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Die Autorin

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Heidrun Becker
ist Ergotherapeutin und Dipl.-Medizinpädagogin. Seit 22 Jahren behandelt sie Kinder mit Entwicklungsstörungen, Wahrnehmungsstörungen, körperlichen und geistigen Behinderungen. Als Ausbildungsleiterin und Dozentin war sie 11 Jahre in der Aus- und Weiterbildung von Ergotherapeuten tätig. Neben der praktischen Arbeit veröffentlicht sie Beiträge im Bereich Pädiatrie und ist als Lektorin und Redakteurin für medizinische Verlage tätig.

Heidrun Becker

Kinder mit Wahrnehmungs- störungen

Ein Ratgeber für Eltern,
Pädagogen und Therapeuten

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Die Informationen in diesem Ratgeber sind von der Verfasserin und dem Verlag sorgfältig erwogen und geprüft, dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Eine Haftung der Verfasserin bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Besuchen Sie uns im Internet: www.schulz-kirchner.de

2. Auflage 2007

1. Auflage 2005

ISBN 978-3-8248-0666-9 (PC-PDF)

Alle Rechte vorbehalten

© Schulz-Kirchner Verlag GmbH, Idstein 2007

Titelabbildungen: www.photocase.de, Archiv Schulz-Kirchner Verlag

Fachlektorat: Beate Kubny-Lüke

Lektorat: Doris Zimmermann

Umschlagentwurf und Layout: Petra Jeck

Druck und Bindung: wd print + medien GmbH & Co., Wetzlar

Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur Reihe

Einleitung

Das Nervensystem

Das zentrale Nervensystem

Das periphere Nervensystem

Das vegetative Nervensystem

Wie wir wahrnehmen

Der Prozess der Wahrnehmung

Die Sinne

Wahrnehmungsstörungen

Welche Beobachtungen lassen eine Wahrnehmungsstörung vermuten?

Ursachen

Diagnostik

Was wir tun können

Professionelle Hilfe

Hilfe im Alltag

Sinneslust statt Sinnesfrust

Literaturtipps / Websites / Kontaktadressen

Danksagung

Ich danke allen Eltern und Kindern, die mir geholfen haben, diesen Ratgeber zu schreiben, indem sie ihre Erfahrungen mit mir teilten. Besonders danke ich auch denjenigen, die mir die Erlaubnis gaben, Fotos und Abbildungen zu verwenden. Außerdem danke ich allen Müttern, Kolleginnen und Lektorinnen, die mich durch ihre Rückmeldungen zum Manuskript unterstützten.

Vorwort zur Reihe

Die „Ratgeber für Angehörige, Betroffene und Fachleute“ vermitteln kurz und prägnant grundlegende Kenntnisse (auf wissenschaftlicher Basis) und geben Hilfestellung zu ausgewählten Themen aus den Bereichen Ergotherapie, Sprachtherapie und Medizin.

Die Autorinnen und Autoren dieser Reihe sind ausgewiesene Fachleute, die seit vielen Jahren als Therapeuten in der Behandlung und Beratung und/oder als Dozenten in der Ausund Weiterbildung tätig sind. Sie sind jeweils für den Inhalt selbst verantwortlich und stehen Ihnen für Rückfragen gerne zur Verfügung.

Im vorliegenden Band „Kinder mit Wahrnehmungsstörungen“ hat Heidrun Becker, Ergotherapeutin und Dipl.-Medizinpädagogin, ihre über 20-jährige Erfahrung mit Kindern mit Entwicklungs- und Wahrnehmungsstörungen sowie körperlichen und geistigen Behinderungen zu einem umfassenden Ratgeber für Eltern und andere Fachleute zusammengestellt. In verständlicher Form werden die grundlegenden Theorien, auf der die Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung beruhen, dargestellt. Es werden professionelle Hilfeangebote vorgestellt und immer wieder konkrete Tipps für den Alltag gegeben. Eine umfassende Literatur- und Kontaktliste darf dabei selbstverständlich nicht fehlen, so dass Ratsuchende schnell an die „richtige“ Adresse gelangen.

Wir hoffen, mit diesem Ratgeber dazu beizutragen, dass das Leben mit Kindern mit Wahrnehmungsstörungen von weniger Schwierigkeiten geprägt ist und die Freude am Zusammenleben mit Kindern wieder geweckt wird.

April, 2005

Reinhild Ferber

Herausgeberin für den DVE

Einleitung

Liebe Leserinnen und Leser,

dieser Ratgeber möchte Ihre Aufmerksamkeit für das Spüren und Tasten, für das Bewegt-Werden und Sich-Bewegen, für das Riechen und Schmecken, für das Sehen und Hören wecken. Über die Wahrnehmung erleben wir unsere Umwelt, durch die Wahrnehmung können wir uns in ihr zurecht finden und mit ihr in Kontakt treten und sie verändern. Kommt es zu Störungen im komplizierten Prozess der Wahrnehmung, können daraus viele Probleme im Alltag entstehen.

Über diese Störungen möchte ich Sie informieren und Ihnen dabei helfen, Kinder mit Wahrnehmungsstörungen besser zu verstehen. Ein Überblick über professionelle Hilfe soll Ihnen eine Orientierung geben. Übungen zum Ausprobieren sollen Sie dazu anregen, selbst einmal nachzuspüren, wie Sie die Welt wahrnehmen.

Ein Ratgeber kann keine konkreten Ratschläge für das Kind mit Wahrnehmungsstörungen bieten, das Ihnen zu Hause, im Kindergarten, der Schule oder der Therapie begegnet.

Da Wahrnehmungsstörungen sehr komplex sind und sich bei jedem Kind anders zeigen, muss die therapeutische Hilfe individuell sein und nur der behandelnde Arzt oder die Ärztin oder der Therapeut oder die Therapeutin können Ihnen ganz genaue Ratschläge und Empfehlungen für das einzelne Kind geben.

Im Alltag muss jeder Mensch eine Vielzahl von Handlungen vollziehen. Uns gehen diese Handlungen meist leicht von der Hand, wir sind sie gewohnt und können sie routiniert durchführen. Für das Kind mit Wahrnehmungsstörungen sind es jedoch gerade die scheinbar einfachen Dinge wie Körperpflege, essen, schlafen, spielen, mit anderen zusammen sein, lernen, Hausaufgaben machen usw., die ihm das Leben schwer machen. Als Eltern oder Pädagogen stellt man sich häufig die Frage: Kann das Kind das wirklich nicht? Wenn es sich mehr anstrengen würde, müsste es ihm doch gelingen …

Sehen wir uns eine für Erwachsene typische Alltagshandlung einmal genauer an: Auto fahren. Es ist uns so selbstverständlich, dass wir an manchen Tagen noch nicht einmal wissen, wie wir von der Arbeit im Auto nach Hause gekommen sind. Es scheint fast so, als würde das Auto seinen Weg alleine zurücklegen. Auf gewohnten Fahrtwegen haben wir den Kopf frei für andere Dinge und denken über das nach, was uns gerade interessiert, oder hören Radio.

Aber wenn Sie sich an Ihre ersten Fahrstunden erinnern, fällt Ihnen wieder ein, wie anstrengend diese waren und wie Sie gefordert wurden.

Das Fahren selbst war zu bewältigen:

–   den linken Fuß herunterbewegen, um die Kupplung zu treten; mit dem rechten Fuß gleichzeitig das Gaspedal herunterdrücken, aber nicht zu schnell; jetzt langsam die Kupplung wieder nach oben kommen lassen, aber nicht zu schnell. Der erste Gang musste mit der Hand eingelegt werden, vielleicht noch ein Blinker gesetzt werden.

Der Verkehr musste beachtet werden:

–   den Kopf wenden und sehen, ob ein anderer Verkehrsteilnehmer kommt; hören, was der Fahrlehrer sagte, welche Geräusche das Auto machte, ob jemand hupte etc.

Plötzlich roch etwas unangenehm, Sie hatten vergessen die Handbremse zu lösen. Ihr Mund wurde trocken und der Schweiß brach Ihnen aus, Ihnen wurde heiß oder kalt. Sich im Verkehr fortzubewegen, forderte alle Kraft und Energie.

Schaut man sich einzelne Handlungsschritte noch genauer an, stellt man fest, dass eine Vielzahl von Muskelbewegungen mit ihnen verbunden ist.

Wie kommt es, dass der Körper genau weiß, wann welche Muskeln bewegt werden müssen, wie stark die Bewegung sein muss und wie lange? Wie kommt es dazu, dass wir nach einiger Übung kaum noch Aufmerksamkeit für die Handlung benötigen?

Mit Hilfe der Wahrnehmung gelingt es dem Nervensystem, diese Abläufe zu steuern. Um zu verstehen, wie das geschieht, ist es notwendig, das Nervensystem zu betrachten (Kapitel 1 und Kapitel 2). Es ist ein wahres Wunderwerk. Es ist so komplex, dass Wissenschaftler es noch längst nicht vollständig entschlüsselt haben.

Aber einige Erkenntnisse über die Arbeit unseres Nervensystems stehen bereits zur Verfügung. Sie können uns helfen, zu verstehen, warum es für das Kind mit Wahrnehmungsstörungen so schwer ist, im Alltag zurechtzukommen (Kapitel 3). Haben wir das erst einmal verstanden, können wir Ideen entwickeln, die zu einem ruhigeren und harmonischeren Alltag beitragen (Kapitel 4). Dabei stehen Ihnen professionelle Helfer zur Seite (Kapitel 4). Der Kontakt zu anderen betroffenen Eltern kann ebenfalls eine große Unterstützung sein (Kontaktadressen und Websites).

Natürlich kann hier nur ein Überblick und eine Einführung in die Thematik erfolgen. Wer sich eingehender informieren möchte, erhält dazu Tipps in den Literaturhinweisen.

Das Nervensystem

Das Nervensystem steuert unsere Bewegungen und Reaktionen auf die Umwelt. Es besteht aus

–   dem zentralen Nervensystem,

–   dem peripheren Nervensystem

–   und dem autonomen oder vegetativen Nervensystem.

Das zentrale Nervensystem

Das zentrale Nervensystem ist die Steuerzentrale für unser Denken, Fühlen und Handeln. Es hilft uns wahrzunehmen, was um uns herum geschieht, und die Entscheidungen zu treffen, die für unser Überleben wichtig sind. Als Grundlage für diese Entscheidungen dient die Wahrnehmung. Über die Sinnesorgane Auge, Ohr, Nase, Zunge, Haut, Muskeln und Gelenke und innere Organe erfahren wir, was im Körper und in der Umwelt geschieht. Das Gehirn setzt aus diesen Reizeindrücken (auf die an anderer Stelle noch genauer eingegangen wird) ein Bild zusammen. Dabei greift das Gehirn auf Erfahrungen zurück, die wir schon einmal gemacht haben und die in unserem Gedächtnis gespeichert sind.

Hauptziel des Gehirns ist dabei, ein logisches und sinnvolles Bild der Umwelt zu geben.

Das Bild der Umwelt soll logisch und sinnvoll sein.

Um diesem Ziel nahe zu kommen, ergänzt das Gehirn unvollständige Bilder und deutet Informationen um, damit sie einen Sinn ergeben. So entstehen z.B. optische Täuschungen, aber auch andere Irrtümer.

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Abb. 1: Optische Täuschung: Beide Linien sind gleich lang, durch die unterschiedlichen Pfeilrichtungen entsteht jedoch der Eindruck, sie seien verschieden lang

Pro Sekunde trifft eine Vielzahl von Reizen im Gehirn ein und wird verarbeitet, d.h., die Reize werden verglichen, sortiert, ausgewählt, unterdrückt oder verstärkt und zusammengesetzt.

Das Gehirn wählt die Reize aus, die in einem bestimmten Moment für uns sinnvoll und wichtig sind.

Gehen wir z.B. hungrig durch eine Einkaufsstraße, scheint es überall nach Essen zu riechen: Wir riechen das Brot aus der Bäckerei, die Pizza aus einem Imbiss. Uns fallen verlockende Hinweise auf Speisen auf Schildern und in den Schaufenstern auf.

Sind wir jedoch satt, nehmen wir das alles gar nicht wahr. Stattdessen springen uns die Dinge ins Auge, für die wir uns gerade interessieren: Schuhe, Kleidung oder auch das Hinweisschild für eine öffentliche Toilette.

Beschäftigt uns etwas gefühlsmäßig besonders, so scheint es überall Verbindungen zu diesem Thema zu geben: Eine Frau, die gerade erfahren hat, dass sie ein Kind erwartet, sieht überall Kinder und schwangere Frauen. In jedem Text meint sie Worte zu entdecken, die sie an das Thema Schwangerschaft erinnern. Das passiert, wenn Worte ähnlich geschrieben werden.

Die Auswahl von Reizen können wir bewusst herbeiführen, wir können sie aber auch gar nicht bemerken. Unser Handeln wird trotzdem von ihnen bestimmt. So kaufen wir z.B. im Supermarkt mehr Essen ein, wenn wir hungrig sind, als wenn wir satt sind. In der Werbung setzt man gezielt Sinnesreize ein, um uns zum Kauf eines bestimmten Produkts zu verleiten. Hier wird besonders auf einen Bereich der Sinnesverarbeitung gesetzt: Die Assoziationen, d.h. Gedankenverbindungen und Deutungen, die wir mit einer bestimmten Farbe, Form oder einem Geruch verbinden. Musik, Düfte und Farben versetzen uns in eine entspannte Stimmung, die dazu motiviert, etwas einzukaufen. Deutlich wird dies z.B. in der Zigarettenwerbung. Hier werden Bilder von Abenteuer, Freizeit und fröhlicher Gesellschaft mit dem Rauchen verbunden.

Das Gehirn reagiert auf die Reize aus der Umwelt mit einer Bewegung.

Alles Leben findet in Bewegung statt und sei es nur in der Bewegung der Augen, des Darms oder des Brustkorbes beim Atmen.

Das Nervensystem stellt die Brücke zwischen Wahrnehmen und Bewegen her.

Mehr Informationen zur Wahrnehmung finden Sie in Kapitel 3.

Bewegung

Die Reaktion auf Reize aus der Umwelt kann auf verschiedenen Ebenen geschehen: Sie kann

1. ohne eine uns bewusste Steuerung erfolgen oder

2. durch Beteiligung unseres Bewusstseins.

Bewegungen, die wir ohne Beteiligung unseres Bewusstseins und Willens ausführen

Ohne unsere bewusste und überlegte Planung kommt es zu Reflexen und zu Reaktionen.

Reflexe

Reflexe ermöglichen eine direkte Reaktion auf einen Reiz, schnell und unmittelbar, ohne dass wir eine Entscheidung zur Bewegung treffen müssen.

Sehr bekannt ist der Patellarsehnenreflex: Er wird ausgelöst, wenn z.B. der Arzt mit einem Hämmerchen auf die Sehne unter der Kniescheibe schlägt. Als Folge streckt sich das Bein im Kniegelenk.

Ausgelöst werden die Reflexe durch einen inneren (z.B. Dehnung des Muskels wie beim Patellarsehnenreflex) oder äußeren Reiz wie Druck, Schmerz, Berührung, Temperatur. Sie dienen dem Schutz des Körpers, bewirken Flucht oder Rückzug, sichern aber auch das Überleben des Säuglings durch Saug- und Schluckreflexe. Die Reflexe gehören zu den Funktionen des Rückenmarks, das sich durch unsere Wirbelsäule bis zum Kopf zieht. Durch das Rückenmark ziehen Fasern zum Gehirn, die Information aus den Muskeln, Gelenken und der Haut weitergeben. Ebenso ziehen Nervenfasern vom Gehirn durch das Rückenmark zu den Muskeln. Sie veranlassen die Muskeln, sich zusammenzuziehen oder auszudehnen und erzeugen so eine Bewegung. Im Falle eines Reflexes z.B. das Wegziehen der Hand von einer heißen Herdplatte.

Reaktionen

Komplexer als die Reflexe sind sogenannte Reaktionen. Besonders bedeutsam sind die Gleichgewichtsreaktionen. Durch sie kann der Körper eine aufrechte Position im Raum bewahren.

Gleichgewichtsreaktionen reichen von kleinsten, kaum spürbaren Spannungsveränderungen der Muskulatur bis hin zu Bewegungen der Extremitäten und des Rumpfes, um das Gleichgewicht zu halten.

Ziehen wir uns z.B. eine Hose oder einen Schuh an, müssen wir im Stand auf einem Bein die Körperspannung so verändern, dass das Gewicht des Körpers gehalten werden kann. Zunächst genügt es, die Spannung in den Beinmuskeln und dem Rumpf zu erhöhen. Gerät das Gewicht aber noch mehr auf die Seite, auf der wir stehen, muss der Körper Arme und Rumpf zum Ausgleich einsetzen, damit wir nicht umfallen. Kommt der Körperschwerpunkt noch weiter aus der Mitte und droht zu stürzen, wird der Körper durch Stützreaktionen geschützt. Die Arme fangen dann z.B. den Körper ab und schützen den Kopf vor Verletzungen.