Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2018 Reinhard Oestreich

Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH

ISBN: 978-3-7481-9455-2

Inhalt

Eduard Keyserling in Wien

Die Kunst des Traumes und der Traum der Kunst

Von Graf E. Kayserling.

Der Traum gibt uns ein Stück Leben, gibt Alles, was zum Leben gehört; den vollen Glauben an die Wirklichkeit der Ereignisse, ursächlichen Zusammenhang, Empfindungen, Gedanken – Alles. Wenn der Traum uns oft unklar und verworren erscheint, so kommt das entweder daher, daß wir uns noch nicht ganz von der Welt des Wachens losgesagt haben, daß wir – sozusagen – nur mit einem Fuß im Traumlande stehen, oder die Erinnerung an den Traum ist nicht treu, und sie verwirrt, was im Traume Sinn und Ordnung hatte.

Dieses Stück Leben jedoch paßt in unser übriges Leben nicht hinein; und dadurch wird der Traum zum Traum. Oft hört man Menschen sagen: „Ich weiß nicht, habe ich’s erlebt oder hat es mir blos geträumt?“ – Bei zurückliegenden Ereignissen entfällt dem Gedächtnisse häufig der Zusammenhang, und ein Traum reiht sich als Glied in die Kette des Erlebten ein.

Eine alte Frau, die ich kannte, pflegte ihre Träume stets als etwas wirklich Geschehenes zu erzählen, ja, sie setzte ihre Träume im Gespräch als bekannt voraus, als hätte ihre Umgebung sie miterlebt. Sie war gelähmt, verließ ihr Zimmer nicht, sah stets dieselben Personen, und ein Tag glich dem anderen. Auf dem Sessel einschlummernd, träumt ihr; die Magd kommt und theilt ihr eine Nachricht mit. Erwacht, spricht sie von dem Geträumten mit der Magd, wie von etwas Bekanntem, setzt ein Gespräch fort, das sie im Traume begonnen hat. Auch bei Kindern findet man es häufig, daß sie ihre Träume für Wirklichkeit halten, denn ihnen fehlt noch die Uebung, den Zusammenhang des Lebens zu übersehen.

Das Bruchstückhafte ist es, was den Traum vom Leben unterscheidet. Wir brechen unser wirkliches Leben ab und geben uns, für eine Weile, einem Lebensfragment hin, um, beim Erwachen, wieder dort an unser Leben anzuknüpfen, wo wir es unterbrochen haben. Dieses Lebensfragment ist nichtsdestoweniger – erlebt – ganz und voll; und beim Erwachen fühlen wir oft noch die Traumleidenschaft in uns nachzittern. Ich habe gefunden, daß der Traum mir oft ebenso vollwerthige Belehrung und Bereicherung gegeben hat wie die Wirklichkeit. In einzelnen Zügen ist der Traum oft unzuverlässig, im Gefühl nie; und wenn er mir ein Ereigniß bietet, zu dem das Leben mich nicht zugelassen hat, so erregt er in mir Gefühle, die ich, unter denselben Verhältnissen, in der Wirklichkeit auch gehabt hätte; ich bin um diese Bethätigung meines Wesens reicher, und der Traum vermehrte meinen Schatz des Erlebten um ein bedeutsames Stück.

Die Gestaltungskraft der Traumphantasie ist mit der des Künstlers verglichen worden, und man hat auf ihre gemeinsame Quelle hingewiesen (so: du Prel: Psychologie der Lyrik). Die Gleichartigkeit der Wirkung eines Kunstwerkes mit dem Traume aber erscheint mir mindestens ebenso auffällig. Hier wie dort unterbrechen wir den Faden unseres Lebens, den ursächlichen Zusammenhang, durch den wir die Einheit unserer Persönlichkeit erlangen, und geben uns einer unabhängig und unvermittelt beginnenden Reihe von Ereignissen und Stimmungen hin; nur daß wir beim Nachempfinden eines Kunstwerkes ein fremdes Wesen in uns aufnehmen, während unser Ich im Traume meist die Hauptrolle spielt.

Wenn ein Kunstwerk über uns Macht gewinnt, erheben wir uns über unsere Persönlichkeit, wir erfüllen unser ganzes Empfinden mit dem Gegenstande des Kunstwerkes: wir leben ein fremdes Leben. Dieses muß die höchste Wirkung eines jeden Kunstwerkes sein. Das Schöne erlaubt uns, über unser Ich hinauszugehen und an einem anderen Wesen Theil zu haben; es gibt uns einen Ueberschuß an Leben.

Das Schicksal bestimmt mir ein Los, in dem sich nothwendig und logisch der Augenblick aus dem Augenblick entwickelt. An diese Kette von Ursache und Wirkung bin ich gefesselt, wenn ich mich selbst nicht verlieren will. Auf eine Weile darf ich diese Kette jedoch zerreißen, um fremdes Leben, ein Los, das mir nicht beschieden war, hineinzuschieben. Auf Augenblicke darf ich mehr als nur ich selbst sein.

Die Aehnlichkeit des Kunstgenusses mit dem Traume läßt sich bis in die feinsten Einzelheiten verfolgen. Wenn ich vor ein Bild hintrete und dieses Bild Eindruck auf mich macht, mich gefangen nimmt, dann glaube ich es physisch zu empfinden, wie meine Person in mir von der Seele des Bildes verdrängt wird, denn bei einem Bilde ist der Uebergang vom gewöhnlichen Leben zum Nachempfinden des Kunstwerkes am unvermittelsten und gewaltsamsten. Nun, dieses Gefühl des Brechens mit der Gegenwart ist genau dasselbe, welches uns überkommt, wenn wir einschlafend spüren, daß wir zu träumen beginnen. Wir sind uns noch des Abstandes von Wirklichkeit und Traum bewußt und fühlen, daß wir an etwas zu glauben beginnen, das sich nicht logisch an den vorhergehenden Augenblick anschließt.

Endlich sind es auch dieselben Ursachen, die uns einen Traum zerstören und eines Kunstwerkes nicht froh werden lassen. Ein zu starkes Reiz, Schmerz, Ekel, Unbehagen erinnern uns an unseren Körper, an die ursächliche Reihe von Ereignissen, die unsere Person, unser Leben ausmachen – wir erwachen. Oder wenn der Traum es zu toll treibt, wenn er sich zu weit vom Wahrscheinlichen entfernt, wer kennt da nicht das wunderliche Mißtrauen, das wir träumend gegen den Traum empfinden? „Ich träume nur,“ sagen wir uns, wie wir von einem Kunstwerk, das gegen die Wahrheit sündigt, sagen: „Es ist nur gemacht.“

Der Traum also war der Erste, der uns lehrte: „Ihr könnt für eine Weile das Leben, welches das Schicksal Euch zugedacht hat, bei Seite legen und ein Ausnahmeleben führen. Ich gebe Euch viele Lebensfragmente, damit Ihr nicht ermüdet, stets an dem alten Leitseil fortzugehen.“

Da kam jedoch die Kunst und sprach: „Ich gebe Euch als Zugabe zu Euerem Los noch das Leben aller anderen Wesen, damit Ihr nicht müde werdet, immer nur das eine Ich mit Euch herum zu tragen“

Die Kunst befolgt die Methode des Traumes, um auf uns zu wirken; sie bietet aber mehr: sie gibt uns einen erweiterten, geordneten und geläuterten Traum.

„Nur zwei Thränen“

Von Eduard Keyserling.

Motto:

Der Lehrer der griechischen Sprache hatte die üble Angewohnheit, seine Schüler Esel zu nennen, machten sie ihre Sache nicht recht. Wir zeigten dann stets sehr entrüstete Mienen, allzu tief aber empfanden wir diese Beleidigung eigentlich nicht. Nun behaupteten meine Kameraden, ich hätte einmal über solch‘ einen „Esel“ geweint.

Weinen gilt in der Schule ohnehin für eine Schande, und noch dazu über so etwas! Die Kameraden waren unerschöpflich in ihrem Spott. Mich schmerzte das empfindlich; ich vermochte mich aber nicht zu vertheidigen. Es waren nur zwei armselige Thränen gewesen, nicht der Rede werth, diese ließen sich jedoch nicht fortleugnen, und sie hatten ihre wunderliche Ursache, die ich damals nicht erörtern mochte.

An einem ganz gewöhnlichen ledernen Montage, in einer ganz gewöhnlichen ledernen Unterrichtsstunde trug sich der Vorfall zu. Ja! Diese Unterrichtsstunde versprach besonders trübe und eintönig zu werden, denn draußen lag dichter Herbstnebel über den Dächern. Wir durften also nicht einmal auf den lustigen Sonnenstrahl rechnen, der durch die Fensterscheiben in die Schulstube zu schlüpfen pflegte, um plötzlich dem gestrengen Lehrer über die faltige Stirn zu huschen, so daß er die mürrischen Augen zukneifen mußte und wir kichernd die Nasen tiefer in die Bücher steckten. Solche Streiche liebte der Sonnenstrahl; er hielt es stets mit uns Schülern. Auch auf diese kleine Zerstreuung durften wir an jenem Montage nicht zählen. Tripp – tripp – fielen die Tropfen aus der Dachtraufe auf das Pflaster; eine frostige, verstimmende Musik. Einige verdrossene Spatzen hüpften über das Fensterbrett und, die kleinen, grauen Köpfe auf die Seite neigend, blinzelten sie mit den blanken Augenpünktchen gelangweilt zu uns herüber. Rings um mich saßen die Kameraden mit mißmuthigen Gesichtern. Die schwarzen Schulbänke mit ihren zahllosen Schnittwunden, der Lehrer mit seinem alten Rock, auf dem ich jeden Streifen des Musters kannte, mit seinem bleichen, sorgenvollen Gesichte, seinem tadellos geglätteten Haar, Alles, Alles war dazu angethan, ein Knabenherz trüb zu stimmen. Dazu noch der dumpfe Geruch nach alten Büchern und nassen Ueberröcken, der im Gemache waltete, das unbehagliche Gefühl, die Finger voller Tinte zu haben und mit dem Rockärmel den Staub vom Tische zu fegen, endlich das abgegriffene, befleckte Buch, in das man hineinschauen sollte, die Aussicht auf endlose Fragen nach e verbo, nach consecutio temporum – was weiß ich! Gewiß ist es, daß an jenem Montage eine sehr melancholische Lebensanschauung in den meisten Schülerherzen wohnte.

Xenophon wurde gelesen. Nun wissen wir, daß der weise Schüler des Sokrates wenig Ansehen in Schülerkreisen genießt. Weil er der erste griechische Autor ist, den wir lesen, so nennen wir anfangs zwar seinen Namen mit einigem Stolz: „Wir lesen Xenophon‘s Anabasis,“ ist ein Satz, den man nicht ungern ausspricht, dazu ist „Anabasis“ ein schönes, volltönendes Wort und klingt gar so griechisch. Auf die Dauer aber verstehen die Leiden der Zehntausend die Knabenphantasie nicht anzuregen, und sind wir erst zu anderen Autoren vorgeschritten, dann blicken wir mit entschiedener Verachtung auf die „attische Biene“ nieder: „Er liest noch Xenophon“ heißt so viel als: er steht tief unter mir.

Meinem Nachbar auf der Schulbank war die Aufgabe zugefallen, das berühmte 7. Capitel des IV. Buches der „Anabasis“ zu übersetzen. – Mit eintöniger, schläfriger Stimme, mit vielem Räuspern und häufigen Pausen trug er uns die schöne Erzählung vor, wie die Zehntausend, auf den Berg Theches gelangt, plötzlich das Meer vor sich sahen und in lauten Jubel ausbrachen.

Ich war entschlossen, nicht zuzuhören, mich um die ganze Geschichte gar nicht zu kümmern. Meine Aufmerksamkeit richtete sich ausschließlich auf einen Regentropfen, der langsam die Fensterscheibe hinabrann. Wird er unten ankommen oder nicht? Das schien mir eine wichtige Frage. Plötzlich schreckte mich ein Wort im Vortrage meines Kameraden aus meinen Beobachtungen auf.

„Sie hörten nun, wie die Soldaten: Das Meer, das Meer! riefen.“ Ich schaute in das Buch. Ja! da stand es, halb von einem Tintenfleck verdeckt, daneben der mißlungene Versuch, das Profil des Lehrers mit stark verlängerter Nase zu skizziren, da stand es, wie sie jubeln, „Thalatta, Thalatta!“ rufen, wie sie sich umarmen, wie sie weinen. – Seltsam! das gefiel mir, das schien nichts von dem Staub der Schulbank an sich zu haben. Es machte mir das Knabenherz weit. Thalatta, Thalatta! Welch‘ ein würziger, lösender Hauch wehte mir aus diesem Worte entgegen! Das war Ferienluft! Das trug mich weit, weit aus der schläfrigen Schulstube fort! …

Da stand ich auf der Düne. Unter meinen nackten Füßen fühlte ich den warmen Sand; in meinen Haaren wühlte der Seewind, und vor mir lag das Meer, die weite blaue Fläche, ganz mit goldenen Sonnenflittern überstreut. Große, durchsichtige Wellen stiegen auf, warfen ihre weißen Schaummützen empor, und ein Jauchzen und Rauschen scholl herüber, dem ich schweigend, lächelnd, mit klopfendem Herzen lauschen mußte. Hoch im lichtvollen Himmelsblau hing eine Möve, eine zitternde weiße Flocke: „Gib Acht! die sieht etwas. Gleich ist sie unten,“ sprach es neben mir mit heiserer Kinderstimme. Ja! da stand des Strandwächters Lotte und schaute empor mit ihrem verständigen Bubengesichte, die runden, grünlichen Augen weit dem Sonnenstrahl geöffnet, das kurze, rothe Haar im Winde flatternd. Jetzt schoß die Möve pfeilschnell nieder, da – mitten in eine große Welle hinein, und Lotte stieß einen gellenden Freudenschrei aus, den sie von den Möven gelernt haben mochte.

„Die See ist gleich wieder da,“ sagte Lotte dann, und deutete mit dem Mittelfinger auf das Meer hinab: „Wir müssen eilen, wenn wir noch hinaus wollen.“

Hinaus mußten wir. Es war die tägliche Ferienarbeit, zu suchen und zu sammeln, was das Meer zurückließ; und endlich, welche Lust, sich langsam von der Fluth an das Ufer zurückdrängen zu lassen – mühsam, den halben Leib im Wasser, mit den Wellen kämpfend.

„Fort!“ rief Lotte und stürmte voran.

Es lief sich gut über den feuchten Sand. Der Boden wiegte sich sachte unter den Füßen; jeder Tritt verursachte ein kleines, plätscherndes Geräusch und ließ eine Spur zurück, die sich mit Wasser füllte. Dort lagen die trägen Seesterne, zart gefärbt und glänzend, wie die Zuckerblume beim Bäcker oben im Städtchen; und Seegras – breite, kühle Bänder, die wir nur behutsam angriffen, denn die weichen, fetten Halme schienen etwas räthselhaft Lebendes. Rückten wir einen Stein von seiner Stelle, dann huschten die Seespinnen hervor, grünliche, durchsichtige Schattenwesen. Wir blieben stehen und lachten laut auf über diese seltsamen Ungeheuer, die so eilfertig seitwärts dahinschlüpften.

„In‘s Wasser!“ commandirte Lotte.

Da waren die Wellen schon! Da überstürzten sie sich zischend und bedeckten den Sand mit ihrem Schaum, wie mit großen weißen Tüchern.

Anfangs stiegen wir nur zögernd in das rege Durcheinanderwogen. Das Wasser schlug kühl um unsere Füße, bedrückte ein wenig den Athem, und in das laute Rufen der Wellen mischten wir die hohen Noten unseres ausgelassenen Kinderlachens.

Das tolle Rennen und Springen der Wogen riß uns in seine Lust mit fort.

„Weiter, weiter!“

Lotte war stets die Verwegenere und mir ein gutes Stück voraus. Sie achtete nicht mehr auf ihr schlichtes Leinwandröckchen, sie ließ sich ganz von den Wellen überdecken, sie schlug sich mit ihnen herum und stieß herbe, gellende Rufe aus, wie ein Seevogel.