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Bibliothek César Aira

Band 3

Herausgegeben und

übersetzt aus dem Spanischen

von Klaus Laabs

César Aira

Der kleine buddhistische Mönch

Novelle

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INHALT

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

I

Ein kleiner buddhistischer Mönch sehnte sich danach, aus seiner Heimat auszuwandern, die keine andere war als Korea. Es zog ihn nach Europa oder Amerika. Der Plan war schon in frühester Jugend, fast noch Kindheit in ihm gereift und hatte sein ganzes Leben überstrahlt. In dem Alter, da andere Kinder die sie umgebende Welt erforschen, wurde er von der Sehnsucht nach fernen Welten ergriffen, und alles, was er um sich her erblickte, sah er als träumerisches Vorzeichen einer wahren Wirklichkeit, die ihn auf der anderen Seite des Planeten erwartete. Er konnte es nicht mehr mit Gewissheit sagen, doch er hätte schwören mögen, dass er schon nach Europa oder Amerika wollte, bevor er überhaupt wusste, was das ist, so als wäre in ihm das Fernweh von Beginn an einprogrammiert gewesen. Jedenfalls währte seine Unwissenheit, sofern es sie bei ihm gegeben hatte, nicht lange, denn schon die ersten Bücher, die er las, beschäftigten sich mit der Geografie der Länder seiner Sehnsucht, und später nahm ihn das Studium ihrer Kulturen genauso oder sogar mehr noch in Anspruch als seine religiöse Bildung, die in der Sekte, der er angehörte, über alles ging. Intelligent und zielbewusst, wie er war, machte er trotz seiner geradezu unglücklichen Kleinheit eine kometenhafte Mönchskarriere, derweil er des Nachts Sprachen erlernte, Geschichte, Philosophie, Politik und Psychoanalyse studierte und zudem Shakespeare, Balzac, Kafka las sowie alles, was er für nützlich erachtete. Der kleine buddhistische Mönch war ein lebender Beweis für die Redensart »klein, aber oho«.

Natürlich hatte er mit seiner geistigen Vorbereitung das Problem nur zur Hälfte gelöst, und zwar die zweite Hälfte vorneweg; offen blieb die erste, die mit den unumgänglichen praktischen Fragen. Zunächst fehlte ihm schon mal jedwede vernünftige Möglichkeit, das für ein Flugticket nötige Geld zusammenzubringen. Des Weiteren kannte er in der erträumten Ersten Welt niemanden, der ihm dort eine Arbeit vermittelte, von welcher er seinen Lebensunterhalt würde bestreiten können. Noch schwerwiegender war, dass er nicht wusste und sich nicht im Geringsten vorzustellen vermochte, was für eine Art von Arbeit das überhaupt sein könnte. Er besaß keinerlei Berufsausbildung, zumindest keine Ausbildung für einen gewöhnlichen Beruf. Er wusste zwar, dass der Buddhismus zeitweise in dem einen oder anderen westlichen Land oder auch einmal in allen gleichzeitig in Mode war, und es entging ihm dabei nicht, dass die größten Anhänger dieser Mode unter den Vertretern der begüterten Klassen dieser Länder zu finden waren. So ein originelles Mitbringsel wie der kleine buddhistische Mönch kostete sie einen Klacks, und er wusste in der Tat von etlichen Landsleuten, die in diesem einträglichen Geschäft untergekommen waren. Dies allerdings im Rahmen von Institutionen, die sie in die Welt entsandten, sie finanziell ausstatteten und für ihre Echtheit bürgten. Bedauerlicherweise huldigte die Sekte, der er angehörte, einer extremen Ortsgebundenheit, sie enthielt sich jeder Proselytenmacherei, war prinzipiell gegen Populärunterricht eingestellt und verabscheute jegliche Institutionalisierung. Das ging so weit, dass es, genau genommen, ein sprachlicher Lapsus war zu sagen, er würde dieser Sekte »angehören«, da ihre Mitglieder, sobald sie ihr Studium abgeschlossen hatten, auf Gedeih und Verderb sich selbst überlassen waren, ohne Oberhäupter, Klöster oder Ordensregeln. Sie waren Wander- oder Bettelmönche, Geheimmönche oder, wenn ihnen das lieber war, sesshafte Finanzleute und öffentliche Prediger, kurz gesagt, sie konnten sein, was sie wollten, und schuldeten niemandem Rechenschaft. Sie hatten auch keine Möglichkeit, sich untereinander zu erkennen. Womöglich waren sie ja allesamt in dem Auswanderungsprojekt verwickelt und wussten es nur nicht, jeder dachte, er wäre der Einzige. Vielleicht waren sie auch alle von derselben geringen Körpergröße wie der kleine buddhistische Mönch und wussten auch das nicht.

Ein Projekt zu verfolgen kann helfen, das Leben lebbar zu machen, selbst wenn es ein Irrsinnsprojekt ist, das nicht zu verwirklichen ist, dann sogar umso mehr, weil es auf umso längere Zeit angelegt ist und weil sich umso mehr Menschen darin wiederfinden. Praktische Leute sagen, Träume taugten zu nichts; doch sie werden nicht leugnen können, dass sie immerhin zum Träumen taugen. Dem kleinen buddhistischen Mönch hatte der Traum von der Reise einen Sinn im Leben beschert. Ohne ihn hätte sich sein Dasein in den unbeständigen Nichtigkeiten der koreanischen Zeitgeschichte verloren, und all seine Mühen wären vergebens gewesen. Dank dem Projekt diente jede seiner Studien und Lektüren dem Großen und Ganzen, und nichts war umsonst. Wenn sich ein Hochasiate fragte, was es miteinander gemein habe, Hegel zu studieren, Truman Capote zu lesen, die Grundrisse der Loire-Schlösser zu durchmustern und sich in die Machtkämpfe zwischen Guelfen und Ghibellinen, Tories und Whigs, Republikanern und Demokraten zu versenken, so könnte er darin Bruchstücke eklektischen Bücherwissens vermuten, und bei jedem anderen wäre es tatsächlich nur Futter einer ziellosen Neugierde. Bei ihm aber war alles auf ein Ziel ausgerichtet. Praktisch jede Regung seines wachen Geistes, ganz gleich, in welches Gebiet er eintauchte, führte zum letzten Zweck. Mit einem Wort, das Auswanderungsprojekt war der Kompass, der seinem Leben Orientierung verlieh, und wer einen Pleonasmus darin wittert, wenn ein Orientale in Fernost Orientierung braucht, der darf nicht vergessen, dass es den Orient nicht gäbe, wäre nicht auf der anderen Seite der Okzident, und der genau war es, um den in schlafloser Nacht die Gedanken des kleinen buddhistischen Mönchs kreisten.

Doch eines Tages würde sein Traum Wirklichkeit werden, dachte er, als er den Blick zum Himmel hob, in dessen weiter Ferne sich die Himmelreiche widerspiegelten, die auf ihn warteten. Träumen kostet nichts, sagte er sich. Und wenn sich die Wirklichkeit durch die Gleichsetzung mit sich selbst definierte, sah er in der umgekehrten Aufschichtung antipodischer Himmel das triumphierende Einswerden von Traum und Leben.

II

Der Fluchtweg tat sich eines Tages unerwartet in der Person eines französischen Fotografen auf, der Korea besuchte. Außer unerwartet war er auch hochgradig zufällig, wie es die Schachzüge des Schicksals zu sein pflegen, wenn es etwas im Schilde führt. Vor einem großen Hotel, an dem, in seine Träumereien versunken, der kleine buddhistische Mönch vorbeispazierte, wäre er fast von einem Ehepaar zertrampelt worden, als dieses, von der Drehtür hinauskatapultiert, auf die Straße trat. Er unternahm ein schnelles Manöver, machte einen Sprung zur Seite und zwei, drei schnelle Schritte vorwärts, und brachte sich so aus der Fußlinie. Er war derlei Ausweichmanöver gewohnt, ein sechster Sinn warnte ihn vor der Gefahr; bei seinen Spaziergängen im Innenstadtgewimmel kam es derart häufig zu solchen Zwischenfällen, dass er sich nur durch unablässiges Umhertänzeln fortbewegen konnte. Seine Minimalgröße sorgte dafür, dass er des Öfteren übersehen wurde, und selbst wenn nicht, fiel es dem normal großen Fußgänger nicht leicht, die Folgen der beiderseitigen Ortsveränderung richtig einzuschätzen, entsprach doch ein Schritt von ihm fünf Schritten des kleinen buddhistischen Mönchs.

Der Mann und die Frau, die aus dem Hotel auftauchten, waren von hünenhafter Statur. Er, stämmig und groß wie ein Basketballspieler, trug einen großen Rucksack, Bergsteigerschuhe, Hosen mit zahllosen Taschen, die so prall gefüllt waren, dass sie jeden Augenblick zu platzen drohten, und eine Jacke, die seinen Beruf verriet. Sie, kaum weniger hünenhaft, war aschblond, hatte ein Pferdegebiss, dabei aber schmale Lippen, die ihre drahtverstärkten, hervorstehenden Zähne nicht vollständig zu bedecken vermochten, und rote Hände. Sie trug einen eleganten Herrenanzug. Von den Höhen ihrer beider Korpulenz aus hatten sie die Gegenwart des von ihnen um ein Haar breitgewalzten kleinen Wesens gar nicht bemerkt, und hätten sie nicht die Richtung gewechselt, um an die Bordsteinkante zu treten, dann wäre es eine Sekunde später ihrem Blickfeld entschwunden; offenbar wollten sie ein Taxi heranwinken. Und hätte er nicht diesen Kurswechsel bemerkt, der ihn zu einem zweiten Ausweichmanöver zwang, so wäre der kleine buddhistische Mönch augenblicklich wieder in seine Träumerei versunken und seines Wegs gegangen, indem er im Menschengedränge neuerlich kleine Sprünge gemacht und seinen Schritt beschleunigt hätte. Und es wäre zweifellos so gekommen, hätte er nicht einen Satzfetzen in einer der Fremdsprachen aufgeschnappt, die er beherrschte. Der genaue Wortlaut war: »quelqu’un qui parle français«, und bestimmt waren die Worte gefallen, als sie darüber berieten, welches Taxi sie nehmen sollten. Sie hofften wohl (naiv, wie sie waren) auf einen Taxifahrer, der ihre Sprache konnte.

Sodann, noch ehe die Geschichte ins Rollen kam, war da noch der letzte Moment, in dem das Schicksal wählen konnte zwischen dem, was passierte, und dem, was hätte passieren können. Hätte der kleine buddhistische Mönch auch nur einen Augenblick gezögert, wäre ihm auch nur der flüchtigste Gedanke an seine Schüchternheit und Bedeutungslosigkeit oder an die Vergeblichkeit allen Tuns durch den Kopf gegangen – er hätte den Mund nicht aufgetan. Da dem aber nicht so war, sprach er den Satz, der dem, was er gehört hatte, auf dem Fuße folgte: »Moi, je parle français.« Er verschwendete keinen Gedanken daran, dass das Gehörte nur ein Bruchstück war. »Jemand, der Französisch kann« hätte ja auch das Satzende sein können von »Hoffentlich haben wir nicht Pech und treffen auf jemand, der Französisch kann.« Was wieder einmal zeigt, dass es manchmal besser ist, nicht zu denken.

Als das französische Paar gerade im richtigen Augenblick die unerwartete Antwort vernahm, staunten die zwei nicht schlecht. Für einen Moment müssen sie gedacht haben, es mit einem überirdischen Phänomen zu tun zu haben, das sie womöglich der Korea innewohnenden Magie zuzuschreiben hätten; es ist nur zu natürlich, dass Touristen, vor allem, wenn sie von wirklich weither kommen, maßlos übertriebene Vorstellungen mitbringen oder einen Teil ihrer Erwartungen in verheißungs- und lustvoller Verschwommenheit belassen, so als würden sie das Allerseltsamste, was ihnen passieren könnte, nicht von vornherein ausschließen wollen. Und für einen Europäer ist ein so ferner Osten schon an sich ein Zauberreich. Dieser Moment dauerte etwas länger, als er wohl hätte dauern sollen, denn als sie sich umschauten, erblickten sie niemanden mehr. War die Stimme von ihnen selbst ausgegangen, aus dem Mysterium des Ehebunds? Zu diesem Eindruck trug bei, dass die Antwort akzentfrei gesprochen war. Als sie den kleinen buddhistischen Mönch schließlich doch noch zu sehen bekamen, lächelten sie und begrüßten ihn geradezu überschwänglich.

Mit diesem winzigen Zwischenfall begann eine für beide Seiten fruchtbare Beziehung. Der kleine buddhistische Mönch sah sofort seine Chance gekommen. Aber Chance wozu? So als würde ihn im nächsten Moment eine Lokomotive überfahren, lief, was kommen sollte, vor seinem inneren Auge ab. Ein reicher französischer Weltenbummler (es war ein Fünf-Sterne-Hotel) … er würde ihm als Fremdenführer dienen, ihm beweisen, was er wert war, zu des Franzosen unersetzlichen Assistenten werden und von ihm mit diplomatischem Geschick die Gunst erlangen, ihn auf der Rückreise begleiten zu dürfen. Für all das brauchte er nur einen Funken Fantasie, aber schöner noch war das Leben, das er in Paris führen würde, das Feuer, das dieser Funke entzünden würde. Er war überwältigt. Ihm war, als wäre ihm der Auswanderungsgedanke erst in diesem Augenblick gekommen, und zwar mit einer solchen Leuchtkraft, dass er im Nachhinein sein ganzes vorheriges Leben überstrahlte und ihm den Sinn gab, dessen es ihm bis dato gemangelt hatte.

III

Die erste und wichtigste Konsequenz aus dem kurzen Wortwechsel an der Bordsteinkante bestand darin, dass die Franzosen darauf verzichteten, ein Taxi zu nehmen. Denn sie mussten sich eingestehen, dass sie eigentlich gar kein bestimmtes Ziel hatten, das heißt, sie hatten zwar eins, wussten aber nicht, wo es war (diese Unwissenheit würde sich wenig später aufklären). Das Auftauchen dieses, wie sie ihn nannten, »Mannes, den die Vorsehung geschickt habe« – wobei sie sich eingestehen mussten, dass die Redewendung merkwürdig klang, angewandt auf jemanden, der so kleingewachsen war wie der kleine buddhistische Mönch –, ersparte ihnen unnötige Herumfahrerei.