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Ingrid Schramm/Michael Hansel (Hrsg.)

Hilde Spiel und der literarische Salon

Ingrid Schramm/Michael Hansel (Hrsg.)

Hilde Spiel und der literarische Salon

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Für die Bereitstellung von Fotografien und einer Musikhandschrift aus dem Bildarchiv sowie der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek danken wir Herrn Dr. Hans Petschar und Herrn Mag. Peter Prokop, Herrn Dr. Thomas Leibnitz und Frau Mag. Christa Traunsteiner.

Wir danken Frau Isolde Moser, Herrn Dr. Heinz Bachmann, Frau Herta Bellingrath, Herrn Dr. Peter Fabjan, Frau Lotte Ingrisch und der Familie de Mendelssohn für die freundliche Abdruckerlaubnis von bzw. aus Originalmaterialien von Ingeborg Bachmann, Arpad Bellingrath, Thomas Bernhard, Gottfried von Einem und Hilde Spiel.

Trotz aller Bemühungen ist es uns nicht gelungen, sämtliche Rechteinhaber ausfindig zu machen. Wir bitten daher, sich mit dem Verlag in Verbindung zu setzen, damit wir die üblichen Vergütungen vornehmen können.

Abbildungen, die nicht eigens mit einer Signatur versehen sind, stammen aus dem Nachlass Hilde Spiel, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Sign.: 15/W10, 15/W518/16, 15/L10 bis L14

© 2011 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: order@studienverlag.at

Internet: www.studienverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7065-5713-9

Buchgestaltung nach Entwürfen von Kurt Höretzeder

Satz: Studienverlag/Maria Strobl, maria.strobl@gestro.at

Umschlag: Studienverlag/Karin Berner, nach einem Entwurf von Stefan Rasberger

Umschlagbild: © Arpad Bellingrath, aus dem Bestand des Literaturarchivs der

Österreichischen Nationalbibliothek

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at

Inhaltsverzeichnis

Zur Einführung

Bernhard Fetz

„Wie du schreibt niemand mehr“

Julian Schutting

„Nichts weniger als die Erneuerung der Weiblichkeit“

Wiener Salonkultur ab der Jahrhundertwende

Deborah Holmes

Mit Mozart unter einem Dach

Fanny von Arnstein im Blickfeld ihrer Biografin Hilde Spiel

Ingrid Schramm

Hilde Spiels literarische Netzwerke

Hans A. Neunzig

Das Ehepaar Spiel-Mendelssohn im Berlin der Nachkriegszeit

Esther Schneider Handschin

Hilde Spiel – Ein Lebensentwurf zwischen Kaffeehaus und Salon

Evelyne Polt-Heinzl

Tagebucheintrag

Peter Turrini

„Der grüne Salon am Dittelbach“

Ein Spaziergang durch das Gästebuch
von St. Wolfgang

Michael Hansel und Ingrid Schramm

Das Café Bazar in Salzburg und Hilde Spiel als Korrespondentin der Salzburger Festspiele

Christa Gürtler

Erinnerungen an eine große Vorgängerin

Ulrich Weinzierl

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Bernhard Fetz

Zur Einführung

Vielleicht lässt sich das weitverzweigte Lebenswerk Hilde Spiels am ehesten mit dem Begriff der Übersetzung fassen. Übersetzerin in eine andere Kultur – das war die Emigrantin und vielversprechende österreichische Schriftstellerin aus Wien gezwungenermaßen, und sie war es ihrem intellektuellen Profil entsprechend als Schriftstellerin in einem weiten angel-sächsischen Sinne: Hilde Spiel war Erzählerin, Essayistin und Journalistin, mit einer Selbstverständlichkeit, der im deutschsprachigen Raum bis heute mit literaturpuristischen Vorbehalten begegnet wird. 1936 nach London emigriert, meisterte sie die Übersetzung in einen englischen Kontext mit Bravour, indem sie bald auf Englisch schrieb, indem sie englische Autoren ins Deutsche übersetzte und indem sie sich im internationalen P.E.N.-Club engagierte.

Nach dem Krieg vollzog sich ihre langsame Rückkehr nach Österreich im Zeichen vielfältiger publizistischer Aktivitäten. So war sie „War Correspondent“ des New Statesman und verfasste außerdem eine Reihe an kulturpolitischen und literaturkritischen Artikeln. Als politisch frei denkende Publizistin geriet sie fast zwangsläufig zwischen die Fronten des Kalten Krieges, was schließlich zu der Auseinandersetzung mit ihrem „Freundfeind“ Friedrich Torberg führte, dem bekanntermaßen jegliches Nachdenken über einen „Dritten Weg“ als Kniefall vor dem Sowjet-Kommunismus erschien. Die Übersetzung der Rhetorik des Kalten Krieges in eine differenzierte politische Analyse fiel auch vielen klugen Köpfen schwer, für Hilde Spiel war sie selbstverständlich.

Ins Bewusstsein der österreichischen und deutschen Öffentlichkeit trat Hilde Spiel vor allem als österreichische Kulturkorrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dies in einer für die neuere österreichische Literatur entscheidenden Phase ab Mitte der 1960er Jahre. Sie würdigte früh Thomas Bernhard, sie setzte sich für die frühen Stücke Peter Turrinis ein, und sie kannte keine Berührungsängste gegenüber den verschiedenen Lagern innerhalb der österreichischen Literatur-Szene dieser Zeit. Als Generalsekretärin und Vizepräsidentin des österreichischen P.E.N.-Clubs, bezeichnenderweise nicht als dessen erste weibliche Präsidentin, war sie um Ausgleich und Verständigung mit den jüngeren Autoren bemüht, die sich später in der Grazer Autoren Versammlung organisierten. Auch diese Übersetzungs-Versuche scheiterten an einem kulturellen Klima, das von Ignoranz gegenüber moderner Kunst und von persönlichen Ressentiments geprägt war.

Die intellektuellen, ästhetischen und biografischen Bruchlinien jener Jahre stehen in enger Beziehung zu den gesellschaftlichen Netzwerken, den sozialen und politischen Bindungen der Akteure. Nicht zuletzt deshalb ist es spannend, von Hilde Spiel ausgehend einen Blick auf diese Netzwerke zu werfen, auf informellere wie ihren Salon in St. Wolfgang oder auf formellere im Umkreis von Zeitschriften und kulturpolitischen Initiativen. Hier, in bürgerlichen Salons, in verrauchten Hinterzimmern, auf den Veranden von Salzkammergut-Villen verschwammen die Gegensätze im intrikaten Spiel von Sympathien und persönlichen Interessenlagen. Diese Nebenschauplätze des intellektuellen und literarischen Betriebs wurden nicht selten zu Hauptschauplätzen, wenn sich das dort erworbene gesellschaftliche Kapital in Karrieren ummünzen ließ, sie waren aber, vor allem in den literarischen Salons der Aufklärung, auch Orte freier Meinungsäußerung über gesellschaftliche Barrieren hinweg. Es ist kein Zufall, dass die assimilierte Wiener Jüdin Hilde Spiel ein Buch über die an ihrem Glauben festhaltende Jüdin Fanny von Arnstein schrieb, die einen der bekanntesten Salons des 18. Jahrhunderts führte. Vom Tratsch bis zum freien Gespräch selbstbestimmter Bürger reicht das Spektrum dessen, was als Salon, als Netzwerk firmiert. Wobei zu betonen ist, dass der halböffentliche Salon – oder das, was sich nach dem radikalen Bruch mit den bürgerlichen Werten durch die Nationalsozialisten in die Zeit nach 1945 retten ließ – eine Domäne intellektueller Frauen war. Als gleichberechtigte Partnerinnen kamen sie auch in den Kulturkämpfen der Nachkriegszeit nicht vor.

Der Nachlass Hilde Spiels am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek zeigt die Schriftstellerin und Netzwerkerin Hilde Spiel in all ihren Facetten, am Nachlass wird ablesbar, wie die persönliche und die öffentliche Figur zusammengehören; er zeichnet kein integrales Bild, denn die „Wahrheit“ einer Person ist immer nur in Bruchstücken zu haben. Als kritische Hommage in diesem Sinne und als Beitrag zu den dampfenden „Namensküchen“ eines vergangenen, wiewohl nachwirkenden Literaturbetriebs ist der vorliegende Band gedacht.

Julian Schutting

„Wie du schreibt niemand mehr“

Hilde Spiel – dieses Jahr hätte sie den 100. Geburtstag! Studenten der Theaterwissenschaft ist sie ein Begriff, erst recht den um einiges älteren Intellektuellen, die ihre kulturpolitischen Glossen, Theater-, Konzert- und Opernrezensionen in der FAZ geschätzt haben, betreffend Wien und die Salzburger Festspiele – mit hoher Disziplin hat sie ja dieses Amtes noch in den späten 1980er Jahren gewaltet.

In der Wiener Kulturwelt war sie auch wegen ihres selbstbewussten Auftretens eine Figur, und ihr Charme und Witz, ihr Sinn für freiwillige Komik hatten es vielen jüngeren Künstlern diverser Sparten angetan ... Ihre autobiografische Erzählung Rückkehr nach Wien, nämlich aus dem Londoner Exil fürs Erste in britischer Uniform, hat viele berührende Momente, wie viel später ihre gleichfalls unprätentiös geschriebenen Memoiren (Welche Welt ist meine Welt?).

In den 1980er Jahren ist ihr mit der Wiener Kulturgeschichte Vienna’s Golden Autumn etwas ganz Besonderes gelungen, so schwungvoll und unerschrocken geschrieben, wie es kein Fachmann wagen würde oder zustande brächte: Universell war sie gebildet und ihr Stil so charmant wie sie. In den 1950er Jahren wäre sie eine „Salonkommunistin“ gewesen? Doch eher zeitlebens „monarchistisch“ angehaucht (als ein Mäderl hat sie das Begräbnis des Kaisers noch miterlebt, ihr Vater hatte es in der k.u.k.-Armee zum Offizier gebracht).

Auch Romanautorin. Zu ihrem Kummer ist sie ihres Erachtens nur als eine Essayistin geschätzt worden, obwohl sie doch auch neben Erzählungen Romane publiziert hat, deren einer, in der Zeit der Emigration aus Heimweh nach Österreich geschrieben, zart „historisch“ anmutet: Er enthält den Ringtheaterbrand. Claus Peymann hat im Vestibül des Burgtheaters ihr aus einer Erzählung hervorgegangenes Dramolett Anna und Anna in prominenter Besetzung aufführen lassen, wohl auch wegen der am Beispiel Burgtheater genau recherchierten NS-Kulturpolitik (es gibt davon eine fürs Fernsehen adaptierte Version, die zu ihrem Hundertsten wieder einmal ausgestrahlt werden sollte), nach der Premiere hatte auch Hilde Spiel den Laufsteg zu betreten, hat mit einem reizenden Knicks gedankt ...

Dass sie nicht die Schriftstellerin geworden ist, die sie in sich gehabt hätte, das sei den Zeitläufen angelastet. Sie war eine vielbegehrte Diskutantin, hofiert von ÖVP und SPÖ, auch im Club2: Pointiert hat sie sich kurz gefasst, während manch anderer für einen halben Gedanken viele Sätze benötigt hat. Und das Deutsch, das sie gesprochen hat, war vom reichsdeutschen und vom österreichischen Deutsch gleich weit entfernt!

Als eine gewissenhafte Theaterrezensentin hat sie sich bei den Proben die ersten Notizen gemacht nach gründlicher Beschäftigung mit dem jeweiligen Stück, hatte ja am Morgen nach der Premiere ihren Text nach Frankfurt, an die FAZ, „durchzutelefonieren“, und geradezu skrupelhaft war sie als eine Übersetzerin aus dem Englischen, obwohl das Englische längst ihre zweite Muttersprache geworden war: Im Übersetzen von Tom Stoppards Theaterstücken hat sie in ihren Englisch-Deutsch-Wälzern so gut wie jedes Substantiv, Adjektiv und Verb nachgeschlagen – es könnte ihr ja eine hyperpoetische Bedeutung entgangen sein. Oder ihr Gezauder vor adäquater Übertragung eines der Jugendwerke eines hochberühmten Dichters: „Bilde ich diese reizvollen sprachlichen Unzulänglichkeiten nach, in denen sich seine spätere Manier ankündigt, so riskiere ich das Urteil, die Übersetzung sei schwerfällig!“

Kompliment von Bernhard. „Wie du schreibst, so schreibt niemand mehr!“ – dieses prekäre Kompliment ihres Freundes Thomas Bernhard hat ihr unwiderstehliches Lachen entlockt, und es dürfte Marcel Reich-Ranicki gewesen sein, der der von ihm aufgrund ihrer tief weiblichen Ausstrahlung und ihrer von Schwermut getragenen Leichtlebigkeit Verehrten ins Gesicht gesagt hat, sie sei ein „Fossil“ – dieser wie jener wollte damit sagen, dass Hilde Spiel, eine Meisterin des Feuilletons, einer so gut wie ausgestorbenen literarischen Gattung, als eine Kosmopolitin den geistigen, den humanistischen Werten verpflichtet geblieben ist, die mit der Welt von (vor)gestern in den 1930er Jahren hinweggerafft worden sind ...

Bei Charlotte Bühler hat sie studiert, bei Moritz Schlick, geprägt vom Wiener Kreis aller „aprioristischen Philosophie“ abgeneigt, also aller Metaphysik. Eine Agnostikerin, die Äquidistanz zum Judentum und Christentum gewahrt hat, gar nicht erfreut, wenn sie (schließlich hat die jüdische Thematik in ihrem Werk keinerlei Bedeutung gehabt) als eine „jüdische Schriftstellerin“ reklamiert wurde – „Gelten noch die Nürnberger Gesetze?“

Mit wem nicht allem an Größen sie befreundet war; wer da nicht aller in ihrem Haus im Salzkammergut zu Besuch war, angefangen von Canetti, wenn es ihr schon verwehrt war, in Wien einen Salon zu führen wie adelige Damen hingegangener Zeiten, das bekäme sie nun gern zu hören, wohl lieber, als dass sie einem Doderer mit einem erhellenden Essay zu seinem Durchbruch verholfen hat wie Jahre später einer Inge Merkel – aber sie ließe sich von mir auch gern daran erinnern, mit wie sparsamen Bewegungen sie das Lernet-Sportboot Alexander Holenias gerudert hat.

Oder daran, dass sie, eine junonische Erscheinung, in jederlei Gesellschaft und zu jedem Anlass stimmig gekleidet war wie kaum eine andere. Oder dass sie dank ihrem charaktervollen Gesicht wohl einen jeden, der sie nicht kannte, sie einzuschätzen veranlasst hat: Ist das eine Künstlerin, welcher Sparte auch immer, oder eine Geisteswissenschaftlerin?

Mein Enthusiasmus möge sie verjüngt haben in ihren späteren Jahren, und meinen Dank für die sieben Sommer- und Winterferien in ihrem Salzkammerguthaus habe ich ihr erst mit einem Gedenkbuch abgestattet, als sie nicht mehr ins Ätherische verfeinert war – „Was du mir wünschen sollst, kannst du mir in Worten nicht wünschen, also geh jetzt – alles Gute für Tirol!“ (Das war der Abschied von ihr für immer.)

Erstabdruck in Die Presse am 14.03.2010. Abdruck im vorliegenden Band mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Deborah Holmes

„Nichts weniger als die
Erneuerung der Weiblichkeit“

Wiener Salonkultur ab der Jahrhundertwende

Hilde Spiel kam 1911 zur Welt, zu einem Zeitpunkt, in dem Wien im Nachhinein betrachtet zwischen zwei Extremen zu liegen schien. Um 1900 galt die wohlhabende, glanzvolle österreichische Hauptstadt als Hort der kulturellen Fülle und Innovation. Ab 1918 wird das verarmte Nachkriegs-Wien nur mehr als kulturelle Geisterstadt wahrgenommen. Oft – zu oft könnte man meinen – werden diese beiden Abschnitte als krasse Gegensätze dargestellt. Über die vielfältigen Strömungen des Fin de siècle und ihre Ursprünge lässt sich genauso streiten wie über die vermeintlich geistige und künstlerische „Verarmung“ der Zwischenkriegszeit. Worüber sich aber nicht streiten lässt, ist die Tatsache, dass keine kulturelle Institution in jener Zeit verschont blieb, weder von den Polemiken der Jahrhundertwende noch von der Wucht des Zusammenbruchs am Ende des Ersten Weltkriegs – und das gilt vielleicht umso mehr für eine Institution, die eben keine war: der Salon.

In Wien gab es spätestens seit Ende des 18. Jahrhunderts ein ernstzunehmendes intellektuelles Salonleben. Die Sekundärliteratur gibt einstimmig Auskunft darüber, wer als bekannteste und wichtigste Salonières der Stadt galten: Fanny von Arnstein, ihre Tochter Henrietta Pereira, die Schriftstellerin Caroline Pichler und etwas später Josephine von Wertheimstein. Über die Zeit des Fin de siècle gehen die Meinungen jedoch auseinander. In mancher Fachliteratur wird behauptet, die Wiener Salonkultur ab der Jahrhundertwende habe nur mehr vor sich hingedämmert: Alles, was noch als „Salon“ beschrieben werden konnte, sei bloß ein schwacher Widerschein früherer Glorien. Der Zusammenbruch der Salonkultur wird hier meistens mit dem Ableben Josephine von Wertheimsteins angegeben: 1894 war die Mäzenin und Dichterfreundin gestorben, gefolgt 1907 von ihrer Tochter Franziska. Die Villa Wertheimstein im 19. Wiener Gemeindebezirk wurde zwar der Allgemeinheit vermacht, der Kreis von Künstlern und Schriftstellern, die sich um die Familie gesammelt hatte, blieb dennoch nicht erhalten. Warum es so kommen musste, kann aber nur zum Teil mit dem Hinscheiden der Wertheimstein-Damen begründet werden. Laut Karlheinz Rossbacher wurden das Monologisieren und die selbstbezogene Nabelschau zum Kennzeichen der anbrechenden Moderne, Tendenzen, die sich gegen die „überlieferte Salongeselligkeit“ auswirkten, sowie der zunehmende Hang, immer mehr Facetten des Lebens und der Kultur unter einem ökonomischen Aspekt zu betrachten. (Vgl. Rossbacher 2003, 113f.) Zwar gab es noch den Salon der Grande Dame des Hoflebens, Fürstin Pauline von Sándor-Metternich, allerdings hatte die altösterreichische Aristokratin ihre besten Tage bereits hinter sich. Spätestens als der Erste Weltkrieg das politische Werk ihres berühmt-berüchtigten Großvaters ein für alle Mal vernichtete, verschwand auch sie aus dem Gesellschaftsleben. Zudem übernahm das Kaffeehaus in jener Zeit immer stärker die Funktionen des Salons wie das Networking, den Gedankenaustausch und die Gelegenheit zur Selbstdarstellung im halböffentlichen Raum. Der vornehmlich weiblich konnotierte Salon ist also um die Jahrhundertwende durch eine Domäne ersetzt worden, die vorläufig einmal rein männlich blieb. Erst nach 1918 wurden Frauen ohne Begleitung im Kaffeehaus geduldet.

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Abb. 1: Alma Mahler-Werfel; Bildarchiv der ÖNB, Wien, 204.748-D

Es gibt aber auch die entgegengesetzte Meinung, die Wiener Salonkultur hätte um die Zeit, in der Hilde Spiel geboren wurde, neuen Aufwind bekommen. Anstatt mit dem alten Reich unterzugehen, wurde der Salon modernisiert, wobei mindestens zwei zentrale Merkmale der überlieferten Salonkultur erhalten blieben: eine starke weibliche Persönlichkeit als Mittelpunkt und ein Privathaus als Hauptschauplatz. Drei Namen werden in diesem Zusammenhang immer wieder genannt: Alma Mahler(-Werfel) [Abb. 1], Eugenie Schwarzwald und Berta Zuckerkandl. (Vgl. Rose 2008, 204) Man spricht auch von einer gewissen Ausdifferenzierung des Salonlebens während dieser Epoche – kein Wunder, wenn man bedenkt, dass der Salon unter anderem als Kompensationsmechnismus entstanden ist, zu einer Zeit, in der Frauen noch nicht weiterführende Schulen besuchen, geschweige denn studieren, politisieren oder selbstständig wissenschaftlich arbeiten durften. Zu den Gemeinplätzen der Forschung gehört es ja auch anzumerken, dass sowohl die Gründerinnen als auch die berühmtesten Gastgeberinnen der Wiener Salonkultur jüdischer Herkunft waren. Während des 19. Jahrhunderts stellte der Salon nach wie vor eine Art punktuell realisierte, mehr oder weniger privat gehaltene Emanzipation dar – für die Salonières nicht nur als Frauen, sondern auch als Juden. Der Charakter und die Funktionen des Salons mussten sich verändern, sobald die eigentliche rechtliche und gesellschaftliche Emanzipation sich allmählich durchzusetzen begann. Wohl auch deshalb wirkte das Salonleben verstärkt in den öffentlichen Raum hinein. (Vgl. Ackerl 1993, 694f.)

Während die junge Hilde Spiel als Frau und Schriftstellerin im Wien der Zwischenkriegszeit heranreifte, standen ihr Salonières vor Augen, die viel eher als ihre Vorgängerinnen im 19. Jahrhundert mit konkreten künstlerischen, intellektuellen und sozialen Anliegen und Aufgaben identifiziert wurden. Alma Mahler ist der Nachwelt meist nur als ruchlose Femme fatale bekannt, als eine Art Kultursirene, die mit ihren unwiderstehlichen Reizen einen Kreis von bedeutenden Künstlern um sich zu scharen wusste. Nicht nur dank des Vermächtnisses ihres ersten Mannes Gustav Mahler, sondern auch dank ihrer musischen Ausbildung versammelte sie bei sich die musikalische Avantgarde: Arnold Schönberg, Alexander von Zemlinsky, Ernst Krenek, um nur die Bekanntesten zu nennen. Nachdem sie auf Insistieren Gustav Mahlers großteils aufgehört hatte, selbst zu komponieren, begann sie in den 1920er Jahren wieder eigene Lieder zu publizieren.

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Abb. 2: Berta Zuckerkandl; Bildarchiv der ÖNB, Wien, 204.711-C

Alma Mahlers ältere Freundin Berta Zuckerkandl [Abb. 2] hingegen hatte sich nicht durch ihre Heirat von eigenen intellektuellen Betätigungen abbringen lassen, noch hätte ihr Mann Emil Zuckerkandl, Anatomieprofessor und überzeugter Kämpfer für Frauenbildung, das gewollt. Zuckerkandl hatte seit ihrer Jugend am Zeitungsimperium ihres Vaters Moriz Szeps mitwirken dürfen. Nach einer erfolgreichen Karriere bei der Wiener Presse und der Wiener Morgenpost gründete Szeps 1867 das einflussreiche Neue Wiener Tagblatt, ein Organ, das sich an das liberale (Groß-)Bürgertum richtete. Seine Töchter wurden, wie die junge Alma Mahler später auch, zu Hause unterrichtet. Im Gegensatz zu Alma Mahler wurden aber bei der Ausbildung Berta Szeps’ und ihrer Schwester keine Kosten gescheut und kein Unterrichtsfach favorisiert bzw. ausgelassen. Berta half ihrem Vater nicht nur als Sekretärin, sondern auch als geheime Botin, wenn es um die Veröffentlichung anonymer Artikel des progressiven Thronfolgers Kronprinz Rudolf ging. (Vgl. Herling 1998, 57f.)

Bis Hilde Spiel Zeitungen zu lesen begann, war Zuckerkandl längst zu einer geradezu legendär streitbaren Kunstkritikerin und kulturellen Kommentatorin geworden. Ihr Salon wird heute als einer der Ausgangspunkte der Wiener Sezession und der Wiener Werkstätte gefeiert, als der Ort, an dem das sogenannte „Jung Wien“ (dazu zählten unter anderem Hermann Bahr, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal) mit Gustav Klimt, Otto Wagner, Josef Hofmann und dem Nötscher Kreis zusammentraf. Zuckerkandl war aber nicht nur eine begabte Gastgeberin und Networkerin. Als Zuständige für Kunst und Kultur, zuerst bei der Wiener Allgemeinen Zeitung und dann beim Neuen Wiener Journal, war sie eine professionelle Journalistin zu einer Zeit, in der Frauennamen faktisch nie unter ernstzunehmenden Zeitungsartikeln standen. Zudem wurde nach dem Ersten Weltkrieg Zuckerkandls Ansehen in manchen Kreisen dadurch gestärkt, dass sie von Anfang an als aktive Pazifistin aufgetreten war. Sie versuchte sowohl einen früheren Frieden als auch eine Linderung der Not im Nachkriegsösterreich durch ihre Freundschaft mit dem französischen Premierminister Georges Clemenceau, dem Schwager ihrer Schwester Sophie, herbeizuführen.

Obwohl Alma Mahler-Werfel und Berta Zuckerkandl in vieler Hinsicht als „Überlebende“ des Fin de siècle zu betrachten sind, waren die befreundeten Salonières in der Wiener Kulturszene der Zwischenkriegszeit sehr angesehen, fanden die Zusammenkünfte großen Anklang. Kein Künstler oder Intellektueller durfte sich diese Gesellschaften entgehen lassen. Das Spektrum der Gäste war überaus bunt und reichte von Secessionisten und Dichtern des Expressionismus bis zu Vertretern der Salzburger Festspiele und austrofaschistischen Politikern. Beide Salonières wirkten in Wien noch fort, bis der „Anschluss“ an Nazi-Deutschland sie ins Exil zwang. Zwei Jahre nachdem Hilde Spiel sich bereits wohlweislich in London niedergelassen hatte, flohen Zuckerkandl und Mahler nach Frankreich: Erstere als gebürtige Jüdin, Zweitere als Ehefrau des Juden Franz Werfel und Mutter einer halbjüdischen Tochter, Anna Mahler.

Trotz der Ausstrahlung dieser beiden Frauen und der namhaften Gäste ihrer Salons war für Hilde Spiel jedoch die Dritte von den obengenannten Salonières, Eugenie Schwarzwald, als Vor- und Schreckbild am allerwichtigsten. Schwarzwalds Wirken war unmittelbar mit dem Leben der jungen Autorin verknüpft, und Spiel verband nicht nur gute Erinnerungen an die imponierende Germanistin, Pädagogin und Sozialarbeiterin. Als Mittelpunkt eines Wiener Salons bildete Schwarzwald eine bemerkenswerte Ausnahme selbst zu einer Zeit, in der diese inoffizielle Institution in einem Veränderungsprozess begriffen war. Der Witz und die intellektuelle Begabung Berta Zuckerkandls sind auf keinen Fall zu leugnen, dennoch verdankte sie ihre Stellung in der Gesellschaft und ihre Kontakte zur Presse ihrer wohlhabenden Familie und besonders ihrem berühmten Vater. (Vgl. Spoerri 2009, 166) Sie wuchs in einem eigens für die Szeps’ errichteten Palais im neunten Wiener Gemeindebezirk auf. Prominente gingen schon während ihrer Kindheit im Elternhaus ein und aus. Auf sie trifft durchaus die Feststellung Isabelle Ackerls zu, dass auch ab der Jahrhundertwende „Exklusivität und Luxus“ das Leben der Wiener Salonières bestimmte, da sie „schon vom Elternhaus her ziemlich begütert bis sehr reich waren“, und „die Führung eines mehr oder weniger großen Haushaltes – natürlich an einer eleganten Wohnadresse – also keinerlei Rolle spielte“ (Ackerl 1993, 707). Alma Mahler wurde zwar in etwas weniger komfortable Verhältnisse hineingeboren, ihr Vater entstammte aber einer alteingesessenen Wiener Künstlerfamilie, und ihr erster Mann hinterließ ihr sowohl seinen Reichtum als auch seinen Ruhm. Im Gegensatz zu diesen Laufbahnen gleicht Schwarzwalds Lebensgeschichte der einer „Selfmade“-Frau.

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Abb. 3: Eugenie Schwarzwald; Foto: Atelier D’Ora-Benda, 1923, Bildarchiv der ÖNB, Wien, 204.456-D

Eugenie Nußbaum wurde 1872 als Tochter eines Guts- und Ortsverwalters in Ostgalizien geboren. Über ihre Kindheit und Jugend sind nur wenige Details bekannt. Die Familie zog in den späten 1880er oder früen 1890er Jahren nach Czernowitz in der Bukowina, wo Eugenie, zumindest ihren eigenen Angaben zufolge, die städtische Lehrerinnenbildungsanstalt besuchte, jedoch nie abschloss. Erst ab 1895 sind amtliche Zeugnisse überliefert, allerdings nicht aus Österreich-Ungarn, sondern aus der Schweiz, wo sie als Studentin an der Philosophischen Fakultät in Zürich aufgenommen wurde. Im Jahr 1900 promovierte sie als erste Frau Österreichs zum Dr. phil. im Fach Germanistik. Nach ihrer Heirat mit dem angehenden Beamten Hermann Schwarzwald, offenbar ein Jugendfreund aus Czernowitz, zog Eugenie Schwarzwald [Abb. 3