Wesenskern eines Menschen nenne).3 Jedoch ist es nicht ausreichend. Man kann vielleicht inneren Frieden finden, wenn man allein für sich ist, wenn man in der Natur ist oder sich in der Gesellschaft freundlicher Menschen befindet. Aber kaum kommen wir in Berührung mit unseren täglichen Problemen und in Kontakt mit Menschen, mit denen wir im Konflikt leben, ist die innere Ruhe dahin.

Damit der innere Friede, der, wie Rilke so schön beschreibt, in Weihnachten über uns kommt, auch im Alltag Bestand hat, müssen wir die alten persönlichen und familiären Muster verstehen, die uns geprägt haben. Dies sind, um im Bild zu bleiben, die äußeren Schichten, die unseren innersten Wesenskern ummanteln und uns den Weg zu unseren tiefsten Empfindungen versperren. Es sind die Schichten aus Angst, Scham, Wut, Hilflosigkeit Verzweiflung und Schuld, die uns seit Kindheit vertraut sind und uns nicht in Frieden lassen. Es sind die eingefleischten negativen Verhaltensmuster, die wir im Elternhaus gelernt haben, die unsere Interaktionen mit uns nahestehenden Menschen erschweren und wirkliche Intimität verhindern. Es ist die ängstliche Erwartung, wir könnten die gleichen schmerzlichen Erfahrungen machen wie in der Kindheit, wenn wir Menschen näher an uns heranlassen. Es ist das tiefe Misstrauen, dass es in der Welt überhaupt Güte und Freundlichkeit für uns gibt. Es ist die Scham, nicht zu genügen, die uns von anderen Menschen fernhält. Es ist die Selbstabwertung, die jegliche Art von Erfolg und Bestätigung für unmöglich halten lässt. Es sind die Selbstvorwürfe, die falschen Lebensentscheidungen getroffen zu haben. Es ist die dunkle Ahnung, dem Lebensbeispiel der gescheiterten Eltern und Vorfahren blind nachfolgen zu müssen. Es ist das Bewusstsein erdrückender Schuld, die sich aus den Verfehlungen lebender oder verstorbener Familienangehörigen aufsummiert. Egal wie wir uns bemühen mögen, aus dem Morast zu kommen, wir stecken fest. Wie kommen wir da je heraus?

4. Wie kam ich zur Gestalttherapie und Familienaufstellung?

„Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, aber leben muss man es vorwärts.“ — Kierkegaard

Wie kommen wir aus den seelischen Verstrickungen heraus, die uns an unsere Familie binden? Müssen wir uns von unserer Herkunft radikal abschneiden, um frei zu werden? Dann stünden wir aber ohne Wurzeln und Rückendeckung in der Welt. Ist Einsamkeit der Preis für innere Freiheit? Können wir es schaffen, uns die Liebe und die Kraft aus unserer Herkunft zu erhalten und unser eigenes Leben frei führen? Wie können wir wirklich heil werden?

Vor dieser Frage stehe ich, seit ich mich mit Psychotherapie befasse. Als ich Ende der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts mit dem Studium der Medizin und Psychologie anfing, gab es zum Glück bereits die Psychoanalyse als die dominierende Therapiemethode. Sie vermittelte uns, dass wir uns den unverarbeiteten Konflikten aus der Vergangenheit zuwenden müssen, wenn wir mit unserem Leben heute nicht vorankommen. Jedoch waren die Möglichkeiten, die die Psychoanalyse damals darbot, sehr begrenzt. Man sprach über seine Probleme, entweder allein mit einem/r Therapeuten/in oder in einer von einem/r Therapeuten/in geleiteten Gruppe. Später führten wir die Gruppensitzungen ohne Leiter weiter. Es war der Anfang der Selbsthilfe-Bewegung.4 Dies war für mich damals schon eine ungeheure Erleichterung. Zum ersten Mal brach ich das jahrzehntelange Schweigen über das, was ich seit Kindheit erlebt habe. Ich erlebte, wie Menschen in der Gruppe mich in meiner Not ernstnahmen und verstanden. Zugleich war es ungeheuerlich erleichternd zu erfahren, dass auch andere an ähnlichen Schwierigkeiten litten und ich somit mit meinen persönlichen Problemen nicht ganz alleine war in der großen weiten Welt, so wie ich es einst als Kind empfunden habe. Auf einmal gab es viele Leidens- und Weggenossen/innen, die den gleichen Weg gingen.

Mitte der siebziger Jahre kamen die neuen Therapiemethoden auf, die auf dem Behaviorismus und der Humanistischen Psychologie basierten. Diese beiden aus den USA entspringenden Strömungen verschoben den Fokus von der Vergangenheit in die Gegenwart. Man erkannte, dass es nicht genügt, nur auf das Vergangene zu schauen. Die Veränderungen finden heute statt. Die aus den behavioristischen Lerntheorien entwickelte Verhaltenstherapie lehrte die Menschen, wie sie negative Verhaltensmuster von früher ent-lernen und positive Verhaltensmuster neu erlernen können. Sie war, zumindest in den Anfängen, recht technisch orientiert. Heute hat sie Impulse aus den verschiedensten Richtungen aufgenommen und sich damit einen weiten Anwendungsbereich erschlossen. Die Humanistische Psychologie, die sich als „Dritte Kraft“ neben der Psychoanalyse und dem Behaviorismus verstand, sah hingegen das größte Potential für menschliche Veränderung in dem unmittelbaren Erleben des Hier und Jetzt, indem man sich seinen Sinnen, seiner Kreativität und Spontaneität öffnet. Aus der Humanistischen Psychologie entwickelte sich die Human Potential Bewegung mit einer ungeheuren Vielfalt an neuen Therapiemethoden, unter ihnen die Gestalttherapie, Psychodrama, Gesprächstherapie, Transaktionsanalyse, Bioenergetik, Primärtherapie und vieles andere mehr.

Der daraus resultierende Psychoboom der siebziger Jahre brachte eine fast euphorische Stimmung mit sich, getragen von dem Optimismus, psychische Störungen in kürzerer Zeit und mit geringerem Aufwand als in der psycho-analytischen Behandlung beheben zu können. Man darf dabei die damalige gesellschaftliche Entwicklung nicht vergessen. Der psychologische Aufbruch war getragen von dem Zeitgeist der 68 er Bewegung, die im Zuge des Protestes gegen den Vietnamkrieg die verkrusteten sozialen Strukturen der 50 er Jahre aufbrach und die Wunden, die der Zweite Weltkrieg zurückgelassen hatte, freilegte. Es war die Zeit der sexuellen Revolution, der sozialliberalen Reformen, der Frauenemanzipationsbewegung („Mein Bauch gehört mir“), der Anti-AKW-Bewegung und der ökologischen Bewegung.

Auf dem Hintergrund dieser Öffnung fürs Gesellschaftliche und Ökologische war es nicht verwunderlich, dass man zu dieser Zeit auch in der Psychologie begann, das System, in dem Menschen aufwachsen und leben, zu untersuchen. Es entstand die Familientherapie (später als systemische Therapie zusammengefasst). Als krank und behandlungsbedürftig wurde nicht mehr ausschließlich der Einzelpatient betrachtet, sondern auch die Familie und das gesellschaftliche und ökologische System, aus dem er kommt und in dem er lebt. Man begann zu realisieren, wie stark unsere individuellen Existenzen miteinander vernetzt sind.

Dieser Gedanke der Vernetzung machte natürlich nicht Halt vor den unsichtbaren Kräften. Seit den achtziger Jahren wuchs das Bedürfnis vieler Menschen nach spiritueller Anbindung. Es entstand die Transpersonale Psychologie, die versucht, den Menschen in seiner körperlich-seelisch-geistigen Gesamtheit zu verstehen. Insofern müssen wir heute den Menschen als individuelles, gesellschaftliches, ökologisches und spirituelles Wesen verstehen – in seiner Beziehung zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen, zur Gesellschaft, zur Natur und zum Göttlichen –, um ihm gerecht zu werden. Wenn wir mit Menschen arbeiten, müssen wir versuchen, auf möglichst viele dieser Gesichtspunkte einzugehen. Deshalb haben alle die oben genannten Therapieansätze ihre Berechtigung – sie ergänzen sich gegenseitig. Wir müssen uns nur im Einzelfall entscheiden, wann welche Methode für welchen Menschen das Richtige ist.

Auf meinem Weg habe ich viele der erwähnten Methoden kennen gelernt. Ursprünglich beabsichtigte ich, eine analytische Ausbildung zu machen. Ganz zufällig lernte ich die Gestalttherapie kennen, und mit ihr kamen Lebendigkeit, Kreativität, Vitalität, Humor und vor allem Menschlichkeit in meine therapeutische Arbeit. Ich erlebte zum ersten Mal, dass Therapeutinnen und Therapeuten lachten und Witze (auch über sich selbst) erzählten, dass sie Erfahrungen aus ihrem persönlichen Leben in die Therapie einfließen ließen, dass sie sich ihrer eigener Schwächen nicht schämten, sondern zu ihnen standen – alles, was ich von den meisten Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern, denen ich bis dahin begegnet war, nicht kannte. Dort hatte ich oft das Gefühl, mich in ein Korsett bürgerlicher Anständigkeit und wissenschaftlicher Korrektheit einzwängen zu müssen, das vom psychoanalytischen Establishment gefordert wurde, jedoch in einem krassen inneren Widerspruch zu den revolutionären und subversiven Kernaussagen der Psychoanalyse stand.

Ich arbeitete nach dem Studium als wissenschaftlicher Assistent an der Psychosomatischen Klinik der Universität Heidelberg, einer psychoanalytisch geleiteten Institution. Hier wurde ich zum ersten Mal mit der Macht von Vertretern orthodoxer Lehrmeinungen und Verbandsfunktionären konfrontiert. Ich bekam hautnah mit, wie unter dem Deckmantel von Patientenfürsorge Machtpolitik betrieben wurde („wir Psychoanalytiker gegen alle anderen Methoden, wir Ärzte gegen die Psychologen“). Ich war entsetzt darüber, welche Verachtung neuen Therapiemethoden (von denen man gerne Anregungen aufnahm) und anderen beruflichen Gruppen (mit denen man täglich zusammenarbeitete) entgegengebracht wurde, verbunden mit einer elitären und narzisstischen Selbstüberschätzung.

Daraufhin verschanzte ich mich in meiner Nische – in einem Dreierteam bauten wir gerade die Abteilung für Medizinische Psychologie in Heidelberg auf – und nutzte meinen gesamten Jahresurlaub, um in den USA Gestalttherapie zu lernen (Jim Simkin und Erv und Miriam Polster, alle drei waren sie Schüler von Fritz und Lore Perls, boten zum Glück vierwöchige Ausbildungsblöcke an). In meiner Freizeit war ich als freier Mitarbeiter in der Free Clinic Heidelberg tätig. Dort genoss ich den freien ungezwungenen Umgang unter Gleichen. Dort lernte ich all die damals gängigen neuen Therapiemethoden aus erster Hand kennen. Trotz dieser „kleinen Fluchten“ bedrückte mich die Arbeit an der Klinik, ich fühlte mich zunehmend fremder unter den analytischen Kolleginnen und Kollegen (von denen ich einige menschlich und professionell sehr schätzte). Schließlich machte mir ein schwerer Unfall nach einer von mir gehaltenen Vorlesung klar, dass dort nicht mehr mein Platz war. Ich ließ mich als Gestalttherapeut in freier Praxis nieder.

Im Rückblick bin ich für die zwei Jahre an der Psychosomatischen Klinik dankbar. Dort habe ich sehr viel über die Dynamik und Diagnostik seelischer Störungen gelernt. Ich liebte die Fallkonferenzen, in denen neue Patienten vom/von der behandelnden Therapeuten/in vorgestellt wurden. Vor allem entspricht mir der tiefenpsychologische Denkansatz, dass der Ursprung vieler seelischer Störungen in der frühen Kindheit liegt, und dass man in die persönliche Biographie und die Familiengeschichte zurückgehen muss, um sie zu beheben. Dies bleibt bis heute meine Überzeugung. Nur methodisch kommt mir die psychoanalytische Behandlung – sei es auf der Couch, sei es im Sitzen oder im Gruppengespräch – unzureichend vor.

Gestalttherapie bietet eine Fülle neuer Möglichkeiten, mit einem Klienten zu experimentieren. Nicht nur, dass er sein aktuelles Verhalten im Kontakt mit anderen Gruppenteilnehmern oder dem Therapeuten ausprobieren kann. Er kann auch früher erlebte Situationen ins Hier und Jetzt holen und neu inszenieren, indem er zum Beispiel seinen Vater oder seine Mutter auf ein Kissen oder einen Stuhl vor sich setzt und mit diesem/r redet, um dann, in einem zweiten Schritt, sich aufs Kissen zu setzen und die Rolle des Elternteils zu übernehmen. (Mit dieser Technik des „leeren Stuhls“ bzw. des „Gestaltdialogs“ hat Fritz Perls eine Methode von Moreno, dem Begründer des Psychodramas, variiert). Solche spielerischen und projektiven Methoden eröffnen uns eine Vielfalt an Möglichkeiten, unbearbeitete Konflikte auszuloten und neue Perspektiven zu gewinnen. Indem sich der Klient in eine andere Person versetzt, indem er in deren Haut schlüpft und direkt als diese spricht, gelangt er unmittelbar in einen interpersonellen Bereich, der ihm bisher unbekannt war.5

Die Begrenztheit der bisherigen Methoden

Dennoch kam ich mit den gelernten Methoden in den nächsten Jahren persönlich und professionell nicht wesentlich weiter. Bei einigen persönlichen, tief eingefleischten Problemen blieb ich stecken. Besonders schmerzlich wurde mir dies deutlich, als ich eine eigene Familie gründete und merkte, wie ich ähnliche Verhaltensweisen zeigte, wie ich sie früher von meinen Eltern kannte und unter denen ich einst als Kind gelitten habe. In meinen Lehrtherapien (ich absolvierte sowohl eine Gestalt-Lehrtherapie als auch eine Lehranalyse) konnte ich zwar darüber sprechen, aber ich fand keine wirkliche Hilfe.

Auch in meiner eigenen Arbeit kam ich oft an die Grenze, dass ich Klienten und Klientinnen zwar helfen konnte, Trauerarbeit über die schlimmen Erfahrungen zu leisten, die sie in ihrer Kindheit gemacht haben, aber keinen Weg fand, die Wunden und Verletzungen von früher wirklich zu heilen – heilen in dem Sinne, dass sie nicht mehr weiter schmerzten. Irgendein Rest blieb immer zurück. Außerdem war es für manche Klienten und Klientinnen schwer, wirklich grundlegende positive Ressourcen für ihr jetziges und zukünftiges Leben zu finden. Manchmal dachte ich resigniert, ich müsste mich mit der Begrenztheit meiner therapeutischen Möglichkeiten abfinden.

Die Entdeckung der Scham

Dann wurde ich völlig unerwartet mit dem Thema Scham konfrontiert. 1988 stieß ich zufällig auf das Buch „Facing Shame“, das von zwei Sucht- und Familientherapeuten geschrieben wurde,6 und nahm es beiläufig als Ferienlektüre mit. Ich brauchte für die ersten 12 Seiten zwei ganze Wochen, so sehr war ich von der Wucht des Gelesenen erschüttert. Ich erkannte, dass Scham das zentrale Thema nicht nur für mich selbst, sondern für meine ganze Herkunftsfamilie war. Hier war ich also, mittlerweile ein gestandener und anerkannter Therapeut, und hatte das Gefühl, zum ersten mal auf die Wurzel meiner eigenen Probleme zu stoßen. In den vielen Jahren meiner Ausbildung und meiner langen Lehrtherapien war Scham nie wirklich zum Thema gemacht worden. Scham war ein Gefühl, das bis dato weder in der Psychoanalyse noch in der Gestalttherapie eine herausragende Rolle spielte. Für Freud war das Thema Schuld sehr viel wichtiger (in der Auseinandersetzung mit dem Über-Ich), während es bei Perls eher darum ging, die von ihm als bürgerlich angesehenen, „falschen“ Scham- und Schuldgefühle abzulegen und stattdessen kreativ-aggressiv an die Umwelt heranzugehen.

Jedenfalls war die Begegnung mit dem Thema Scham der Beginn meiner eigentlichen Therapie. Ich tauchte zwei Jahre lang intensiv in eine Art Selbstanalyse. Später arbeitete ich in einer dritten Eigentherapie meine Schamproblematik durch. Auch theoretisch befasste ich mich damit und schrieb 1994 mit meiner Kollegin Brigitta de las Heras das Buch „Scham und Leidenschaft“, nachdem wir viele Seminare darüber gehalten haben.

Die Zeit war reif für das Thema. Warum ist es so lange unberücksichtigt geblieben? Dies liegt in der Natur der Scham selbst. Scham hat ja die Eigenschaft, sich unsichtbar zu machen. Jeder, der errötet, versucht seine Verlegenheit zu verbergen. Entweder versteckt man sich, oder man tut so, als wäre da nichts. Manchmal kehrt man nach außen das Gegenteil von Scham heraus und verhält sich arrogant und verachtend anderen gegenüber – man projiziert damit die eigene Unzulänglichkeit auf andere – nur, um damit die eigene Nacktheit zu kaschieren. In der Einleitung des Buches, das mir die Augen öffnete, beschrieben die beiden Autoren die verschiedenen Gesichter der Scham:

„Dieses Buch handelt von einem Drachen, einem mythischen Monster namens Scham. Nur wenige Menschen in unserer Kultur sind dieser Kreatur entkommen, deren Klauen uns in eingefrorener Erstarrung festhält und unsere Fähigkeit zu sprechen verschlingt.

Die Chinesen sagen, dass der Drache die Macht der Metamorphose und die Gabe des Unsichtbarwerdens besitzt. Die Unsichtbarkeit von Scham hat in der Tat eine große Macht über uns; und doch sehnen wir uns danach, das Unsichtbare im Leben intim kennen zu lernen. Wir glauben an die Metamorphose dieses Drachens namens Scham. So wie ein Klumpen Kohle Wärme und sanftes Licht abgibt, wenn er entzündet wird, kann eine Familie ihre inneren Beziehungen von Scham zum Respekt transformieren. Beides hat das Potenzial zur Veränderung, beides braucht es, entzündet zu werden. Es ist diese Metamorphose, auf die wir unsere Aufmerksamkeit beständig richten. Wenn Familien den Mut haben, sich dem Drachen zu stellen, verändern sie ihre Beziehungen. Bateson (1979) hat einst gesagt, dass das Muster, das die Verbindung herstellt, dasjenige Muster ist, das eine Korrektur hervorbringt (‚the pattern that connects is the pattern that corrects‘). Dieses korrigierende Muster ist das Muster fürs Wachstum. Wenn wir zurückdenken, wie wir Scham als eine Kraft, die Familien bewegt, entdeckten, erinnern wir uns an zwei lebhafte Szenen. Die eine betrifft das erste Mal, wie wir auf Scham aufmerksam wurden … In einer Therapiesitzung beobachteten wir eine verblüffende Reaktion der Klientin auf eine beiläufige Bemerkung unsererseits. Der leise ‚Schatten‘ einer Färbung huschte über ihr Gesicht, aber ihr gesamter Ausdruck veränderte sich nicht beziehungsweise schien fast einzufrieren. Ihre stille emotionale Reaktion deutet auf ein sehr viel stärkeres Gefühl als Verlegenheit. Wir waren verwirrt, denn unsere Plauderei hätte unserer Meinung nach nicht solch eine starke Reaktion gerechtfertigt. Da wir spürten, dass wir unbeabsichtigt irgendeinen versteckten Schmerz angetippt haben, fragte einer von uns: ‚Ich habe das Gefühl, dass das, was ich eben gesagt habe, bei Ihnen Ihre Scham angestoßen hat, stimmt das?‘ Die Klientin errötete, nickte dann langsam und antwortete: ‚Ach, ja. Ich wusste nicht einmal, dass es eine Bezeichnung für dieses schreckliche Gefühl gibt. Es überfällt mich ziemlich oft.‘ Nach einem Augenblick gab sie einen tiefen Seufzer der Erleichterung, und wir begannen, über die Quelle ihrer Scham zu sprechen. Als wir mit ihr übereinkamen, dass wir das Phänomen tiefer erkunden wollten, merkten wir, dass etwas nicht nur mit unserer Klientin, sondern auch mit uns selbst geschehen war.