Transit, Komet, Eklipse

Transit, Komet, Eklipse

Muharem Bazdulj

Seifert Verlag

Aus dem Bosnischen von

Klaus Detlef Olof

Inhalt

1. I

2. II

3. III

4. IV

5. V

6. 1

7. 2

8. 3

9. 4

10. 5

11. Eins

12. Zwei

13. Drei

14. Vier

15. Fünf

Anmerkungen

Einen großartigen Beweis von der erbärmlichen Subjektivität der Menschen, infolge welcher sie alles auf sich beziehn und von jedem Gedanken sogleich in gerader ­Linie auf sich zurückgehn, liefert die Astrologie, welche den Gang der großen Weltkörper auf das armselige Ich bezieht, wie auch die Kometen am Himmel in Verbindung bringt mit den irdischen Händeln und Lumpereien.

Arthur Schopenhauer

Looking up at the stars, I know quite well

That, for all they care, I can go to hell

W. H. Auden

And of the threads that connect the stars,

and of wombs and of the father-stuff

Walt Whitman

Transit

Menschen im Orient.

Sie leben unmittelbar. Auf Umwegen schreiten sie im Leben fort, wobei, scheint’s, das Fortkommen selbst überhaupt nicht so wichtig ist wie gerade die Gangart, das, was man beim Gehen sagt, oder der Name, den man den Landschaften gibt, durch die man kommt.

Ivo Andrić, Zeichen am Wege

1

I

Am sechsten Juni des Jahres 1762 trat gegen Mittag auf dem Markt von Karnobat ein etwas seltsamer Zeitgenosse an Daniel Danon heran.

Es war nicht so, dass es nicht auch sonst alle möglichen Leute auf dem berühmten Markt von Karnobat gegeben hätte; es war nicht so, dass Daniel, dem Stambuler Spiegelhändler, nicht schon alle möglichen Wunder vor Augen gekommen wären; und es war bei Gott auch nicht so, dass er an diesem Tag seit dem Morgengrauen auch nur eine einzige ruhige Minute gehabt hätte.

Dem Fremden indessen war es gelungen, ihn zu überraschen.

Er war, so würde man schätzen, um die fünfzig.

Sein Haar war dicht, schwarz, strähnig; die Augen tief liegend; die Nase hakenförmig, groß; die Lippen gepresst und ziemlich dunkel, als würden sie eine verhaltene Sinnlichkeit verbergen; der Blick klug und prüfend.

Und hoch gewachsen war der Fremde, selbstbewusst, fast ein wenig überheblich.

Er musterte Daniels Spiegel, prüfte sie, wanderte herum.

Ihn störte der Marktlärm anscheinend nicht; er machte ihm nichts aus.

Dann hob der Fremde den Blick.

Er sah Daniel ins Gesicht und richtete das Wort an ihn.

Um die Mundwinkel des Kaufmanns begann es kaum merklich zu zucken.

Er hatte ihn verstanden.

Jetzt redete auch Daniel.

Er hatte den Balkan von Belgrad bis Izmir, von Travnik bis Saloniki durchwandert und slawische Wörter zur Genüge gehört und selber gesprochen.

Zwar klang die Sprache dieses Fremden irgendwie altertümlich, aber sie war verständlich.

Er fragte ihn, wo er seine Spiegel einkaufe, er erwähnte die Namen von Meistern und Städten, sprach von Quecksilber und Blei.

Daniel antwortete kurz, vorsichtig, mehr mit Gesten als mit Worten.

Und was hätte er auch sagen sollen, wenn der Fremde, das war klar, von Spiegeln mehr verstand als er.

So einer stellt sich keinen Spiegel an die Wand, dachte Daniel, der braucht ihn für andere Dinge.

Bald indessen hörte der Fremde auf, über die Spiegel zu sprechen, und begann, Daniel über die Stadt Karnobat auszufragen.

Ein richtiger Teufel war dieser Fremde, so als wüsste er, dass Daniels Mutter aus Karnobat stammte und dass er tatsächlich etwas über das Städtchen wusste.

Wie viele türkische und wie viele christliche Häuser es gebe, fragte er ihn, wie viele Juden es gebe, und wann sie sich hier niedergelassen hätten, wer ihr Rabbiner und ob er gelehrt sei.

Daniel antwortete kurz, ein wenig unsicher, und der Fremde nickte mit dem Kopf.

Dann befragte er ihn über den Markt, über die Schafe, er fragte, wie weit es bis zur Festung Markela sei.

Danke, sagte der Fremde zum Schluss, wandte sich um und ging langsam davon.

Daniel begleitete ihn mit dem Blick.

Der Fremde entfernte sich mit sicherem Schritt.

Nirgends blieb er mehr stehen: weder beim Seifen- und Kerzenhändler noch beim Fleischer, trotz des verführerischen Duftes der scharf gewürzten Lukanka, noch an den Ständen mit Wolle und Kleidung.

Es war heiß.

Daniel wischte sich den Schweiß von der Stirn und dachte, dass dem Fremden offenbar nicht einmal die Hitze etwas ausmache.

Er verfolgte ihn mit dem Blick, bis am Horizont auch die letzte Spur seines Umhangs verschwunden war.

Was für ein seltsamer Pope, murmelte Daniel leise.

Der Fremde war in Wirklichkeit ein Jesuit.

Sein Name war Ruđer Bošković.

Durch Karnobat führte ihn der Weg auf seiner Reise von Stambul nach Petersburg.

Und er reiste in einer noch merkwürdigeren Gesellschaft, als er es selber war.

Seinetwegen hatten sie gerade in diesem Karnobat einen kurzen Halt eingelegt.

Ihn interessierte das Städtchen, ihn interessierte der Markt, ihn interessierte – einfach alles.

Und während er langsam zurückging zu seinen Reisegefährten, bemühte er sich, alles Wichtige, was er gehört und gesehen hatte, im Gedächtnis zu behalten.

Im Gedächtnis, bis er es zu Papier bringen würde.

Sie waren erst vierzehn Tage unterwegs, aber Bošković hatte in seinem Tagebuch bereits Eintragungen zu Kanara (christliches Dorf, an die fünfzig Häuser), Fakija (christliches Dorf, achtundachtzig Häuser), Karabunar (Stadt mit sechshundert Häusern, türkischen wie christlichen) und Harmanli (Tatarendorf) gemacht.

Hier in Karnobat gab es also auch Juden.

Je mehr sich seine Eindrücke ordneten, desto stärker schritt er aus.

Hier habe ich gesehen, was zu sehen wert war, dachte Bošković, jetzt können wir weiterreisen.

Das Marktgewühl blieb hinter ihm.

Er näherte sich dem Rastplatz, auf dem ihn Botschafter Porter und seine Begleitung erwarteten.

James Porter war mehr als fünfzehn Jahren englischer Botschafter in Istanbul gewesen.

»Für mich ist Konstantinopel schöner als London«, sagte er oft zu seinen Freunden.

Und doch, nach fünfzehn Jahren hatte er beschlossen, in die Heimat zurückzukehren.

»In der Bibel meines königlichen Namensvetters«, hatte er einmal zu Bošković gesagt, »steht, dass uns der liebe Gott siebzig Jahre zu leben geschenkt hat, beziehungsweise wie es dort genau steht, sechzig Jahre, und wenn es hoch kommt, noch einmal zehn.

In den ersten zehn Jahren sind wir uns nicht einmal bewusst, dass wir leben, und ich habe ein Viertel der von Gott geschenkten sechzig bereits unter den Türken aufgebraucht.

Es ist Zeit für mich zurückzukehren«, hatte Porter gesagt.

Bošković hatte aufmerksam zugehört, obwohl er wusste, dass Porters Entschluss weder mit der Bibel noch mit Nostalgie, noch mit Metaphysik zu tun hatte.

Porter wollte nach England zurück, weil seine Frau es so wollte.

Porter würde es nicht monatelang in der Heimat halten, davon war Bošković überzeugt, und Frau Porter würde schon Mittel und Wege finden, ihrer eigenen Heimat nahe zu sein.

Die Liebe zu ihrem Holland versuchte Beatrice Porter nicht einmal versuchsweise zu verbergen.

Bošković hatte nichts gegen Patriotismus, obwohl es für ihn viel eher vorstellbar war, dass jemand seine Stadt oder sein Dorf liebte, als gleich ein ganzes Land, aber auch Patriotismus musste seine Grenzen haben.

Auch Patriotismus durfte nicht die Lüge rechtfertigen.

Mein Dubrovnik ist mir teuer, teurer aber ist mir die Wahrheit, hätte Bošković sagen können.

Für Beatrice Porter hingegen waren bei der Demonst­ration ihres Patriotismus auch Lügen erlaubt.

Vielleicht sind es gar keine Lügen, sondern reines Nichtwissen, aber Bošković konnte es nicht mit Schweigen übergehen.

Er war Botschafter Porter dankbar gewesen für die Einladung, gemeinsam zu reisen.

Doch Dankbarkeit war für Bošković nicht gleichbedeutend mit schweigender Unterwerfung.

Beatrice und er standen auf Streitfuß miteinander.

Obwohl das Missverständnis rasch ausgeräumt war, war sich Bošković dessen bewusst, dass er der Frau des Botschafters nicht übermäßig sympathisch war.

Die Sache hatte ganz harmlos angefangen:

Man schrieb den 31. Mai.

Sie waren eine Woche gemeinsam gereist, und um die ungewöhnliche Karawane hatte sich allmählich eine Atmosphäre der Harmonie und gegenseitigen Wertschätzung herausgebildet.

Am frühen Nachmittag machten sie an einer kleineren Lichtung Halt, um zu rasten.

Beatrice war mit den Kindern beschäftigt, und Bošković und Porter sprachen über London.

Nach etwa zehn Minuten indessen fielen sie in Schweigen.

Sie standen sich nicht nahe genug, um dieses Schweigen als unangenehm zu empfinden.

Bošković ließ seinen Blick über die Lichtung wandern und schien erst jetzt die überwältigende Menge schöner bunter Tulpen zu bemerken.

»Nirgends gibt es schönere Tulipane als in der Türkei«, sagte er, um die Stille zu unterbrechen.

In diesem Moment blieb Beatrice unmittelbar neben ihnen stehen.

»Am schönsten sind die Tulpen in meinem Land«, sagte sie.

Bošković zuckte mit den Achseln.

Jedem sind die Blumen seiner Heimat schön, dachte er.

»Die Tulpe ist eine holländische Blume«, sagte sie und wollte zurückgehen zu den Kindern.

»Nein, gnädige Frau«, erhob jetzt der Jesuit die Stimme, »die Tulpe ist eine orientalische Blume.«

Beatrice blieb stehen und sah Bošković an.

»Das Wort Tulipan ist persisch und kommt von dem Worte Turban. Bevor die Tulpe erblüht, das wissen Sie selbst, gleicht sie einem Turban.

Bei den Türken heißt sie Lala, und so nennt man sie auch in meiner Heimat«.

»Die Türken geben viel auf Tulpen«, mischte sich der Botschafter vorsichtig ein, »die Epoche zu Beginn dieses Jahrhunderts bezeichnen sie sogar als ›Tulpen­epoche‹, ganz Konstantinopel war damals verrückt nach den Tulpen, man wog die Zwiebeln mit lauterem Gold auf.«

Die Frau streifte ihn mit einem Blick: »Das war in Holland.«

»Genau, das hat es auch in Holland gegeben«, ergriff wieder Bošković das Wort, »aber hundert Jahre zuvor.

Es heißt, dass in Ihrer Heimat, gnädige Frau, damals für eine Zwiebel bis zu tausend Florin gezahlt wurden.

Das hat allerdings mit der Herkunft der Blume nichts zu tun.

Der liebe Gott hat es so eingerichtet, dass die Tulpe seit jeher im Orient blüht, nach Europa – und damit auch in Ihre Heimat – aber erst im sechzehnten Jahrhundert gekommen ist.

Die größten Verdienste darum hat sich ein interessanter Mann erworben – Augerius Gislenius Busbequius, der außereheliche Sohn eines französischen Adeligen.

Zwei Jahrhunderte vor Ihrem verehrten Gatten war Busbequius Botschafter in Istanbul, im Dienste Ferdinands des Ersten.

Er war es, der die ersten Tulpenzwiebeln in Ihre Heimat sandte, aber das ist eine andere Geschichte.«

»Für uns wird es Zeit aufzubrechen«, warf Botschafter Porter, bereits ungeduldig geworden, ein, »und wir haben keine Zeit für lange Geschichten.

Es ist mir immer ein Vergnügen, Ihnen zuzuhören«, sagte er noch zu Bošković.

»Sicher ist es das«, setzte Beatrice hinzu, »schön ist es, etwas zu hören, was an die Heimat erinnert.«

Porter liebte auf Reisen keine langen Pausen.

Er hatte es eilig.

»Diese Reise ist ohnehin schon lang und schwer genug«, waren seine Worte, »ich werde sie nicht noch durch unnötige Ruhepausen verlängern.«

»Geruht wird nachts«, waren seine Worte.

Um die Wahrheit zu sagen, Porter hatte sich den Weg selber am schwersten gemacht.

Der Botschafter vertrug nämlich das Reisen zur See nicht.

Er litt an chronischer Seekrankheit, mit ausnehmend beschwerlichen Symptomen.

In der Jugend hatte er das verheimlichen können, er hatte Ausreden und Entschuldigungen erfunden, aber das wollte er jetzt nicht mehr.

Er war in die Jahre gekommen, wo ihm nicht mehr nach Lügen zu Mute war, er konnte sich auch gar nicht mehr vorstellen, den erniedrigenden Schwindel im Kopf, die unerträgliche Übelkeit und die widerlichen Brechanfälle ertragen zu müssen.

Ich nehme den Landweg, komme, was da wolle, hatte er entschieden.

Ein zusätzliches Problem indessen war der Krieg zwischen England und Österreich, dessentwegen Porter nicht auf dem üblichen und kürzeren Weg über Ungarn und Wien reisen konnte.

Er musste folglich die Route über Bulgarien, Moldawien und Polen wählen, und das mit Frau und zwei kleinen Kindern.

Gemeinsam mit ihnen reisten etliche andere Diplomaten sowie die griechische Amme Lili und die Dienerschaft.

Porter wusste, dass Bošković nach Petersburg wollte, und hatte ihn eingeladen, einen Teil der Reise mit ihnen gemeinsam zu machen.

Wir haben zwei große und einen kleinen Reisewagen sowie eine Extrakutsche für das Gepäck, es wird Ihnen nicht zu eng werden, hatte der Botschafter gesagt, und uns wird es ein Vergnügen sein, in Gesellschaft eines so gelehrten Mannes zu reisen.

Bošković hatte natürlich eingewilligt.

Der Jesuit war bereits seit sieben Monaten in Konstantinopel, und die hatten sich, wie er zu sagen pflegte, hingezogen wie sieben Jahre.

Nach Konstantinopel war er gekommen, um den Transit der Venus durch die Sonne zu beobachten, hatte sich auf der Reise aber ungeplant lange in Italien aufgehalten und dann den Durchgang in Venedig zu beobachten versucht.

Dort war es bewölkt gewesen, er hatte nichts gesehen und war darob ziemlich verärgert gewesen.

Der nächste Durchgang der Venus durch die Sonne würde erst in acht Jahren stattfinden, und bis dahin konnte man ebenso gut noch am Leben wie bereits tot sein.

Ironie war es jedenfalls, dass das sowohl für die Sonne als auch für die Venus ein kurzes Intervall war.

Die Pause nach diesem Zeitraum von acht Jahren würde länger sein als ein Jahrhundert.

In Venedig hatte sich Bošković nach Stambul eingeschifft.

Auf dieser Reise hatte er auch die Ruinen des alten Troja zu Gesicht bekommen.

In Istanbul war er erst im späten Herbst eingetroffen.

Kaum waren sie miteinander bekannt geworden, hatte Porter ihm erzählt, er habe den Transit von Istanbul aus beobachtet, und die Sichtverhältnisse seien ausgezeichnet gewesen.

Bošković war in seinem Leben mit vielen Botschaftern zusammengetroffen, aber dieser Porter war liebenswürdig wie selten einer.

Er hätte sich indessen auch bereit gefunden, mit einem weniger liebenswürdigen Botschafter zu reisen.

Konstantinopel langweilte ihn, ihn zog es nach Russland, aber die Landstraßen waren selbst für Muslime unsicher, geschweige denn für katholische Ordensmänner.

Diplomatische Karawanen hatten eine Eskorte, und so war dies eine fast ideale Situation.

Erfreut war er auch über die bequeme Kutsche.

Schon in den ersten Tagen in Istanbul hatte er sich das Bein verstaucht und zwei Monate hindurch nur mit Mühe gehen können.

Das Bein hatte mit der Zeit aufgehört weh zu tun, außer wenn das Wetter umschlug.

Bošković war indessen die Angst überkommen, dass mit dem Bein etwas nicht in Ordnung sein könnte.

Er ging ohne Schwierigkeiten, aber er hatte Angst vor möglichen Schmerzen.

Als er in der Ferne wieder die Kutschen und Pferde sah, verlangsamte der Jesuit den Schritt.

Ich bin nahe, dachte er, jetzt kann ich auch langsam gehen.

Bald erblickte er Porter, der bereits sichtlich nervös war.

Auch Porter hatte ihn bemerkt.

»Beeilen Sie sich!«, rief er ihm zu, »es wird Zeit, wir stehen schon zu lange.«

Unwillig beschleunigte Bošković den Schritt wieder.

»Und? Haben Sie etwas Neues gesehen«, fragte Beatrice spitz, während sie in die Kutsche stieg, »kann ein so gelehrter Mann denn überhaupt noch etwas Neues kennenlernen?«

»Der Mensch lernt, solange er lebt«, entgegnete Bošković kurz.

Der Kutscher trieb die Pferde an, und der Wagen setzte sich unter dem Quietschen der Räder langsam in Bewegung.

Der Weg war eben, die Landschaft einförmig, und so wurde Bošković schläfrig.

In den letzten Jahren schlief er am frühen Nachmittag leichter ein als Nachts.

Er dachte an seine Kindheit in Dubrovnik und an die völlig leeren Straßen der Stadt zur Zeit der größten Mittagshitze, an die Siesta, wenn vermutlich nur die Kinder wach waren.

Für seine Mutter Pavica war der süßeste Schlummer der nach dem Essen, gleich nach Mittag.

Selten schlief sie länger als eine Stunde, aber immer sagte sie, diese eine Stunde nach dem Mittag sei ihr lieber als fünf Stunden Schlaf nach Mitternacht.

Mutter schläft jetzt wohl auch, dachte Bošković.

Er rückte unruhig hin und her.

Er spürte ein Pulsieren im Oberschenkel.

Er wusste nicht, ob das einsetzende Schmerzen waren oder nur die Angst vor Schmerzen.

Er wusste, woher die Angst rührte.

An seinen Vater erinnerte er sich nur als an einen Unbeweglichen, aber an seine gelähmten Beine erinnerte er sich genau.

Ihm hatten die Beine nicht mehr weh getan, es war, als hätte er nie welche gehabt.

Selbst Schmerzen sind besser als Nichtexistenz, dachte Bošković.

Schmerz ist besser als Nichtexistenz, das klang bekannt, das hatte er irgendwo gelesen, er konnte sich nur nicht erinnern, wo.

Seine Augen waren bereits geschlossen.

Gedanken und Erinnerungen vermischten sich langsam und fast unmerklich mit dem Gewebe jener seichten Träume, die gar keine richtigen Träume sind, bei denen einem aber die ganze Zeit über bewusst ist, dass man sie nur träumt.

Da wechselten einander Bilder ab von vor einer halben Stunde mit solchen von vor dreißig Jahren, die Stimmen von Toten mit den Stimmen der Reisegefährten, die Gerüche des Adriatischen Meeres mit dem Geruch des Londoner Nebels.

Immer weniger Wirklichkeit war in Boškovićs Kopf, immer weniger Bewusstsein.

Die Struktur löste sich auf, die Logik des Traums trat ihre Herrschaft an.

Zeit und Ort verschwanden, und die Stimmen wurden immer dünner.

Er hörte nur noch Porters Flüstern, nur noch wenige Worte, nur: »Leise, Pater Bošković schläft«, bevor er tatsächlich eingeschlafen war.