Olaf Reins

Kolustros Traum

Eine phantastische Erzählung

ACABUS | Verlag


Reins, Olaf: Kolustros Traum. Eine phantastische Erzählung, Hamburg, ACABUS Verlag 2009

Originalausgabe ISBN (Print): 978-3-941404-86-1

Lektorat: Katharina Haas, ACABUS Verlag
Covermotiv: © bellemedia - Fotolia.com
Umschlaggestaltung: Katharina Haas, ACABUS Verlag

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,
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Meinen Eltern Fred und Milda

1

Sie beugte sich über den schlafenden Mann. 

„Herr Kolustro, hören Sie mich?” 

Sein fleischiger aufgedunsener Kopf lag, ihr sein grobporiges, von Nachtschweiß glänzendes Profil weisend, halb versunken in zwei Dutzend kleiner, rüschenbesetzter Daunenkissen. Tiefrot wie eine seltsame, abstoßende Blüte leuchtete er dort im Dämmerlicht des Schlafzimmers. 

Pernilla Jörgensen betrachtete für einen geistesabwesenden Moment dieses phänomenale Profil, während in ihren Gesichtszügen Abscheu und schmerzliches Bedauern miteinander rangen. Noch immer, trotz all der vergangenen Jahre, trotz all der Veränderungen, denen Peter Kolustros Körper in jener Zeit unterworfen gewesen war, trotz alldem haftete seinem Gesicht - zumindest im Zustand des Schlafes - eine Erinnerung jenes unbekümmerten Charmes an, welcher ihr seinerzeit, als sie sich für die Stelle als Wirtschafterin bewarb, Hoffnungen machte, deren überspannte Kühnheit ihr schon bald klar werden sollte. Sie hätte gehen können ohne sich eine Blöße zu geben, denn sie war klug genug gewesen, ihre Gefühle nicht voreilig zu offenbaren. Aber sie war geblieben. 

„Herr Kolustro?”, wiederholte sie lauter. „Hören Sie mich?” 

Keine Reaktion. 

Pernilla Jörgensen richtete sich auf und stemmte entschlossen die Hände in die Hüften. „Herr Kolustro!”, rief sie energisch. „Sie müssen jetzt aufstehen!” 

In den Federbettgletscher geriet unwillige Bewegung, gleichzeitig ertönten schweres Prusten und tiefes Schnaufen.

„Was ist denn los, Penny?”, röchelte Peter Kolustro schließlich. „Warum wecken Sie mich?” 

„Ihr Vater ist soeben gekommen und wünscht Sie zu sprechen.” 

Peter Kolustro wälzte sich mühsam unter Grunzen und Pfeifen gegen den Widerstand der unzähligen Kissen, mit denen seine riesige Bettstatt wie mit Blütenblättern bestreut war, auf den Rücken. Er war sichtlich amüsiert. 

„Sieh da, sieh da, der Herr Papa!”, grinste er. Um im nächsten Augenblick hinzuzusetzen: „Mein verehrter Herr Vater ist ein Arschloch!” 

Peter Kolustro gähnte und streckte sich, knurrte und rieb sich die verquollenen Augen. 

Er blinzelte. „Penny? Sind Sie noch da?” 

Außer der gewaltigen Erhebung seines Bauches, über die hinweg er gerade eben noch zum geschnitzten Giebel seines Kleiderschranks hinüberpeilen konnte, vermochte er nichts zu sehen. „Penny, verdammt noch mal, wo stecken Sie denn schon wieder?” 

Begleitet vom scharfen Geräusch entschlossen zurückgezogener Vorhänge loderte grelles Tageslicht ins Schlafzimmer.

„Penny!” Peter Kolustro stöhnte. „Wollen Sie mich umbringen?” Er kniff die Augen zu und tastete nach einem Kissen, das er sich mit beiden Händen aufs Gesicht drückte. „Können Sie mich nicht auf liebenswürdigere Weise daran erinnern, dass der Mensch dem Fluch unterliegt, die Gefilde des Schlafes verlassen zu müssen, nur um sich von der Welt im Allgemeinen und Eltern, Verwandten und so genannten Freunden im Besonderen so lange langweilen zu lassen, bis der Schlaf ihm erneut ein befristetes Asyl gewährt?”

„Sie wissen, dass ich es nicht mag, wenn Sie so abfällig über Ihren Vater sprechen”, entgegnete Pernilla. „Er ist ein sehr eleganter und kluger Mann ...” 

„Man beachte die Reihenfolge”, grunzte Peter Kolustro durch das Kissen. „Wie spät ist es?” 

„Gleich dreizehn Uhr.” 

„Essen schon fertig?” 

„Ach! Selbst Flüche können also ihre guten Seiten haben? - Sie sollten jetzt wirklich hinuntergehen. Ihr Herr Vater hat einen sehr aufgebrachten Eindruck gemacht.” 

„Den macht er doch immer. Sagen Sie ihm, ich käme gleich. Und”, rief er ihr nach, „bringen Sie mir bitte einen Sherry herauf!” 

Er blieb noch ein wenig so liegen, das Kissen auf sein Gesicht gedrückt. Dann warf er es mit einer resignierten, kraftlosen Bewegung beiseite und wartete mit geschlossenen Augen darauf, dass er die nötige Kraft zum Aufstehen fand. 

Schließlich raffte er sich im Gedanken an das Mittagessen auf, schlug das schwere Federbett beiseite, stemmte sich unter einigem Ächzen und Keuchen hoch und setzte sich zunächst auf die Bettkante, um dem Kreislauf Gelegenheit zu bieten, sich mit den dramatisch veränderten Blutdruckverhältnissen zu arrangieren. Es rauschte mächtig in seinen Ohren und sirrte und pfiff und pulste in Hals und Schläfen. Zudem war sein rechtes Knie, wie er mit einiger Verärgerung nach dem Abklingen der gewohnten allmorgendlichen Beschwernisse feststellen musste, und welches er mittels einer ebenso aufwendigen wie mühsamen Verrenkung rechts an seinem von dem apricotfarbenen Nachthemd verhüllten Bauch vorbei sehen konnte, rot geschwollen und heiß. Ein feines spitzes Stechen und Brennen in seinerlinken Großzehe kündigte bereits den ersten Gichtanfall des Tages an. Dessen ungeachtet schlüpfte er mit dem festen Vorsatz, die wenig Gutes verheißenden Ankündigungen seines Körpers so weit wie möglich zu ignorieren, in die Pantoffeln und stand auf. Ein Experiment, das ihm erst nach dem dritten Versuch gelang. Er keuchte und schwitzte und in seinen Sprunggelenken und Knien knarrte und quietschte es vernehmlich, während er, sich schrappend Bauch und Gesäß kratzend, zu dem Stuhl hinüberging, über dessen Lehne sein Morgenmantel hing. 

Er hatte ihn gerade angezogen, als Pernilla Jörgensen mit dem Morgensherry zurückkam. Peter Kolustro war diesbezüglich kein Purist und so war es für ihn durchaus in Ordnung, dass sie den Sherry in einem großen Cognacschwenker servierte.

„Sie sollten jetzt wirklich endlich hinuntergehen!”, drängte sie. „Ihr Herr Vater ist außer sich!” 

„Er ist so dürr, dass mir das wenig verwunderlich erscheint.” Er nahm das Glas vom Tablett und nippte am Sherry. „Was will er überhaupt?” 

„Das hat er nicht gesagt.” 

„Na”, seufzte Peter Kolustro und lächelte den Sherry an wie das Foto einer verflossenen Geliebten, „es wird sich wohl wieder einmal um die verdammte Galerie handeln.” Er leerte das Glas. „Was hat sich mein teurer Alfons denn heute Feines zum Diner einfallen lassen?” 

„Das werden Sie sehen, wenn Sie unten sind.” 

„Sie sind grausam, Penny!” 

„Also bitte, Herr Kolustro!” 

„Ja, ja, schon gut, ich komme ja schon”, knurrte er und folgte ihr hinaus auf den mit nachtblauem Satin ausgeschlagenen Flur zur „Eigernordwand”, wie er die ins Entree hinunterführendeTreppe nannte. Auf dem Treppenabsatz blieb er stehen und wischte sich mit einem schwarzen Seidentuch den Schweiß von der Stirn. Er hob den Kopf. 

„Hmm! Das duftet ja ganz süperb!” Er witterte mit hektischen Kaninchennüstern. Dann verzog er das Gesicht. „Aber ... Brot?!” Pernilla drehte sich um und spitzte den Mund: „Boeuf en Crôute!” 

„Aahhh! Meinen zarten Füßchen wachsen Flügel!” 

„Dann ist es wohl besser, wenn Sie vorgehen.” 

Peter Kolustro überhörte diese ungehörige Bemerkung und setzte das halsbrecherische Abenteuer des Treppenabstiegs fort.

In der großzügigen, holzgetäfelten Halle angekommen, wollte er sich gerade auf die beschwerliche Expedition ins Speisezimmer begeben, als sein Vater aus einer Nische trat. Herrmann Kolustro war auffallend schlank und knochig, dabei an die einsneunzig groß und für seine zweiundsiebzig Jahre noch von erstaunlicher Beweglichkeit. Er trug einen dunkelbraun gemusterten, dreiteiligen Anzug und nahtverstärkte braune Schuhe. 

„Da bist du ja endlich!”, rief er in einer Mischung aus Zorn und Verstörung. Sein für gewöhnlich wie der helle Sandstein gotischer Dome in der Mittagssonne leuchtendes Gesicht war grau geworden. Seine Pupillen schwammen wie Ölflecke auf den Glaskörpern. 

„Es ist eine Schande, wie du wieder aussiehst!”, raunzte er seinen Sohn an. „Schlafen bis in die Puppen und nichts anderes im Kopf als Fressen und Saufen!” 

„Das Essen ist einer der vier Zwecke des Daseins”, begrüßte Peter seinen Vater. „Welches die drei anderen sind, darauf bin ich noch nicht gekommen."

Herrmann starrte ihn entgeistert an. „Was ist denn das schon wieder für eine ...” 

„Soll Montesquieu gesagt haben. Mir persönlich scheint übrigens der zweite Zweck des Daseins das Schlafen zu sein.” Damit schlurfte Peter weiter über die gebohnerten Fliesen Richtung Speisezimmer. 

„Das ist mir scheißegal!”, kreischte sein Vater. „Wir haben ganz andere Probleme! Gestern Nacht ist die Galerie abgebrannt!” 

Peter Kolustro stockte kurz in seiner Bewegung, ein Lächeln wehte über sein Gesicht. Dann drückte er die Tür zum Speisezimmer auf. „Da ist doch nicht etwa dem lieben Konrad ein kleiner Fehler unterlaufen?” 

Das Speisezimmer war ein schlichter rechteckiger Raum mit direktem Zugang zur Küche. Die Wände waren bis in Brusthöhe getäfelt, darüber bis unter die gelb gestrichene Decke, von deren Mitte ein Kronleuchter aus dem Zentrum einer Stuckrosette herabhing, mit grün changierendem Satin bespannt. An der Wand, dem von rosenholzfarbenen Raffgardinen eingefassten Fenster gegenüber, hing ein Arcimboldo, der das feiste, aus sämtlichen bekannten und einigen undefinierbaren Früchten zusammengesetzte Porträt eines jungen Mannes zeigte. Beherrscht wurde der ansonsten schmucklose Raum von einem gedrungenen Kastentisch aus dem fünfzehnten Jahrhundert, an dessen Kopfseite Peter Kolustros Sitzgelegenheit stand, ein Settée aus der Queen-Anne-Zeit. 

Als die beiden das Speisezimmer betraten, erwartete sie bereits gute drei Dutzend Austern, die mit Zitronenachteln garniert und von zerstoßenem Eis gekühlt auf einer Edelstahlplatte derRechtfertigung ihres Todes harrten. Daneben eine geöffnete Flasche Weißwein und ein Glas. 

„Was denn, willst du deine Gäste etwa in diesem Aufzug empfangen?”, fragte Herrmann Kolustro, den die zwar beiläufig geäußerte, doch von einer gewissen Genugtuung nicht ganz freie Bemerkung seines Sohnes verunsichert hatte.

„Was für Gäste? Das ist meine Vorspeise.” Peter Kolustro nahm Platz.

„Du bist wirklich ein Monster ...”, murmelte Herrmann. 

„Und du solltest ein wenig höflicher sein, wenn du um finanzielle Unterstützung nachsuchst.” 

Peter nahm sich eine Muschel, knackte sie mit dem Austernmesser, träufelte mit der Konzentration eines Chemikers, der aus einer Pipette einen Katalysator in ein Reagenzglas tröpfeln lässt, ein wenig Zitronensaft darüber und schlürfte sie aus. Ein verzerrtes Lächeln ging unterdessen durch Herrmann Kolustros Gesicht. Er war wirklich gekommen um seinen Sohn anzupumpen. Und ja, Konrad hatte tatsächlich einen Fehler gemacht. Einen derart schwerwiegenden Fehler sogar, dass der Fortbestand der Galerie auf dem Spiel stand. Hatte der Idiot doch glatt vergessen, die Bilder versichern zu lassen! Nun war es nicht so, dass Herrmann seinen Erstgeborenen verachtete, weil dieser so wenig „Kunstsinn” aufzubringen vermochte, wie er, fern jeder Ironie, das Vermögen zu bezeichnen pflegte, die Verkäuflichkeit von Bildern einzuschätzen - jedoch ... 

„Soll Alfons dir einen Stuhl holen?” 

„Es geht um die neue Ausstellung von Miss Belinda Fast. ‚Kosmische Welten - Bilder von den Rändern des Universums’. - Mein Gott!” Er schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ihre erste große Gesamtwerkschau - alles verbrannt!”

Peter Kolustro sah auf. „La belle Fast?” 

„Du erinnerst dich also noch an sie?” 

„Wie könnte ich sie vergessen!”, rief Peter. „Eine schwarzhaarige Irin mit gelben ...” Er stockte. „Ja”, sagte er dann und blickte für einen Moment versonnen auf ein Zitronenachtel, „ja, mit gelben Augen!” Er sah auf. 

Vor etwa einem Jahr war sie auf Empfehlung einer großen internationalen Künstlervermittlungsagentur zu Herrmann Kolustro gekommen. 

Belinda Fast hatte sich neben ihrem Studium an der Pariser Akademie der Schönen Künste mit mäßigem Erfolg als Porträtistin auf Flohmärkten und in U-Bahnstationen - so manches Mal gar als Straßenmalerin - finanziell mehr schlecht als recht über Wasser gehalten. Erst nachdem sie sich auf das Malen so genannter „kosmischer Fraktale” verlegt hatte, stellte sich der Erfolg ein, um den sich ein Geheimnis rankte - das Geheimnis ihres Verschwindens. Ganze drei Monate blieb Belinda Fast wie vom Erdboden verschluckt. Das war ein gutes halbes Jahr nach Aufnahme ihres Studiums. Niemand hatte auch nur den Schatten einer Idee gehabt, wo sie sich aufhalten könnte. Und dann war sie wieder da - ebenso plötzlich, wie sie ein Vierteljahr zuvor verschwand. Dass nie auch nur eine Silbe über ihren Aufenthaltsort über ihre Lippen gekommen war, machte die Geschichte vollends zum Mysterium und regte die Phantasie an. Einzig greifbare Tatsache war und blieb, dass Belinda Fast sich nach ihrem Wiederauftauchen zu gänzlich unerwarteten Höhenflügen in der Malerei aufmachte und bald selbst einen jener unerreichbar scheinenden Gipfel bildete. Mittlerweile erreichten ihre Bilder von „rückwärtigen Sternenkonstellationen” - wie sie selbst dereneigentümlichen Zauber umschrieb - Summen, die in den fünfstelligen Bereich führten. 

Peter Kolustro blickte auf. 

„Hat sie nicht ihren Spitznamen von Studenten dieser französischen Kunstakademie bekommen?” 

„Hinzu kommt noch, dass sie aus Belfast stammt.” 

„Wie konnte es überhaupt zu dem Brand kommen?” 

„Die Feuerwehr fand im Hof zwei leere Benzinkanister.” 

Peter Kolustros Augenbrauen rutschten hoch. „Brandstiftung?” 

„Es sieht wohl danach aus. Die Untersuchungen laufen.” 

„Alle Bilder?” 

Herrmann, dem geschäftliche Misserfolge oder Pannen ebenso peinlich waren wie einem Exhibitionisten ein klemmender Reißverschluss, nahm Haltung an. Er nahm immer „Haltung” an, wenn andere sie verloren. 

Peter Kolustro, nunmehr in Nachdenklichkeit versunken, wandte sich wieder seinen Austern zu - jetzt allerdings mit abgelenkter Nachlässigkeit. „Ein Glas Wein?”, murmelte er.

„Nein danke.” 

Peter schenkte sich ein. „Ein exquisiter Chablis von Louis Michel.” Peter sah auf. „Er ist nie mit Holz in Berührung gekommen. Ich hasse diese Eiche-Vanille-Spielereien! Vergoren in Edelstahltanks und dann direkt auf Flaschen gezogen.” Er nahm einen Schluck. „Nichts auffallendes, aber von kräftiger Beschaffenheit, strenger Säure und trockenem, mineralischem Geschmack. - Wie hoch wird der Schaden geschätzt?” 

„Zwanzig Millionen. Rund gerechnet.” 

Peter lachte auf. „Sehr rund!”