Märzsonne

Märzsonne

Johanna Beck

Seifert Verlag

Für Johannes, durch den dieses Buch entstanden ist

Inhalt

1. Damals

2. Allerheiligen

3. Innsbruck

4. Ankunft

5. Alpbach I

6. Aufstieg

7. Friedrichschlag

8. Purgatorium

9. Wien I

10. Con moto

11. Alpbach II

12. Besuch

13. Wien II

1

Damals

Ein Wochenende im März 1989.

Damals wollten die Serpentinen, die sich auf den Berg hinaufschlängelten, kein Ende nehmen. Ich musste schon in Kufstein zu Sophia auf die Rückbank klettern, sie war damals gerade drei geworden. Mit Liedchen und Kinderreimen versuchte ich, unserer Kleinen die letzte der fünf Fahrtstunden zu verkürzen.

Auch Max, der den alten, von seiner Mutter ausgeliehenen Ford steuerte, war am Ende seines Repertoires. Sonst so voller Einfälle, war er heute erschöpft. Wir hatten im Februar an einem Wettbewerb zu einem Schulneubau teilgenommen und Tag und Nacht daran gezeichnet. Zum Glück hatte unsere kleine Sophia zu Jahresbeginn einen Kindergartenplatz bekommen, sodass ich mit Max und Peter arbeiten konnte.

Gestern Abend, 20 Uhr, Pläne vollständig, kopiert, abgegeben, geschafft!

Wie oft habe ich mir diese Bilder in all den vielen Jahren vor Augen gerufen! Max von hinten, schwarzes ­T-Shirt, schwarzer Pullover, sein Nacken, in den sich die ersten Rillen eingruben, hier und da schon etwas Grau im kurzen, braunen Haar.

Max, wie ein Gebäude mit unverrückbaren Mauern, Mauern, an die ich mich lehnte, in denen ich geborgen war, gegen die ich anrannte, weil sie so fest waren, Mauern, die mich einengten. Ein Gebäude mit Räumen, die mit Freude und Farben gefüllt waren, und Räumen, die ganz karg und still waren. Er, der Stille brauchte und suchte, ebenso wie Sinnenfreude und Üppigkeit.

Max, der immer produzierte, hervorbrachte, solide Planungen ebenso wie Ideen, umsetzbare Alternativen ebenso wie visionäre Träume.

Max, der sich quälte, sich verformte, sich durchbeißen musste, zu Ende bringen musste, bis er keine Worte mehr hatte, der so vieles musste, bevor er sich manches erlaubte. Der sich festbiss und nicht mehr aus seinen Gedanken herausfand, sich überforderte, bis er erschöpft war und nicht mehr weiter konnte oder auch ihm ein querschießender Gedanke den Ausgang zeigte.

Max, der sich nicht festlegen ließ, sich nicht verpflichten ließ, der wie ein Wildvogel den freien Flug brauchte.

Max, der seine ganze Welt in seine Stimme legen konnte, knapp und glatt, frohvergnügt und vital oder matt und verdrossen, der mit dem Klang seiner Stimme mehr sagte als mit Worten.

Max, der mich liebte, mich in den Arm nahm und mich glücklich wollte.

Sophia saß neben mir im Kindersitz. Den bunten Strickpulli bananenverschmiert. Wann habe ich damals nur Zeit zum Stricken gefunden!?

Wir waren erschöpft von den letzten Wochen, der vielen Arbeit für den Wettbewerb und jetzt von der Fahrt von Wien nach Tirol, ins Alpbachtal.

An diesen ersten Märztagen hatte die Sonne den Schnee von Dächern und Bäumen geholt. Auf den Südhängen traten schon braune Stellen hervor. Dieser Tage leckten wärmende Strahlen die zusammengeschobenen Schneehaufen an den Straßenrändern nass, ließen sie in sich zusammenfallen, und der Nachtfrost formte ­so lange wieder kantige, trotzige Eisblöcke daraus, bis er aufgeben musste und das Frühjahr begonnen hatte.

Goldenes Abschiedslicht wanderte den Hang hinter dem Dorf hinauf und verschwand, als sie gerade ankamen. Die Luft wechselte langsam ins Tiefblaue, und dunkle Schatten flossen aus dem schwarzen Winterwald. Es wurde augenblicklich kälter. Der Wald stand als dunkle Wand im Hang, einzelne Stämme waren nicht mehr auszumachen. Die Silhouette der Berge nur noch für einige Minuten als heller Saum zu sehen. Endlich, endlich tauchte oberhalb des Dorfes, an einen Hang gelehnt, Peters Berghaus auf!

2

Allerheiligen

Freitagmorgen.

Den Zug um 9:19 hätte Anna eigentlich leicht erreichen müssen, aber, wie schon oft, hatte die Zeit sich gegen sie verschworen. Annas Zeit läuft nicht zuverlässig in gleichbleibend langen, überschau- und einteilbaren Einheiten ab, besonders am Morgen, zwischen dem ersten Blick auf die Zeiger ihres Weckers und dem unbarmherzigen Schrillen, das er einen Moment später von sich gibt, müssen die Zeiger unberechenbare Sprünge nach vorne machen, anders ist die Diskrepanz zwischen ihrer gefühlten Wahrnehmung und den Angaben der Uhr nicht erklärlich.

Heute kommt dazu, dass sie noch Anorak, einen dicken Pullover und Stiefel finden muss. Noch ein Zeitsprung, ein Jahreszeitensprung zwischen diesen wunderschönen, noch so sonnigen Herbsttagen in Florenz und der sicher schon herbstlich rauen Bergluft in Tirol.

»Vielleicht wird es Schnee geben, nimm dir was Warmes mit, und vor allem feste Stiefel«, hatte Peter sie am Telefon gewarnt. Vielleicht ist es aber auch die Angst in ihrer Seele, die Angst vor dem bevorstehenden Wochenende, die sich ihr in den Weg stellt, die Zeit unberechenbar und die Vorbereitungen aufwändig erscheinen lässt.

Kamera und Objektive wenigstens hat sie schon vor ein paar Tagen bereit gelegt, sich Motive und Einstellungen überlegt.

Die Wohnung ist leer, Mutter ist wahrscheinlich einkaufen gegangen. Hoffentlich hat sie nicht vergessen, dass Anna verreist, wird ihr nicht Vorwürfe machen, dass sie nun viel zu viel Gemüse gekauft habe und wer das denn nun essen solle …

Anna schließt die Wohnungstür und läuft mit ihrer Reisetasche das enge Stiegenhaus hinunter.

»Ja, ich verreise … nur für kurz … nach Tirol … bin Sonntag schon wieder zurück … Mamma geht’s gut, ist gesund, aber sieh mal nach ihr, das freut sie …«

Maria, die über ihnen wohnt, steht schnaufend auf der Stiege, hat ihre Plastiktüten, aus denen grüne Stengel und die Krallen eines Hühnchens ragen, auf dem Stiegenabsatz abgestellt. Sie ringt nach Luft, was sie aber nicht hindert, sich über Annas Pläne und das Ergehen der Mutter zu erkundigen und zugleich von den Preisen auf dem Markt und ihrem Speisezettel für das kommende Wochenende zu berichten.

Anna liebt Maria und dieses Stiegenhaus und Florenz. Sie liebt, dass die Menschen gleichzeitig erzählen und fragen und lachen, dass die Sonne gerade jetzt durch das Fenster auf Marias Kopftuch fällt, auf die Hühnerkrallen und auf die abgetretenen Sandsteinstufen, dass das dunkle, stark abblätternde Ocker der Wände in diesem Licht so lebendig wirkt.

Im Hauseingang trifft sie auf ihre Mutter, die einen Plausch mit der Postbotin beendet hat und, während sie mit dem Ellbogen die Post und die Zeitung am Körper anpresst, versucht den Haustorschlüssel ins Loch zu bekommen. Anna zieht die Tür von innen auf:

»Guten Morgen, Mamma, warst du schon einkaufen … bin im Laufen, mein Zug fährt in zwanzig Minuten, das hast du nicht vergessen, nicht wahr? Bin Sonntagmorgen zurück.«

»Na, dann lauf schnell, hab mich gewundert, dass du noch geschlafen hast, als ich losgegangen bin, hast sicher nicht gefrühstückt, aber was soll man sagen …«, lächelnd stellt sie ihren Einkauf ab, streckt sich, soweit ihre Beine in den dunklen Stützstrümpfen und ihre kleine, gebeugte Gestalt das erlauben, nimmt Annas Gesicht in die Hände, in der einen Hand noch die Briefkuverts, die Anna dabei in den Hals pieken. Un baccino, die faltige Haut ist weich, Mutter duftet nach Lavendelwasser. Sie blickt Anna hinterher, wie diese, Giulia in der Bar am Eck zuwinkend, in die nächste Seitenstraße einbiegt.

… Bologna! Il treno sta arrivando a Bologna …

Die Ansage, laut und unsentimental, schreckt Anna aus ihrem Schlummer. Sie öffnet die Augen und sieht jetzt, dass ihr gegenüber ein hübsches Mädchen Anfang zwanzig Platz genommen hat. Gerades, brünettes Haar, kinnlang mit einem Seitenscheitel. Chicer Schnitt, denkt sie anerkennend. Die bläulichen Schatten unter den Augen kennt Anna, ihre Tochter Sophia kommt zu Semesterende ähnlich müde nach Hause. Durchsichtig und überarbeitet von langen Nächten, in denen die Zeichnungen entstehen, die zu Semesterende abgegeben werden, sitzt Sophia dann mit Anna in der kleinen Küche, legt ihre schmalen Finger um die Teetasse und beginnt zu erzählen.

In den beiden ersten Studienjahren habe ich mir oft Sorgen um meine Tochter gemacht. Sie hat sich zu Beginn des Studiums ständig selbst überfordert, ist wie eine Getriebene über die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gegangen, war mager und gehetzt. Ich war lange nicht sicher, ob Architektur wirklich das richtige Studium für sie ist, hab ihr nie dazu geraten, fürchtete, dass sie sich verpflichtet fühlen könnte, Max und mir gegenüber, dass sie meinte, dieses Familienthema fortführen zu müssen, dass sie fertig machen musste, was wir nicht tun konnten.

Sie hat immer schon gezeichnet, ist tagelang bei Nonno im Garten gesessen, hat seine Skulpturen abgezeichnet. Wie sie sich meinem Vater angehängt und seine Nähe gesucht hat! Die beiden hatten eine ganz eigene Art der Kommunikation, ich war fast eifersüchtig, wie gut sie sich verstanden. Wir haben damals, als Sophia klein war, so ausgesetzt, so unbeschützt gelebt, im Garten der Eltern war es gut für uns, dort fühlten wir uns geborgen, haben im Sommer fast ganz dort gelebt.

Bin ruhiger, seit Sophia im Herbst zum letzten Mal von der Uni nach Hause gekommen ist. Neuerdings erzählt sie von Freunden, mit denen sie arbeitet, und von ihren Projekten, nicht immer nur von Prüfungen und Anforderungen. Mir scheint, sie ist auch vorsichtiger geworden in den Aufgaben, die sie sich auflädt, weiß besser, was sie sich zumuten kann. Inhalte kommen jetzt vor, Ideen, wie sie Architektur versteht, was ihr wichtig ist. Sie erzählt auch immer öfter von Erlebnissen, die sie mit ihren Freunden hatte. Hab jetzt ein gutes Gefühl beim Zuhören, sie studiert und sie lebt und findet, auch wenn sie, ein Max-Erbe?, eher dazu neigt, sich zu überfordern, doch ein gutes Gleichgewicht.

In Bologna geht Anna ins Bahnhofsrestaurant. Ihr Anschlusszug fährt erst in einer Stunde.

»Un cornetto ed un capuccino! Un cornetto con marmalata? No, semplice. Ed un bichiere d’aqua dalla rubinetta, per favore.«

Diese Angewohnheit, um ein Glas Wasser zum Café zu bitten, pflegt Anna halb bewusst, als ein Relikt aus ihrer eigenen Wiener Studienzeit.

Der Ober stellt das ovale, silbrige Tablett vor ihr auf die runde Steinplatte.

Es passierte knapp nach Sophias 3. Geburtstag. Im kommenden Jahr wird sie schon 23! Ich werde sie zu ihrem Geburtstag im Februar in Rom besuchen.

Max wäre jetzt 48. Wie würde er heute, nach fast zwanzig Jahren aussehen?

Noch keiner von uns hatte sein Diplom gemacht, aber Max und Peter arbeiteten in Ateliers, wie viele, eigentlich alle von unseren Freunden, machten immer Überstunden, besonders, wenn Wettbewerbe zu zeichnen waren, um einen Hungerlohn. Man versuchte, wenn möglich, bei Architekten mit großen Namen unterzukommen. Das Studium verzögerte sich natürlich, aber zu arbeiten war interessant, finanziell wichtig und auch unbedingt notwendig, um Praxis zu bekommen. Ob Max jemals sein Studium abgeschlossen hätte? Peter hat im Jahr nach dem Unglück das Diplom gemacht, dann ist er zurück nach Innsbruck.

Seit damals war ich nicht mehr in dieser Gegend. Ob ich das Haus wiedererkennen werde? Am Telefon klang Peters Stimme vertraut, wenn auch ein wenig älter. Wie er aussieht? Hat er sich verändert? Das letzte Mal haben wir uns vor acht oder neun Jahren gesehen. Da kamen die beiden, Peter und seine Moni, mit Paul und Lena nach Florenz, sie waren auf dem Weg in die Toskana. Die Kinder waren ungefähr sechs und vier Jahre alt, Paul versuchte, alle Aufschriften zu lesen, es war im Jahr seiner Einschulung. Zahnlücken hatte er! Später kam dann noch der kleine Emil nach, er geht sicher inzwischen schon zur Schule.