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Martin Suter

Ein perfekter Freund

Roman

 
 
 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe
erschien 2002 im Diogenes Verlag
Covermotiv: Foto von Philipp Keel, ›Holzegg, 2002‹
Copyright © Philipp Keel

 

 

Für meine Mutter

 

 

Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2012
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 23378 0 (30. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60045 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Seine Hand spürte das Gesicht, aber sein Gesicht spürte die Hand nicht.

Fabio Rossi ließ sie wieder auf die Bettdecke sinken und versuchte, dorthin zurückzukehren, wo er sich eben noch befunden hatte. An den Ort ohne Gefühle, Geräusche, Gedanken und Gerüche.

Es war vor allem der Geruch, der ihn davon abhielt, die Augen zu öffnen. Es roch nach Krankenhaus. Er würde noch früh genug erfahren, weshalb er hier war.

Das nächste, was durch das Dunkel drang, war eine Stimme. »Herr Rooossi«, rief sie, wie vom andern Ufer eines Flusses. So weit weg, daß er sie ignorieren konnte, ohne unhöflich zu erscheinen.

Die Geräusche entfernten sich, aber der Geruch blieb. Er wurde intensiver mit jedem Atemzug. Fabio wollte durch den Mund atmen. Es war ihm, als ob er ihn nur zur Hälfte öffnen könnte. Er betastete ihn. Wieder das gleiche Gefühl: Die Finger spürten die Lippen, aber die Lippen die Finger nicht. Doch der Mund war offen. Er konnte seine Zähne berühren. Auch sie waren gefühllos, jedenfalls die auf der rechten Seite.

Seine linke Gesichtshälfte fühlte sich normal an. Sein Oberkörper ebenfalls. Er konnte auch die Füße bewegen [6] und spürte die Bettdecke an seinen Zehen. Er tastete seinen Arm ab. Am linken Vorderarm stieß er auf ein Heftpflaster, dann auf einen Infusionsschlauch.

Fabio spürte Panik hochkommen. Aber noch immer weigerte er sich, die Augen zu öffnen. Zuerst mußte er sich erinnern, weshalb er im Krankenhaus lag.

Er befühlte seinen Kopf. Die Haare auf der fremden Hälfte fühlten sich seltsam an. Wie eine Mütze. Ein Verband? Auch auf der linken Seite stimmte etwas nicht. Am Hinterkopf klebte ein Pflaster über einer schmerzenden Stelle. Hatte man ihn am Kopf operiert?

Hatte man ihm einen Tumor entfernt? Und mit ihm die Erinnerung daran, daß er einen gehabt hatte?

Er riß die Augen auf. Der Raum war abgedunkelt. Er konnte eine Infusionsflasche erkennen, die neben dem Bett an einem verchromten Ständer hing. An der Wand stand ein Tisch mit einem Blumenstrauß, darüber ein Kruzifix. Über seinem Kopf hing ein Haltegriff. Ein Kabel wand sich darum mit einer Klingel, auf die er jetzt panisch drückte.

Nach einer Ewigkeit wurde die Tür geöffnet. Eine Gestalt zeichnete sich im Neonlicht des Ganges ab, näherte sich, knipste eine Nachttischlampe an.

»Ja, Herr Rossi?«

Die Kissen und das schräg gestellte Kopfteil zwangen Fabio in eine halb sitzende Position. Die dünne Frau an seinem hohen Bettrand war fast auf Augenhöhe. Sie trug eine lose blaue Baumwollbluse über einer Hose aus dem gleichen Material. Und ein Namensschild, das Fabios Augen noch nicht entziffern konnten. Sie fühlte seinen Puls und fragte, ohne ihre Uhr aus den Augen zu lassen: »Wo sind Sie?«

[7] »Das wollte ich Sie fragen.«

»Keine Ahnung?«

Fabio schüttelte vorsichtig den Kopf. Die Frau ließ sein Handgelenk los, nahm das Krankenblatt vom Bettgestell und notierte etwas. »Sie sind in der Neurochirurgie der Uniklinik.«

»Weshalb?«

»Sie haben eine Kopfverletzung.« Sie überprüfte die Infusionsflasche.

»Was für eine?«

»Ein Schädel-Hirn-Trauma. Sie haben einen Schlag auf den Kopf erhalten.«

»Wie das?«

Sie lächelte: »Das wollte ich Sie fragen.«

Fabio schloß die Augen. »Seit wann bin ich hier?«

»Seit fünf Tagen.«

Fabio schlug die Augen auf. »Ich war fünf Tage im Koma?«

»Nein, Sie sind seit drei Tagen wach.«

»Ich erinnere mich nicht.«

»Das hängt mit Ihrer Kopfverletzung zusammen.«

»Ist sie so schlimm?«

»Es geht. Kein Schädelbruch und keine Blutung.«

»Und der Verband?«

»Auf der Intensivstation hatte man Ihnen eine Hirndrucksonde eingesetzt.«

»Weshalb?«

»Man hatte im Computertomogramm eine Hirnprellung festgestellt, und der Arzt entschied, Sie in Narkose zu behalten und den Hirndruck zu überwachen. Wenn er [8] gestiegen wäre, hätte das geheißen, daß das Hirn anschwillt oder eine Blutung auftritt.«

»Was passiert dann?«

»Es ist nicht angeschwollen.«

»Ich war in einem künstlichen Koma?«

»In einer Langzeitnarkose. Zwei Tage.«

Fabio fielen die Augen zu. »Wo ist meine Freundin?«

»Ich nehme an, zu Hause. Es ist kurz nach Mitternacht.«

»Ist sie schon lange gegangen?«

»Ich weiß nicht. Ich bin die Nachtschwester«, antwortete die Stimme. Jetzt wieder von jenseits des Flusses.

Norina wusch seinen Bauch mit einem weichen Lappen. Er spürte ihre leichte Hand und die Wärme des Lappens. Er lag mit leicht gespreizten Beinen da und stellte sich schlafend. Er hörte es plätschern, wenn sie den Lappen auswrang, und konnte es kaum erwarten, bis sie ihn wieder berührte.

Sie seifte Schamhaare und Leisten ein. Endlich spürte er ihre Finger an seinem Penis. Sie hob ihn an – und ein stechender Schmerz durchzuckte ihn. Fabio schrie auf.

»Pardon.« Eine Männerstimme.

Er schlug die Augen auf. Ein Mann stand neben dem Bett. Er war etwa in seinem Alter und trug das weißblond gefärbte Haar millimeterkurz. Er hatte eine blaue Baumwollhose an und darüber eine blaue, lose, kurzärmelige Bluse mit einem Namensschild. Er hob die Hände bedauernd in die Höhe. »Der Blasenkatheter, sorry. Wissen Sie, wo Sie sind?«

Fabio schaute sich um. Neben dem Bett ein Infusionsständer, an der Wand ein Tisch mit einem Blumenstrauß, darüber ein Kruzifix. »Sieht nach Krankenhaus aus.«

[9] »Wissen Sie, welches?«

»Keine Ahnung.«

Der Mann nahm das Krankenblatt vom Bettgestell und machte eine Notiz. »Sie sind in der Neurochirurgie der Uniklinik.«

»Weshalb?«

»Sie haben eine Kopfverletzung.«

Fabio betastete seinen Kopf. Die rechte Gesichtshälfte fühlte sich taub an. Auf dem Schädel spürte er ein Pflaster oder einen Verband. »Wie ist das passiert?«

»Erinnern Sie sich nicht?«

Fabio dachte nach. »Nein. Sagen Sie es mir.«

»Sie haben einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen. Das ist alles, was wir wissen.«

»Wann war das?«

»Vor sechs Tagen.«

Fabio erschrak. »So lange lag ich im Koma?«

Der Pfleger öffnete die Nachttischschublade, entnahm ihr einen Schreibblock. Er war in Fabios Handschrift beschrieben. Dort, wo er hindeutete, stand: Ich habe eine posttraumatische Amnesie.

»Wann habe ich das geschrieben?«

»Gestern.« Der Pfleger blätterte zurück und zeigte ihm eine andere Stelle. Ich habe eine posttraumatische Amnesie. »Das ist von vorgestern.«

Fabio las andere Notizen. In der Intensivstation wurde ich zwei Tage künstlich beatmet und in Narkose behalten. Man hat mir ein Loch in den Schädel gebohrt und eine Hirndrucksonde eingesetzt. Deshalb der Verband, stand hier. Oder: Der rechte Stirnlappen ist geprellt. Oder: Mit [10] einer Hirndrucksonde mißt man den Schädeldruck. Wenn das Hirn anschwillt oder eine Blutung entsteht, steigt er. Oder: Mamma war fünfmal hier, während ich schlief.

»Wo ist meine Mutter jetzt?«

»Ich nehme an, zu Hause.«

»Meine Mutter wohnt in Urbino, sechshundertfünfzig Kilometer von hier.«

Der Pfleger machte sich eine Notiz.

»Was schreiben Sie?«

»Eine Notiz für Dr. Berthod. Daß Sie sich erinnern, wo Ihre Mutter wohnt.«

»Ich erinnere mich an alles, außer an den Unfall.«

Die Art, wie der Pfleger nickte, gefiel Fabio nicht. Er blätterte weiter im Schreibblock. Norina war wohl hier, stand da. Und weiter hinten: Die Blumen sind bestimmt von ihr.

»War ich wach, als meine Freundin hier war?«

»Manchmal.«

Fabio schwieg.

»Schreiben Sie sich die Fragen auf, die Sie Doktor Berthod stellen wollen«, schlug der Pfleger vor und setzte Fabios Intimwaschung fort.

In die Dunkelheit drang der Duft von Jasmin, Rose, Maiglöckchen, Ylang-Ylang, Amber und Vanille. Die linke Hälfte seiner Lippen spürte etwas Weiches. Einen Mund? Fabio schlug die Augen auf. Vor ihm, so dicht, daß er es nicht fokussieren konnte, war das Gesicht einer Frau.

»Norina?«

Das Gesicht wich zurück. Jetzt konnte er es erkennen. [11] Hohe Backenknochen, große blaue Augen, kleiner Mund mit vollen Lippen, blondes kurzes Haar. Mitte Zwanzig.

»Hallo, Fabio«, sagte sie und lächelte. Tapfer, wie es Fabio schien.

»Hallo«, sagte Fabio. Er hatte die Frau noch nie gesehen.

[12] 2

Nach und nach erinnerte sich Fabio. Wenigstens an gestern. Er erwachte und wußte: Ich liege im Krankenhaus, weil ich eins auf den Schädel bekommen habe. Ich wurde von einer Polizeistreife eingeliefert, die von Passanten auf mich aufmerksam gemacht worden war. Ich war verwirrt, mein rechtes Auge war zugeschwollen, ich blutete am Kopf. Ich habe ein mittelschweres Schädel-Hirn-Trauma, einen Kopfschwartenriß am linken Hinterkopf, eine Prellung des rechten Stirnlappens, ein Monokelhämatom am rechten Auge, eine Fissur des rechten Orbitalbodens, die meinen Nervus Ophthalmicus einklemmt und schuld ist am tauben Gefühl in der rechten Gesichtshälfte. Vermutlich von einem Sturz als Folge des Schlages. Ich leide unter einer anterograden und einer retrograden Amnesie, die junge Frau, die mich küßt, die mir Blumen bringt, ist nicht Norina. Sie heißt Marlen und ist meine Freundin. Seit fünf Wochen.

Tagsüber ging es. Frühstücken, Waschen, Physiotherapie, Tomographie, Elektroenzephalographie. Man testete seine Hirnfunktionen (»Wenn ich einen Finger hochhalte, halten Sie zwei hoch, wenn ich zwei hochhalte, halten Sie einen hoch«); man hielt süße und salzige Wattestäbchen auf seine Zunge, um seine Geschmacksnerven zu testen; man prüfte die Empfindlichkeit seines Trigeminusnervs mit [13] Nadelstichen; man testete seine Reflexe mit einem Gummihämmerchen; er mußte heiß, kalt, spitz und stumpf unterscheiden; er mußte sich Wörter merken und sie in umgekehrter Reihenfolge wiederholen; man fragte ihn aus über sein Leben, seinen Beruf, seinen Unfall; man wollte von ihm die Namen der letzten drei amerikanischen Präsidenten wissen und das heutige Datum und den Namen seines Chefredakteurs und wie er die letzten Sommerferien verbracht hatte.

Fabio beteiligte sich mit Eifer an den Untersuchungen. Er wollte wissen, wie es um ihn stand. Er wollte wissen, was mit ihm passiert war. Er wollte wissen, was er nicht mehr wußte.

Wenn er nicht von diagnostischen, therapeutischen oder pflegerischen Maßnahmen in Anspruch genommen wurde, döste er, las ein wenig (was ihn sehr anstrengte) oder empfing kurze Besuche.

Aber sobald die Tagesschwester das frühe Abendessen abgeräumt hatte und den Rolladen vor dem noch hellen Sommerhimmel herunterließ, stellte sich die Panik ein.

Er kannte das Gefühl von früher. Er hatte auf der Hochzeit seiner Mutter vor drei Jahren in Urbino so viele Grappas getrunken, daß er sich an nichts mehr erinnern konnte. Er wußte nicht, weshalb ihm das passiert war. Seine Mutter war erst sechsundvierzig, als sein Vater mit fast siebzig starb. Sie hatte drei Jahre später einen Jugendfreund geheiratet, wogegen er nichts einzuwenden hatte. Daß es hieß, sie habe schon zu Vaters Lebzeiten etwas mit Aldo gehabt, konnte er ihr nicht verdenken. Sie war eine schöne Frau, nicht dafür geschaffen, ihre Abende mit einem kränkelnden, alten Mann zu verbringen, der die [14] Mannschaftsaufstellungen der italienischen Nationalelf der letzten vierzig Jahre herunterbeten konnte. Und dies auch regelmäßig tat.

Trotzdem hatte Fabio sich auf dieser Hochzeit wie ein verschmähter Liebhaber vorsätzlich, systematisch und demonstrativ betrunken. Er war nackt auf der Matratze des Gästebetts seiner Großmutter aufgewacht, neben sich ein Bündel aus seinem Bettzeug, seinen Kleidern und seinem Mageninhalt. Die Großmutter wohnte in Saludecio, auf halbem Weg zwischen Urbino und Rimini. Er hatte keine Ahnung, wie er dorthin gekommen war.

Die folgenden vierundzwanzig Stunden war er damit beschäftigt, seinen Kater zu verkraften. Und die Berichte anderer Gäste über Einzelheiten seines Exzesses. Die Panik kam erst, als er feststellte, daß etwa vierzehn Stunden seines Lebens ausgelöscht waren. Sosehr er sich anstrengte, er konnte sich nicht erinnern. Er konnte sie rekonstruieren, er konnte sie lernen, er konnte sie recherchieren wie eine Geschichte, die ein anderer erlebt hat. Aber seine eigene Version, seine persönliche Erfahrung war unwiederbringlich weg. Wie früher der Milchzahn auf dem Fenstersims am nächsten Morgen.

Diese Erfahrung hatte Fabio so erschreckt, daß er danach zwei Jahre lang überhaupt keinen Alkohol mehr angerührt hatte und bis heute nie mehr betrunken gewesen war.

Diesmal waren fünfzig Tage weg.

Seine letzte Erinnerung – frisch und lebhaft wie von gestern – war ein Interview mit einem Lokomotivführer. Fabio war seit einiger Zeit an einer Reportage über Lokomotivführer, denen sich Selbstmörder vor die Lok geworfen hatten. Er wollte wissen, wie sie sich fühlten, wie sie das [15] Erlebnis verarbeiteten, wie sie psychologisch betreut wurden. Es war eine dieser Geschichten, die auf der Redaktionskonferenz besser klangen, als sie im Lauf der Recherche wurden. Alle erzählten das gleiche, waren gleich betroffen, gleich erschüttert, hatten die gleichen Sätze parat wie der Bahnpsychologe, der sie betreute. Bis Fabio Erwin Stoll traf, einen fünfundzwanzigjährigen Lokführer im zweiten Dienstjahr.

Stoll hatte eine Wut. Er nahm es dem Selbstmörder – einem von seiner Frau verlassenen, knapp vierzigjährigen Familienvater – persönlich übel, daß er sich vor seine Lok geworfen hatte. »Was habe ich dem Arschloch getan, daß er sich vor meine Lok wirft? Soll er sich doch aufhängen oder von einer Brücke stürzen oder Tabletten fressen! Wissen Sie, was ein Intercity wiegt? Über sechshundertzwanzig Tonnen! Und ich fahre hundertfünfundzwanzig auf diesem Streckenabschnitt vor der Feldauerkurve. Keine dreihundert Meter Sichtweite und sechshundertfünfzig Meter Bremsweg! Und das Arschloch kommt zweihundert Meter vor mir aus den Büschen und stellt sich aufs Gleis. Da bin ich doch chancenlos! Arschloch! Kein Wunder, hat den seine Frau verlassen!«

Dieser Ansatz hatte Rossi gefallen. Die Wut des Lokführers auf den Selbstmörder. Er wußte noch, daß er sich vorgenommen hatte, bei den bereits Interviewten unter diesem Aspekt nachzuhaken.

Das nächste, woran er sich erinnerte, war der Wirrwarr aus Dämmern und Erwachen, aus dem er sich langsam zu befreien begann.

Alles dazwischen war verschwunden in einem schwarzen Loch in seinem Kopf. Und wenn er in der Nacht [16] vergeblich versuchte, es dort herauszuholen, war ihm, als steckte er mit angelegten Armen in einer engen Röhre und könnte weder vor noch zurück. Diesen Zustand der Klaustrophobie konnte er nur dadurch beenden, daß er der Nachtschwester klingelte. Sie gab ihm nach einigem Hin und Her eine Pille, die ihn in kurzer Zeit in einen tiefen, traumlosen Schlaf versetzte.

»Hast du mit Norina gesprochen, Mamma?«

Francesca Baldi griff mit der rechten Hand hinter ihren Nacken und zog die langen, geraden roten Haare, die ihr über die linke Schulter fielen, zurück an ihren Platz. Fabio kannte die Geste, seit er ein kleiner Junge gewesen war. Er wußte bis heute nicht, was sie ausdrückte: Verlegenheit, Langeweile, Abwesenheit oder einfach das Bedürfnis, berührt zu werden, und sei es durch sie selbst. »Norina will nicht mit mir sprechen.«

»Hast du es versucht?«

»Ja.«

»Was sagt sie?«

»Ich solle eine Nachricht hinterlassen, sie rufe mich zurück.«

»Ihr Beantworter hat mit dir gesprochen?«

»Mehrmals.«

»Und sie ruft nicht zurück?«

»Nein.«

»Weil du keine Nachricht hinterläßt?«

»Ich rede nicht mit Maschinen.«

»Das ist ein Notfall, Mamma.«

»Sie will nicht mit mir sprechen.«

[17] »Wie willst du das wissen, wenn du sie nicht fragst?«

»Ich an ihrer Stelle würde auch nicht mit mir sprechen wollen.«

»Weil du meine Mutter bist?«

»Weil sie mit dir Schluß gemacht hat.«

Eine Schwester schaute herein, nickte Fabios Mutter zu und ging wieder hinaus.

»Es wird Zeit. Sie schmeißen mich raus.«

»Sie kann doch wenigstens mit mir reden. Ich muß doch wissen, wie es dazu gekommen ist.«

»Du wirst es erfahren.« Sie gab ihm einen Kuß und stand auf.

»Versprich mir, daß du es weiter versuchst.«

»Versprochen«, sagte seine Mutter. Ihre Rechte verschwand wieder hinter dem Kopf, kam auf der linken Seite zum Vorschein und angelte sich ein paar rote Strähnen. Vielleicht, dachte Fabio, hat sie mit dieser Geste schon immer eine Lüge überspielt.

Dr. Berthod war ein großer, schlaksiger Mann Anfang Vierzig mit einem Schädel, so kahl wie ein Präparat aus dem neurologischen Institut. Er blickte ironisch aus wimpernlosen Augen unter haarlosen Brauen, und wenn er lächelte, war man überrascht, eine Reihe einwandfreier Zähne zu erblicken.

Er pikste Fabio mit einer stumpfen Nadel im Gesicht herum und machte sich eine Notiz, wenn dieser reagierte. Die rechte Gesichtshälfte vom Backenknochen bis zum Oberkiefer war noch immer taub.

»Kommt das Gefühl wieder zurück?« fragte Fabio. Er [18] fühlte jetzt Berthods trockene, eckige Hand auf seiner linken Gesichtshälfte und zog in Erwartung der Nadel eine Grimasse.

»In den meisten Fällen. Aber es dauert.«

»Und wenn es nicht zurückkommt?«

»Gewöhnt man sich daran.«

»Auch an die Gedächtnislücke? Mir ist nichts eingefallen seit dem Lokführer.«

»Auch das braucht seine Zeit. Man muß den Zugang wieder finden.«

»Und manchmal findet man ihn nie mehr«, ergänzte Fabio.

»Wer sagt das?«

»Sie. Gestern.«

»Nicht vorgestern?«

Fabio zuckte die Schultern. »Vielleicht auch vorgestern.«

»Nein. Überlegen Sie. Gestern oder vorgestern?«

Fabio dachte nach. »Gestern.«

»Weshalb sind Sie so sicher?«

»Vorgestern hatten Sie frei.«

Berthod ließ seine Zahnreihe aufblitzen. »Ich glaube, ich kann Sie bald nach Hause schicken.« Er warf die Nadel in eine verchromte Schale.

»Was mach ich bloß, wenn die letzten fünfzig Tage meines Lebens verloren bleiben?«

»Tun Sie sie zu den ersten vier Jahren Ihres Lebens. An die können Sie sich nämlich auch nicht erinnern.«

»Aber die waren nicht so schicksalhaft.«

»Darüber läßt sich streiten.«

[19] Das Fenster stand weit offen, der ockerfarbene Sonnenstore war zu drei Vierteln heruntergelassen, durch die schmale Öffnung drang die Luft eines schwülen Spätnachmittags. Fabio Rossi starrte auf die Türklinke. Sobald sie sich senkte, würde er sich schlafend stellen.

Er hatte seine Mutter gedrängt, nach Urbino zurückzufahren. Sie hatte seinem Drängen rasch und dankbar nachgegeben. Wenn also jetzt, zu Beginn der Besuchszeit, jemand kam, war es mit größter Wahrscheinlichkeit Marlen. Sie kam regelmäßig.

Am Anfang hatte er mit ihr noch Konversation gepflegt, wie mit einer Sesselliftbekanntschaft. Er wußte, daß sie einen jüngeren Bruder und eine ältere Schwester hatte, daß sie Dancehall-Reggae liebte und daß sie Assistentin in der Presseabteilung von LEMIEUX war, einem internationalen Nahrungsmittelkonzern.

In dieser Eigenschaft mußte er sie wohl kennengelernt haben. Sie danach zu fragen, hatte er nicht übers Herz gebracht. Sie schien darunter zu leiden, daß er sich nicht an sie erinnerte.

Er hatte begonnen, sich während ihrer Besuche schlafend zu stellen. Sie saß dann neben seinem Bett, streichelte seine gefühllose Wange und roch gut.

Die Türklinke senkte sich langsam. Fabio schloß die Augen. Er spürte, wie die stehende Luft im Zimmer leicht in Bewegung geriet. Durch die Wimpern sah er, wie die Tür wieder zugezogen wurde. Sein Besuch hatte gesehen, daß er schlief, und wollte nicht stören. Vielleicht Norina?

»Ja?« rief Fabio.

Die Tür ging wieder auf. In der Öffnung erschien der [20] schmale, fast kahlgeschorene Kopf von Lucas Jäger, Kollege und Freund. »Ich dachte, du schläfst.«

»Pech gehabt«, antwortete Fabio.

Lucas sah aus, als wäre er lieber nicht hier. Er schloß die Tür hinter sich und legte den SONNTAG-MORGEN vom nächsten Tag auf die Bettdecke. Die Sonntagszeitung, bei der sie beide arbeiteten. »Wie geht’s?«

»Hab’s vergessen«, antwortete Fabio. Sein Grinsen fühlte sich schief an, obwohl er sich schon oft vor dem Spiegel überzeugt hatte, daß es das nicht war.

Lucas grinste auch. Etwas verlegen, wie es Fabio schien. »Wann kommst du raus?«

»Montag oder Dienstag. – Siehst du Norina?«

Lucas machte eine vage Geste, die wohl ja bedeutete.

»Wie geht es ihr?«

»Gut.«

»Sie ist noch nie gekommen.«

»Überrascht dich das?«

Fabio reagierte unwirsch. »Mich überrascht alles, was mit den letzten fünfzig Tagen zu tun hat.«

»Klar. Tut mir leid.«

Beide schwiegen.

»Was ist genau passiert?« fragte Fabio nach einer Weile.

»Du bist mit Marlen ins Bett und hast dich von Norina erwischen lassen.«

»Dabei?«

»Nicht direkt. Du hast gesagt, du seist auf Reportage, und dabei warst du mit Marlen zusammen.«

»Und wie hat sie es herausgefunden?«

Lucas hob die Schultern.

[21] »Und deswegen hat sie mich rausgeschmissen?«

»Soviel ich weiß, habt ihr euch versöhnt.«

»Und?«

»Dann hast du dich wieder erwischen lassen.«

Fabio schüttelte den Kopf. »Ich begreife es nicht.«

»Also, wenn man Marlen so sieht…«

»Schon. Aber ich fühle nichts.«

Lucas lächelte ungläubig. »Nichts? Muß mit dem Schlag auf den Kopf zu tun haben.«

»Du weißt genau, was ich meine. Sie ist mir fremd.«

»Das letzte Mal hat es dir gefallen, das zu ändern.«

Fabio schüttelte den Kopf. »Du kapierst nicht: Ich stehe auf Norina. Was immer es mir möglich gemacht hatte, unsere Beziehung aufs Spiel zu setzen – es ist weg.«

Beide hingen ihren Gedanken nach.

»Ist Norina mit jemandem zusammen?« fragte Fabio schließlich.

Lucas schwieg.

»Kenne ich ihn?«

Lucas schien erleichtert, als sich die Tür öffnete und Marlen leise ins Zimmer trat. Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. Fabio hatte die Augen geschlossen. Lucas hielt den Finger an die Lippen.

»Schläft er schon lange?« flüsterte sie.

»Seit ich hier bin.«

[22] 3

Die ganze Zeit, in der Fabio in der Uniklinik lag, hatte sich Norina nicht blicken lassen.

Am Tag seiner Entlassung verordnete ihm Doktor Berthod Ruhe, Gedächtnistraining, Physiotherapie und ein Antiepileptikum. Letzteres prophylaktisch, wie er betonte. Normalerweise hätte er ihm auch eine möglichst vertraute familiäre Umgebung empfohlen. Aber da er Fabios Situation kannte, mied er das Thema. Statt dessen erwähnte er Fälle, in denen die Rückkehr in die Situation »vor dem ursächlichen Einflußfaktor« den Betroffenen geholfen hatte, die Erinnerung wiederzufinden.

Fabio hatte seine paar Sachen in eine schwarze Reisetasche gepackt, die man auch als Rucksack tragen konnte. Sein bevorzugtes Gepäckstück, wenn er auf Reportage war. Er trug ein kurzärmeliges Hemd, eine leichte Baumwollhose und eine Baseballmütze, um die rasierte Stelle auf dem Kopf zu verbergen. Er hatte sich nicht zum modischen Millimeterschnitt durchringen können, zu dem ihm der weißblonde Pfleger geraten hatte. Fabio mochte seine Haare. Sie waren dick und kupferrot wie die seiner Mutter und der meisten Mitglieder ihrer Familie.

Um acht Uhr hatte er sich mit Marlen in der Cafeteria der Klinik verabredet. Aber schon um halb sieben saß er an [23] einem der Kunststofftische, vor sich einen Espresso. Vielmehr das, was einem ausgehändigt wurde, wenn man am Tresen einen Espresso verlangte: die gleiche bittere, dünne Brühe, die sie hier als Kaffee verkauften, einfach in einer kleineren Tasse.

Ein Mann am Nebentisch trug den linken Arm auf die Brust fixiert und den rechten so geschient, als würde er ständig die Augen gegen die Sonne abschirmen. Seine Frau flößte ihm Fruchtsaft ein und redete dazu ohne Punkt und Komma.

Die Cafeteria war gut besucht. Gebrechliche Männer in sportlichen Trainingsanzügen, bleiche Frauen in wattierten Morgenröcken, Patienten in Rollstühlen, an Krücken oder mit ihren fahrbaren Infusionsständern im Schlepptau. Besucher und Angehörige, manche bedrückt, manche betont zuversichtlich. Ein Geräuschteppich aus Geschirrgeklapper und gedämpften Stimmen. Ein Geruch nach Krankenhaus und Milchkaffee.

Fabio hielt es nicht mehr aus. Er nahm seine Tasche vom Stuhl gegenüber und ging hinaus.

Draußen kündigte sich ein weiterer schwüler Sommertag an. Ein Mann in einem ärmellosen Netzhemd fuhr einen roten Aufsitzmäher über den Rasen des Klinikparks. Die rollstuhlgängigen Parkwege waren leer bis auf zwei eilige Krankenschwestern.

Fabio setzte sich auf eine Bank. Es roch nach frischgemähtem Gras und den Abgasen des Rasenmähers. An einem Fenster tauchte eine weiße Gestalt auf und ließ einen Store herunter.

Fabio kam sich vor wie ausgesetzt an einem fremden Ort. [24] Der Weg zurück war abgeschnitten durch eine Kluft von fünfzig Tagen und Nächten Nichts.

Eine junge Frau näherte sich auf dem Weg. Als sie ihn sah, winkte sie und begann zu rennen. Fabio winkte zurück. Er stand auf, nahm seine Tasche und ging ihr entgegen.

Als er sie erreicht hatte, blieb sie vor ihm stehen. Sie trug ein kurzes Trägerkleid aus schwarzem Leinen und lächelte unsicher.

Fabio stellte die Tasche ab und schloß sie in die Arme. Zum ersten Mal war er froh, wie war schon ihr Name? zu sehen.

Marlen steuerte ihren klapprigen 89er Golf Cabrio durch den Morgenverkehr. Sie durchquerte das Zentrum und fuhr in ein für Fabio fremdes Quartier am Stadtrand. Schmale Straßen, gesäumt von Doppeleinfamilienhäusern aus den vierziger und Wohnblöcken aus den siebziger Jahren, Tempo 30. Sie bog in eine Einfahrt, hielt bei einer Konsole und steckte einen Schlüssel in ein Schloß. Ein graues Tor öffnete sich, sie fuhren in eine Tiefgarage.

Die meisten der etwa zwanzig Plätze waren leer um diese Zeit und gaben den Blick frei auf Winterreifen, Gepäckträger, Schlitten, Teppichrollen, Gestelle, Altpapier und allerlei anderes Gerümpel.

Marlen parkte den Wagen. An der Wand vor der Stoßstange lehnten zwei Fahrräder.

»Mein Fahrrad«, sagte Fabio verwundert.

»Wird Zeit, daß es bewegt wird«, antwortete Marlen.

[25] Die Wohnung lag im zweiten Stock. Der größte Raum war eine Wohnküche. Eine Frühstückstheke trennte den Wohnteil vom kleinen Küchenteil. Dieser bestand aus einem Spülbecken, einem Herd mit drei Platten, einem Kühlschrank und ein paar kleinen Schränken. Im Wohnzimmer standen ein Ledersofa und ein Sessel. Eine Glastür führte auf einen kleinen Balkon mit einem Gartentisch und zwei Stühlen und ein paar Topfpflanzen. Von dort aus überblickte man einen Rasen mit einem Kinderspielplatz und den Garten des angrenzenden Doppelhauses.

Das Fenster zum Balkon war von einem Stahlrohr-Schreibtisch mit schwarzer Tischplatte verstellt. Darauf standen ein Printer und ein schwarzes Powerbook. Davor ein Lederstuhl auf Rädern, ebenfalls in Schwarz. Alle vier Gegenstände stammten aus Fabios Besitz.

Das Schlafzimmer ging auf den schmalen Vorgarten und die Straße hinaus. Es wurde von einem Doppelbett und einem weißen Lamellenschrank eingenommen, der fast bis zur Decke reichte. Marlen öffnete eine der fünf Schranktüren. Fabio erkannte ein paar seiner Jacketts und Hosen.

»Welcome back«, sagte sie. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und küßte ihn.

So gut es ging mit Lippen wie nach dem Zahnarzt, wenn die Spritze noch wirkt, küßte Fabio zurück. Ihr Mund war weich und ihre Zunge schmiegsam. Doch sosehr er sich auch anstrengte, der Kuß brachte keine Erinnerung zurück.

Er öffnete die Augen und sah, daß auch Marlen sie geöffnet hatte.

»Vielleicht brauchst du mehr Zeit«, flüsterte sie.

[26] Die Hitze hielt Fabio wach. Er lag auf dem Rücken und starrte an die niedrige Decke. Neben ihm lag Marlen in einem züchtigen Pyjama und schlief wie ein Kind. Das Fenster stand offen, die Nacht hatte die Luft kaum abgekühlt. Eine Straßenlaterne warf ein Rechteck bläulichen Lichts an die Wand. Ganz selten fuhr langsam ein Auto vorbei.

Eine von Fabios frühsten Kindheitserinnerungen war ein fremdes Zimmer: Sommerferien in Urbino vor bald dreißig Jahren. Sie wohnten im Haus der Großmutter. Fabio war mitten in der Nacht erwacht, und alles war fremd. Das Bett, das Licht, der Geruch, die Geräusche. Er fing an zu weinen, aber niemand kam. Er kletterte aus dem Bett und fand die Tür. Das Haus war still und dunkel. Er irrte heulend durch die fremden Räume, fand die Haustür und ging hinaus. Im Garten hörte er Stimmen. Seine Eltern, die Großmutter und ein paar fremde Leute saßen an einem Tisch, tranken und schwatzten. Er rannte schluchzend zu seiner Mutter und trommelte mit den Fäusten auf sie ein. Alle lachten.

Fabio stand leise auf und ging auf die Toilette. Er hatte es am Abend vermieden, sie zu benützen. Es war ihm unangenehm gewesen, sie befand sich im Badezimmer. Er spülte zweimal und öffnete das Fenster weit.

Im Spiegel über dem Waschbecken betrachtete er sein Gesicht. Vom Bluterguß am rechten Auge war nur noch eine gelbliche Verfärbung übrig. Der Riß in der Kopfhaut war mit ein paar schwarzen Fäden genäht, die bereits von den Stoppeln der nachwachsenden Haare überwuchert wurden. Die kleine Stelle, an der man ihm die Hirndrucksonde eingesetzt hatte, war kaum mehr zu sehen. Die rechte Gesichtshälfte fühlte sich noch immer fremd an. Und fremd kam ihm [27] auch der Mann in Boxershorts und weißem T-Shirt vor. Er paßte nicht in das Dekor aus unvertrauten Tuben, Töpfchen und Flakons.

Auf einem dreibeinigen Hocker neben dem Waschbecken lagen Fabios Sachen: elektrische Zahnbürste, Nagelschere, Kamm, Bürste, Elektrorasierer, Aftershave-Gel und Eau de Toilette. Auch sie wirkten fehl am Platz.

Fabio ging in die Küche, nahm ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Leitungswasser und trug es auf den Balkon. Er stellte sich an die Brüstung und starrte in die Sommernacht.

Zwei Birken standen an der Grenze zum Nachbargrundstück. Ihre Stämme fluoreszierten im Mondlicht.

Von einem Balkon über ihm drangen gedämpfte Stimmen, hie und da von kurzem Auflachen unterbrochen.

Eine Katze ging über den Rasen. Fabio nahm einen Schluck Wasser. Die Katze sah die Bewegung, blieb stehen, schaute zu ihm herauf und ging weiter. Beim Kinderspielplatz schnüffelte sie im Sandhaufen, buddelte ein Loch, kauerte sich darüber, scharrte im Sand und ging weiter.

Fabio hätte sich gerne eine Zigarette angesteckt. Dabei hatte er nie geraucht.

Am Morgen hörte er Marlen aufstehen und stellte sich schlafend. Sie hatte ihm gesagt, daß sie am nächsten Tag wieder arbeiten müsse. Er wollte warten, bis sie das Haus verlassen hatte.

Die Dusche lief und wurde abgedreht. Etwas später ging leise die Tür zum Schlafzimmer auf. Sofort füllte sich der Raum mit dem Duft ihres zu damenhaften Parfums. Chanel 5, wie er jetzt, wo sie das Badezimmer teilten, wußte. Er [28] hörte, wie sie sich am Schrank zu schaffen machte, und öffnete die Augen einen Spalt. Im hohen Wandspiegel sah er sie vor dem Schrank stehen. Auf ihren kleinen Pobacken hatte die Sonne ganz schwach einen Slip abgezeichnet. Über ihren schmalen Hüften sah man noch den Abdruck des Pyjamagummizugs. Sie hatte in jeder Hand einen Kleiderbügel mit einer Bluse.

Gerade als Fabio die Augen ganz öffnete, drehte Marlen sich um und ging zum Spiegel. Sofort schloß er sie wieder.

Als er sie wieder vorsichtig öffnete, hatte sich Marlen für eine Bluse entschieden. Sie war gerade lang genug, um ihn im unklaren zu lassen, ob auch die Entscheidung für ein Höschen inzwischen gefallen war.

Auf der Frühstückstheke lag ein Zettel. 10 Uhr 30 Steinhofstraße 23, 1. Stock, Dr. Vogel stand darauf in einer runden Mädchenschrift. Die Notiz war unterschrieben mit drei Kreuzen und Marlen, einer Telefonnummer und dem Zusatz: Den ganzen Tag! Daneben lag Fabios Handy.

Fabio wählte Norinas Nummer. Ihr Beantworter meldete sich. Er könne eine Nachricht hinterlassen oder ein Fax schicken oder ihr Handy anrufen. Er sagte: »Norina, ich wurde aus dem Spital entlassen. Ich muß mich in meinem Leben wieder zurechtfinden, und dazu muß ich mit dir reden.«

Auf ihrem Handy hinterließ er die gleiche Nachricht.

Norina arbeitete als freie Produktionsassistentin für verschiedene Filmproduktionen. Fabio versuchte die gängigsten. Bei keiner war sie momentan beschäftigt.

Er ging unter die Dusche und putzte sich die Zähne. [29] Dann rasierte er sich sorgfältig. Es kam vor, daß er sich zweimal am Tag rasierte. Eine kleine Macke – sein Bart wuchs schwarz, und Fabio bildete sich ein, daß dadurch sein rotes Haar unnatürlich wirke. Er wollte nicht, daß die Leute glaubten, er färbe sich die Haare.

Er zog eine Baumwollhose an und ein weißes, kurzärmeliges Hemd. Es sah nach einem weiteren heißen Tag aus. Einen Moment dachte er daran, Lucas Jäger anzurufen. Vielleicht wußte der, wo er Norina erreichen konnte. Aber dann fiel ihm ein, daß Montag war. Er würde mit seinem Anruf mitten in die Redaktionskonferenz platzen.

Marlen hatte die Espressomaschine eingeschaltet gelassen. Er studierte die Knöpfe und Schalter und entschloß sich, unterwegs einen Kaffee zu trinken.

Er wußte auch nicht, wie er von hier zur Steinhofstraße kam, und bestellte ein Taxi.

Vor dem Haus schob ein Mann in Shorts und Fußballtrikot einen leeren Müllcontainer auf Rädern in die Einfahrt. Als er Fabio sah, rief er: »Causio, Rossi, Bettega!«

»Tardelli!« antwortete Fabio.

»Benetti, Zaccarelli!« fuhr der andere fort.

»Gentile, Cuccureddu, Scirea, Cabrini!« antwortete Fabio.

Und beide gleichzeitig: »Zoff!«

Der Mann kam auf Fabio zu und begrüßte ihn auf italienisch. »Und die sagen, du hättest Gedächtnisprobleme«, lachte er.

Fabio lachte mit und stieg in sein Taxi. Als es losfuhr, winkte ihm der Fremde zu. Fabio winkte zurück.

[30] Fabio war bei der Fußball-WM 1978 zehn Jahre alt gewesen. Sein Vater nahm ihn zu allen wichtigen Spielen mit in die Sonne, das Stammlokal der Italiener des Quartiers. Im Saal war während der Weltmeisterschaften ein Fernseher aufgestellt.

Am 21. Juni 1978 spielten die Italiener um den Gruppensieg. Sie waren die haushohen Favoriten. Ein Unentschieden gegen Holland hätte ihnen gereicht, um das Endspiel zu erreichen. In der 19. Minute schien die Sache entschieden: Brandts schoß ein Eigentor und verletzte Torhüter Schrijvers so unglücklich, daß dieser gegen Jongbloed ausgewechselt werden mußte. Aber die Holländer gaben nicht auf. In der 49. Minute glich Brandts aus, in der 74. schoß Arie Haan das zwei zu eins. Von da an wurden die Italiener vorgeführt. Es wurde still im Saal der Sonne.

Die Mannschaftsaufstellung der Italiener, die für diese Schmach verantwortlich war, erhielt einen Ehrenplatz im Schimpfwort-Vokabular von Fabios Vater. »Causio-Rossi-Bettega-Tardelli-Benetti-Zaccarelli-Gentile-Cuccureddu-Scirea-Cabrini-Zoff!« Keiner konnte sie so rasch und verächtlich ausspucken wie Dario Rossi. Außer vielleicht sein Sohn Fabio. Jahrelang blieb sie seine bevorzugte Haßtirade.

Aber Fabio besaß auch eine Hymne: »Conti-Rossi-Graziani-Altobelli-Causio-Oriali-Tardelli-Cabrini-Collovati-Scirea-Gentile-Bergomi-Zoff!« Seine Ode an die Männer, die am 11. Juli 1982 das Endspiel gegen Deutschland gewonnen und Fabio Rossis Leben verändert hatten.

Die Zeiten, als die Italiener im Land als Bürger zweiter Klasse betrachtet wurden, waren zwar schon damals vorbei. Sie wurden akzeptiert und einigermaßen gleich behandelt. [31] Aber mit dem Sieg über Deutschland, den fußballerischen Erbfeind ihres Gastlandes, hatten die italienischen Gastarbeiter die Herzen ihrer Gastgeber erobert. Von diesem Tag an war es schick, Italiener zu sein.

Fabio war ein angepaßter Vierzehnjähriger voller Minderwertigkeitskomplexe. Der plötzliche Italienboom gab seinem Selbstbewußtsein gewaltigen Auftrieb. Er entdeckte seine Italianità und zelebrierte sie zusammen mit seinen Landsleuten an lauen Sommerabenden auf öffentlichen Plätzen, die über Nacht zu Italo-Treffs geworden waren. Er kleidete sich italienisch, sprach italienisch und benahm sich italienisch. Wie es sich gehörte für den Namensvetter des WM-Torschützenkönigs Paolo Rossi (sechs Tore).

Die Schwierigkeiten eines Lebens als Italiener im Ausland lernte er nur durch die Erzählungen seines Vaters kennen. Er selbst fühlte sich in dieser Rolle so wohl, daß er bis heute seinen italienischen Paß behalten hatte.

Die Steinhofstraße lag nahe beim Zentrum in einem Wohnviertel, dessen Wohnungen zum größten Teil als Büros, Kanzleien und Arztpraxen zweckentfremdet wurden. Vor der Nummer 23 stieg Fabio aus dem Taxi und ging durch den schmalen Vorgarten zur Eingangstür. Er klingelte bei »Praxis für Psychotherapie und Neuropsychologie Dr. phil. Paul Vogel«. Im selben Moment surrte der Türöffner. Auf einer ausgetretenen, gebohnerten Holztreppe stieg er in den ersten Stock und trat ein. »Ohne zu klingeln«, wie es das Schild an der Tür befahl.

Eine apathische Praxishilfe nahm seine Daten auf und führte ihn in ein Wartezimmer.

[32] Der Raum sah aus, als wäre er aus Beständen der Brockenstube möbliert. Ein Potpourri aus Sitzgelegenheiten jeder Stilrichtung, eine Spielecke voller abgewetzter Spielsachen und zerkritzelter Malbücher, zwei Clubtische von unterschiedlicher Höhe, beide übersät mit Zeitschriften, die aussahen, als stammten sie aus der gleichen Quelle wie das Mobiliar. An den Wänden hingen, gerahmt und ungerahmt, die Prunkstücke aus Maltherapien der letzten zwanzig Jahre.

Die Luft war abgestanden. Fabio öffnete das Fenster und setzte sich. Zwischen Illustrierten, Tiermagazinen, Fotobüchern und Fachzeitschriften hatte jemand einen SONNTAG-MORGEN vergessen. Die Zeitung war drei Wochen alt, Fabio kannte sie nicht. Er blätterte darin und stieß auf einen Bericht mit dem Titel: »Die Wut des Lokführers auf den Selbstmörder«. Von Fabio Rossi.

Das Hauptbild zeigte einen grimmigen Erwin Stoll und die Bildunterschrift: Lokführer Stoll: »Soll er sich doch aufhängen!«

Fabio überflog den Bericht. An das Gespräch mit Stoll erinnerte er sich genau. Auch die Gesichter der anderen abgebildeten Lokführer kamen ihm bekannt vor. Aber einige Äußerungen waren neu. Offenbar hatte er sie noch einmal befragt. Vor allem danach, ob sie sich denn nicht mißbraucht fühlten von den Selbstmördern. Er war sogar so weit gegangen, die Witwe eines Selbstmörders mit der Wut des Lokführers zu konfrontieren, wie ein kurzes Interview mit einer Jacqueline Barth bewies, einer blassen, ungeschminkten Frau Mitte Vierzig. Es gipfelte in dem bemerkenswerten Satz: »Sagen Sie ihm, es wäre mir auch lieber, er hätte es nicht getan.«

[33] Die Praxishilfe kam herein. »Herr Rossi.«

Fabio legte den SONNTAG-MORGEN beiseite und folgte ihr ins Sprechzimmer.

Dr. Vogel war einer der dicksten Männer, denen Fabio je begegnet war. Er stemmte sich aus einem extrabreiten Sessel hinter dem Schreibtisch und kam auf ihn zu. Bei jedem Schritt mußte er mit dem einen Bein ausholen, damit er es am anderen vorbeibrachte, so feist waren seine Oberschenkel. Dazu schwang er die kurzen Arme, die von seinem runden Körper abstanden. Er reichte Fabio eine weich gefütterte Hand und mußte sich dabei etwas abwenden, damit ihm sein Leib nicht in den Weg kam.

Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, und sein Hemd klebte, obwohl eine Klimaanlage den Raum auf winterliche Temperaturen herunterkühlte. Es roch nach dem Kölnisch Wasser, mit dem Dr. Vogel seine Ausdünstung übertünchte.

»Das ist mein Problem, und welches ist Ihres?« waren seine ersten Worte. Wahrscheinlich seine Standardbegrüßung für neue Patienten, dachte Fabio.

Er bot ihm einen Stuhl an, zwängte sich hinter seinen Schreibtisch und blätterte schwer atmend in Fabios Unterlagen.

»Wir haben drei Probleme«, begann er, »die Amnesie davor, die Amnesie danach und das schlechte Arbeitsgedächtnis jetzt.«

»Was meinen Sie mit schlechtem Arbeitsgedächtnis?«

»Es fällt Ihnen schwer, sich Namen, Termine und Ereignisse zu merken. Sie sind vergeßlich.«

»Nicht, was die Gegenwart betrifft.«

[34] »Schade, dagegen hätten wir etwas tun können. Kommen wir zum zweiten Problem: die Amnesie danach. Sie haben keine Erinnerung an den Unfall selbst und die erste Zeit danach. Dazu eine gute Nachricht: Das wird so bleiben.«

Daß Dicke immer lustig sein müssen, dachte Fabio.

»Und nun zu dem, was Sie als Ihr Hauptproblem empfinden: die retrograde Amnesie.« Dr. Vogel hob den linken Arm vors Gesicht, griff mit der rechten Hand einen Zipfel des kurzen Ärmels seines Polohemdes und wischte sich damit die Stirn ab. »Es kann sein, daß der Zeitraum, an den Sie sich nicht erinnern, im Lauf der Zeit schrumpft. Es kann sein, daß in Ihrem Meer des Vergessens plötzlich kleine Inseln der Erinnerung auftauchen. Es ist auch möglich, daß Ihnen plötzlich alles wieder einfällt. Und es ist auch denkbar, daß die Erinnerung überhaupt nie mehr zurückkommt. Das Problem ist: Ich kann es nicht beeinflussen.«

»Ich dachte, es gibt Methoden, verlorene Erinnerungen wiederzuerwecken?«

»Nur, wenn sie durch ein psychisch traumatisierendes Erlebnis abhanden gekommen sind. Nicht durch ein Schädel-Hirn-Trauma. Erinnern Sie sich an die Adresse?«

»Welche Adresse?«

»Die von hier.«

Fabio überlegte. Sie fiel ihm nicht ein. »Ich habe sie mir nicht gemerkt. Sie stand auf einem Zettel.«

»Gedächtnistraining. Gebrauchen Sie Ihr Hirn. Lernen Sie Gedichte. Merken Sie sich überflüssige Dinge. Lesen Sie, lösen Sie Kreuzworträtsel, spielen Sie Computerspiele, arbeiten Sie so bald wie möglich wieder. Je besser Sie Ihre grauen Zellen in Form bringen, desto größer ist die [35] Wahrscheinlichkeit, daß die Erinnerung zurückkommt. Rauchen Sie?«

Fabio schüttelte den Kopf.

»Gut. Alkohol?«

»Kaum.«

»Lassen Sie ihn ganz weg. Schon wegen des Antiepileptikums. Schlafen Sie viel. Treiben Sie Sport. Alles gut fürs Gedächtnis.«

Den Rest der Stunde mußte sich Fabio Dinge merken, indem er sie in mentale Bilder verwandelte.

»Bilder«, schnaufte Vogel, »der visuelle Input ist mit Abstand das beste Stimulans für das Hirn. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, das wissen Sie als Journalist.«

»Das sagen unsere Fotografen immer.«

»Und was antworten Sie denen?«

»Fotografier das mal.«

Vogel lachte im höchsten Falsett. Fabio erschrak. Daß dieser Fleischberg etwas so Spitzes, Dünnes wie diese Stimme hervorbringen konnte, darauf war er nicht gefaßt gewesen. »Den muß ich mir merken«, stieß er hervor, als er wieder sprechen konnte – und machte sich eine Notiz.

Nach exakt vierzig Minuten wuchtete sich Vogel aus dem Stuhl und komplimentierte Fabio hinaus.

»Auf Wiedersehen, Herr Doktor«, sagte er an der Tür.

»Vogel«, ergänzte dieser. »Machen Sie sich das mentale Bild eines Nilpferdes.«

»Und der Vogel?«

»Sitzt auf dem Kopf des Nilpferdes.«

[36] 4

Das Biotop war eines von Fabios Lokalen, vor allem im Sommer. Sein Vorplatz mit zwanzig Tischen lag im Schatten zweier städtischer Platanen, die Gäste waren über zwanzig und unter vierzig, und der Koch stammte aus Brescia.

Es lag keine zehn Gehminuten von Dr. Vogels Praxis entfernt. Fabio war früh dran. Er machte fünfzehn daraus.

Er war der erste Gast. Die meisten Tische auf dem Vorplatz waren reserviert. Aber die junge Kellnerin mit der langen schwarzen Schürze gab ihm ein kleines Tischchen beim Eingang. Sie schien ihn zu kennen, trotz Mütze und Sonnenbrille. Fabio tat, als kenne er sie auch.

»Bist du allein, Fabio?« fragte sie. Als er nickte, räumte sie das zweite Gedeck weg.

»Entschuldige, ich hab deinen Namen vergessen«, sagte er, als sie die Karte brachte.

»Yvonne, macht nichts.«

Fabio tat, wie ihm Dr. Vogel geraten hatte. Er sagte sich erstens den Namen in seinen eigenen Worten vor: Yvonne Machtnichts. Yvonne Machtnix. Yvonne Faniente.

Er wiederholte ihn zweitens fünfmal: Yvonne Faniente, Yvonne Faniente, Yvonne Faniente, Yvonne Faniente, Yvonne Faniente.

[37] Er brachte ihn drittens mit etwas in Verbindung, das ihm vertraut war: Dolcefarniente.

Er machte sich viertens ein mentales Bild: Yvonne liegt an einem Pool und ißt etwas Süßes. Vielleicht ein Eis. Yvonne liegt am Pool und leckt an einem Himbeereis. Vielleicht im Bikini. Oder nackt, zur besseren Memorierbarkeit. Yvonne räkelt sich nackt am Pool und leckt an einem Himbeereis. Yvonne Dolcefarniente.

Und er übte fünftens im Geiste, wie er jemandem erklärt, wie er sich den Namen Yvonne merkt.

»Hast du etwas gefunden?« fragte Yvonne Dolcefarniente. Jetzt erinnerte sich Fabio, daß er noch nicht bestellt hatte.

Er hatte fertiggegessen und war dabei, sich zu überlegen, ob der Ristretto, den er bestellt hatte, zu den von Dr.