Kleine Zeiten

Kleine Zeiten

Die Geschichte meiner Großmutter

Fritz Dittlbacher

Seifert Verlag

Meiner Großmutter, meiner Mutter und meinen Kindern gewidmet. Und meiner Frau, für ihre Unterstützung und Geduld.

Inhalt

Prolog

1. Die Verwundung

2. Zwei Leben

3. Beim Vater

4. Bei der Mutter

5. In die Welt hinein

6. Die Große Zeit

7. Hubert

8. Draußen

9. Trennungen

10. Am Abgrund

11. Walter

12. Es geht aufwärts

13. Im Sekretariat

14. Die guten Jahre

15. Zeiten des Abschieds

Prolog

Die Neue Heimat

Kirchdorf, April 2011

Es ist ein Gefühl zwischen bitter und süß, zwischen vertraut und verdrängt: Wieder einmal hier zu sein, wo ich vor vielen Jahren daheim war.

Wie lange bin ich schon nimmer da gewesen? Mehr als ein Jahr sicher.

Oder doch anderthalb? Bei jedem Anruf habe ich es versprochen, ja Omi, nächsten Monat werde ich schauen, ob ich kommen kann. Ging halt nie – sie hat Verständnis dafür.

Jetzt stehe ich vor dem Haus – und ich weiß, in der Wohnung meiner Großmutter ist niemand mehr. In dieser Straße bin ich aufgewachsen, in diesen Bäumen bin ich geklettert. Es sieht so aus wie damals, es ist Heimat – aber heute ist es ein letztes Mal. Wir sind hier, um alles aufzulösen, wir sind hier wegen der Verlassenschaft.

Meine Großmutter liegt seit drei Wochen in einem Zimmer im Pflegeheim oben beim Stadtpark, es könnten ihre letzten Tage sein, sagt der Arzt. Wenn ich komme, nimmt sie noch alle Kraft zusammen, dann sitzt sie aufrecht im Bett und nimmt meine Hand und spricht, mit großer Mühe. Das Reden ist ihr zur Arbeit geworden, nur mit großer Konzentration bewältigbar. Ihre Leber hat die Funktion aufgegeben und vergiftet sie von innen her, langsam und unaufhaltsam. Macht sie so müde. Eine Viertelstunde, dann geht es nicht mehr, dann muss sie schlafen.

Meine Mutter holt jetzt die Wohnungsschlüssel aus ihrer Tasche, wir gehen hinein.

In der Wohnung hat sich auch nichts geändert, oder besser: Fast nichts. Einige Familienfotos, die wir mit der Post geschickt haben, stehen jetzt auf neuen Ehrenplätzen.

Ich muss tief durchatmen, schlucken, ich gehe zum Fenster: Vielleicht wird es leichter, wenn ich hinaussehe, mir noch Zeit lasse mit den Dingen hier drinnen, die mir vom Leben meiner Großmutter und von meiner Kindheit erzählen.

Dieser so vertraute Blick talauswärts: Vor dem Haus der Wäsche-platz mit den Klopfstangen, dahinter die Gärten, jeder Hauspartei ihre Parzelle – und was hatte man darum gestritten, vor zwanzig, dreißig, vierzig Jahren. Wer bekam die größeren Beete, den besseren Standort, die meiste Sonne, für die Gurken, die Tomaten, die Erdbeeren … heute wächst fast überall nur mehr Rasen, ein paar anspruchslose Blumen gibt es noch, Pfingstrosen. Und Brombeerstauden – weil das Ausreißen mehr Mühe macht als das Düngen und Ernten.

Dahinter Maschendraht, dann das Ganze noch einmal, weil damals, als die Häuser hier gebaut wurden, unterm Hitler, war Wert auf Reih und Glied und Regelmäßigkeit gelegt worden. Also wieder Gärten. Klopfstangen. Und dann neuerlich die gleichen zweistöckigen Siedlungsbauten, jedes Haus zwei Stiegen, zehn Wohnungen. Am Horizont die Zementfabrik.

Das ist die »Neue Heimat« von Kirchdorf an der Krems.

Was für ein großer Tag war es, als meine Großeltern hier einziehen konnten. Eine Wohnung mit Bad und Klo und Vorzimmer und Schlafzimmer – und noch einem Kabinett. Und mit dieser wunderbaren Erfindung namens Wohnküche. Dort, auf der Ausziehcouch, schlief meine Mutter, wenn sie am Wochenende aus der Stadt, in der sie arbeitete, zu uns kam. Mein Bett war die ganze Kindergarten- und Volksschulzeit über im Kabinett, das ein wenig verstiegen »Wohnzimmer« genannt wurde. Ein schmaler Raum mit einem massiven Wandverbau vom Möbelhaus Almhofer, Tischlerqualität.

Und darunter die grasgrüne Polstergarnitur, die jeden Abend zu meinem Ausziehbett wurde. Denn gewohnt wurde in diesem Zimmer ohnehin nicht, Polstergarnitur und Wandverbau wurden die letzten vierzig Jahre kaum benutzt und haben sie daher unbeschadet überstanden. Wenn Besuch kam, dann in die Küche. Wir waren eben keine gutbürgerliche Wohnzimmerfamilie. Wir waren eine Küchenfamilie.

Auch dort, in der Küche, natürlich ein Wandverbau, auf 50 Quadratmetern hat man keinen Platz zu verschenken. Nicht im dunklen Sechziger-Jahre-Mahagoni des Wohnzimmers, sondern in der helleren »Eiche natur« der achtziger Jahre, als endlich die Fernwärme eingeleitet und der alte Ölofen ausrangiert wurde. Dort, wo er früher gestanden und im Winter für diesen ganz eigenen Geruch von Tankstelle gesorgt hatte, in diesem Eck hängt jetzt das Prunkstück der Wohnung meiner Großmutter: die alte Uhr, die Pendeluhr vom Wernitznigg-Opa. Zwei-, dreihundert Jahre wird sie wohl alt sein, ein Landsknecht ist aufs Ziffernblatt gemalt. Und im Takt des Pendels gehen die Augen des Mannes hin und her, hin und her. Als Kind hat mich diese Uhr fasziniert und verängstigt zu gleichen Teilen, denn ein Geheimnis war an ihr, aus einem Schloss sollte sie stammen und unendlich wertvoll sein. An ihren Messing-Gewichten durfte ich ja nicht ankommen, weil, wer weiß, was da nicht alles kaputt gehen hätte können. Und vom Vater meiner Großmutter, dem Wernitznigg-Opa, war die Uhr eben hergekommen.

Das einzige Erbstück, das sie von ihm erhalten hatte.

Ich gehe jetzt vom Fenster zur Uhr, stoße das Pendel an: Hin und her, hin und her gehen die Augen: »Die Uhr vom Opa Wernitznigg kriegst du, Fritzerl, wenn ich dann nimmer bin«, hat sie gerade eben noch im Pflegeheim zu mir gesagt.

»Aber geh, Omi. Red doch nicht so einen Blödsinn! Das wird schon wieder.« Ich habe bei diesem Satz zu Boden gesehen und gewusst, dass es eine Lüge gewesen ist. Sie auch.

1

Die Verwundung

Am Isonzo, Oktober 1917

Otto Wernitznigg (links) während seiner Offiziers- ausbildung als »Einjährig-Freiwilliger«, kurz vor dem Ersten Weltkrieg

Otto Wernitznigg (links) während seiner Offiziers- ausbildung als »Einjährig-Freiwilliger«, kurz vor dem Ersten Weltkrieg


Der Regen geht mittlerweile bis an die Haut, die Unterwäsche ist schon feucht wie ein Putzlappen, selbst in den Stiefeln spürt man das leise Quatschen und Schmatzen, wenn man die Zehen in den Socken hin und her bewegt. Man könnte es hören, wenn man bloß irgendetwas hören würde, in diesem Weltuntergangslärm.

Seit gestern Abend um zehn haben die deutsche und die österreichische Artillerie den Talboden unter Dauer-Beschuss genommen. Und auch wenn sie jetzt das Feuer Schritt für Schritt vorverlegen, orgelt es über einem und donnert es vor einem, dass man glaubt, das Weltenende steht bevor, denkt sich der Oberleutnant Wernitznigg, während er – ohne Schritt, Marsch – dem Grollen hinterherstapft.

Gott sei Dank regnet es. Gott sei Dank. Es ist jetzt sieben Uhr früh, eigentlich dämmert es schon, aber bei diesem Wetter bleibt es immer noch duster. Und vor allem: Die Wolken hängen so tief herein, dass die Talhänge ringsum nicht zu sehen sind. Und wenn man nicht raufschauen kann, dann kann man auch nicht runterschauen, Gott sei Dank. Denn oben in den Wänden, da sind die Italiener.

Gestern war er sich noch sicher gewesen: Heute geht’s in den Tod. Als ihnen der Bataillonskommandant den Plan mitgeteilt hatte, dachte er sich: Das war’s. Morgen geht’s ans Sterben, an das der Kameraden, vielleicht ans eigene. In der Nacht ist er aber ruhig geworden, und heut früh ist er zwar angespannt wie ein Bogen vor dem Schuss, aber die Todesangst ist weg. Auch Gott sei Dank.

Keine Angst haben ist wichtig, vor allem: keine Angst zeigen. Er ist Offizier und damit Vorbild. Autorität. Respektsperson. Und das ist schon so schwer genug, mit Mannschaften, die seit drei Jahren im Feld stehen. Vor allem mit den lang gedienten Unteroffizieren, die allesamt seine Väter sein könnten – und das auch immer wieder gern merken lassen, was sie von den jungen Leutnants halten. Da geht Angst-Haben gar nicht. Schneidig muss man sein. Oder wenigstens so tun.

»Gut, dass es so regnet«, sagt er jetzt laut zum Fähnrich Mallnitzer, der seit zwei Stunden neben ihm trottet, er sagt es eigentlich nicht, er schreit es in diesem Inferno, in diesem Armageddon, das sich nur dadurch von der biblischen Endschlacht unterscheidet, dass die feindlichen Heerscharen bisher ausgelassen haben. Der Mallnitzer schaut ihn an und nickt nur. Käsweiß ist er, der Bursch, aber er hält sich tapfer. Das ist jetzt sein dritter Monat bei uns, und es ist schon sein dritter Kampfeinsatz, denkt sich der Oberleutnant Wernitznigg, in diesen Zeiten wird man schnell zum Veteranen.

»Fähnrich, holst mir den Slezak?«

Der Leutnant Slezak führt den dritten Zug, seit der Oberleutnant Weyermeyr gefallen ist. Der Mallnitzer nickt wieder nur und verschwindet. Manche fangen an zu reden, wenn sie Angst haben, manchen verschlägt es die Sprache. Er selbst ist ein Redner, eh klar, er ist ja auch Lehrer. Oder besser gesagt: Er könnte Lehrer sein, wenn er nicht schon seit vier Jahren Soldat wäre.

Gleich nach der Lehrerbildungsanstalt war es zum Militär gegangen, als »Einjährig Freiwilliger«, das war beim Vater auch schon so gewesen. Nur dass der halt alle paar Jahre zu Übungen eingerückt war, und dann, als er im deutschen Schulverein immer aktiver und mit den richtigen Leuten bekannt geworden war, geschah auch das nicht mehr. Bei ihm selbst war sozusagen zum Pech auch noch das Unglück gekommen: Als er vom EF-Kurs in Graz als frisch ausgemusterter Fähnrich nach Kärnten zurückkam, war es Mai 1914.

Anfang September hätte er in Hermagor den Dienst antreten sollen, im August war er einberufen worden. Erst nach Serbien, dort zunächst in der Etappe, und seit die Italiener zu den Feinden übergelaufen waren, ist es gegen die gegangen. Oder besser gesagt: Nichts ist gegangen, alles gestanden. Stellungskrieg.

Vierundzwanzig ist er jetzt, in ein paar Wochen wird er 25 sein. Eigentlich ein junger Mann, aber die Jahre im Krieg treiben einem das Jungsein aus. Immerhin: Er lebt noch. Von den mehr als hundert Kameraden seiner Ausbildungskompanie im Einjährig-Freiwilligen-Jahr waren schon fast die Hälfte gefallen, erzählte ihm ein Jahrgangskamerad, der ihren alten Spieß getroffen hatte. Und der hatte Listen geführt, über die Burschen seiner Kompanie, die lebenden und die toten.

Junge Alte sind sie. Jungfrauen mit blutigen Händen.

»Herr Oberleutnant, du hast mich rufen lassen?« Der Slezak, auch so ein Milchgesicht. Aber ein Braver. »Slezak, du gehst mit deinem Zug jetzt weiter drüben, am linken Ufer. Haltet’s mir die Hänge über der alten Staatsstraße unter Beobachtung. Bisher haben wir Glück gehabt, aber jetzt wird es mit jeder Minute heller. Und wenn da die Ersten in ihren MG-Nestern munter werden und merken, was hier unten gespielt wird, dann haben wir einen festen Pallawatsch, das sag ich dir.« »Machma.« Noch so einer, dem die Furcht das Maul verschließt.

»Herr Oberleutnant, eins sag ich dir –« Na also, geht ja doch, das Reden.

»Ja, Slezak?«

»Wir sind Gebirgsjäger. Wir gehören rauf auf die Berg. Net in so a verdammtes Tal, wie aufgestellt, wie die Hirschen bei der Gatterjagd!«

Da hat er recht, der Slezak. Sie rennen seit fast zwei Stunden die Schotterbänke des Isonzo entlang, vom Bereitstellungsraum gleich bei Tollmein bis hierher, wo schon die ersten italienischen Befestigungen hinter ihnen liegen, niederkartätscht und -granatet von der wundersamen vereinigten Feuerkraft der deutschen und österreichischen Bundesbrüder. Da haben sie sich im Armeekommando was Neues einfallen lassen, nachdem die letzten elf Isonzoschlachten nichts weitergebracht haben. Nichts, außer hunderttausende Mann Verluste natürlich.

Diesmal, so haben sie gesagt, diesmal machen wir es anders: Die Artillerie macht ein großes Feuerwerk, und die Infanterie rennt in der Mitte durch, das Tal entlang, am Präsentierteller für die italienischen Stellungen in den Bergen. Und bis die draufkommen, was wir da tun, sind wir in ihrem Rücken und schneiden sie ab. Und dann: Eviva Germania.

Und wenn es schief geht: Generalstäbler kommen bei sowas kaum zu Schaden.

Aber seltsamerweise scheint es zu funktionieren. Der Oberleutnant Wernitznigg und seine Gebirgsjägerkompanie sind zwar nicht bei der ganz ersten Welle dabei, aber doch so weit vorne, dass man heiße Ohren kriegt, wenn es losgeht. Und das tut es bisher nicht, kein Mensch weiß warum, wegen des Regens wahrscheinlich, wegen der Wolken, die so tief hängen, dass man sie fast greifen kann. Und die den Italienern in ihrer Deckung da oben die ganze Sicht nehmen. Gott sei Dank für den Regen.

Tak. Taktaktaktak. Taktak. Jetzt hört er auch Gewehrfeuer von vorne. Das klatschende, flache Knallen der österreichischen Sturmgewehre, das rasche, heisere Bellen eines italienischen Maschinengewehrs, mit diesem hohen Sirren im Klang – nach drei Jahren Kampfeinsatz hier kennt er die Unterschiede im Schlaf. Besonders im Schlaf, muss er sagen, so oft, wie er davon träumt. Der Kopf sinkt jetzt noch ein wenig tiefer zwischen die Schultern. »Jetzt geht’s los, Slezak«, ruft er, aber der ist schon wieder weg, bei seinen Männern. Und da scheint das Gefecht auch schon beendet, geht zumindest unter im Artillerielärm. Weiter, weiter.

Eine halbe Stunde später, beim Sammelpunkt ist es schon taghell. Sie sind jetzt einige Kilometer tief im Feindesland, und immer noch kaum Feindberührung. Was ist da heut bloß los? Haben sie heute alles an Glück, was ihnen in den letzten Jahren gefehlt hat?

Beim Batailloner sind schon die Kommandanten der dritten und der vierten Kompanie, der Hauptmann Nicolini und der Mayerhofer. »Servus, Wernitznigg!«

»Grüß euch! Ich will’s ja net verschreien, aber heut schaut’s bisher gut aus.«

»Die verschlafen’s noch, die Katzelmacher!« Der Nicolini, der aus dem Kanaltal kommt, muss immer besonders scharf tun, kein Wunder, bei dem Nachnamen.

»Wir waren net laut genug.« Lachen, dann tritt der Bataillonskommandant dazu, der selten mitlacht, der sogar aufs Offiziers-Du vergisst, weil ein Unterschied muss ja sein zwischen ihm als Berufssoldaten mit zwanzig Jahren Erfahrung an der Front und in der Linie und diesen Reserve-Offizieren, diesen Advokaten und Schulmeistern in Uniform.

»Meine Herren« – das klingt bei ihm immer wie ein Wort und dauert keine halbe Sekunde, eher so wie »Mei-hean«, aber schon schneidig, das muss man ihm lassen. »Meine Herren, jetzt ist Schluss mit Spazierengehn, jetzt pack ma’s an, meine Herren!«

Der Oberst breitet eine Karte auf einem der Betontrümmer auf, das in Friedenszeiten wohl das Stück einer Brücke gewesen war. »Wir sind jetzt da.« Er zeigt auf einen Punkt, an dem die Staatsstraße den Isonzo quert: »Direkt unterhalb von Sella, also schon weit hinter dem letzten Frontverlauf. Da und da und da sind italienische Befestigungen, soweit wir wissen. Maschinengewehre, Maschinenkanonen, in unserem Abschnitt liegt ein Sperrbataillon der Alpini, allerdings seit dem letzten Angriff im September schwer dezimiert. Und: Sie schaun in die falsche Richtung, net vergessen! Sie nehmen jetzt ihre Jager und sorgen dafür, dass sie sich umdrahn, aber net zu schnell und mit die Händ oben. Hamma uns verstanden?« Alle nicken, und der Oberst beugt sich wieder über die Karte. »Und Folgendes will ich von Ihnen.« Der Oberleutnant Wernitznigg mit seiner Kompanie soll den Abschnitt oberhalb von Sella nach Norden klären. Ein Dorf mit einer Handvoll Gehöfte gibt es da, rasch befestigt von den Italienern nach ihrem letzten Vorstoß vor sechs Wochen, aber nichts Großes hoffentlich, auch keine schweren Waffen, wenn man der eigenen Aufklärung trauen kann. Er ruft seine Zugskommandanten zu sich und teilt sie ein. »Ich brauch euch net viel sagen, ihr wisst selber, wie gefährlich die Lage ist. Irgendetwas stimmt da nicht, sonst wären wir net so schnell so weit gekommen. Das kann der Zusammenbruch sein, das kann eine Falle sein. Alle Mann die Gasmasken kontrollieren und griffbereit, Meldung von Feindberührung umgehend an mich! Sammeln, wenn nicht anders befohlen, zu Mittag bei der Cote 50, das ist bei der Kapelle, oder was noch davon steht.

Gleich zu Beginn des Trommelfeuers hat die Artillerie Phosgengranaten verschossen, und er bildet sich ein, dass er immer noch den süßlichen Geruch des Giftgases in der Nase hat. Er macht eine kurze Pause, des Effekts willen: »Heute könnt’s Helden werden!«

Naja, das Kampfesfeuer hat er in ihnen nicht entzündet, das sieht er schon. Der Wachtmeister Böhm verzieht sogar das Gesicht, auch das hat er gemerkt. Und das wird er sich auch merken.

Der Aufstieg aus dem Tal kommt rasch voran. Die ersten italienischen Stellungen, Gräben und Erdwälle neben der steil ansteigenden Straße sind verlassen. Sind die wirklich weg? Und wohin? Wernitznigg ist an der Spitze des ersten Zugs. »Von vorne führen«, wie sie an der Offiziersschule gesagt haben. Darum sind auch so viele Leutnants gefallen. Generalstäbler müsst man halt sein. Oder bei der Artillerie …

»Herr Oberleutnant, da vorn!« Da vorn ist ein halb verfallener Stadel, hier fängt offenbar Sella an. Geschwind sein? Oder vorsichtig? Der Oberleutnant deutet seinen Männern: Weg von der Straße, wir gehen durch den Wald. Die zwei mit dem Maschinengewehr bleiben hinten, die anderen steigen in den Hang hinein, von einem Baum zum andern. Als Buben haben sie das beim »Räuber und Gendarm«-Spiel gemacht, jetzt geht es ums Leben.

Beim Stadel ist niemand. Nachkommen!, deutet er und läuft schon weiter. Geduckt geht es einen Weidezaun aus Holzplanken entlang, da vorn ist schon das Dorf. Wiesen jetzt, kein Wald mehr, ein paar Zwetschkenbäume müssen als Deckung dienen, ein Holzstoß, Wernitznigg schlägt Haken wie ein Hase, seine Leute hinter ihm auch, dreißig Mann beim Hupfen mit vollen Hosen, denkt er, als er sich umschaut, wenn’s nicht so todernst wär, wär’s fast lustig.

Nichts, keine Bewegung, kein Feind, kein Schuss. Was ist da los? Man könnte glauben, es wäre Frieden, wenn nicht immer noch das Artilleriefeuer von der Front dröhnen würde, und wenn das Dorf nicht zerschossen und zerteppert wäre, kein Dach intakt, die Fenster hin. Er stoppt seinen Zug hinter der letzten Böschung vor dem Ortsanfang. Die Hollerstauden hier sind in den letzten drei Jahren Krieg zu einem halben Urwald geworden.

»Mallnitzer!«, der Fähnrich ist wieder bei ihm: »Böhm, Grabher, kommt’s her!« Die beiden Unteroffiziere kommen ebenfalls gebückt gelaufen und kauern sich neben ihn. »Wir marschieren da jetzt nicht wie die Pfingstprozession rein, sondern fünf Mann kommen mit mir, und der Rest verteilt sich und gibt Feuerschutz.« Wären doch bloß die zwei mit dem Maschinengewehr schon da. »Böhm, Sie suchen sich vier aus und gehen mit mir. Mallnitzer, du bleibst beim Grabher! Auf mein Kommando geht’s los.« Der Böhm verzieht schon wieder das Gesicht, also bitte. Er versteht’s. Aber er kann es nicht tolerieren. Den wird er sich holen, am Abend beim Appell. Wenn sie dann noch leben.

Er schaut über die letzten dreißig, vierzig Meter bis zu den Häusern: Bewegt sich was in den Fenstern? Er fühlt sich so angespannt wie eine Uhrwerksfeder, wie wenn er aus Eisen wär. Als ob Kugeln an ihm abprallen könnten. Ist halt leider nicht so. »Los!«

So geduckt wie es nur geht, die Waffe in der Hand, die Füße trommeln in den Boden, die Augen drückt’s fast aus dem Kopf, und dennoch sieht er wie durch einen Tunnel, nicht links, nicht rechts, nur das Haus vor ihm, die nächste Deckung.

Schneller, schneller, wie weit können vierzig Meter sein? Schießen sie schon? Noch schneller.

Endlich die Mauer. Sie haben nicht geschossen. Aber sie könnten gleich ums Eck sein. Die Hausmauer entlang, ums Eck: Nichts. Niemand.

Er dreht sich zu den fünf, die keuchend, schwitzend, schneeweiß im Gesicht hinter ihm stehen. »Jetzt wird’s leichter, jetzt gibt’s Deckung.« Sie schieben sich zum Hauseingang, die Tür ist aus den Angeln, rein in den Flur, einer nach dem anderen, und jetzt zu den Fenstern zur Straßenseite hin. Der Oberleutnant späht hinaus. Und schreckt sofort zurück: »Da sind’s!« Sein Herz schlägt bis zum Hals. Noch einmal hinschauen, auch wenn er fast starr ist vor Angst. Nein, da sind sie doch nicht, aber da waren sie, vor kurzem noch: Auf der Straße stehen Leiterwägen mit Proviant, Munitionskisten, eine Feldküche. Das gehört den Alpini. Aber sie sind nimmer da.

Eine Minute schaut er hinaus, zwei, dann dreht er sich um: »Böhm, der Rest vom Zug soll aufrücken. Und wir schaun uns das Ganze da einmal an.«

»Mir gefallt das nicht, Herr Oberleutnant. Da gibt’s hundert Verstecke, und wir haben nix.«

»Jetzt rennen S’ schon, Böhm, und holen S’ die anderen!« Obstinat ist der, also wirklich. Auch wenn er recht hat: Einen Panzerwagen, den sollte man jetzt da haben.

Die Italiener müssen gerade erst abgezogen sein, die Feldküche ist noch brennheiß, als die Leute sie inspizieren. Sie finden Decken, Strohsäcke, Uniformteile in den Häusern, keine Waffen. Da hatte es jemand eilig gehabt, aber es war offenbar noch Rückzug, nicht Flucht. Der Oberleutnant läuft von einem Haus zum anderen. Nichts.

Da, plötzlich, doch noch etwas: Hinter dem Keller am anderen Ortsausgang bewegt sich was. Ist da noch wer? Den brauchen wir, damit wir wissen, was passiert ist, wohin die alle verschwunden sind. »Halt, stehen bleiben!«

Der dreht sich her, hat ein Gewehr im Anschlag. Der Oberleutnant sieht es blitzen, hört es krachen, dann spürt er es. Einen Schlag in der Brust, der reißt ihn nach hinten. Er schaut jetzt nimmer nach vorn, sondern in den Himmel. Immer noch die Regenwolken. Das war’s dann wohl. Ist Sterben so banal? War es das? Dann: Nichts mehr.

Die zwölfte Isonzoschlacht, bei der mein Urgroßvater durch einen Lungendurchschuss schwer verwundet wurde, war in der Tat anders als die elf davor: In den vier Tagen vom 23. bis zum 27. Oktober 1917 bricht die italienische Front zusammen, ein mehr als zweijähriger Stellungskrieg endet mit dem fluchtartigen Rückzug der Italiener bis zum Piave, kurz vor Venedig. Relativ gering auch die Opferzahlen dieses Kampfes: Während die elfte Isonzoschlacht noch Verluste von 100.000 Mann auf Seiten der Mittelmächte und von 150.000 Mann auf Seiten Italiens gekostet hatte, verloren bei der letzten und zwölften Isonzoschlacht »nur« elftausend Soldaten das Leben, davon etwa tausend auf Seiten der Österreicher und Deutschen.