7

Am 24. packe ich meinen Koffer mit Kleidung und einem CD-Player, ich liebe es, auf dem Bett zu sitzen, die Stöpsel im Ohr, traurige Musik zu hören und dabei den Wolken am Himmel zuzuschauen. Gedanklich auf sie aufzuspringen und fortgetragen zu werden, mit einer Nimmerwiedersehenskarte in der Hand. 

Ich komme am 25. an und zu meiner Freude ist das ganze Personal noch da, selbst eine Mitpatientin von damals ist da und überhaupt geht es lustig zu im Raucherzimmer, das ja inzwischen auch mein Anlaufpunkt ist. Nichtraucher? Wer ist das? Und ein Nichtraucherwohnzimmer – gibt es das überhaupt noch? Mir doch egal, ob da welche einsam drin sitzen, Hauptsache ich bin dabei und nicht einsam. 

Noch am Vortag habe ich mir über Amazon einige Bücher zum Thema Borderline bestellt und in die Klinik schicken lassen. Schließlich möchte ich zu mir selber finden und nicht immer nur alles um John drehen lassen. Das ginge doch am besten, wenn ich mich anhand von Lektüre besser kennen lernen würde. Es hat sich viel verändert auf der Station. Sie haben sie einen neuen Terminplan und man bekommt eine Person vom Pflegepersonal als Ansprechpartner zugeteilt. Das höre ich gerne, dass man endlich nicht mehr mitjedem reden muss, sondern mit einer Person, zu der man Vertrauen hat. Sicher geben sie mir Frau Warm oder Frau Wimmer, mit denen konnte ich ja beim ersten Aufenthalt schon gut. Doch dann kommt der Schock. Herr Bringer ist mein Ansprechpartner. Auweia, mit dem konnte ich im ersten Aufenthalt überhaupt nicht. Mir schossen die unzähligen provozierenden Situationen in den Kopf, als er mir morgens sagte, ich solle nicht immer so scheinheilig-fröhlich Guten Morgen japsen, sondern meine Maske ablegen, ihm ginge das Messer in der Tasche auf, wenn er meine piepsige Stimme höre. Ich war zu tief verletzt und redete kein Wort mehr mit ihm. Wenn er mich plump ansprach rannte ich heulend weg, er mir schnaufend hinterher, wenn ich jetzt nicht stehen bliebe bringe er mich in die geschlossene Abteilung, solange, bis ich begreife, dass ich nicht einfach wegzurennen habe. Mir war klar, dass ich eine Maske für ihn eigens angefertigt anziehen musste, um ihn zu ertragen. Ein Horror, dass ausgerechnet er mich betreuen muss.

Unser erstes Gespräch steht an und zu meinem Erstaunen ist er sehr freundlich und mild gestimmt. Er spricht unser schwieriges und gespanntes Verhältnis vom ersten Aufenthalt an und meint, wir sollen es miteinander versuchen. Er würde nicht mit drohendem Finger auf mich zugehen, da er weiß, dass ich das zu Genüge mit mir selbst mache. Ich war völligüberrascht über diese Wende. Wir machten täglich einen Termin zum Sprechen aus und ich konnte mich bei ihm sogar gehen lassen. Er sah mich weinen und ich redete viel bei ihm. Er ging liebevoll auf mich ein und ermunterte mich, versöhnlicher mit mir zu sein. Das hätte ich nie gedacht von Herrn Bringer, dass er so liebevoll sein kann. 

Auch Frau Gutfrau ist entgegen unserem Vorstellungsgespräch sehr warmherzig. Ich habe Angst vor unserem ersten Termin, doch sie macht genau da weiter, wo wir beim letzten Aufenthalt aufgehört hatten. Ich bin sehr überrascht, dass ich so bereitwillig erzählen kann. Schließlich hatte meine Odyssee, als ich mit 17 in Pforzheim war, noch kein Ende.

Ich ging viele Partnerschaften ein und beendete ebenso viele, wenn es mir zu eng wurde. Ich suchte krampfhaft nach Anerkennung, nach dem wie-lebeich-denn-nur. Doch ohne die Zeugen Jehovas zu leben war mir völlig fremd, das habe ich ja nie gelernt. Ich ging in den Taekwondo-Kampfsport, hatte viele Erfolge. Als das dann langweilig wurde suchte ich nach etwas Neuem. So blieb es eigentlich bis heute. Irgendwann eckte ich immer an und verließ dann die Brutstätte des Streites, um woanders Anerkennung zu suchen. Meine Ausbildung zur zahnmedizinischen Fachangestellten wollte ich mindestens fünfmal beenden, da es zu Streitereien zwischen den Kolleginnenund mir kam. Mit 19, ich war im zweiten Lehrjahr, ging ich zurück zu den Zeugen Jehovas. Ich kam da draußen einfach nicht ohne sie klar. Ein langes Jahr stand mir bevor, schließlich war ich eine Ausgeschlossene, das heißt, dass die Zeugen Jehovas einen wie Luft behandeln, nicht mit einem Reden dürfen, bis man Reue zeigt. Wenn genug der Reue sichtbar ist, wird man wieder aufgenommen. Das dauerte ein Jahr. In dieser Zeit nahm ich wieder Kontakt zu meiner Mutter auf, schließlich war sie meine Mutter und ich war ihr gegenüber verpflichtet, milde gesinnt zu sein. Wir schwiegen alles, was war, tot. Sie stellte sich als die fürsorgliche und immer gute Mutter und Frau hin und ich schluckte. Ich musste brav sein. 

Ich nahm mich in Pforzheim eines gleichaltrigen jungen Mannes an, der aufgrund seiner Schüchternheit immer ein Außenseiter war. Noch ehe ich mich versehen konnte, waren wir verheiratet. Doch die Ehe war die Hölle. Ich liebte ihn nicht, ich ekelte mich vor ihm. Er hatte nur vier Unterhosen und ich ließ meine beste Freundin neue Unterhosen für ihn holen. Sex hatten wir keinen, das konnte ich nicht. Nach nur drei Monaten verließ ich ihn klammheimlich und zog zu meiner besten Freundin. Ich ging erneut von den Zeugen Jehovas weg, mit der Gewissheit, gehe nie wieder dorthin zurückzugehen. Wieder wurde ich ausgeschlossen und wie Luft behandelt und auch meine Mutter verbannte mich aus ihrem Leben. Auchsie behandelte mich wie Luft, ebenso wie mein Bruder. 

Ich suchte mir eine Wohnung in der Nähe von Karlsruhe, Hauptsache weit weg vom Schauplatz Schmerz. Auch meine Freundin verließ die Zeugen Jehovas und zog ebenfalls in Richtung Karlsruhe. Wir haben uns erst einmal ausgelebt, sind nächtelang in die Discos gerannt, haben bei einer Versicherung im Schneeballsystem versucht, schnelles Geld zu verdienen, was natürlich zum Scheitern verurteilt war. Dazu waren wir viel zu mitleidig eingestellt und zu wenig skrupellos. Doch dort fanden wir Anschluss. Wir gingen mit diesen Leuten gemeinsam weg und feierten Partys ohne Ende. Bis ich an einen Mitarbeiter geriet, der mir vorgaukelte, mir genau zeigen zu können, wie ich das machen muss. Er war Mitte 50, hatte einen Mercedes Cabriolet und holte mich abends ab, um angeblich zu einem Kunden zu fahren. Als wir mitten in einem Waldstück landeten war mir klar, der will nicht mit mir zum Kunden. Er vergewaltigte mich und ich kam völlig verwahrlost bei meiner Freundin an. Sie wollte unbedingt, dass ich eine Anzeige mache, doch es kam mir nicht in den Sinn, fremden Menschen davon zu erzählen, wie leichtgläubig und blauäugig ich war. Nein, das kam nicht in die Tüte. Ich rutschte in erneute Depressionen ab und schluckte eine Menge Tabletten. Mein damals befreundeter Hausarzt schaute nach einem Hausbesuch gegenübervon mir einmal bei mir vorbei. Ich öffnete nicht. Zusammen mit seiner Frau ließ er dann die Wohnung von der Vermieterin öffnen, denn mein Auto stand vor der Tür, die Fenster waren offen, nur antwortete ich nicht. 

Den Magen ausgepumpt zu bekommen ist ein ekliger Scheiß und ich schwor mir, beim nächsten mal würde ich es so perfekt durchplanen, dass die mir keinen Schlauch mehr einführen, weil das aufgrund einer Nulllinie beim EKG vergeblich erscheint. Ich stellte mir vor, wie ein paar wenige Leute vor meinem Grab stehen und auf dem Grabstein erscheint, sie war zu doof um zu leben, nun hat der Tod sie bezwungen. Ein Lächeln überkam mich und ich hörte den Arzt schwafeln, dass ich eine Psychotherapie machen muss. 

Jaja, mache ich, und ich finde auch einen Therapeuten. Einen Mann, bildhübsch, Herr Braun, ich himmle ihn an, erzähle ihm das blaue vom Himmel, nur nicht, was wirklich los war und stelle ihm nach, wann immer es nur geht. Ich passe ihn nach der Praxiszeit ab, nur um einen Blick von dem hübschen Mann zu erhaschen. Irgendwann habe ich dann gemerkt, dass es nichts nützt und ich nicht interessant für ihn bin. Ich ging nicht mehr hin. Ein wenig Liebeskummer hatte ich schon, aber es gibt ja noch genügend andere Männer, denen ich den Kopf verdrehenund sie anschließend wieder abservieren kann. Mein Leben hat keinen Sinn mehr.

Die Stunde ist vorüber, sagt Frau Gutfrau, wir können uns am Mittwoch wieder sprechen. Ich gehe zurück auf mein Zimmer, lese meine inzwischen angekommenen Bücher, als wäre es Essen. Als hätte ich seit einer Woche nichts mehr zu Essen bekommen schlinge ich nun alles in mich hinein. Ein Buch in einem Tag zu lesen ist nichts Besonderes für mich und besser als Grübeln ist es allemal. Also verschlinge ich die Bücher im nu, aber was dann? Ich müsste mich ja vielmehr mit mir beschäftigen. 

Doch dann stoße ich auf ein Buch das mich umhaut. Eine Borderlinerin, die das gleiche erlebt hat wie ich und die gleiche Technik anwandte, um den Schmerz zu verkraften. Bin ich doch nicht verrückt? Ich lege den Gedanken beiseite, er macht mir Angst, ich habe das Gefühl, dass noch etwas in mir verborgen ist, was nicht zum Vorschein kommen will und wovor ich Angst habe. Panische Angst. Und aus Angst vor der Angst bekomme ich eine Panikattacke nach der anderen. Ich gehe zum Personal und lasse meinen Blutdruck messen, 170/130. Das ist zu viel, ich habe immer einen niedrigen Blutdruck, was ist das nun? Ich lege mich auf Anweisung wieder aufs Bett und versuche, mich durch die erlernte Entspannung nach Jakobsen zu beruhigen. Stöpsel ins Ohr und dernetten Männerstimme einfach folgen, das beruhigt mich ungemein und, siehe da, mein Herz rast nicht mehr.

Meine Ärztin stellt mich nun aufgrund der wiederholt erhöhten Werte von Doxepin langsam auf Seroquel um und ich merke, das tut mir gut. 

Das erste Mal seit Jahren träume ich wieder und das überrascht mich. Meinen ersten Traum habe ich dann auch gleich aufgeschrieben. 

Da ist ein stolzer Mann, der einen megadicken Mann vorstellt und zum Fußballspiel bringt. Der Mann ist Tormann und so dick, dass er das gesamte Tor einnimmt, er muss nur den Bauch etwas schwappen lassen und fängt alle, wirklich alle Bälle. Ein weiterer Mann schießt die Bälle ins Tor, er hat sein Gedächtnis verloren und ist verzweifelt, weil kein Ball ins Tor geht. Doch plötzlich schrumpft der Dicke und der Gedächtnislose trifft einen Ball nach dem anderen ins Tor, dabei erlangt er sein Gedächtnis wieder. Der stolze Mann ist enttäuscht und der Mann ohne Gedächtnis rennt stolz ins Büro zu einer Frau und erzählt ihr, dass er sein Gedächtnis wiedererlangt hat. Die Bürofrau ist ihm wohl gesinnt, sie freut sich für ihn und fordert ihn auf, schnell alles aufzuschreiben. Dann wache ich auf. 

Ich versuche, mir einen Reim auf den Traum zu machen, das gelingt mir aber nicht.

Zur nächsten Sitzung nehme ich den Traum mit. Frau Gutfrau erzählt mir, dass jede Person, die in einem Traum vorkommt, immer ein Stück von einem selbst ist. Also erörtern wir: der Dicke ist mein Gewichtsproblem, das mich schier zur Verzweiflung bringt. Ich mag gar nicht mehr in den Spiegel schauen, denn mir gefällt nicht, was ich da sehe. Der Mann ohne Gedächtnis bin ich, mit den Dingen, die ich in mir spüre, die aber nicht heraus wollen. Die Frau im Büro bin ich, wenn ich versöhnlich mit mir rede und mich zum Schreiben auffordere, was ich seit jeher getan habe. Auf dem Papier konnte ich meine Gefühle schon immer perfekt niederschreiben, nur über meine Lippen wollen die Dinge einfach nicht. Der stolze Mann jedoch ist mir fremd. Sehr fremd. 

Dann fragt sie mich, wie es nach meinem zweiten Suizid weiterging. Ich ging also nicht mehr zu dem Psychologen, da ich keine Beziehungschancen bei ihm hatte. Ich arbeitete, wie immer, 180-prozentig, sehr zum Ärger der anderen Kollegen. Ich lernte einen Mann nach dem anderen kennen. Da waren Männer dabei, die mit Gewalt meinen Kopf zu ihrem Schwanz zogen, ich musste ihnen einen blasen obwohl ich nicht wollte. Ich tat brav, was sie verlangten, starr vor Angst, und sah sie danach nie wieder. Immer wieder das gleiche, warum ziehe ich diese Kerle nur so magisch an. Ich habe es anscheinend nicht anders verdient. Doch dann lernte ich meinen Exmann kennen.

Es soll alles anders sein. Die weitere Geschichte kennen Sie ja schon, wir bekamen zwei Kinder, ziehen nach Bayern und ich bin Hausfrau, Mutter, Erzieherin, selbstständig mit einem Secondhandladen und jeder Menge Tageskinder. Mein Leben lief immer mit 320 Prozent ab, keine Zeit zum verschnaufen, niemals Urlaub, immer nur Arbeiten. Bis ich eben 1997 nicht mehr konnte und mich trennte. Dann habe ich in der Zahnarztpraxis an der Rezeption angefangen, wo ich bis zu meiner Erkrankung gearbeitet habe. Wieder fragt Frau Gutfrau mich, ob ich irgendeine Ahnung habe, wie ich all das Erlebte überstehen konnte. Ahnt sie vielleicht etwas? Ich bin noch nicht so weit und sage ihr, dass ich darüber noch nicht reden kann und will. Die Stunde ist Gott sei Dank zu Ende und ich muss nicht weiterreden.

Meine täglichen Sitzungen mit Herrn Bringer sind auch sehr anstrengend, aber schön. Er beruhigt mich immer wieder und zeigt mir meine Stärken. Ich und Stärken? Das ist etwas, was mir anzunehmen sehr schwer fällt. Ich sehe mich nur als ein Haufen Dreck, die Worte meiner Mutter, ich sei ein Satansbraten, ein Teufelsweib, eine Höllenbrut, klingen seither in mir nach und so fühle ich mich auch. 

Herr Bringer sagt mir, dass er mich diesmal als sehr ehrgeizig erlebt und ich sehr an mir dranbleibe.

Ja, das stimmt, das erlebe ich auch so, aber das ist doch keine Stärke? Oder doch?