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Bibliothek César Aira

Band 2

Herausgegeben und

übersetzt aus dem Spanischen

von Klaus Laabs

César Aira

Der Beweis

Novelle

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Inhalt

Der Beweis

»Wollen wir ficken?«

Marcia war so überrascht, dass sie nicht gleich verstand. Verstört schaute sie um sich und wollte sehen, woher die Frage kam … Obwohl diese in dem luftig-leichten, folgenlosen und zugleich dichten und temporeichen, etwas wilden Labyrinth von Stimmen und Blicken gar nicht so fehl am Platze war, vielleicht war hier ja gar nichts anderes zu erwarten. Wer aber etwas erwartet …

Drei Straßenecken vor der Plaza Flores fing auf dieser Seite der Avenida eine stillstehende und sich doch bewegende, dreidimensionale Welt von Jugendlichen an, die ihren Zusammenhalt, die Masse, die sie bildete, spüren ließ. Es waren aus Jungen und Mädchen, mehr aus ersteren als letzteren, bestehende Gruppen, die an den Eingängen der zwei Schallplattenläden, auf dem freien Platz vor dem Cine Flores zwischen sowie neben den parkenden Autos herumstanden. Zu dieser Zeit waren sie aus der Schule gekommen und sammelten sich dort. Auch für Marcia war die Schule aus, seit zwei Stunden schon (sie war in der elften Klasse), ihre war aber weit weg von hier, fünfzehn Querstraßen weiter unten, in Caballito, und sie machte gerade ihren täglichen Spaziergang. Marcia hatte Übergewicht und zudem ein Problem mit der Wirbelsäule, das zwar mit sechzehn Jahren noch nicht ernst war, aber irgendwann ernst werden könnte. Niemand hatte ihr die Spaziergänge empfohlen, sie unternahm sie aus therapeutischem Instinkt heraus. Und auch aus anderen Gründen, vor allem aus Gewohnheit; die schwere Depression, die sie hinter sich hatte, mit der Talsohle vor ein paar Monaten, zwang sie, wenn sie überleben wollte, sich viel zu bewegen, was sie auch tat, wennschon zu einem Gutteil aus Trägheit und Aberglauben. Zu dem Zeitpunkt der Leibesübung, kurz bevor sie den Heimweg antreten würde, schien sie die Geschwindigkeit zu drosseln; nach dem eher neutralen Kilometer der Rivadavia, der die beiden Stadtteile voneinander trennte, wurde Marcia jetzt, nachdem sie in diese wieder mehr jugendlich geprägte Gegend eingetreten war, etwas langsamer, wobei sie die Länge des Schritts nicht verkürzte. Sie stieß mit der Ladung frei flottierender Signifikanten zusammen; und jedem Schritt, jedem Armschlenkern wohnten nun unzählige Bedeutungen und Anspielungen inne … Flores, mit all seinem jugendlichen Treiben auf der Straße, erhob sich wie ein Spiegel ihrer eigenen Geschichte, etwas abseits vom Originalschauplatz, aber nicht weit davon entfernt, zu erreichen in einem Abendspaziergang; jedenfalls war es nur logisch, wenn sich die Zeit beim Näherkommen verdichtete. Außerhalb ihrer Geschichte glitt Marcia unnormal schnell dahin, wie ein Körper, der im Äther auf keinerlei Widerstand trifft. Der Widerstand war vermutlich tatsächlich nicht übermäßig groß oder sogar gleich null, wie es ihr während der ziemlich tragischen Phase ergangen war, die in ihrer Erinnerung langsam verblasste.

Obwohl es noch nicht einmal sieben war, war es schon dunkel. Es war Winter, und die Nacht kam früh. Nicht dass es schon stockfinster wäre, bis dahin war es noch eine Weile hin. In der Richtung, in der Marcia lief, lag die Abenddämmerung vor ihr; am Ende der Avenida leuchtete tiefrotes, violettes und oranges Licht; Marcia konnte es erst kurz vor Flores sehen, als die Rivadavia eine sanfte Biegung machte. Es war fast noch heller Tag gewesen, als sie aus der Schule gekommen war, dann aber war es schnell gegangen; im tiefstem Winter wäre um halb sieben bereits Nacht; die Jahreszeit war jedoch schon etwas vorangeschritten, man konnte nicht mehr von den kürzesten Tagen des Jahres sprechen, doch es blieb bei der Kälte, der plötzlich hereinbrechenden Dämmerung und den Vorboten des Abends, wenn sie um fünf Uhr aus der Schule kam. Es musste noch etwas Licht in der Luft sein, selbst um sieben noch, doch der Kontrast der hellen Straßenbeleuchtung ließ den Himmel schwarz erscheinen. Vor allem, wenn man sich der Gegend näherte, wo sich in Flores die Geschäfte dicht an dicht drängten, in der Nähe der Plaza, mit den hell beleuchteten Schaufenstern und Markisen. Das machte den rot glänzenden Sonnenuntergang im Hintergrund unpassend, abgesehen davon, dass er schon nicht mehr rot war, sondern nur noch ein in Grau übergehender blauer Schatten. Hier glitzerte und glänzte das Chrom der Garderobenstangen, vielleicht wegen der Unmenge von Jugendlichen, die sich anschauten, sich unterhielten, die warteten oder mit lautem Geschrei stritten. Auf den vorangegangenen, fast menschenleeren Abschnitten der Avenida (es war hundekalt, und wer nicht mehr jung und von dem unnützen Bedürfnis erfüllt war, sich mit seinen Freunden zu treffen, blieb lieber in seinen vier Wänden) hatten die Lichter scheinbar weniger hell geleuchtet, wobei es allerdings auf der Wegstrecke dort noch nicht so spät gewesen war. Die Uhr schien sich zurückzudrehen, von einer Mitternacht hin zum Abend, Nachmittag, Mittag.

Sie spürte es nicht, oder sie sollte es nicht spüren, weil es Teil des Systems war, doch waren alle diese Jugendlichen gleichermaßen dabei, ihre Zeit zu verschwenden. Das System bestand darin, dass sie glücklich sein mussten. Darum ging es, und Marcia hatte es vollauf begriffen, auch wenn sie an diesem Glück nicht teilhaben konnte. Oder glaubte, dass sie daran nicht teilhaben konnte. Wie auch immer, sie trat in dieses Zauberreich, das kein Ort war, sondern ein Ursprungsmoment des Abends. War sie zu ihm gekommen oder der Nichtort zu ihr? Hatte er sie erwartet? Sie stellte sich keine Fragen mehr, sie war angekommen. Sie war so weit zu vergessen, dass sie lief, dass sie in einer bestimmten Richtung (eigentlich ging sie nirgendwohin) anlief gegen den sanften Widerstand von Licht und Dunkelheit, von Schweigen und ihre Gesichter verändernden Blicken.

Alle betrachteten einander, begegneten sich, dafür waren sie ausgegangen. Sie redeten, schrien und flüsterten sich Geheimnisse zu, doch löste sich alles in schwindelerregendem Tempo in Nichts auf. Das Glück, einen Ort und einen Augenblick miteinander zu teilen, war so. Man musste zickzack laufen, um aus den Kreisen, in denen sich das Geheimnis spiegelte, wieder herauszufinden. Das Geheimnis war, Kind zu sein oder nicht. Dennoch kam auch Marcia nicht umhin zu schauen, zu sehen und sich der allgemeinen Aufmerksamkeit auszusetzen. Von den Grüppchen lösten sich unaufhörlich ein paar Jungen und Mädchen, rannten hierhin und dorthin, redeten wild gestikulierend und kehrten stets an den Ausgangspunkt zurück. Dieses ganze Stück Straße war dicht bevölkert, es war ein Kommen und Gehen, wobei es sich offenbar vor allem darum drehte, die Gesamtzahl stabil zu halten. Alle erweckten sie den Eindruck kurzatmiger Geselligkeit. Es sah wirklich nicht danach aus, als würden sie hier Wurzeln schlagen wollen, vielmehr schienen sie wie Marcia irgendwohin unterwegs zu sein. Es war kein Raum des Widerstands – allenfalls eines poetischen, imaginären –, sondern ein von lautem und leisem Lachen erfüllter sanfter Tumult. Alle schienen sie sich zu streiten.

Immer wieder waren Wörter zu hören wie »Sackgesicht!« oder »Arschloch!«, meist war es: »Boludo!«. Nie aber prügelte sich wer. Zwar überschütteten sie sich mit Beschimpfungen, aber das gehörte einfach dafür. Marcia sah niemand, dafür waren sie viel zu hektisch und lärmend mit sich selbst beschäftigt. Es war ja auch nur ein Augenblick, wenn sie vorbeikam – ein paar Meter, und schon war sie entschwunden. Ein dichtes Geschiebe wurde es hinter der Calle Gavilán. An der Ecke, wo La Casa del Sr. Duncan ist, ein angesagtes Tangolokal, war es etwas dunkler. Hier kamen sie am besten zur Geltung, und hier standen sie, die typischen Flores-Jungs: lange Haare, Lederjacken, die Motorräder auf dem Bürgersteig geparkt. Hier herrschte innehaltende Dringlichkeit. Neben einem geschlossenen Zeitungskiosk war ein Blumenstand, und im Umkreis von zwanzig, dreißig Metern, bis hin zum ersten Eingang des Einkaufscenters, in dem es einen weiteren Plattenladen gab, waren die Jugendlichen in Grüppchen unterwegs und veranstalteten, zumindest jetzt, ein regelrechtes Schaulaufen. Marcia wusste, dass sich zu dieser Zeit an der nächsten Ecke, gegenüber von der Apotheke, immer haufenweise Jungs sammelten, die, je weiter man kam, desto typischer für die Gegend wurden. Noch aber befand sie sich an der Ecke davor, der Duncan-Ecke, wo die Jungs mit den Motorrädern standen … Aus dem Plattenladen hörte sie schon einen Song von The Cure, die fand Marcia toll.

Die Musik hob ihre Stimmung und machte sie geradezu überglücklich. Da das nicht schon die Musik der beiden Plattenläden an der Ecke zuvor geschafft hatte, konnte es nur am guten Cure-Sound liegen, obwohl es vielleicht auch den insgesamt auf sie einstürmenden Eindrücken geschuldet war. Die Musik war das i-Tüpfelchen, das gefehlt hatte, damit sie sich bei ihrem Spaziergang federleicht und beschwingt fühlte. All die Blicke, die Stimmen, durch die sie dahinglitt, wurden in der Nacht eins. Denn es war Nacht. Der Tag war vorbei, und die Welt war in Nacht getaucht; um diese Zeit war es im Sommer noch heller Tag, jetzt war es Nacht. Noch nicht die echte Nacht, die Nacht, um schlafen zu gehen, sondern eine, da es Winter war, dem Tag aufgepfropfte Nacht.

Sie lief in den Glanz ihrer sechzehn Jahre gehüllt. Marcia war blond, untersetzt, halb Kind, halb erwachsen. Sie trug einen Wollrock, einen dicken blauen Pullover und Schnürschuhe. Das Gesicht war vom Laufen ganz rot, allerdings hatte es auch sonst einen rötlichen Schimmer. Sie wusste, dass sie am falschen Ort unterwegs war; sie hätte zu einer der Cliquen gehören müssen, in denen es mehr als genug Mädchen wie sie gab, die schwatzten und lachten, nur dass sie in Flores eben niemanden kannte. Sie sah aus wie ein Mädchen, das irgendwohin unterwegs war und zufällig hier vorbeikam. Es war ein Wunder, dass man ihr keine Werbeprospekte in die Hand drückte; das passierte ihr normalerweise immer, nur heute nicht, durch absoluten Zufall waren alle Prospektverteiler, gerade wenn sie vorbeikam, abgelenkt. Man konnte glauben, sie sei ein Gespenst und unsichtbar. Das machte sie mehr und mehr zum leeren Zentrum der Blicke und Gespräche aller …, sofern von Gesprächen die Rede sein konnte. Wenn sich niemand und nichts auf sie richtete, dann weil alles und alle ohne Richtung waren. Sie lief in einer Wolke aus ihr unbekannten Jugendlichen …

»Dich meine ich …«

»Mich?«

»Wollen wir ficken?«

Aus dem großen Geschiebe, oder war es eines der vor dem Duncan stehenden Grüppchen, hatten sich zwei Mädchen gelöst und liefen hinter ihr her; sie brauchten nicht lange, dann hatten sie Marcia, die nur ein paar Meter weiter war, eingeholt. Eine der beiden redete, die andere blieb mit gespannter Aufmerksamkeit in geringem Abstand nahebei. Als Marcia endlich begriff, wer sie angesprochen hatte, blieb sie stehen und blickte sie an.

»Sag mal, spinnst du?«

»Nein.«

Es waren zwei Punks, zwei in Schwarz gekleidete junge Mädchen, vielleicht ein bisschen älter als sie selbst, mit blassen Kindergesichtern. Die, die sprach, stand nun direkt vor ihr.

»Du bist echt klasse, ich will mit dir ficken«

»Geht’s noch?«

Marcia schaute zu der anderen, die ähnlich gekleidet war und sehr ernst dreinschaute. Es sollte anscheinend kein Witz sein, sie kannte die zwei nicht, erkannte sie jedenfalls nicht in der Verkleidung. Es war etwas Ernst- und zugleich Wahnhaftes an den beiden und an der Situation. Marcia verschlug es vor Staunen die Sprache. Sie wandte den Blick ab und lief weiter, doch die Punkerin ergriff ihren Arm.

»Auf dich scheiß Dicke habe ich gewartet … Stell dich nicht so an. Ich will deine Möse lecken, komm, lass mich kosten!«

Marcia riss sich sofort wieder los, wandte sich aber trotzdem um, ein zweites Mal, sie wollte nicht die Antwort schuldig bleiben.

»Du hast sie ja wohl nicht mehr alle!«

»Komm mit, ins Dunkle«, sie wies hinter sich auf die Calle Gavilán, in der es unter den großen Bäumen tatsächlich stockfinster war. »Ich will mit dir knutschen.«

»Lass mich in Ruhe.«